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Muchnara

StalkerJuist

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17 Mai 2001
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Hallo! Nach einer längeren Pause ein (erneuter) Versuch, aus meiner Schreibblockade herauszukommen. :rolleyes:

Muchnara 1
Der Überfall

Namensliste und Bezeichnungen

Samara De Veracas (Aylene): Eine angehende Kriegerin auf fragwürdigem Pfad
Askar Herl: Anführer der Gruppe “Neotische Faust”
Sylissa Chamal: Magierin in Askar Herls Gruppe
Ragar Baragnar: Ein Bauer, der sich Sorgen um seine Familie macht.
Hilde, Keron, Farah: Ragars Frau, Sohn und Enkelkind


In einer Aprilnacht am Ostrand Krytas im Grenzgebiet zwischen den Provinzen Umheide und Kinitat.

Samara lag mit dem Rücken auf dem blanken Boden, ihre Beine zu ihrem kleinen Feuer hin ausgestreckt, das leise knackend die Frühlingsnacht erwärmte. Regungslos blickte sie hoch zu den Sternen. Das tat sie oft, gerne vertrieb sie sich die Zeit mit der Suche nach bekannten Konstellationen und den Fragen, was all diese fernen Lichtpunkte bedeuteten, die immer mehr wurden, je länger man sie ansah. Erst als das trockene Holz ihres Feuers immer stärker anfing zu brennen, begann sie mit den Zehen zu spielen. Schließlich richtete sie sich mit einem Ruck halb auf und zog die heiß gewordenen Füße an den Körper. Im Schneidersitz versank sie allmählich wieder in ihren Gedanken.

„Warum setzt du dich nicht zu uns, Samara?“

Es dauerte einen Moment, bis die Stimme ihr Bewusstsein erreichte und sie aufsah. Samara erkannte die Umrisse Askar Herls. Ehe sie antworten konnte, machte der Anführer eine resignierende Geste und setzte sich ihr gegenüber auf den Boden. Seine dunklen Augen huschten kurz über sie, um dann ihren Blick zu finden.
„Ich möchte dich nicht stören, wenn du alleine sein willst. Doch du scheinst mir über ein Problem zu grübeln. Geht es um unseren morgigen Plan?“

Seit nahezu einem Monat war Samara jetzt bei Askars Gruppe, aber es fiel ihr schwer, sich in sie einzuleben. Diese Männer und wenigen Frauen waren zumeist eher grobe Gesellen, deren derbe Sprache und Späße Samara mehr abschreckten als anzogen, waren sie auch herzlich gemeint. Bisher hatte sie nur zu Askar einen Zugang finden können, aber ein tieferes Vertrauen hatte sie auch zu ihm nicht aufbauen können. Dabei war ihre erste Begegnung so vielversprechend gewesen, schienen sie doch einem gemeinsamen Ziel zuzustreben. Auch war Askar stets gepflegt und höflich, ebenso verstand er es, im richtigen Moment zuzuhören und sich einzufühlen.

Askar sprach mit ernstem Blick weiter: „Wenn du Fragen hast oder Zweifel, dann möchte ich, dass du mit mir darüber sprichst.“
Als sie nicht reagierte, entspannten sich seine Züge zu einem leichten Lächeln.
„Hast du vielleicht Angst? Das würde ich verstehen. Es wird morgen Nacht dein erster richtiger Einsatz sein.“

„Ich habe keine Angst, Askar“, erwiderte Samara, nachdem sie endlich ihre Überraschung überwunden hatte. „Ich bin eine Kriegerin mit einer langen und guten Ausbildung. Warum sollte ich Angst haben?“
„Oh, ich habe nie an deiner Tapferkeit gezweifelt. Aber was bedrückt dich dann?“
„Ich möchte nur in Ruhe nachdenken.“
Kurz schien ein Schatten von Ungeduld über sein Gesicht zu ziehen, doch in dem flackernden Licht war das nicht sicher zu bestimmen.
„Samara, wir müssen uns auf dich verlassen können, deshalb muss ich wissen, was dich so beschäftigt. Wir sind doch eine Gruppe, und ...“ Er unterbrach sich, als sie ihren Kopf schüttelte und erkennbar nach den passenden Worten suchte.

„Ich verstehe nicht, warum sich Fürst Ezlom weigert, unser Land von den Malunen zurückzuholen“, antwortete sie zunächst etwas stockend. „Die Bewohner der Umheide waren stets seine treuen Bürger. Was haben wir falsch gemacht, dass er seine Hilfe verweigert?“
Askar lachte leise. „Ach, Samara! Du glaubst doch nicht wirklich, die Fürsten würden sich zuerst um das Wohl ihrer Untergebenen kümmern? Die interessieren sich nur für sich selbst. Ezlom wird abgewogen haben zwischen den Kosten für einen Feldzug und den zu erwartenden Steuereinnahmen aus einer zurückgewonnenen Umheide. Was glaubst du, würde ihm diese Bauernprovinz einbringen?“
„Die Umheide ist nicht irgendeine Bauernprovinz“, entgegnete Samara hörbar verärgert. „Sie ist meine Heimat.“
„Ich weiß, wie du denkst“, erwiderte er mit besänftigender Stimme. „Ich sagte nur, wie unser Fürst das sieht. Auch für mich ist die Umheide eine Heimat. Doch Ezlom hat kühl gerechnet und meint, es sei für ihn billiger, sich mit Fürst Caron, diesem Dieb, zu arrangieren. So kann er seine Armee abzubauen und das eingesparte Gold in seine Lustschlösser stecken. Für Ezlom mag das bequem sein, doch uns lässt es keine andere Wahl, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen.“
„Du hast also keine Zweifel?“, fragte Samara.
„Nein! Wir haben lange genug gezögert. Immer nur irgendwelche malunische Händler auszunehmen bringt uns nicht voran.“
„Ja“, stimmte sie zu, „so werden wir nur selbst zu Dieben.“
Askar beugte sich vor. Das Feuer ließ nun scharfe Schatten über sein Gesicht tanzen.
„Ich will kein schmutziger Dieb sein. Ich will endlich etwas erreichen.“
„Das will ich auch, deshalb bin ich hier. Doch ist es der richtige Weg, den Bauernhof anzugreifen?“, strömten die Worte aus Samara hervor.

Askar nahm einen kleinen Ast und warf ihn in das Feuer. Beide beobachteten, wie die Flammen nach ihm griffen und er mit einem leisen Knacken in zwei Teile zerbrach. Sie waren es gewohnt, nachts an einem Feuer zu sitzen, das den Körper vorne erhitzt doch den Rücken auskühlen lässt. In dem nun etwas hellerem Licht waren beide besser zu erkennen. Samara De Veracas war eine große und schlanke Frau, ihr sehniger Köper wirkte nicht allzu weiblich, doch ihr schmales Gesicht mit den schwarzen Augen, die nun im Lichtschein funkelten, verliehen ihr Eleganz. Askar Herl hingegen war ein Mann von kantiger Statur, dessen kräftige Stimme sich überall leicht durchsetzte, ohne aber derb zu wirken.

Askar schien etwas zurückzuweichen, beugte sich aber dann noch weiter vor, bis die Flammen sein Gesicht völlig erhellten, dabei jeden Zug scharf betonend.
„Ja! Wir werden sie einschüchtern und verjagen!“, sagte er fest. „Das wolltest du doch auch immer.“
„Ja, natürlich.“ Langsam beugte auch sie sich vor, bis ihr Gesicht ebenfalls im Lichtschein schimmerte. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob wir die Richtigen angreifen. Es sind nur Bauern.“
„Bauern“, sagte Askar, und in diesem Wort schwang ebenso Gleichgültigkeit wie Verachtung. „Diese malunischen Bauern besetzen deine Heimat. Also müssen sie verschwinden. Wir alle wollen das, und ich dachte, du insbesondere. Oder hast du Zweifel?“ Er sah sie scharf an. „Es wird dein erster richtiger Einsatz werden, da können einem schon Gedanken kommen.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten stand er auf. „Kommst du jetzt mit an unser Lagerfeuer? Das würde dich ablenken.“
„Ich bin müde und möchte lieber etwas schlafen.“
Askar zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst.“ Er zögerte einen Moment lang, dann beugte er sich zu ihr herab und sagte mit gedämpfter Stimme: „Wenn du aussteigen willst, dann sage es mir vor unserem Angriff. Das wäre zwar schade, aber ich würde es verstehen.“
„Du kannst dich auf mich verlassen“, erwiderte sie mit wenig überzeugend klingender Stimme.

Askar richtete sich endgültig auf, drehte sich um und ging zurück zu dem großen Lagerfeuer, um das sich seine anderen Leuten versammelt hatten. Sie begrüßten ihn mit lauten Rufen und er setzte sich auf einen flach liegenden Baumstamm zwischen sie. Es war schon einiges an Wein geflossen, und die Stimmung war entsprechend ausgelassen. Askar nahm mit einem leichten Nicken den angebotenen Krug entgegen und tat einen tiefen Schluck, während vor dem großen Lagerfeuer eine der mitziehenden Huren versuchte zu tanzen. Wie gewöhnlich gelang ihr das nur kläglich, doch das störte die Wenigsten, im Gegenteil, es steigerte eher noch die Heiterkeit der Kämpfer.

