Kapitel 60 - Richtfest
„Das ist so lächerlich...“
„Ruhe!“
Die Wache, die das Flüstern des Meisters gehört hat, schlägt ihm die Stange seines Speers auf den Hinterkopf. Wir beide funkeln ihn an.
Jerhyn räuspert sich.
„Könnten wir dann beginnen? Das Volk von Lut Gholein hat sich heute hier versammelt, um über das Schicksal des Totenbeschwörers, im Folgenden des Angeklagten, namens und/oder Titels General zu entscheiden...“
Der Meister verschränkt demonstrativ die gefesselten Arme, so gut es geht vor seiner Brust und schließt die Augen. Ich hingegen fixiere den Fürst, der Richter spielt. Der Meister hat völlig Recht: Es ist lächerlich. Noch von den Leuten euphorisch als Retter gefeiert, haben uns die Söldner schon auf Griez‘ Befehl hin überwältigt, festgenommen und uns zu dieser absolut sinnlosen Verhandlung gezwungen. Bei strahlendstem Sonnenschein auf dem Marktplatz – gewisse Standbesitzer sind sehr erfreut, weil diese Farce eine Menge Kundschaft anzieht.
„Der Angeklagte – und ich muss mir hier einige Worte verkneifen, die weit passender wären – hat es also nicht nur zu verschulden, dass unsere Sonne drei Tage lang verdunkelt war, ist nicht nur direkt für den Tod mehrerer treuer Stadtwachen verantwortlich, nein, ich vermute sogar – vielmehr bin ich davon überzeugt! – dass auch die Geißel von ihm und seinen dunklen Künsten verursacht wurde, die wir als Radament kennen!“
Man sollte Griez vielleicht sagen, dass die besten Argumente eine Steigerung beinhalten, und eine Welt ohne Sonne ist nun mal doch ein wenig furchteinflößender als eine ohne ein paar gehirnamputierte Stadtwachen, die ganz nebenbei Pratham auf dem Gewissen hat, und nicht wir...wobei, die besten Argumente stimmen natürlich auch einfach. Was Griez sich hier aus den Fingern sagut, geht schwer an die Grenze zum Wahnsinn.
Um auf Pratham zurückzukommen...der ist in seiner Zelle, wo er auf die Exekution wartet, wenigstens vor diesem geistigen Durchfall verschont. Keine Prozesse für Deserteure oder so.
Der Meister seufzt theatralisch.
„Können wir mit dem Unsinn hier vielleicht aufhören, langsam? Da draußen wartet ein Welt auf Rettung...“
Diesmal schießt meine Hand, gefesselt an die andere, aber mobil, nach oben, um den Speer aufzuhalten. Der Meister zuckt nicht einmal. Griez stürmt auf ihn zu, holt zum Schlag aus – wieder bewegt der Meister keinen Muskel – aber der Söldnerführer lässt seine Hand mit einem grausamen Lächeln wieder sinken.
„Oh nein...keine Handgreiflichkeiten...so kommst du mir nicht davon...seht ihr das? Diese Arroganz noch im Angesicht seiner endgültigen Niederlage...“
Der Meister springt plötzlich auf, packt Griez beidhändig am Kragen und zieht sich zu dem weit größeren und schwereren Mann hoch, weil dieser sich nicht herunterziehen lässt, was den Angeklagten nicht im Mindesten stört.
„Jetzt pass mal auf, du Arschloch. Es ist ganz offensichtlich, dass du höchst gewillt bist, die Sache persönlcih zu machen, sonst würdest du nicht so viel Scheiße über mich verbreiten, wenn ich mal nicht da bin. Das Problem ist, es geht hier nicht um mich und dich. Ich hätte ja kein Problem damit, die Sache auch selbst persönlich zu nehmen, und ich denke, das würde dir nicht wirklich gefallen. Aber im Gegensatz zu einem engstirnigen Madenhirn wie dir habe ich eine Aufgabe, und der lass ich auch Niemand im Weg stehen, schon gar nicht persönliche Präferenzen. Ich sehe also davon ab, dein verschissenes Leben vor aller Augen zu einem wertlosen Nichts zu machen, und du lässt mich dafür einfach mein Ding tun, ist das so schwer?“
Griez pflückt den Meister von sich ab.
