Teil II
Der Wanderer und sein Begleiter schritten die kargen Felslandschaften östlich des Jägerpasses herab. Vor ihnen breiteten sich die schier endlosen Wüsten Aranochs aus. Bei einem der wenigen Händler jenseits des Passes hatten sie ein Kamel gekauft, das ihre Lasten tragen sollte, doch führte es seine Befehle widerwillig aus. Marius musste es führen, während der Wanderer den Weg aufzeigte.
Ein Kloster, das Dämonen anbetete. Diese Welt war aus den Fugen geraten, war im Wandel. Die Legenden über die Drei stimmten. Sie waren erstarkt, ihr Einfluss auf die Welt der Lebenden wuchs. Dieser Gedanke beschäftige ihn schon einige Tage, denn er selbst war es gewesen, der den Herrn des Schreckens erschlagen hatte. Seitdem fühlte er sich sonderbar, als ob seine Verbindung zum Seelenstein ihn mürbe und anfällig machte. Doch der Stein war tot. Er pulsierte, aber er spürte nichts. Nur die dunkle Aura verblieb. Die Dämonen spürten es wohl, dass er eine scheinbar leichte Beute war, warum hatten sie sonst versucht, ihn sich einzuverleiben? Vielleicht aber wollten sie auch die Macht des Seelensteins, die Macht Diablos, für sich beanspruchen. Das war plausibel, Teufel waren in der Regel heimtückische Wesen, die auch vor Verrat nicht zurückschreckten. In beiden Fällen musste er so schnell handeln wie möglich. Er musste stark bleiben. Er musste eine Möglichkeit suchen, den Stein sicher zu vernichten.
„Herr?“ Es war Marius.
„Ihr esst schon wieder nichts. Seid Tagen habt ihr nicht einen Bissen gekaut.“
Der Wanderer sah ihn an.
„Bitte, Herr. Wenn ihr nichts esst, wird der Fluch euch noch holen. Ihr werdet immer schwächer, ich sehe es mit wachsendem Grauen.“
Der Wanderer sah ihn eindringlich an.
„Dieser Fluch ist nicht irdischen Ursprungs. Er gibt mir Kraft und entzieht sie mir doch. Ich verspüre keinen Hunger, keinen Durst, und doch sollte ich essen.“ Er sah das Fleisch über dem Lagerfeuer braten, die Trinkflasche zu ihren Füßen liegen. Seine Stimme war rauer und tiefer geworden. Es hätte auch an der trockenen, heißen Umgebung liegen können, durch sie nun schon einige Tage gewandert waren, doch er hatte das drückende Gefühl, dass das nicht der Fall war.
Auch sein Gesicht fühlte sich seltsam an, knochiger, und knorpeliger. Er spürte die Veränderungen kaum, nur wenn er sprach. Er wusste, dass die unbarmherzige Wüste schon unzähligen Reisenden die Haut von den Knochen geschält hatte, doch fror ihm über weite Strecken des Tages. Eine unheimliche Magie beschützte ihn. Er riss einen Bissen Fleisch von der Keule ab und versank in Düsternis.
„Du spürst es auch, Marius.“, sagte er eines Tages. Die Sonne brannte.
„Das Böse folgt uns.“
„Es folgt uns gerade hinter dem Horizont, wie ein Gewitter.“, antwortete Marius. Er schaute nervös in die Wüste.
„Ich kann es nicht sehen, doch mein Herz sagt mir die Wahrheit.“
„Diese Welt wandelt sich. Bevor ich in den Turm kam, verbrachte ich eine Nacht im Kloster der Jägerinnen. Das Böse versteckte sich dort bereits, suchte Wege, aus der Dunkelheit zu brechen. Diese Welt wandelt sich. Ich habe diese Vorahnung.“
Marius versuchte anscheinend, seine Gedanken zu sortieren, denn er antwortete nicht. Der Wanderer achtete nicht auf ihn.