*​

„Was hast du mit Farah angestellt?“, rief Keron. Sichtlich erregt stand er in der Tür zur Küche und rang mühsam um Beherrschung.

Hilde, die am Arbeitstisch stand und Gemüse putzte, unterbrach ihre Arbeit und drehte sich langsam zu ihrem Sohn um. Ihr Gesicht wirkte verschlossen.
„Deine Tochter hat einen Teller fallen lassen. Nicht zum ersten Mal ist sie unaufmerksam gewesen, also habe ich ihr eine Ohrfeige gegeben“, sagte sie mit gezwungen ruhig klingender Stimme.
Keron machte zwei schnelle Schritte auf sie zu, stand jetzt unmittelbar vor seiner Mutter. „Das war nicht nur eine Ohrfeige! Das Kind ist völlig durcheinander. Jetzt sitzt es in der Scheune und zittert vor Angst.“
„Vielleicht lernt es nun endlich aufzupassen. Wenn ich es ihr nicht beibringe, wer dann?“
„Hast du mich nicht verstanden? Sie zittert aus Angst vor dir. Ihr halbes Gesicht ist blau. Das kannst du doch nicht tun, Farah ist erst acht Jahre alt. Wie kannst du sie so hart schlagen?“
„Deine Tochter ist ungezogen und braucht eine strenge Hand. Sie wird sonst nie einen Mann finden, der sie heiratet. Das wird ohnehin schwer genug werden, bei ihrem Makel.“
„Jetzt fang nicht wieder damit an! Farah kann doch nichts dafür.“
Hilde knallte das Messer auf den Tisch und deutete vorwurfsvoll auf ihren Sohn. „Das kommt davon, dass du dich mit dieser ...“
„Mutter!“, schrie Keron, „Lass gefälligst Janina da raus!“

„Jetzt ist es aber genug!“, rief Ragar dazwischen. Schwer stapfte der Bauer zur Tür herein und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Müsst ihr euch denn immer gleich streiten?“ Er sah Keron streng an. „Du entschuldigst dich sofort für deinen Ton. So spricht man nicht mit seiner Mutter.“

Es wurde still. Keron senkte schuldbewusst seinen Blick. Quälend langsam verging die Zeit, bis Keron endlich aufsah in das noch immer ausdruckslose Gesicht seiner Mutter. „Vater hat Recht, es tut mir Leid, dich angeschrieen zu haben.“

Hilde zögerte kurz, dann nickte sie knapp. Ohne ein Wort nahm sie wieder das Messer in die Hand und putze weiter das Gemüse. Ihre fahrigen Bewegungen zeugten von der stillen Erregung, die in ihr brodelte. Keron wusste, dass es keinen Zweck hatte und eilte heraus zu seiner Tochter in der Scheune.

„Hilde“, sagte Ragar leise, nachdem Keron die Tür geschlossen hatte. Als seine Frau nicht reagierte und weiterhin fahrig eine Möhre schälte, packte er ihre Hand und hielt sie fest. „Hilde, ich habe Farah gesehen, und ich meine, du warst wirklich zu grob zu ihr.“
„Zu diesem Bast...“
„Hilde!“ Er presste ihr Handgelenk. „Bitte! Sag das nicht. Nenne Farah nicht einen Bastard. Sie ist die Tochter deines Sohns. Er liebt sie über alles.“ Sein Griff lockerte sich.
Hilde wandte sich zu ihm um und nickte schwer. „Ach, hätte ihn doch dieses elende Weib nicht verführt! Er könnte jetzt so glücklich sein. Weshalb hat Keron nur sein Leben an dieses Weib vergeudet?“ Verzweifelt schüttelte sie ihren Kopf.

Ragar zog seine Frau an sich und nahm sie vorsichtig in seine Arme. „Bitte sei nicht so bitter. Manchmal ist die Liebe stärker als jede Vernunft, das wirst du doch verstehen.“
Eine Träne lief über ihr Gesicht. „Ich wollte Farah nicht verletzen. Ich wollte sie nur tadeln für den zerbrochenen Teller. Es ... es ist wieder über mich gekommen.“
„Ich weiß“, sagte er leise und wischte ihre Träne fort. „Doch wir müssen damit leben.“

In der Scheune fand Keron seine Tochter in einer Ecke zusammengekrümmt auf dem Boden liegend. Er eilte zu ihr und hob das Kind vorsichtig auf. Federleicht war es in seinen Armen, und er wagte kaum, es tröstend an sich zu drücken, schien es doch so zart und zerbrechlich wie ein kleiner Vogel zu sein.
„Ich möchte nicht zurück in das Haus“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Keine Angst, ich bleibe bei dir, meine Kleine“, flüsterte er zurück.

*​

Samara hob vorsichtig ihren Kopf an und spähte den mit knöchellangem Gras bewachsen Hang hinab. Die Luft war völlig klar, und die Umrisse des Bauernhofs waren gut zu erkennen. Ein Hauptgebäude mit angebautem Stall, eine große Scheune, eine zweite, kleinere Scheune und einige Schuppen lagen ruhig im Mondlicht.

Bald sollte es sich in das flackernde Licht brennender Häuser verwandeln. Sie wollten ein Zeichen setzen. Askar hatte gesagt, der ganze Hof, er solle zum Fanal ihres Befreiungskampfes werden. Sie sollten die Bewohner aus ihren Löchern treiben und dann vor ihren Augen alles niederbrennen. Das sollte die Landräuber gründlich vertreiben.

Die ganze Nacht und den Tag über hatte Samara mit sich gerungen, ob sie diesen Schritt gehen sollte. Ihr Verstand hatte gesagt, sie müsse mitmachen. Es wäre treulos, jetzt zu gehen, wo Askar auf sie zählte. Er habe zwar genügend Kämpfer, aber zu wenige mit kühlem Verstand, hatte er noch zu ihr gesagt. Ohne ihre Hilfe könnte die Lage außer Kontrolle geraten und alles in einem Blutbad enden. Er wolle befreien und nicht töten. So hatte Samara ihr protestierendes Gewissen unter einem Berg von Argumenten begraben können.

Aber es war nicht verstummt.

„Willst du etwa den ganzen Hügel hinunter kriechen?“, fragte eine spöttische Stimme laut.
Samara zuckte sichtlich erschrocken zusammen.
„Du kannst beruhigt sein, die schlafen fest. Niemand sieht uns hier“, fuhr die Stimme gelassen fort. „Du kannst also aufstehen und einfach runtergehen.“
Mit dem Mondlicht im Rücken waren nur die Umrisse der kleinen Gestalt zu erkennen. Breitbeinig stand Sylissa Chamal da, die rechte Hand Askars.
„Selbst der Wachhund ist keine Gefahr mehr. Es gibt also keinen Grund, Zeit zu verlieren. Oder bist du anderer Meinung?“, sagte Sylissa weiter.

Samara zwang sich dazu, möglichst gelassen aufzustehen.
„Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich das sein? Niemand erwartet uns, und den Hund hast du angelockt und vergiftet.“
„Es war ein dummes Tier. Jetzt komm endlich, wir sind spät dran.“
„Du willst mich begleiten?“, fragte Samara.
„Ja“, erwiderte Sylissa kühl. „Askar meinte, du könnest in Schwierigkeiten kommen. Ich werde daher immer hinter dir sein und gegebenenfalls eingreifen.“

Ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung breitete sch in Samara aus. So sehr sie sich auch vor der Magierin fürchtete, jetzt gab es kein Zaudern und kein Zurück mehr. Sie drehte sich wortlos um und ging den Hang hinab. Das trockene Gras raschelte unter ihren Füßen, die sie geübt genau setzte. Die hier zahlreich wachsenden Ranken waren tückisch, man verfing sich nur zu leicht in ihnen. Einmal horchte sie auf Sylissas Schritte, die Magierin schien sich wesentlich unbekümmerter zu bewegen.

An der Stelle, wo der Hang in den ebenen Talgrund überging, erreichte sie eine Reihe von verfilzten Büschen. Samara hob ihre Unterarme schützend vor das Gesicht und schob sich mit sanfter Gewalt in das Gestrüpp. Die Dornen zerrten an ihrer Kleidung, konnten aber den kräftigen Stoff der Hose und die lederne Weste nicht durchdringen. Lediglich ihre bloßen Arme und Hände wurden etwas aufgeschrammt. Auf der anderen Seite der Buschreihe überquerte sie einen schmalen Graben, um dann auf dem Gelände des Hofs zu stehen. Um sich blickend fuhr Samara sich mit beiden Händen prüfend über ihre Unterarme. Etwas Blut klebte an ihnen, doch es war nicht weiter der Rede wert.
„Worauf wartest du noch?“, klang Sylissas ungeduldige Stimme unmittelbar hinter ihr auf.