„Jedes deiner Worte verdammt dich mehr, Beschwörer-Abschaum...“
„Könnten wir dann bitte zur Ruhe kommen? Oder ich lasse den Saal räumen!“
Nicht nur in Anbetracht der Tatsache, dass das hier kein Saal ist, muss ich mich schwer zurückhalten, um nicht die Hand vor die Stirn zu schlagen ob Jerhyns offensichtlich vollkommener Unfähigkeit, selbst ein so kleines Ereignis wie diesen Prozess kompetent zu führen. Nichtsdestoweniger verbeugt sich Griez mit diversen „Ja, mein Gebieter“ und geht brav zurück an seinen Platz. Da haben sich zwei gefunden. Der Meister beugt sich zu mir.
„Den Arschkriecher machen wir fertig, jetzt ist es wirklich persönlich.“
Als der Speer in meiner Hand in einem sinnlosen Versuch, meinen Griff loszuwerden, zuckt, zerbreche ich ihn als Antwort, was wiederum Jerhyn zucken lässt.
„Ruhe! Ich vertage sonst die Sitzung! Habt Ihr es nicht eilig?“
Der Meister beugt den Kopf und gebietet mir Ruhe. Aber unter dieser Fassade brodelt es. Hoffentlich kann er jetzt mal die Klappe halten, wir sind in schlechterer Position, als er vielleicht denkt...
Griez holt nur mehrere Zeugen nach vorne.
„Elzix!“
„Ja, ich kenne den von früher...er hat mich immer ausgelacht, weil er nicht geglaubt hat, welche ruhmreichen Heldentaten ich in meiner Jugend begangen habe! Ein von Kindheit an verkommenes Subjekt!“
„Lysander!“
„Genau, der war es, der mir immer die Tränke geklaut hat!“
„Geglasch!“
„Er is imma bei Atma gewesen, un die Schlampe gibt mir nie was su trinken! Ausserdem hat sein Kumpel auf mich gekotzt!“
Ich lasse meinen Blick langsam zum Meister wandern – wir treffen uns in der Mitte. Kurz sehen wir uns an, dann hebt er langsam eine Augenbraue. Ich hebe langsam die andere. Wir wenden uns wieder voneinander ab.
Mein Glauben an die Menschheit wird komplett zerstört, als irgendein dummes Kind aus der Zuschauermenge einen Stein auf mich wirft, dem noch ein paar mehr folgen, bis Jerhyn wieder händeringend um Ruhe bittet, woraufhin diverse Mütter aktiv werden, und Atma...die nebenbei noch Geglasch eine Ohrfeige gibt. Sie starrt den Meister verzweifelt an, der beruhigend zurückgrinst; jedoch, viele Gesichter am Rand der Menge schauen unheilverkündend finster drein...glauben sie den Zeugen, die Griez irgendwo gefunden hat, etwa wirklich? Er sollte die richtigen aufrufen...
Nachdem die sonstigen wenigen (und noch weniger ernst zu nehmenden) Zeugen der Anklage gesprochen haben, scheint Jerhyn absolut Willens, die Sache zu beenden und das Urteil zu verkünden.
„Also, in Anbetracht der drückenden Beweislage, nach dem Willen des Volkes von Lut Gholein...“
Ich zerbreche wieder einen Teil des Speers laut krachend. Wie kann er nur...der Meister unterbricht den Fürsten, als dieser wieder zusammenzuckt.
„Entschuldigung – bekomme ich nicht einmal die Möglichkeit, mich zu verteidigen?“
Jerhyn stutzt kurz, dann setzt er ein hochmütiges Grinsen auf...bis er merkt, dass Viele im Volk sich zustimmend nickend und lachend anstupsen; sie erwarten, dass diese Verteidigung ziemlich lustig wird. Oh, wird sie sicher – und obwohl ihm das wohl nicht wirklich passt, muss sich Jerhyn als schwacher Herrscher beim Volk gut stellen.
„Also gut...als ob das was...egal. Aber ihr habt nicht einmal einen Verteidiger!“
Der Meister lässt seinen Blick über die Menge schweifen. Atma. Meschif. Warriv. Deckard...er sieht mich an.
„Hat das Gericht Schreibzeug zur Hand?“
Ich muss mir ernsthaft das Lachen verkneifen, und als Jerhyn die Frage mit einem stirnrunzelnden „natürlich“ quittiert, pruste ich los, ich kann nicht anders. Dann setze ich eine würdevolle Miene auf und trete in die Mitte des losen Kreises aus Menschen, der den „Saal“ darstellt.