„Vor nicht allzu vielen Jahren war ich noch ein junger Krieger, unerfahren auf den Schlachtfeldern. Ich machte mir einen Namen. Ich überlegte Dutzende Scharmützel, einige Kriege, und ich kämpfte sogar gegen echte Teufel.“
„Ich erinnere mich an euch… ihr habt gegen das Böse unter Tristram gekämpft, auch ich habe es gesehen.“
„Tristram war nur einer von vielen Zufluchtsorten des Bösen. Sie ersuchen sich Wege in diese Welt, sie zu vereinnahmen. Es gibt vielleicht einen Weg, sie aufzuhalten. Die Seelensteine müssen zerstört werden.“
Wieder antwortete Marius nicht. Nach einigen Minuten des stummen Laufens fragte er schließlich:
„Was sind die Seelensteine?“
„Seelensteine sind mächtige Gefäße für die Essenz eines Dämons. Ich fand einen in den Katakomben, er gehörte dem mächtigen Fürst Diablo. Der Stein zerbrach, und doch gelang es mir, den Dämon darin zu bannen. Er ist tot, und seine Macht nahezu erloschen.“
„Und doch liegt der Stein auf euch wie ein Fluch.“
„Ja. Der Stein ist ein Fluch. Er verändert mich, treibt mich ins Dunkel. Ich muss ihn vernichten, bevor jemand seine Macht für sich beanspruchen kann.“
„Ihr sprecht davon, einen heiligen Stein zu zerstören!“, sagte Marius.
„Ich nehme an, dass man ihn nicht mit normalen Waffen zerstören kann, Marius. Deshalb brauche ich die Hilfe meiner Brüder. Einen werden wir in Lut Gholein finden.“, sagte der Wanderer ruhig und bestimmt. Wären diese Worte von jemandem mit weniger Ruhe gekommen, hätte man ihn leicht für verrückt erklärt. Doch aus seinem Mund waren diese Worte eine Gewissheit, der man trauen konnte. So tat es auch Marius, nachdem er versucht hatte, die Geschichte zu verstehen. Dann nickte er und folgte dem Wanderer.
Sie verloren ihr Kamel. Es sackte zusammen und wollte nicht mehr aufstehen. Marius trat nach ihm, dann ließ er es allein. Wüstengeier würden sich freuen. Sie ließen damit das Meiste ihrer Ausrüstung zurück. Der Wanderer trauerte keine Minute. Grimmig stapfte er durch den Sand. Lut Gholein war nicht mehr fern.
„Habt ihr jemals daran gedacht, ob Diablos Seele noch intakt sein könnte?“, fragte Marius den Krieger eines Nachts. Krieger eines Nachts. Dieser sah ihn interessiert an.
„Intakt?“, fragte er.
„Nun ja… könnte es sein, dass er noch lebendig ist?“
Der Wanderer genehmigte sich eine Minute des Schweigens, bevor er sich zu dieser Frage äußerte.
„Ich habe mich durch die Hölle selbst gekämpft.“ Die meisten Menschen hätten bei diesen Worten gegrinst, doch beide wussten es zu gut, dass diese Hölle Realität gewesen war und die Erinnerung daran nur schmerzen konnte. Und jeder, der nicht in Tristram gewesen war, hätte die unheimliche Düsternis in diesen Worten nicht verstanden.
„Ich habe mit meinem Schwert einen der mächtigsten Teufel erschlagen. Ich sah seinen massigen, toten Körper auf den heißen Stein aufschlagen. Ich wusste, dass dies kein Teil seines Planes sein würde. Ich wusste, er war tot. Nur seine Macht verblieb. Ich sog sie in den Seelenstein. Ich weiß, dass er tot ist. Er kontrolliert niemanden mehr, nur die Gierigen, die seine Macht wollen.“
Marius lauschte gebannt. Als der Wanderer fertig erzählt hatte, atmete er entspannt aus.
„Dann ist das Böse unter Tristram geschlagen.“
„Tristram ist niedergebrannt worden. Das Kloster ist niedergebrannt worden. In Khanduras erhebt sich das Böse.“ Marius sah ihn wachsenden Schreckens an. Ihn fröstelte auf einmal.
In dieser Nacht blieb der Wanderer lange Zeit wach. Trüben Blickes starrte er in die glimmenden Reste des Lagerfeuers. Er wusste nicht, woher ihn dieses Gefühl beschlich, dass etwas an der Geschichte seiner Brüder nicht stimmte. Es war so lange her gewesen, doch er konnte die Zeitspanne nicht einordnen, die er von ihnen getrennt war. Jahre kamen ihm fast zu kurz vor. Er war der Meinung, dass sein Bruder dabei geholfen hatte, einen mächtigen Dämon unter der Wüste zu binden, doch sollte das wirklich der Fall gewesen sein, hätten sowohl er als auch sein Bruder weitaus länger auf Erden wandern müssen, als ein Mensch lebte. Wenn es so war, wären sowohl er als auch seine Brüder keine Menschen, und seine Erinnerung daran nichts mehr als bloße Illusion. Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel an seiner Identität. Er spürte den Stein. Er hinterfragte die Worte Marius, Selbstzweifel.