Samara fragte sich, wie die Magierin in ihrem kurzen Rock und mit ihren langen und offen getragenen Haaren so schnell durch das Hindernis gekommen war. Gegen ihren Willen empfand sie etwas Bewunderung für sie.
„Du bist schon hier?“
„Was heißt hier ‚schon’?“, kam es schroff zurück. „Wir sind die Letzten. Los, weiter, Alle warten auf unser Zeichen. Sobald die große Scheune brennt, stürmt Askar das Wohnhaus.“

Die Scheune lag keine zehn Schritte weit entfernt. Samara eilte zu ihr und drückte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand. Eines der Bretter knarrte leicht unter ihrem Druck. Erschrocken über das Geräusch, welches ihr in der nächtlichen Stille so verräterisch vorkam, löste sie sich wieder von der Wand. Sie lauschte kurz, sah sich sichernd um, und ging dann suchend um das Gebäude herum. Das große Tor war unübersehbar, doch sie wollte einen kleineren und weniger auffällig zu öffnenden Zugang finden. Sie entdeckte auf der zum Wohngebäude gelegenen Seite eine schmale Tür. Noch einmal blickte sie sich um, dann zog sie die unverriegelte Tür gerade so weit auf, dass sie durch den Spalt hineinschlüpfen konnte.

Im Inneren war es stockdunkel. Warum hatte sie nicht daran gedacht und eine Fackel mitgenommen? Nun müsste sie mit ausgestreckten Armen um sich tastend umherirren, um etwas zum Anzünden zu finden. Das würde nicht einfach werden, hier könnten alle möglichen Dinge im Weg umherliegen, und viel Stroh würde um diese Jahreszeit nicht mehr da sein, ärgerte sie sich.

Einige Minuten war sie ergebnislos umhergetappt, als unüberhörbar die Tür ging. Samara blieb regungslos stehen. Das konnte unmöglich Sylissa gewesen sein. Die Magierin mochte zwar überheblich sein, doch wirklich unvorsichtig war sie nie gewesen. Vielleicht war es einer von Askars anderen Kämpfern?

Hastige Schritte näherten sich ihr. Nein, diese Männer bewegen sich nicht so leichtfüßig. Unsicher geworden zückte Samara ihren Dolch und drehte sich den Schritten zu. Sie schienen ihr noch entfernt, als völlig überraschend etwas vor ihr auftauchte. Es war mehr eine Bewegung als ein Umriss in der Dunkelheit.
„Großmutter?“, fragte eine ängstliche Stimme leise.
Ein Schock fuhr ihr durch alle Glieder. Einen Moment lang konnte sie sich nicht rühren, dann schien ein größerer Schatten auf sie zuzukommen. Sie wollte ausweichen und machte einen Schritt zu Seite. Im selben Moment traf sie ein Schlag im Rücken.

Die Wucht des Schlages war seltsam weich und doch stark genug, um sie nach vorne stürzen zu lassen. Die Welt schien in rotes Licht getaucht, in dem kurz ein großer Mann zu sehen war, der sie entsetzt anstarrte. Es wurde wieder alles Schwarz um sie herum und sie prallte unvermittelt gegen ein Hindernis. Ein schwacher Schrei erklang. Sie riss den Gegenstand mit um und prallte hart auf dem Boden auf. Der Gestank verbrannten Fleisches kroch in ihre Nase, dann verlor sie ihr Bewusstsein.

*​
 
:hy:

Recht grober Schnitzer für eine ausgebildete Kämpferin eigentlich, sich so überrumpeln zu lassen :D Und die Magierin glänzt durch Abwesenheit. :no: Was das wohl bedeuten mag...

Vor nicht allzu langer Zeit hab ich deine "Protektoren" recht begierig verschlungen und freue mich, daß es jetzt was Neues von dir gibt. Möge der Muse Kuß die Schreibblockade in Grund und Boden stampfen :D

Ach ja, ein paar kleinere Vertippser sind mir noch aufgefallen :)
„Oh, ich habe nie an deiner Tapferkeit gezweifelt. Aber was ist bedrückt dich dann?“
...
„Du entschuldigst dich sofort für deinen Ton. So spricht man nicht mir seiner Mutter.“
...
Die hier zahlreich wachsenden Ranken waren tückisch, man verfing sich nur zu leicht und ihnen.
...
Askar richtete sich endgültig auf, drehte er sich um und ging zurück zu dem großen Lagerfeuer
 
Danke für die Hinweise, ist korrigiert. Der 2. Teil ist fast fertig. Genauer gesagt sind beide Teile schon etwas älter, doch ich wollte sie noch einmal überarbeiten.
 
Du liest bei mir, ich les bei dir :)

Klingt auf jeden Fall schon mal recht vielversprechend, mir sind auch keine weiteren Fehler aufgefallen, bin also gespannt auf den nächsten Teil :)
 
Muchnara 2
Aylene

Als die Kälte des Reifs ihre Haut berührte, zuckte sie zusammen.
Plonk!
Ein stummes Stöhnen kroch ihrem Mund.
Plonk!
Sie schien sich mit ihrer letzten Kraft entgegenstemmen zu wollen, doch grobe Hände hielten sie unbarmherzig fest.
Plonk!
Mit geübten Hammerschlägen trieb der Schmied den Nietkopf.
Ob er ahnte, was sie fühlte? Welche Gnade sie erflehte?
Zu erschöpft war ihre Seele, um es herausschreien zu können:
Wäre der Amboss nur ein Block, der Hammer nur eine Axt.

*​

Vier Monate nach dem Überfall auf den Bauernhof

Bumm!
Bumm!
Dumpf tönte das fordernde Klopfen durch das Haus.
Bumm!

Ragar blickte von seinem Mittagsmahl auf und sah, wie Keron seine neben ihm sitzende Tochter schützend an sich zog. Unwillkürlich musste er sich an jene Ereignisse erinnern, die ihr Leben einst so schmerzvoll verändert hatten.
„Willst du nicht nachsehen?“, schnitt Hildes Stimme in seine Gedanken.
Er sah seine Frau an, sie zeigte keine Anzeichen von Furcht. Stumm nickte er, stand auf und ging aus der Küche zur Haustür.
„Moment! Ich komme schon!“, rief er auf dem Gang.

Als Ragar die Tür öffnete, erkannte er auf Anhieb einen Offizier. Der Mann mittleren Alters war groß gewachsen, doch von unauffälliger Statur.
„Seid Ihr Ragar Baragnar, der Bauer, dessen Hof überfallen wurde?“
„Ja ... ja, das bin ich“, antwortete Ragar misstrauisch.
„Mein Name ist Jazor. Ich komme im Namen unseres Fürsten Caron, um Euch die Täterin zu überlassen.“
„Wie bitte?“, fragte Ragar verständnislos.
Jazor machte einen Schritt zur Seite und drehte sich um. Mit der rechten Hand deutete er auf eine in wenigen Schritten Entfernung auf dem Boden sitzende Gestalt. Sie hatte ihre Knie mit beiden Armen an den Leib gepresst und ihr Gesicht darauf abgesenkt. „Diese Frau dort ist die Täterin.“ Er machte eine auffordernde Geste. „Kommt und überzeugt Euch selbst.“

Ragar blieb zunächst stehen, seine Augen sprangen einige Male verunsichert zwischen dem zusammengekauerten Körper und einem daneben stehenden, etwas gleichgültig wirkenden, Soldaten hin und her.
„Seht sie nur an“, meinte der Offizier und wiederholte seine Armbewegung.
Zögernd ging der Bauer auf die Beiden zu. Auf ein kleines Zeichen Jazors hin griff der Soldat der Gestalt grob in den Nacken und riss sie gewaltsam hoch.
„Aber das ist doch eine Frau!“, rief Ragar überrascht aus und sah zu Jazor.
„Die Verbrecherin, die Eure Familie töten wollte“, erwiderte der Offizier gelassen.

Erstaunt sah Ragar die Gefangene an. Sie war groß und schlank, hatte kurz geschorene Haare und trug ein knielanges formlos wirkendes Gewand aus grobem Leinen, dessen Farbe ursprünglich braunweiß gewesen sein mag. Ihr ausgemergeltes Gesicht mit den müden schwarzen Augen war von einer dichten Schicht Straßenstaubs bedeckt. Überhaupt schien alles an ihr mit diesem hellgrauen Staub überzogen zu sein: Kleidung, Füße, Scheinbeine und die bloßen Arme. Umso deutlicher sprang ihm das Rot ihrer aufgeschlagenen Knie und der wund gescheuerten Handgelenke in sein Auge.

„Wir mussten sie den halben Weg weit hinter meinem Pferd herziehen“, erklärte Jazor, der Ragars Blick verfolgte. „Diese Verbrecher können so lange gut laufen, wie wir hinter ihnen her sind. Sonst sind sie faul und träge.“ Er spuckte neben ihre Füße.
„Diese Frau soll uns überfallen haben?“, fragte Ragar ungläubig und sah zu Jazor.
„Ja, das ist absolut sicher. Sie wurde damals aus Eurer Scheune geholt.“
Ragar nickte nachdenklich. „Ich habe damals nur mitbekommen, wie Soldaten jemanden abführten. Meine Scheune brannte und meine Enkeltochter war schwer verletzt.“
„Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen. Die Verbrecherin hat ohnehin alles gestanden“, erwiderte der Offizier und zuckte mit den Schultern. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr sie selbst fragen.“

Ragar wollte der Fremden in das Gesicht sehen, doch sie hatte ihr Haupt gesenkt.
„Stimmt das? Habt Ihr uns überfallen?“
„Es stimmt, ich wollte alle töten“, antwortete sie mit tonloser Stimme.
„Warum?“ Er spürte, wie Wut kalt in ihm hochstieg. „Warum nur? Sie ist doch noch ein Kind!“

Der Offizier packte die schweigend zu Boden blickende Gefangene am Kinn und riss ihren Kopf hoch.
„Antworte gefälligst!“, befahl er barsch.
Ihre Augen huschten über Ragars Gesicht, wichen seinem Blick aber aus.
„Um Euch auszurauben“, stammelte sie schließlich.