„Das ist lächerlich!“
Ich würdige Griez keines Blickes, sondern nehme Papier und Stift in meine gefesselten Hände. Jerhyn hüstelt.
„Es ist nicht...vorgesehen...dass ein Angeklagter sich selbst verteidigt...“
Der Meister schweigt sich auf, zeigt auf mich, und ich habe gerade mit Mühe fertig geschrieben. Ich suche in der Menge...Deckard! Auf meinen Wink kommt er zu mir, er soll vorlesen und versteht das auch.
„Hier steht: Hohes Gericht, ich bin durchaus in der Lage, selbst zu denken!“
Ein Raunen geht durch die Menge, die ursprünglich ein wenig zurückgewichen ist, als ich in ihre Nähe kam. Jerhyn runzelt die Stirn.
„Das glaube ich nicht...doch sag, was hältst du von deinem Meister?“
Fangfrage! Kurze Zeit später verliest Deckard mit versteinerter Miene.
„Er ist, mit Verlaub, gelegentlich ein asoziales Arschloch, aber insgesamt ein toller Freund und grundanständig.“
Das Gericht ist kurz sprachlos, während der Meister mich, gespielt höflich verbeugend, anlächelt; ich glaube, jetzt wirft kein Kind mehr einen Stein, und Jerhyn kann auch nicht mehr abbrechen – die Leute wollen eine Show sehen. Und die bekommen sie auch.
Der Meister muss wohl auf mich abfärben. Ich hielt mich immer für reifer, aber nun spiele ich diese bewusste Provokation, diese narzisstische Selbstdarstellung und überhebliche Rebellion in typisch jugendlichem Übermut mit. Ist das weise? Nein. Ist es der einfachste Weg? Nein, der einzige, weil das hier sonst als Schauprozess durchgespielt wird. Ist es befriedigend? Aber hallo wie. Das Heft ist wieder in unserer Hand.
Trotzdem, jetzt muss wieder ein wenig Ordnung einkehren – die Versammlung jetzt durch kompletten Unsinn zu sprengen, wäre...unklug. Also darf Deckard wieder vorlesen, ich habe mir derweil die Fesseln abnehmen lassen, um besser schreiben zu können – von ihm, natürlich, aber Niemand hat protestiert.
„Erster Zeuge der Verteidigung – der Angeklagte.“
Griez will protestieren, aber das hier ist rechtens – also bekommt er Kontra. Und so erzählt der Meister in dieser durchaus fesselnden Weise, die er besitzt, und nur dann durch Fragen unterbrochen, wenn er abzuschweifen droht, was seine Aufgabe ist und wie er sie bisher erfüllt hat – die Höhle des Bösen, die mir auch neu ist, Blutrabe, Deckards Rettung, die Gräfin, der Schmied, Andariel, Radament, die Wurmgruft. Für die Unterbrechungen lasse ich Deckard von einem leeren Blatt ablesen – er weiß besser als ich, wie man ein Verhör führt und eine Erzählung in geregelte Bahnen lenkt. Das ist eh nur Theater.
Keiner aus der Menge hat während der Erzählung den „Saal“ verlassen; im Gegenteil, die Zuschauer und –hörer sind mehr geworden. Als der Meister mit der Reinigung des Sonnenaltars in den Flammen endet, folgt einer kurzen Periode der Stille Applaus. Erst Jerhyns dritte Bitte um Ruhe wird erhört. Sofort springt Griez auf, der sich sichtlich schwer tat, bis jetzt den Mund zu halten, aber ich hebe sofort den Arm, worauf mir Jerhyn widerstrebend das Recht zu „sprechen“ zugesteht – er weiß wohl, dass Griez jetzt seine Sache, den Meister ans Schaffott zu bringen, komplett unmöglich statt nur unwahrscheinlich machen kann.
„Ich weiß, was Euer Einspruch ist, Ankläger: Dass das eine schöne Geschichte sei, die aber durch Nichts bewiesen ist. Nun denn...“
Nach und nach verliest Deckard eine Reihe von Zeugen und stellt ihnen Fragen.