Er war nie ein weiser Mann gewesen, doch er wusste genug von der Welt. Er wusste, dass, wenn er etwas erschlug, sei es Dämon oder Mensch, dann war es tot, und seine Seele entweder im Himmel oder in der Hölle. Warum sollte das hier anders sein? Der Seelenstein trug nur die Essenz des Fürsten, zumindest glaubte er das.
Er schüttelte sich. Sein Bruder, sollte er existieren, müsste entweder in Lut Gholein anzutreffen sein, oder zumindest darum herum. Da er sich ebenfalls dem Kampf gegen das Übel gewidmet hatte, konnte es sein, dass er die alten Gräber suchen musste, die tief in der Wüste lagen und in denen der Herr der Zerstörung gefangen war. In seinem geschwächten Seelenzustand war das ein sehr gefährliches Unterfangen, doch er musste das Risiko eingehen.
Marius schüttelte sich. Mit kleinen Augen blinzelte er ihn an. Angst stand in seinem Gesicht.
„Jetzt weißt du, was ich suche, Marius.“, sagte der Wanderer.
Die Sonne stand tief über dem Horizont, und beiden Reisenden machten sich auf nach Lut Gholein. Die Stadt wurde das Juwel der Wüste genannt, und das nicht ohne Grund. Es war eine alte, prächtige Küstenstadt, die als Dreh- und Angelpunkt des Handels zwischen den Ländereien Kejistans, Aranochs und Khanduras diente und aus eben dieser Position einen eigenen Nutzen zog. In der Stadt konnte man so ziemlich alles finden, wenn man wollte. Ein Sprichwort besagte, dass, sollte man etwas nicht auf dem Schwarzmarkt bekommen, selbiges hier erwerbbar sei. Die Stadt hatte mehrere Märkte, auf denen neben frischem Fisch oder Wüstenkäfern, Kamele angeboten wurden, Tücher aus einfachen Leinen, aber auch aus Seide, von einfachen Kleidern bis hin zu handgenähten Königskleidern konnte man hier fast alles kaufen. Der Wanderer und sein Begleiter benötigten jedoch keine materiellen Waren. Sie brauchten eine Information. Doch wo fand man eine Information über einen Ort, von dem niemand wusste, wo genau er lag? Die Vizjerei Magier hatten den genauen Aufenthaltsort vom Herrn der Zerstörung gut verheimlicht.
Der Wanderer schritt allein durch die Stadt. Die Menschen ließen ihn in Ruhe, anders kannte er es nicht. Er hatte Marius geschickt, etwas zu Essen zu kaufen, während er nach der Information suchte.
„Edler Krieger.“ Die Stimme kam aus einer entlegenen Seitengasse abseits der Wege. Hier war es still.
„Du bist den weiten Weg nach Lut Gholein gekommen. Hier wirst du einen Weg zu den sieben Gräbern finden. Es ist wichtig.“
Nun sah er auch die Person, der die Stimme gehörte. Er wurde von gleißendem Licht geblendet, obwohl sich die Person in Lumpen hüllte.
„Tyrael. Ich erkenne euch. Ihr gabt mir den Seelenstein.“ Der Erzengel nickte.
„Wir haben nicht viel. Ich spüre die Macht des Stein wachsen. Ich kann euch zu den Gräbern führen. Nehmt diese Information und beeilt euch.“
Mit einem Mal wusste der Wanderer, welchen Weg er wählen musste. Er verneigte sich leicht, dann machte er kehrt und kehrte auf die Straße zurück. Lärm holte ihn in die Welt zurück, als erwachte er aus einem Traum. Er blickte zurück. Nur ein armer Bettler saß dort. Natürlich, dachte er. Die Mächte des Himmels arbeiteten verdeckt.