Ragar ballte die Fäuste es schien einen Moment lang, er wolle sich auf die Gefangene stürzen, doch dann wandte er sich abrupt ab. „Nehmt sie fort! Werft sie in den Kerker oder hängt sie auf, das ist mir gleich.“ Dann ging er zornigen Schrittes zurück zum Hauseingang, von wo aus Hilde und Keron ebenso gebannt wie erschrocken alles beobachtet hatten.

Jazor eilte hinter ihm her.
„Bauer Baragnar, so geht das nicht“, rief er mit etwas Schärfe in der Stimme.
Ragar drehte sich auf der Schwelle um.
„Was geht nicht?“, fragte er mit erregter Stimme.
„Wir haben die Gefangene zu Euch gebracht, damit sie hier bleibt.“
„Wie bitte?“, fragte Ragar erstaunt. „Was wollt Ihr?“
„Könnten wir das im Haus unter vier Augen besprechen?“
„Unter vier Augen? ... Gut, wir gehen am besten in die Stube.“

Die Stube war ein großer, doch schlicht eingerichteter Raum mit zwei Fenstern nach Süden. Wände, Decke und Möbel waren aus hellbraunem Holz, die Fußbodendielen waren fast schwarz. Es gab keine Teppiche, sodass lediglich eine blau-rot karierte Tischdecke und hellgelbe Fenstervorhänge etwas Farbe in den Raum brachten. Dank des reichlich einfallenden Sonnenlichts wirkte sie dennoch hell und behaglich.

Ragar bot deinem Gast einen der mit Schnitzwerk verzierten Stühle an. „Bitte setzt Euch, Jazor. Bitte verzeiht, wenn ich eben unhöflich war und vergaß, mit einem Offizier zu reden. Doch...“
Jazor machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Schon gut. Es ist eine ungewöhnliche Angelegenheit“, sagte er mit einem leichten Lächeln. Er nahm den angebotenen Stuhl an und wartete, bis Ragar sich ihm am Tisch gegenüber ebenfalls gesetzt hatte. Dann wurde sein Gesicht ernst.
„Ich habe die Gefangene auf Wunsch von Fürst Caron zu Euch gebracht. Sie soll hier bei Euch bleiben und arbeiten“, sagte er mit verbindlicher klingender Stimme.
„Ich soll eine Verbrecherin aufnehmen?“
„Nun, ‚aufnehmen’ ist vielleicht nicht das passende Wort. Habt Ihr den Reif um ihren Hals bemerkt?“
„Ja, was soll damit sein?“
„Er ist das Zeichen der Unterwerfung unter die Muchnara.“
„Muchnara?“, fragte Ragar erstaunt.
„Sagt Euch das nichts?“
„Doch... Davon habe ich einmal gehört, es ist das alte Gesetz der Stämme. Aber gilt es noch in unserer Zeit?“
„Es ist lange nicht mehr angewendet worden. Auch während und nach dem letzten Krieg mit den Neotikern haben wir und unser Feind darauf verzichtet, die Gefangenen zu versklaven. Die Fürsten wollten damals einen dauerhaften Frieden und ließen alle frei. Doch in diesem Fall bestand Caron auf die Muchnara. Er ist sehr verärgert über diese Banden, die sich dreist als ‚Freiheitskämpfer’ ausgeben. Diese mordenden Wegelagerer werden immer mehr zu einem politischen Problem. Caron entschied sich daher, hart durchzugreifen und unterwarf die Gefangene der Muchnara. Somit gehört ihr Leib dem Fürsten. Sie hat alle ihre Rechte verwirkt, unwiderruflich und für immer. Selbst ihr Name wurde getilgt.“
„Was habe ich damit zu tun?“
„Caron will, dass sie Euch dient.“ Jazor sah Ragars skeptischen Blick und machte eine einladende Armbewegung. „Seht es als Entschädigung für Eure erlittenen Schäden an.“

Ragar lehnte sich nachdenklich zurück.
„Das ist großzügig von unserem Fürsten“, meinte er vorsichtig. Er zögerte, weiterzusprechen.
„Seid offen, wir sind hier unter vier Augen“, ermunterte ihn der Offizier.
„Es wäre mir lieber, Ihr nehmt sie wieder mit. Bitte versteht, sie hat meine Enkeltochter verletzt. Wie sollen wir ruhig schlafen können, wenn sie auch nur in der Nahe ist? Besser, ihr schlagt ihr einfach den Kopf ab.“
Jazor machte ein bedauerndes Gesicht.
„Es ist der Wunsch des Fürsten. Ihn abzulehnen wäre eine Beleidigung.“
„Könnte ich sie ... verkaufen?“
„Nein“, Jazor schüttelte den Kopf, „das geht nicht. Aylene, so wird sie genannt, ist des Fürsten Eigentum. Das dient auch zu Eurem Schutz, denn so kann sie nicht fliehen oder befreit werden und anschließend behaupten, freigelassen worden zu sein. Der Reif um ihren Hals trägt Carons Siegel, das niemand brechen darf. Ihre Angehörigen sind uns bekannt und haften für sie. So will es das alte Gesetz, und Fürst Ezlom, in dessen Land sie wohnen, hat das noch einmal bestätigt.“
„Vorhin sagtet Ihr, sie würde mir überlassen, jetzt ist sie Carons Eigentum?
„Ja, das stimmt. Ihr dürft sie zwar nicht weitergeben, doch alles, was sie macht, dürft Ihr behalten.“ Er grinste. „Auch ihre Kinder.“

Es dauerte etwas, bis Ragar die Bedeutung der letzten Worte begriff.
„Das würde ich nie tun“, erwiderte er empört.
Jazor lachte kurz auf. „Tatsächlich? Das wäre aber Verschwendung.“ Als er den aufkeimenden Zorn in Ragars Gesicht sah, winkte er beschwichtigend ab. „Das ist natürlich Eure Angelegenheit.“
„Was passiert, wenn sie stirbt?“, fragte Ragar, immer noch etwas aufgebracht.
„Nichts. Ihr müsst lediglich den unbeschädigten Reif als Beweis ihres Todes zurückgeben.“ Er strich sich nachdenklich über das Kinn. „Das mag für einen Zivilisten schwierig sein, doch ich und meine Männer sollen ohnehin in der in der Nähe bleiben.“

Jazor wartete auf eine Reaktion des Bauern, doch als Ragar nachdenklich schwieg, schlug er schließlich mit der Hand leicht auf den Tisch. „So! Ich muss jetzt zu meinen Leuten zurück. Wie gesagt, wir sind immer in der Nähe und passen auf. Ihr könnt mich jederzeit bei meinen Männern auf dem großen westlichen Hügel finden.“

*​

Hilde öffnete langsam die Tür zur Stube einen Spalt weit und sah hinein. Ragar saß immer noch auf seinem Stuhl. Sein Kopf lag schwer auf beiden Armen, dessen Ellbogen sich auf dem Tisch abstützten. Sichtlich in Gedanken versunken nahm er nicht wahr, wie sein Frau leise eintrat, und erst als sie sich ihm gegenüber setzte, wandte er sein Gesicht vom Fenster ab. Hilde wartete ab, bis der Blick ihres Mannes sie wahrnahm.
„Ich habe die Fremde in der kleinen Scheune untergebracht“, sagte sie.
Ragar nickte langsam. „Ja“, meinte er, seine Stimme klang immer noch entfernt, „Dort ist sie gut untergebracht.“
Hilde beugte sich vor und legte dabei ihre Arme auf den Tisch. „Was sollen wir jetzt machen?“
Ragar hob den Kopf an: „Wenn ich das nur wüsste!“ Er machte eine Geste der Ratlosigkeit. „Am liebsten würde ich sie zurückgeben.“
„Das geht aber nicht“, meinte seine Frau nüchtern. „Du hast mir erzählt, was der Offizier von dir verlangte. Sie solle für uns arbeiten um ihre Schuld zu begleichen.“
„Ich weiß!“, erwiderte er etwas gereizt und richtete sich in seinem Stuhl auf. „Wir können nicht gegen den Wunsch unseres Fürsten handeln. Doch was sollen wir mit einer Sklavin anfangen?“
„Nun, sie hat unsere Scheune abgebrannt, das könnte sie wieder gut machen.“
„Ach, die Scheune! Natürlich kann sie uns bei der Arbeit helfen, doch das meinte ich nicht. Wir sollen sie versklaven, das meinte ich. Könntest du dir vorstellen, einen Menschen mit einer Peitsche anzutreiben, schlimmer als ein Pferd?“
Hilde fuhr zurück. „Natürlich nicht!“
Ragar nickte. „Ich hoffte, dass du das sagen würdest.“ Ein Lächeln huschte über seine Gesichtszüge. „Nein, ich wusste es.“ Dann wurden sie wieder ernst. „Sie hat uns überfallen und dabei Farah verletzt, das sollten wir nicht vergessen, doch ... es wäre Rache an einer Wehrlosen.“
Seine Frau nickte. „Ich will keine Rache.“
„Sie soll nur ihren Schaden wiedergutmachen“, bekräftigte Ragar.