„Atma!“
„Er war als Kind bei mir und war ein ziemlicher Taugenichts, das muss ich zugeben. Aber er hat meinen Sohn und meinen Mann gerächt, und die Söhne und Männer aller Mütter hier, die Radament so gehasst haben. Er hat ihn getötet, und uns von dieser Geißel befreit, sie zu schaffen wäre ihm sogar absolut unmöglich gewesen, wie die Anklage angibt; er war überhaupt noch nicht auf der Welt, als sie uns das erste Mal überkam, und seine Eltern wurden sogar von Radament getötet! Er rächte auch sie, am Tag, als Himmelsfäuste von Himmel regneten...“
„Meschif!“
„Ja, es kam eine Invasionsstreitmacht von Skeletten, vor Allem Bogenschützen, aus dem Kanal. Sie haben gebrannt. Seine brennen nicht, und er hat sie bekämpft und besiegt, und so eine Invasion verhindert – ich verziehe ihm, dass er früher eine Gefahr für meine Lieferungen war.“
„Deckard Cain! Ja, ich kann bestätigen, was der General erzählt hat. Ich wurde in Tristram gerettet, ich habe miterlebt, wie er Warrivs Konvoi gegen Angreifer verteidigt hat, und besitze den Stab, den er aus der Wurmgruft geholt hat unter Einsatz seines Lebens.“
Der Meister hüstelt, und ich gebe Deckard das Amulett, das er mir übergibt.
„Ah, und das Vipernamulett – hervorragend! Es war im Tempel der Klauenvipern verschollen, was, neben dem Stadtportal dorthin, weiter beweist, dass er dort war und den Sonnenalter wieder geweiht hat.“
Griez scheint leicht verzweifelt, als sogar der hochgeschätzte Gelehrte sich auf die Seite des Meisters stellt – doch da verhärten sich seine Gesichtszüge wieder – hat er einen Plan?
Zeit für den Todensstoß. Deckards Mundwinkel zucken kurz, als ich ihm den nächsten Namen reiche.
„Griez!“
Das überrascht diesen vollkommen – und wenngleich Jerhyn offenbar am liebsten die Sache sofort hier als unhaltbar beenden würde, kann er Nichts tun. Mit diesem Rückhalt haben unsere Feinde wohl nicht gerechnet, und jetzt laufen sie ins offene Messer ihres eigenen Schauprozesses. Jerhyn, der Fürst, wird hier sein Gesicht bewahren – er muss, als Herrscher. Griez ist jetzt nur noch Bauernopfer – und er weiß es. Trotzdem, das muss man ihm lassen, er stellt sich den Fragen.
„Unter welchen Umständen kam es zur ersten Androhnung einer Verbannung gegenüber dem Angeklagten?“
„Der Totenbeschwörer führte trotz klaren Verbotes eine Skelettarmee in die Kanalisation, wohl um die von Meschif zum Glück entdeckte Invasion vorzubereiten!“
Ich schreibe, ohne groß über meine Antwort nachdenken zu müssen.
„Mit welchem Recht verbietet der Kommandant einer Söldnermiliz einem Bürger, die Kanalisation zu betreten?“
„Ich habe den Befehl, für die Sicherheit der Stadt zu Sorgen, im Rahmen dessen war diese Maßnahme völlig legitim!“
„Inwiefern stellt eine Exkursion von einem Menschen, einem Golem und damals fünf Skeletten eine Bedrohung für die Sicherheit dar?“
„Ich sagte doch schon, ihr wolltet doch nur die Invasion vorbereiten!“
„Das Verbot wurde also aufgrund einer Vermutung ausgesprochen, die sich, nach Meschifs und Atmas Aussagen, gerade, was das Ergebnis der Exkursion betrifft, als völlig haltlos erwies. Soweit korrekt?“
Deckard versteht es meisterhaft, meine wenigen dahingekritzelten Satzfetzen – mehr würde die Sache zu sehr in die Länge ziehen – in eine stringente Argumentation zu formen! Bevor Griez auf die ohnehin rhetorische Frage mit weiteren Verdächtigungen antwortet und die Debatte damit ad absurdum führt, was wir ja nicht wollen, fahren wir schon fort.
„Da dieser Einwand sicher folgen wird – und auch berechtigt ist – in der Tat geht es hier natürlich nicht um Anklagen gegen den Ankläger und eventuell begangene Verfahrensfehler, weswegen diese Richtung auch nicht weiter verfolgt werden soll. Es geht rein um Fakten. Unter welchen Umständen wurde die Verbannung in Union mit dem Ächtungsbefehl durchgesetzt?“
Griez, der das improvisierte Gebäude seiner Verteidigung gegen meinen letzten Angriff gerade erst fertig zusammengesetzt hatte, muss es jetzt wieder einreißen und aus den Trümmern ein neues bauen...