Er bahnte sich seinen Weg zurück in das kleine Hotel, das sie sich ausgesucht hatten. Von dort aus machten sie sich auf den Weg in das Tal der Gräber, die ein altes Volk vor Urzeiten erbaut hatte, um ihrer Toten Könige zu gedenken. Im Schatten gewaltiger Felswände ragten sieben riesige Gräber empor. Sie waren in den Stein gehauen und reichhaltig verziert. Mächtige Magie war an diesem Ort am Werk, ihn vor allzu neugierigen Augen verborgen zu halten. Sie hatten sie durchbrochen.
„Wir haben den Ort gefunden, Marius.“, sagte der Wanderer.
„Welches der Gräber ist es?“, fragte dieser.
„Es ist jenes.“ Er zeigte auf ein einzelnes Grab. Äußerlich unterschied es sich nicht von allen anderen. Marius war stutzig.
„Woher wisst ihr dies?“
„Ich kann es spüren, Marius. Es ist die Magie an diesem Ort. Er verändert das Gefüge. Eine mächtige Kreatur liegt dort begraben. Ich muss sie finden.“
Marius sah ihn an. Er wagte nicht, ihn anzusprechen, stattdessen betraten sie das Grab.
Der Wanderer atmete die klamme Luft tief ein. Sie war kühl, aber muffig, nicht gerade angenehm. Die Luft hier war so alt wie der Stein, der sie umgab, so alt wie die Toten, die hier begraben waren.
Er tankte ein letztes Bisschen Kraft, bevor er das Licht verließ und in die Dunkelheit vorstieß. Er wusste instinktiv, wo er hingehen musste, an welcher Kreuzung er abbiegen musste. Es kam ihm unheimlich vor. Er brauchte kein Licht, er wurde geleitet.
„Diesen Weg musst du gehen…“ „Hier musst du dort abbiegen…“ Er folgte den Anweisungen, und er schritt so schnell vorwärts, dass Marius kaum hinterher kam. Er achtete nicht auf den armen Tölpel, hatte schon vergessen, dass er überhaupt existierte. Er hastete nun durch das Grab.
„Schneller, wir müssen uns beeilen!“ Die Stimme in seinem Kopf dröhnte.
Dann blieb er abrupt stehen. Sie fanden sich in einer großen Kammer wieder. Vor ihnen ragte ein gewaltiges Steintor auf. Es war verschlossen, doch die blutroten, magischen Lettern waren wie frisch gemalt. Der Wanderer hatte keine Zweifel. Hier hatten die Vizjerei Baal begraben. Ihre mächtigen Runen hielten über diese lange Zeit. Er dachte jetzt nicht mehr an seinen Bruder, nur eine einzelne Frage schoss ihm durch den Kopf. Wenn nicht für ihn, weshalb war er hier?
„Das hast du gut gemacht…“ Die Stimme in seinem Kopf lachte.
Der Wanderer drehte sich um.
„Du hast alles zu meiner Zufriedenheit ausgefüllt. Menschen sind doch dumme Geschöpfe.“ Die Stimme übertönte alles in seinem Kopf. Sie war mächtig und alt. Sie gehörte nicht dem Erzengel Tyrael, der ihn zuvor geleitet hatte.
„Tyrael.“ Die Person konnte seine Gedanken lesen.
„Ihr Menschen seid so leicht zu durchschauen. Ihr haltet euch für intelligent, aber ihr könnt nicht den Unterschied zwischen einem Dämon und einem Himmlischen ziehen. Arme Geschöpfe!“ Der Wanderer spürte, wie er die Kontrolle verlor.
„Nein!“ Er kämpfte dagegen an, doch es war ein Kampf gegen Goliath. Er fiel auf die Knie.
„Ich habe die Kontrolle.“, dröhnte es in seinem Kopf, doch die Stimme war die des Dämons und nicht seine eigene.
„Du hast keine Macht über mich, Baal!“, schrie der Wanderer. Doch alles, was er erntete, war Spott.
„All die Monate der Wanderschaft, und du hast es nicht einmal vermutet. Du hättest besser auf diesen Narr Marius gehört. Ich bin es, Diablo!“
Nun fiel der Vorhang. Er war manipuliert worden.
„Es ist interessant, deine Reaktion zu sehen.“ Der Körper des Wanderers zitterte.