*​

Am Abend brache Hilde etwas Essen in die Scheune. Sie fand Aylene in der von ihr zugewiesenen Ecke auf einem notdürftigen Lager aus Stroh und einer alten Wolldecke. Sie schien zu schlafen, doch als Hilde sich näherte, schlug sie die Augen auf.
„Ich habe gesehen, dass du humpelst. Was ist mit deinen Füßen?“
„Verzeiht mir, Herrin, ich habe sie mir auf dem Weg zu Euch wund gelaufen“, antwortete sie mit ihrer tonlosen Stimme.

Hilde streckte auffordernd ihre Hand aus, und Aylene hob ihr rechtes Bein von der Decke an. Hilde packe es an der Ferse und zog es weiter hoch, um den Fuß besser untersuchen zu können.
„Du bist es nicht gewohnt, barfuß auf unseren Wegen zu laufen. Die scharfkantigen Steine haben die Haut aufgeritzt. Es sind einige kleine Schnitte, die bei ausreichender Pflege von selbst abheilen werden.“ Hilde ließ den Fuß los und hob den Korb, den sie in der Hand hielt, hoch. „Hier sind einige Essensreste.“ Sie stellte ihn auf dem Boden ab. Ohne eine Antwort abzuwarten wandte sie sich ab und ging aus der Scheune.

Aylene sah in den Korb. Er enthielt eine Schale voll gekochter Kartoffelschalen und zwei dicke Scheiben angeschimmeltes Brot. Hastig stopfte sie zunächst die Kartoffelreste in ihren Mund und schlang sie fast ohne zu kauen hinunter. Ihr Magen drohte einen Moment lang zu rebellieren, zu lange hatte er nicht so viel bewältigen müssen. Sie kämpfte gegen den Brechreiz an, hustete einmal, dann konnte sie weiter essen. Das Brot war steinhart, sie zerbrach es in Stücke, die sie in einem Steinkrug einweichte. Sie nahm die ersten Brocken heraus und schluckte sie herunter. Es hatte trotz des Alters einen kräftigen Geschmack und war bekömmlich. Ihr Hunger war immer noch groß, doch sie zügelte sich, um jeden Bissen zu genießen. Zum Abschluss trank sie den Krug leer, wischte das verbliebene Brot mit den Fingern heraus, leckte sie ab und ließ sich erschöpft auf die Decke zurücksinken.

*​
 
Da nehmen die Geschehnisse ja eine ziemlich harte Wendung :eek: Nicht, was ich erwartet hatte; auch wirft es mehr Fragen auf, als es Antworten bietet. Anders ausgedrückt also: schön :D

Unter der Rubrik "was uns auffiel" noch Folgendes (von dem ich annehme, daß es überhaupt erwünscht ist - falls nicht bitte ich um heftige verbale Abfertigung :clown: )
Mit der rechten Hand deutete er auf eine in winigen Schritten Entfernung auf dem Boden sitzende Gestalt.
...
„Nehmt Sie fort! Werft Sie in den Kerker oder hängt Sie auf, das ist mir gleich.“
...
„Wir haben die Gefangene zu euch gebracht, damit sie hier bleibt.“
...
„Sagt euch das Nichts?“
 
Die Fehler sind wieder korrigiert. Natürlich waren sie nicht beabsichtigt, danke für die Hinweise.
 
Muchnara 3
Feldarbeit

Hilde kam kurz nach Sonnenaufgang wieder in die Scheune. In dem Halbdunkel konnte sie zuerst nur eine undeutliche Kontur erkennen, dann schälten sich allmählich die Umrisse einer tief schlafenden Gestalt heraus. Aylene lag in ihrem kleidartigen Gewand zusammengekrümmt auf dem Stroh, die zu kleine Decke um die Beine gewickelt und die Arme überkreuzt vor die Brust gezogen. Hilde wartete noch, bis sie auch die Gesichtszüge erkennen konnte, schließlich löste sie ihren Blick von dem ausgezehrt wirkenden Gesicht mit den bläulichen Lippen und stieß der Fremden leicht mit dem Fuß in die Seite. Sogleich riss Aylene ihre Augen auf und starrte sie mit angstverzerrtem Gesicht an. Doch es währte nur einen Augenblick, dann nahm ihr Gesicht wieder jenen müden und unterwürfigen Ausdruck an, den Hilde bereits kannte. Die Bäuerin räusperte sich.
„Komm mit.“

Aylene stand schwerfällig auf. Die Kälte hatte ihre Glieder steif werden lassen und ihr Körper war von den Strapazen des Vortags noch geschwächt, doch wenigsten hatte sie seit unendlich lang erscheinender Zeit eine ruhige Nacht verbringen dürfen. Sie folgte der Bäuerin in das Freie, wo die Helligkeit des neuen Tages ließ sie blinzeln ließ. Auch Hilde blieb kurz stehen, dann ging es weiter um die Scheune herum bis zum Wohnhaus.
„Warte hier“, befahl sie und verschwand im Haus.

Zuerst erschien ein kleines Mädchen in der Haustür. Aylene war so überrascht über das keine zwei Schritte vor ihr stehende Kind, welches sie mit großen Augen anstarrte, dass sie einen Augenblick lang ihre Lage vergaß.
„Wer bist du denn?“, fragte sie sanft.
„Farah! Bist du verrückt geworden! Geh sofort zurück in das Haus!“, schimpfte eine dunkle Männerstimme, dann schob sich ein großer und kräftiger Mann ins Freie. Er packte das Kind und drängte es zurück in das Haus. Kaum hatte er die Tür hinter ihr geschlossen, drehte er sich um und eilte mit ausgreifenden Schritten auf Aylene zu.
„Rühre ja nie wieder meine Tochter an!“, rief er barsch. „Wenn du ihr zu nahe kommst, breche ich dir alle Knochen einzeln im Leib! Hast du mich verstanden, Sklavin?“
„Ja ... ja, natürlich, mein Herr“, stammelte Aylene und wich zurück. „Ich würde doch einem Kind nichts antun.“
„Lüg nicht so frech!“ Der Mann stieß ihr mit beiden Händen gegen den Oberkörper. Sie stürzte nach hinten und prallte hart auf ihre Schultern. Keron beugte sich über die auf dem Boden liegenden Aylene und schüttelte drohend seine rechte Faust. „Fast umgebracht hast du sie. Dafür hätte man dich gleich aufhängen sollen“, schrie er sie wütend an.
„Was?“
„Leugnest du das etwa?“
„Nein! Nein! Ich leugne nicht.“ Sie hob abwehrend ihre Hände. „Es war mein Fehler, sie nicht sofort erkannt zu haben.“
Keron holte aus, um zuzutreten. Doch dann verharrte er und stellte langsam das Bein wieder ab. Er schloss die Augen und presste die Zähne fest zusammen. Mit einem tiefen Atemzug gewann er den inneren Kampf um seine Beherrschung und entspannte sich wieder.
„Steh auf und folge mir“, sagte er mit gezwungen ruhiger Stimme und schritt an Aylene vorbei.
Sie rappelte sich mühselig auf und eilte so schnell es ging hinter ihm her. Keron ging zu einem kleinen Schuppen und holte eine große Schaufel heraus.
„Ich werde dich zu unseren Feldern bringen“, sagte er. „Dort sollst du arbeiten.“

Sie verließen den Hof über den Weg nach Norden. Aylene versuchte trotz ihrer wunden Füße dem mit großen Schritten vorauseilenden Mann zu folgen, doch immer öfter musste er wartend stehen bleiben. Keron trieb sie dann mit ungeduldigen Worten an, bis sie humpelnd aufgeholt hatte, um dann, ohne eine Pause für sie, sofort weiterzugehen. So ging es über viele Hügel schier endlos dahin, bis Keron auf der Kuppe eines flachen Hügels anhielt. Er hob den rechten Arm und deutete auf einen etwa dreihundert Schritte entfernt vor ihnen liegenden größeren See.
„Der See dort speist einen unserer größeren Bäche“, erklärte er und deutete in einem Bogen nach rechts. „Der Bach fließt dort entlang bis zu unserem Hof und dann weiter in den Fluss Galo.“ Sein Arm fuhr zurück und zeigte auf einen vor ihnen rechts vom Weg liegenden großen Acker. „Die Bewässerungskanäle des Feldes zwischen dem Weg und dem Bach müssen ausgebessert werden.“
Er hob die Schaufel, die er getragen hatte, hoch und warf sie nach vorne. Staub und Steinsplitter stoben auf, als sie dumpf krachend auf dem Weg aufschlug.
„Wage nicht, jemanden damit zu bedrohen. Sobald sich jemand nähert, legst du die Schaufel auf den Boden und entfernst dich einige Schritte von ihr.“ Er sah sie streng an. „Verstanden?“
„Ja, Herr.“
„Das will ich hoffen, oder du wirst mit den bloßen Händen weitergraben.“ Er blickte wieder zum Feld. „In drei Tagen bist du fertig.“
„Für den ganzen Acker?“, fragte Aylene ungläubig.
Keron ruckte zu ihr herum. „Habe ich mich unklar ausgerückt, Sklavin?“
„Nein, Herr, natürlich nicht.“
„Dann solltest du hier nicht länger herumstehen.“ Er drehte sich um und ging den Weg zurück zum Hof. „Diese Arbeit wird dich davon abhalten, wieder Kinder zu überfallen“, rief er noch über die Schulter zurück.