„Er tötete Mitglieder der Stadtwache, als er sich der Verhaftung widersetzte!“
Und damit habe ich dich, diese Hütte reicht nicht.
„Welchen Grund gab es für die Verhaftung? Bisher war noch keine Straftat begangen, die eine solche Maßnahme rechtfertigen würde...“
Griez verschränkt die Arme.
„Das ändert Nichts an den begangenen Morden!“
Ich lächle kalt, als Deckard liest.
„Wie vom Ankläger bereits ohne Einspruch während der Zeugenaussage des Angeklagten hingenommen wurde, ist festgestellt, dass kein Bürger von der Hand des Generals selbst oder seiner untoten Diener gefallen ist. Insofern ist weder der Versuch der Festnahme noch die darauf folgende Anklage gerechtfertigt.“
„Moment mal...“
Todesstoß.
„Warum also stehen wir im Moment hier? Aus rein formalen Gründen kann das Urteil nur Freispruch lauten, wenn es darüber hinaus keine Forderungen nach Entschuldigung, eventuell in materieller Form gibt.“
Die reine, kalkulierte Unverschämtheit dieser Forderung lässt Richter und Ankläger kurz paralysiert – und gibt dem Meister Gelegenheit, aufzustehen, und dabei beschwichtigend beidhändig abzuwinken.
„Nun, so weit wollen wir hier gar nicht gehen. Ich bin keiner der hier beteiligten Parteien in irgendeiner Weise böse – die keine Verzeihung zuließe.
Wie ich bereits betonte, bin ich auf einer Mission. Die Details sind bekannt: Ich bin selbsternannter Weltretter in spe. Dafür mag Mancher mich für verrückt halten; sicher hingegen ist meine Arroganz und Überheblichkeit. Diese allerdings sind eigentlich nur ein Grund, Jemand auf einer persönlichen Ebene nicht zu mögen, keineswegs ein Grund für eine automatische Verurteilung. Im Gegenteil, Vorurteile sind ja per Definition eben nicht an den Eindruck gebunden, den man von einem Menschen gewinnt. Umso schwerer sind diese zu zerstreuen. Kritisch wird es, wenn derartige Vorurteile, und ich denke, über diese bekannten mir gegenüber muss ich nicht weiter erzählen, auf negative Einschätzungen der Persönlichkeit treffen – und womöglich noch auf weitere Vorurteile, basierend auf meiner Herkunft?“
Seine Blicke wandern kurz zu Jerhyn, während er langsam um Griez herumgeht.
„Letztlich ist es also logisch, dass man mich nicht nur verachtet, sondern hasst. Umso mehr verwirrt es mich, dass es tatsächlich Menschen gibt, die über alte Vorurteile hinwegsehen können, ja sogar über erste Eindrücke, und die mich wirklich mögen, wie ich bin oder sein kann. Weit mehr als das ist allerdings Grund meiner Konfusion, dass es nicht die Leute sind, die es besser wissen müssten, welche mir ein offenes Ohr und echtes Verstehen gegenüberbringen.
Es ist nicht die herrschende Klasse, es sind nicht die, in deren Händen militärische Macht liegt. Diese sind genauso von ihren Vorurteilen beherrscht wie der gemeine Mensch – doch halt! Mehr als diese, denn gerade unter dem einfachen Volk findet sich echte Menschlichkeit und uneingeschränktes Mitleid, Unterstützung, die ich nicht einmal zu fordern wage – Alles, was ich will, ist meinen Weg zu gehen, der, davon bin ich fest überzeugt, der richtige ist. Solange dieses Niemand schadet, verstehe ich einfach nicht, warum man mir hier Steine in den Weg legen muss, bis hin zur völligen Blockade – aufgrund einer persönlichen Fehde die Chance darauf verbauen, dass ich Recht habe – und Sanktuario durch meine Handlungen vom Bösen gerettet wird?
Gebannte Stille legt sich über das Gericht nach des Meisters flammender Anklage seiner Ankläger in verstecktem Gewand eines Plädoyers für mehr Menschlichkeit. Da, plötzlich, tritt Griez vor und schlägt ihm mit voller Wucht in den Bauch. Wir beide klappen zusammen.