„Du hattest nie Brüder. Es war einfach, dich dies glauben zu lassen. Schon auf deinem Weg durch Khanduras war das schon nicht mehr dein Körper, nicht mehr deine Gefühle.“
Langsam verstand der Krieger. Er kämpfte gegen eine Hydra. Jedes Mal, wenn er den Dämon an einer Stelle seines Körpers bezwungen hatte, übernahm er die Kontrolle an zwei anderen Orten. Es erklärte seinen Hass gegen Blutrabe, gegen die Leute, mit denen er sprach, als ob er sie töten wollte. Er selbst hatte dies nie gewollt. Er hatte sie beschützt, doch es hatte sich angefühlt, als ob sie seine Macht wollten, sie die Macht des Dämons spürten. Er hatte ihn getäuscht.
„Du warst ein nützliches Werkzeug. Meine Macht wuchs, als du die Mädchen im Kloster geopfert hast. Natürlich musste ich den Narr, der in dir steckte, beschützen. Du wärst zu schwach für einen Kampf gewesen. Aber ihr Blut hat mir Macht gegeben, und du hast das Kloster im Glauben der Ketzerei niedergebrannt. Deine Gefühle waren offene Bücher, in denen ich lesen konnte, sie nach Belieben zu manipulieren. Dennoch, ich habe noch einen Nutzen für dich.“
Der Wanderer spürte, wie der Dämon ihn aus seinem Körper verdrängte, ihn in den Seelenstein trieb. Er verlor den Kampf. Er fühlte, wie sich sein Körper bewegte, doch seine Sinne funktionierten nicht mehr richtig. Er sah durch seine Augen, wie sein Körper sich von dem kalten Steinboden erhob, auf dem er sich unter Qualen gewälzt hatte. Seine Kapuze schüttelte sich ab, seine Arme hoben sich.
Er kämpfte, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Diablo hatte die Kontrolle. Er hob die Hände des Wanderes und sprach einen alten Zauberspruch, so alt, dass der Wanderer die Sprache nicht kannte. Damals hatte er selbst in dieser Sprache gesprochen, sie kam ihm bekannt vor, doch nun verstand er die Bedeutung der Worte nicht mehr. Der Dämon hatte ihm für jenen Moment Wissen gewährt. Mit Schrecken musste ansehen, wie das undurchdringliche Tor sich öffnete. Dahinter – ein Bild der Zerstörung.
Aber er kannte das Bild. Er hatte es in den Visionen seiner Brüder gesehen. Diablo hatte eine List benutzt. Die Brüder des Fürsten des Schreckens waren seine Brüder gewesen, er war verblendet, hatte es deshalb nicht gesehen. Jetzt wurde ihm klar, dass sein Körper nicht seiner gewesen war, dass die dunkle Aura aus dem Seelenstein alles um ihn herum verdorben hatte, und die Menschen ihn gefürchtet hatten. Er war dumm gewesen, denn er hatte es nicht bemerkt. Auch dies musste ein Werk des Dämons gewesen sein, dabei hatte er selbst noch gedacht, Dämonen seien listige Wesen.
Diese zweite Kammer war größer als die erste, sie war hell erleuchtet. Außen standen bindende Runensteine, die einen großen Bannkreis bildeten. In ihrer Mitte befand sich ein schwebender Stein, mit einem weiteren, weitaus größeren Runenstein. Daran gefesselt war der Herr der Zerstörung – Baal, einer der beiden Brüder aus seiner Vision, doch er war Diablos Bruder. Ein großes Übel. Tal Rasha, der alte Magier, hatte den Dämon in sich aufgenommen, um ihn gefangen zu halten, doch der Kampf des mutigen Mannes war lange verloren. Tal Rasha war gefallen. Der Kampf musste Jahre gedauert haben. Die Hölle selbst hatte sich unter ihnen aufgetan, und Explosionen erschütterten den Bannkreis immer und immer wieder. Eine lose Holzbrücke verband das Zentrum des Wahnsinns mit der Realität der Kammer. Der Wanderer musste hilflos mit ansehen, wie Diablo die Brücke betrat. Mit dämonischer Geschwindigkeit bewegte er sich auf Baal zu.