Aylene ging zu der Schaufel und hob sie auf. Sie war ein plumpes Werkzeug, mit einem großen und dicken Blatt aus Holz, dessen Unterkante mit einem stark abgenützt wirkenden Metallstreifen verstärkt war. Sie mochte vielleicht von einem kräftigen Mann handhabbar sein, doch für sie war diese Schaufel viel zu schwer und unhandlich. Enttäuscht ging sie den Hügel hinab zum Feld.

Ihre Augen suchten den Acker nach den Bewässerungsgräben ab. Die zweite Enttäuschung traf sie, als sie nur noch kaum erkennbare Überreste fand. Aylene folgte einer dieser knapp ellenbreiten Vertiefungen bis auf die gegenüberliegende Seite des Feldes, wo der Bach vorbeifloss. Etwa einen Schritt von ihm entfernt setzte sie die Schaufel an.

Es gelang ihr nicht, die Schaufel in den steinhart ausgedörrten Boden zu schieben. Ihr Blick schweifte über das große Feld. Nein, es gab keinen Zweifel über den Sinn dieses Auftrags. Mutlos geworden setzte sie sich auf den Boden und schloss die Augen. Jetzt, als nur noch das leise Säuseln des Windes zu hören war, stiegen die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft hoch. Gequält stöhnte sie auf und grub ihre Finger in den Boden. Es war unerträglich! Sie riss die Augen auf und sprang auf.

Aylene stellte sich auf die Schaufel und verlagerte abwechselnd ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere, um das viel zu dicke Holz Stück für Stück in den harten Boden zu treiben. Es war nicht einfach, dabei das Gleichgewicht zu bewahren und sie musste mehrmals wieder aufsteigen, doch sie ließ nicht nach, bis das Blatt endlich zur Hälfte im Boden steckte. Nun griff mit beiden Händen fest um den Stiel. Die Schaufel schien wie eingewachsen. Sie verstärkte ihre Anstrengung, zerrte an ihr, bis mit einem leichten Rumpeln endlich das erste Stück Erde herausbrach.

Nach einigen Stichen hatte Aylene sich auf Boden und Schaufel eingestellt. Sie konnte jetzt das Gleichgewicht wahren und mit ihrem Wiegetritt viel schneller als beim ersten Versuch das Blatt in Boden schieben. Zügig arbeite sie sich die Rinne entlang auf den Weg zu.

Sie hatte es geschafft, der erste Graben war fast fertig. Sie lief an ihm entlang zurück zum Bach und schaufelte das verbliebene Stück weg, das den Kanal absperrte. Als das Wasser anfing in ihn zu laufen, sank sie auf ihre Knie. Rauschend und gluckernd floss es an ihr vorbei, das Sonnenlicht brach sich glitzernd in den kleinen Wellen. Sie tauchte die Arme in das Wasser, dessen eisige Kälte wie tausend Nadeln in die Haut stachen. Mit der hohlen Hand schöpfte sie etwas davon, um es sich in das Gesicht zu spritzen und dann mit kleinen Schlucken zu trinken.

Nach der kleinen Pause stand Aylene auf. Frohen Mutes packte sie die Schaufel und wandte sich dem zweiten Graben zu. Es war zu schaffen.

Doch als sie den dritten Graben zur Hälfte fertig hatte, durchdrang der wachsende Schmerz ihre Konzentration. Es war die grobe Schaufelkante, die sich immer nachdrücklicher in ihre ohnehin wunden Fußsohlen drückte und so jeden Schaufelstich zu einer leisen aber beständigen Pein werden ließ. Aylene biss ihre Zähne zusammen, doch ihre Beine wurden immer schwerer. Sie hielt auf der Schaufel stehend inne. Ihre ganze Zuversicht kippte mit einem Schlag und sie fiel in ein tiefes Loch. Es war sinnlos. Man wollte sie nur demütigen. Ihre Hände verkrampften sich so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Nein!“
Sie rammte verzweifelt das Werkzeug tiefer in den Boden, während Tränen ohnmächtigen Zorns über ihr Gesicht liefen.

*​

Eine Berührung am Rücken ließ Aylene innehalten.
„Hast du meine Rufe nicht gehört?“, hörte sie eine undeutliche Stimme. Mühsam drehte sie ihren Kopf um und erkannte Hilde.
„Verzeihung, Herrin, ich habe Euch nicht bemerkt“, stammelte sie und stieg vorsichtig von der Schaufel. Sie musste sich dabei am Stiel festhalten, um den nach ihr greifenden Schwindel zu bekämpfen.
„Was machst du hier?“, fragte Hilde weiter.
Das Rauschen in ihren Ohren ließ Aylene die Stimme immer noch undeutlich erscheinen. „Ich ziehe die Bewässerungsgräben nach.“
„Wer hat das gesagt?“
„Der junge Mann auf Eurem Hof.“
„Keron?“ Hilde schüttelte ihren Kopf. „Dieser Acker wird doch schon seit Jahren nicht mehr genutzt, da bei jedem Gewitter See und Bach über ihre Ufer treten und alles zerstören.“ Sie stellte ihren Korb ab und ergriff die Schaufel. „Das ist doch unsere große Sandschaufel“, stellte sie überrascht fest. „Ist die auch von ihm?“
„Ja, Herrin.“
Hilde wog das Werkzeug nachdenklich in der Hand. „Die ist für den harten Ackerboden hier völlig ungeeignet. Dafür haben wir Spaten mit Blättern aus geschmiedetem Eisen.“
Ihre Stimme war zunehmend gereizt geworden. Ihre Augen entdeckten die rot schimmernde Blattoberkante. Sie fuhr mit dem Zeigefinger ihrer anderen Hand darüber.
„Setze dich hin und zeige mir deine Füße.“

Aylene kam der Aufforderung nach. Hilde beugte sich zu ihr herab, hob das linke Bein an der Wade hoch und betrachte die Fußsohle. Ihr zuerst harter Griff wurde lockerer, bis sie das Bein wieder losließ. Nachdenklich geworden sah sie Aylene eine Weile stumm an. Schließlich nickte sie unmerklich. „Du wartest hier, bis ich wieder komme“, sagte sie. „Ruhe dich solange aus. Im Korb sind Kartoffeln und etwas Brot.“

Aylene sah der Bäuerin nach, die mir großen Schritten den Weg zurück zum Hof einschlug, bis sie hinter dem Hügel verschwunden war. Dann nahm sie den Korb und humpelte zum Bach, um sich dort auf einen großen Stein zu setzten.

*​

Knapp zwei Stunden später konnte Aylene sehen, wie Hilde und Ragar auf der Kuppe des Hügels erschienen. Sie konnte erkennen, wie Beide auf dem höchsten Punkt stehen blieben, und die Frau in ihre Richtung deutete. Der Mann hatte einen Sack über die Schulter geworfen und gestikulierte etwas aufgeregt, dann gingen sie zusammen weiter den Weg herab.

Als Aylene von ihrem Stein aufstehen wollte, gab Ragar ihr ein Zeichen zu warten und ging dann zusammen mit seiner Frau über den Acker zu ihr. Etwas außer Atem stellte er den Sack ab.
„Hilde hat mir alles über deine Arbeit erzählt“, sagte er und wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Ich wollte es erst nicht glauben, doch Keron hat es dann zugegeben.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Nein, das hätte ich nicht von ihm erwartet“, meinte er leise. „Nun“, seine Stimme hob sich wieder, „eine Sklavin hat keine Entschuldigung zu erwarten. Du sollst lediglich wissen, dass wir von dir harte Arbeit als Wiedergutmachung für deine Verbrechen erwarten, aber dich nicht quälen wollen. Wenn du gehorchst, soll dir kein Leid geschehen. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Herr.“
Ragar verzog ein wenig sein Gesicht, wandte sich ab und ging zu der am Boden liegenden Schaufel. Er hob sie auf und ging ohne weitere Erklärung davon.