„Wie kannst du Kanalabschaum es wagen, nach Allem, was du getan hast, eine derartig polemische, lächerliche und falsche Rede zu halten? Denkst du, Niemand merkt, dass die Verdunkelung der Sonne rein zufällig kurz nach deinem Verschwinden passierte? Dass du dich überhaupt noch hier blicken lässt...begreifst du nicht, welche Gnade diese Verhandlung ist? Eine, die jetzt vorbei ist! Schafft ihn weg!“
Ich will die Wachen aufhalten, als sie auf den Meister zustürmen, aber zwei schlagen mich brutal nieder, mein Kopf wird zwischen Klingen gefangen. Nein! Soll diese offene Zurschaustellung diktatorischer Staatsgewalt unseren klaren Sieg zunichte machen?
„Haltet den Totenbeschwörer nur fest, tötet den Golem, er ist nicht mehr gefesselt!“
Nein! Selbst, wenn der Meister es überlebt, wenn man mir den Kopf abtrennt, danach wird er verbluten...die Wache hebt ihre Bardike...
Und wird zurückgerissen. Atma hat sich auf sie gestürzt.
“Lässt du ihn in Ruhe, du Kanaille? Bürger von Lut Gholein! Ihr Frauen, denen er Rache gebracht hat! Lasst euch das nicht gefallen, dass euer Held von diesem feigen Schwein zu Boden gestoßen wird!“
Und plötzlich, völlig überraschend, bricht die Versammlung in Chaos aus. Die Stadtwachen sind auf einmal einer Überzahl aufgebrachter Bürger gegenüber, die gegen sie mit Knüppeln, Pfannen, Steinen und bloßen Händen losgehen. Griez schlägt wild mit seinem Speer um sich...ich sehe, wie Drognan zu Jerhyn hochrennt, der komplett die Kontrolle verloren hat und absolut verzweifelt dreinschaut.
Griez wirft seinen letzten Widersacher um, da wieder Frost den Platz erfüllt, diesmal gegen alle Bürger gerichtet außer den uniformierten. Er packt seinen Speer und stürmt auf den Meister zu, der am Boden liegt...
Ein entschlossener Lut Gholeiner stellt sich ihm in den Weg. Ohne Überlegung durchbohrt ihn Griez mit seinem Speer. Ein furchtbarer Schrei erfüllt den Platz, und Alles wird schlagartig still.
Der Söldnerführer steht über der Leiche des Mannes und würdigt sie doch keines Blickes. Der Meister ist sein Ziel, und dieser starrt zurück...mit einem Grinsen.
„Aufhören! Aufhören! Im Namen des Gesetzes, aufhören!“
Jerhyn hat es endlich geschafft, seinen Schrecken über diese Entgleisung zu überwinden.
„Griez, was fällt Euch eigentlich ein? Was ist in Euch gefahren? Zuerst unterbracht Ihr diese Verhandlung ohne Aufforderung und Grund, und jetzt tötet Ihr einen unschuldigen Bürger? Euch ist bewusst, dass dieses Verhalten untragbar ist?“
„Herr...“
„Kein Wort will ich mehr hören! Ihr seid Eueres Amtes enthoben und habt Euch für einen ganz normalen Mord in voller Absicht ohne mildernde Umstände zu verantworten. Kraft meines Amtes verurteile ich Euch zunächst zu Kasernenarrest, worin Ihr auf baldige Verurteilung warten sollt – aber nur wegen früherer Verdienste um die Verteidigung von Lut Gholein. Der Totenbeschwörer ist freigesprochen! General, ich bitte Euch um Verzeihung. Dieses verkommene Subjekt hat mir Lügen über Euch erzählt, haarsträubende. Findet Euch heute Abend bei Sonnenuntergang in meinem Palast ein, ich möchte im Privaten diese ganze Geschichte noch einmal besprechen.“
Griez verliert völlig die Fassung und stammelt Unzusammenhängendes, als seine eigenen Männer ihn abführen. Der Meister wird von mehreren Leuten vom Boden aufgehoben und auf Händen getragen. Niemand traut sich an mich heran, aber das ist nicht weiter schlimm.
Griez ist sein eigener Hass zum Verhängnis geworden. Wie es immer sein wird, wenn Abneigung zu Fanatismus wird.
Wir haben gewonnen - in diesem Schauprozess hat wirklich einmal der Wille des Volkes gesiegt.