Er hatte ihn erreicht, brauchte nur noch seine Hand auszustrecken, da wurde er aufgehalten. Der Wanderer spürte die Überraschung und die Wut des Dämons, einen alten Feind zu sehen. Der wahrhaftige Tyrael war erschienen. Die himmlische Kreatur schwebte über dem Abyss und hielt mit seinen gleißenden Flügeln die Hand des Wanderers fest umklammert, so dass er Baal nicht erreichen konnte. Er riss ihn von der Brücke, und beide stürzten in die Unendlichkeit. Sie wirbelten umher, Diablo und Tyrael bekämpften sich im freien Fall. Der Krieger sah seine Zeit gekommen. Er kämpfte gegen seine Unterdrückung an, doch Diablo ließ ihn nicht. Er bekam einen Felsvorsprung zu fassen, an dem er sich hochziehen konnte. Er hatte fast das obere Ende der Spalte erreicht, da bekam der Erzengel ihn wieder zu fassen.
Baal schrie. Sein dämonischer Klang lähmte den Krieger.
„Nein!“ Die Stimme gehörte nicht mehr dem Wanderer. Mit aller Macht kämpfte er gegen Diablo, und da sich dieser nun gegen zwei Personen auf unterschiedlichen Ebenen zur Wehr setzen musste, schwächten sie ihn merklich. Tyrael hieb mit seiner göttlichen Klinge auf ihn ein, der Herr des Schreckens wälzte umher, um nicht getroffen zu werden, gleichzeitig fuchtelte er mit seinen Krallen herum, um den Engel zu treffen. Der Wanderer spürte, dass er in seinen Körper zurückkam, die Kontrolle zurückgewann. Er konnte seinen Arm bewegen.
„Du hast keine Macht mehr!“, donnerte Diablo. Er verdrängte den Menschen aus seinem Körper, musste jedoch einen Streich von Tyrael hinnehmen.
„Ich kann euch nicht am Leben lassen, Fürst Diablo!“
„Du wirst keine andere Wahl haben, Narr, wenn du den Menschen nicht töten willst.“ Er lachte. Tyrael hielt seine Kehle.
„Dieses Opfer muss gebracht werden. Seine Seele wird emporsteigen.“
„Emporsteigen, nachdem ich mir die Mühe gemacht habe, sie zu verderben? Sie nur, Tyrael… mein Bruder ist frei." Der Engel wirbelte herum. Der Wanderer sah noch, wie Marius kräftig an dem Splitter in Baals Brust zog – und ihn auf einmal in den Händen hielt. Diablo nutzte seine Chance. Er entzog dem Wanderer wieder die Kontrolle über dessen Körper und rollte sich unter dem Erzengel zur Seite, dann wetzte er über die Brücke und schnappte seinen Bruder – dann waren sie verschwunden. Selbst der Wanderer konnte nicht fassen, wohin es ging, alles drehte sich, war durcheinander, bevor die Welt wieder Gestalt annahm. Es war warm, feucht. Er war nicht mehr in der Wüste. Vielmehr sahen seine Augen einen Dschungel vor sich.
„Du Mensch… du hättest beinahe meine Pläne gestört.“, sagte Diablo grimmig. Er tauchte in seinem Geist auf.
„Da mein Bruder frei ist, werden wir nun unseren Dritten zurückholen. Doch du wirst dazu nicht mehr benötigt. Dein Körper gehört jetzt mir.“
Der Wanderer spürte noch, wie die Welt sich wieder zu drehen begann, doch diesmal wurde sie schwarz. Stimmen, nein, Schreie, tausende schrille Schreie bohrten sich durch die Dunkelheit und hämmerten auf ihn ein. Wie lange, wusste nicht mehr. Irgendwann fühlte es sich an, als schläfe er ein. Die Schreie verstummten.
Als er wieder erwachte, fühlte er seinen Körper. Er konnte sich nicht bewegen. Sein Kopf pochte, seine Ohren dröhnten. Es war kalt. Er spürte einen eisigen Wind auf seiner Brust. Er hatte kein Gefühl in seinen Beinen. Langsam öffnete er seine Augen. Alles war verschwommen. Alles war trist, grau. Asche wehte ihm ins Gesicht. Er roch es, sah es. Er war allein. Vor ihm erhoben sich Säulen aus der Ebene wie Monumente. Er wusste es nun. Sein Verstand war nicht mehr vernebelt. Er war tot, gestorben, aus seinem Körper vertrieben. Sein Geist war in die Hölle gefahren. Er bekam Angst, wollte sich winden. Ein Dämon trat in sein Sichtfeld. Er sah ihn lange eindringlich an, dann grinste er.
„Willkommen in der Hölle.“
Der Wanderer schrie.
Ende