Hilde deutete auf Aylenes Füße. „So schlimm zugerichtete Füße habe ich noch nie gesehen. Ragar und ich meinen daher, du solltest sie schonen, indem du auf unseren Feldern übernachtest. Das ist etwas kühl, doch es wird in den nächsten Tagen mit Sicherheit nicht regnen. In dem Sack sind neben Decken und Kleidung auch eine Dose mit Kräutersalbe, Tücher zum verbinden und ein Paar alte Sandalen. Genug für heute, versorge deine Füße und ruhe dich aus.“
„Danke, Herrin.“
„Wir machen das nur, um deine Arbeitskraft zu erhalten. Ab Morgen früh fängst du an, unsere Strauchwollfelder abzuernten.“ Sie deutete nach Süden. „Du müsstest sie bereits gesehen haben. Sie liegen ebenfalls zwischen Weg und Bach, gleich hinter dem Hügel fangen sie an und erstrecken sich bis zu unserem Hof. Morgen werde ich dir zeigen, was du zu tun hast.“ Sie stand auf, um zurückzukehren, drehte sich nach zwei Schritten aber noch einmal um. „Wenn du kannst, solltest du besser noch heute zum ersten Feld hinter dem Hügel gehen. Dann kannst du dich in den Sträuchern verbergen.“

Nachdem Hilde gegangen war, hielt Aylene die Luft an und tauchte beide Beine zugleich in den Bach. Der scharfe Schmerz ließ sie dennoch aufstöhnen und dunkle Flecken erschienen in ihrem Blickfeld. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Balance auf dem Stein, die sie mit rudernden Armen hielt. Es dauerte nicht lange, bis die Kälte des Wassers ihre Füße betäubte. Sie bewegte sie hin und her, um den Schmutz abzuspülen, dann hob sie beide Beine heraus und zog sie schneidersitzartig an den Leib. Als sie nun während des Trocknens ihre Fußsohlen sah, wurde sie blass vor Schreck. Hatte wirklich nur die Angst vor Strafe sie so weit getrieben? Kopfschüttelnd machte sie die Dose auf und tupfte die grüne Salbe auf. Anschließend wickelte sie Stoffstreifen aus glattem und dicht gewebtem Leinen herum. Dann zog sie die Sandalen aus dem Sack. Sie waren etwas zu groß für sie, doch Hilde hatte sie mit weichen Fellresten ausgestopft. So saßen sie dennoch gut und, wie Aylene beim Aufstehen bemerkte, polsterten angenehm ihre Verletzungen ab. Erleichtert darüber, wieder so gut gehen zu können, schulterte sie den Sack und machte sich auf zu den Strauchwollfeldern.

Auf dem Hinweg hatte sie nicht auf die Umgebung geachtet, doch bereits von der Kuppe des Hügels aus waren die Felder zu erkennen. Der Anblick dieser dunkelgrünen Büsche mit den weißen Punkten war Aylene nicht unbekannt, doch sie hatte sich nie näher mit dem Strauchwollanbau befasst. Er schien hier gut zu gelingen, denn links vom Weg erstreckten sich sie sich so weit sie sehen konnte. Rechts vom Weg war die Landschaft dagegen nahezu kahl, hier befanden sich nur vereinzelte Felder, auf denen dann Getreide und einige Obstbäume standen.

Als sie den Hügel hinabging und die Strauchwollfelder erreichte, konnte sie den Grund für den spärlichen Anbau auf der rechten Wegseite erkennen. Das Gelände schwang sich hier in einer leichten Neigung nach oben um in einiger Entfernung in eine Hügelkette überzugehen, wodurch eine Bewässerung mit Gräben vom Bach aus nicht möglich war. Aylene ging noch etwas am ersten Feld entlang, bis zu einer kleinen Ansammlung von Bäumen auf der rechten Seite. Aus ihnen floss ein Rinnsal heraus, kreuzte die Straße um weiter in das Strauchwollfeld zu fließen und vermutlich in dem Bach zu münden. Aylene blickte sehnsüchtig zu den Äpfeln hinauf. Sie wirkten noch etwas unreif, doch es schien ihr ewig her, Obst gegessen zu haben. Wie gerne hätte sie sich einen Apfel genommen! Gewaltsam riss sie sich von dem gefährlichen Gedanken los und schob sich in das Strauchwollfeld hinein.

Die Büsche reichten ihr bis zu den Schultern, einige auch knapp über den Kopf. Aylene kam mühelos voran und musste fast ein Dutzend Schritte weit in das Feld gehen, bis sie die Bäume auf der gegenüber liegenden Seite kaum noch sah, denn so dicht die Büsche auch aus der Entfernung wirkten, standen sie nun eher weit und trugen wenig Laub. Hier suchte sie eine trockene Stelle und stellte den Sack auf dem sandigen Boden ab. Es war erst später Nachmittag, Zeit genug noch, um trockenes Gras zu suchen.

Als es dunkel wurde, hatte Aylene genügend Gras als Bodenpolster gefunden. Sie hatte sich abschließend gewaschen und umgezogen, und jetzt, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, legte sie sich zum Schlafen hin. Es war ein fast vergessenes Gefühl, einfach so in sauberer Kleidung dazuliegen und den sanft raschelnden Büschen zuzuhören. Ihr Blick ging nach oben. Die Sterne waren durch die Zweige hindurch gut zu sehen. Hatte sie diese Konstellation nicht am Vorabend des Überfalls gesehen? Wie lange war das nur her? Unbewusst tastete sie nach dem Ring, der um ihren Hals lag und etwas gegen das Kinn drückte.

*​

„Aylene! Aylene, wo steckst du?“
Aylene schrak aus ihrem Schlaf. Es dauerte einen kurzen Moment der Orientierung, bis sie wieder wusste, wo sie war, dann stand sie auf und schlüpfte hastig in ihre Sandalen.
„Aylene!“
„Ich komme!“, rief sie und lief los. Die zu großen Sandalen ließen sie etwas schwerfällig aus dem Feld hervorvorkommen.
„Bitte verzeiht, Herrin, ich ...“
Die große Bäuerin unterbrach sie mit einer knappen Geste.
„Keron hilft Ragnar bei der Scheune, dafür sollst du die Strauchwolle pflücken“, sagte sie knapp und reichte Aylene zwei große Säcke. „Du stopfst die Wolle in sie hinein. Wenn einer voll ist, legst du ihn an den Wegesrand. Ich hole die Säcke ab, wenn ich dir zu Essen bringe.“
„Danke, Herrin.“
Hilde winke ab und ging zu einem der Sträucher. „Hier, diese weißen Bällchen sollst du pflücken. Das geht am besten, wenn du sie so anfasst“, sie nahm einen Bausch zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, „und dann mit einem kurzen Ruck abziehst.“
„Ja, Herrin.“
„Noch etwas: Du bleibst den ganzen Sommer über hier. Nur bei Regen sollst du in die kleine Scheune kommen.“
„Auch wenn meine Füße wieder verheilt sind?“
Hilde zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. „Wir wollen dich nicht auf unserem Hof haben“, erwiderte sie streng.
„Verstehe“, flüsterte Aylene und blickte zu Boden.
„Dann ist es ja gut“, meinte Hilde und ging zurück zum Weg.

Auf dem Hof fand Hilde Ragar und Keron bei der Arbeit für die neuen Scheune vor. Sie hatten vor über einer Woche damit angefangen und es ragten bereits die Stützbalken in den Himmel, an denen sie nun erste Verstrebungen anbrachten. Hilde ging zu Keron, der mit einer Axt eine Latte bearbeitete. Es war ihr eine Freude ihm dabei zuzusehen, wie er das plump erscheinende Werkzeug mit einer Geschicklichkeit führte, die selbst erfahrene Zimmerleute nur schwer aufbringen konnten.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Aylene wird auf den Strauchwollfeldern bleiben.“
„Von mir aus kann sie dort für immer bleiben“, knurrte er. „Sie ist böse und gefährlich.“
„Ich weiß nicht...Was machst du denn da?“, unterbrach sich Hilde erschrocken.
Die neben ihrem Vater sitzende Farah sah nur kurz auf.
„Sie hilft uns.“, antwortete Keron stattdessen. „Wir brauchen noch eine Menge Dübel, um die Balken zu verbinden, und Farah macht sie uns.“ Er stieß seine Tochter leicht an. „Zeig Großmutter doch, wie toll du die machst.“

Farah legte ihr großes Messer weg und griff in den neben ihr stehenden Korb. Mit vor Stolz glänzenden Augen hielt sie einen handlangen und daumendicken Holzstab hoch. Hilde nahm ihn entgegen und betrachtete ihn kurz. „Ja, das machst du gut, doch du könntest dich leicht verletzen.“
„Nein“, meinte Keron, „dazu ist meine Tochter viel zu geschickt.“ Er lächelte versonnen. „Das hat sie von ihrer Mutter.“
Hildes Gesicht verfinsterte sich etwas. Sie gab Farah den Dübel zurück. „Sei vorsichtig, mein Kind“, meinte sie und ging weiter zu Ragar.

„Ich habe nur noch etwas Mehl und Kartoffeln im Haus“, sagte sie. „Und ich habe Nichts, um auf dem Markt einzukaufen.“
Ragnar, der gerade ein Loch in einen der Stützbalken bohrte, wandte seinen Kopf zu ihr. „Ist es so schlimm?“
Hilde nickte nur.
Ragar legte den Bohrer auf den Boden und fuhr sich nachdenklich über das Gesicht. „Dann werden wir auch die zweite Kuh verkaufen müssen.“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf. „Aber dann haben wir keine Milch mehr.“
„Das will ich nicht. Wir brauchen sie für Farah, sie ist so furchtbar dürr.“
„Ja, aber was sollen wir dann verkaufen? Das Feuer hat unsere ganze Strauchwollernte vom Vorjahr vernichtet und das Holz für die Scheune kostet viel. Ich musste schon Schulden machen.“
Hilde dachte kurz nach, dann hob sie ihre rechte Hand und blickte auf ihren Ringfinger. „Ich könnte ihn verpfänden.“
„Deinen Ring?“, rutschte es Ragar entsetzt heraus.
Hilde legte einen Finger auf ihre Lippen. „Nur, wenn du einverstanden bist.“
Ragar schüttete den Kopf. „Nein, du hast ihn von deiner Mutter bekommen“, erwiderte er mit gedämpfter Stimme.
„Sie hätte es bestimmt auch so gewollt. Es fällt mir schwer, doch ich mache es gerne.“

Ragnar nickte schließlich. „Doch Keron darf nichts davon erfahren. Er hasst Aylene ohnehin, und ich will nicht, dass er sich erneut so gehen lässt. Am besten rede ich mit Galorian. Ich kenne ihn schon lange, er wird uns einen ehrlichen Preis geben und ich will ihn bitten, dich vorerst den Ring weiter tragen zu lassen.“
 
Es hatte mich ohnehin bereits etwas gewundert, daß man seitens der Familie noch nicht auf den Gedanken gekommen war, Aylene ein klein wenig vorsichtiger zu behandeln. Sklavin hin oder her, eine billige Arbeitskraft scheint man ja doch gebrauchen zu können. ;)

Hast du meine PM übrigens irgendwie übersehen :confused: Da steht nix Böses drin :D
 
Meine E-Mail Adresse vom Profil funktionierte nicht mehr, daher habe ich sie nicht bemerkt. Eine Antwort ist jetzt unterwegs.

Grundsätzlich habe ich gegen konstruktive Kritik nichts einzuwenden, ich begrüße sie. Einzig Beta-Lesen mache ich nicht mehr mit, da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.
Im Moment weiß ich nicht, was nicht paßt. Sollte ich zu meinem alten Stil zurückkehren und wieder die Gefühle der Protagonisten direkt beschreiben?
 
Aloa,
wird's nicht langsam Zeit für's nächste Kapitel ?

Je länger Du wartest, desto massiver die Schreibblockade.

Ansonsten finde ich auch! Deinen neuen Stil gut. Ob's wichtig ist, die Gefühle Deiner Akteure direkt zu beschreiben wird Dir niemand sagen können...
Die Charaktere sind glaubwürdig und erst wenn Sprüche und Taten kommen, die ohne (versteckte) Motivationen unverständlich wären mußt Du Dir technisch was einfallen lassen oder weiter ausholen.

Auf jeden Fall : Schreib weiter !
 
Schönes Kapitel. Ich finde es sehr cool, wie du die Gefühle der agierenden Personen durch ihr verhalten beschreibst. Gefällt mir wirklich. Ich stelle es mir so sehr viel schwieriger vor, eine Geschichte zu schreiben. Respekt.

Ein kleiner Fehler:
Dann zog sie die Sandalen aus dem Sack. Sie waren etwas zu groß für sie, doch Hilde hatte sie mit weichen Fellresten ausstopft.

lg, Gandalf
 
Den Fehler habe ich korrigiert. Danke für den Zuspruch. Es fällt mir tatsächlich so schwerer. Ich möchte es weiter üben, werde es aber vielleicht nicht mehr ganz strikt handhaben.
Also weiter mit der Handlungsspirale:

Muchnara 4
Farah

Im Verlauf der nächsten Wochen erntete Aylene ein Strauchwollfeld nach dem anderen ab. Hilde war der einzige Mensch, den sie in der Zeit sah. Die Bäuerin erschien immer am frühen Morgen, stellte einen Korb mit Essen auf den Weg und nahm den von Aylene gefüllten Sack auf. Auch bei dieser einzigen Gelegenheit trafen sie sich nur, wenn Hilde nach ihr rief, was selten geschah. Aber die Einsamkeit machte Aylene nichts aus. Im Gegenteil, sie schätzte die Ruhe und Geborgenheit der Büsche. Sie waren es, die ihre Erinnerungen allmählich erträglicher werden ließen, und die sinnvolle Tätigkeit ihrer Hände ließ sogar ihr Selbstwertgefühl zaghaft erwachen.

Doch seit einigen Tagen glaubte Aylene sich beobachtet. Natürlich könnten es auch irgendwelche Tiere sein, deren Schatten sie kurz erhaschte oder die manchmal die Büsche bewegten, doch sie glaubte es nicht wirklich, denn die hiesigen Tiere waren zu klein. Es waren hauptsächlich gewitzte Nager, die sich schnell und unbekümmert bewegten. Manchmal flitzten sie nachts über sie hinweg, und anfangs war der Schreck dann auf beide Seiten. Nein, in ihrer Ausbildung hatte man sie gelehrt, wie Menschen sich heimlich bewegten. So unendlich weit entfernt das auch lag, sie war sich sicher: Jemand schlich um sie herum und beobachtete sie. Doch wer könnte es sein?

Wieder dieses Rascheln! Aylene drehte sich um und versuchte etwas zu erkennen, aber der ständige Wind sorgte für andauernde Unruhe, welche die Sicht innerhalb des Feldes schnell unsicher werden ließ. Doch so nahe war es noch nie gewesen. Aylene legte ihren Sammelbeutel ab und ging in die Knie. Der Boden war auf diesem Feld besonders feucht und fruchtbar, so standen nicht nur die Büsche besonders dicht, auch bot er Nahrung für kniehohes Gras und allerlei Unkraut. Sie wollte versuchen in dieser Deckung den Fremden in einem Bogen zu umgehen.

Das sporadische Rascheln schien sich ziellos im Feld umher zu bewegen. Aylene glaubte, der Fremde habe sie verloren, und nun könnte sie sich langsam in seinen Rücken schleichen. Darin hatte sie Übung, und sie spürte, wie Jagdeifer in ihr erwachte und in jede Faser des Körpers vordrang.

Als das Ziel nur noch einen Sprung entfernt sein sollte erstarrte sie. Was sollte sie nun machen? Was würde passieren, wenn sie auf den Unbekannten stieß? Er musste einen Grund haben, sich zu verbergen. War es das Zaudern vor der Untat? Doch welche Grausamkeit würde jemanden tagelang zögern lassen? Sie spürte, wie die Angst wieder in ihr hochkroch, die sie so gerne verlieren wollte. Aylene grub zornig ihre Finger in den Boden und kroch weiter.

Fast wäre sie gegen den Fremden gestoßen.
„Du?“, entfuhr es ihr.
Die hockende Gestalt fuhr herum. Panik blitzte in den grünen Augen auf, dann rannte sie genau auf sie zu. Aylene versuchte auszuweichen, doch noch im Aufrichten traf sie ein harter Schlag mitten in das Gesicht und warf sie nach hinten. Der grelle Schmerz ließ sie aufstöhnen, dann umnebelte die nahe Bewusstlosigkeit ihre Sinne. Aus dem Abgrund stiegen Erinnerungen auf.
„Nein! Bitte nicht!“, schrie sie. Ihr Leib krümmte sich zusammen. „Bitte nicht!“

„Das wollte ich nicht!“, hörte sie eine ängstliche Stimme.
Aylene hörte auf zu schreien und schlug die Augen auf. Unvermittelt sah sie in ein schmales Gesicht, das sich über sie gebeugt hatte. Das Gesicht eines Kindes.
„Bist du nicht Farah?“, fragte sie überrascht.
Das Kind antwortete nur mit einem kaum angedeuteten schüchternen Nicken.
Aylene begann sich mit ihren Ellbogen hochzustemmen. Auf halber Strecke musste sie innehalten, um den Schwindel zu überwinden. Dann kam sie zum Sitzen und streifte mit ihrem Blick über das zerbrechlich wirkende Mädchen, das sie die ganze Zeit über mit großen Augen angestarrt hatte.
„Mit mir ist alles in Ordnung. Und du?“, fragte Aylene.
Farah schüttelte stumm ihren Kopf und versteckte den rechten Arm hinter ihrem Rücken.
„Ist etwas mit deinem Arm?“, fragte Aylene und stand auf.
„Nichts, nur ein paar Schrammen“, druckste das Mädchen.
„Kann ich ihn sehen?“
Farah wand sich verlegen. Doch dann holte sie langsam ihren Arm hervor. „Siehst du, es ist nichts.“

Aylene erschrak, als sie den blutverschmierten Arm sah.
„Die blöden Büsche haben ihn zerkratzt, mehr nicht“, meinte Farah. „Selbst Schuld, ich hätte nicht stolpern dürfen.“
„Nein, ich hätte dich nicht so erschrecken dürfen“, erwiderte Aylene und kaute auf ihrer Unterlippe. Sie holte tief Luft. „Komm mit, wir gehen zum Bach und spülen den Schmutz weg.“
„Mach ich!“, rief Farah erleichtert und rannte los.

In ihren zu großen Sandalen war Aylene langsamer als das Mädchen, und als sie am Bach ankam, kniete Farah bereits am Wasser. Sie setzte sich neben sie und sah zu, wie sie ihren verletzten Arm im Wasser wusch. Farah war dabei so konzentriert, dass sie sie nicht zu bemerken schien. Während sie das Kind beobachtete, kehrten ihre Gedanken wieder zurück zu der Frage, was sie tun sollte. Mit Sicherheit würde man ihr die Schuld für Farahs Verletzungen geben. Es blieb keine Wahl, als freiwillig zu den Ragars zu gehen und sie um Verzeihung zu bitten.

„Siehst du, man sieht kaum noch etwas. Sie werden nichts merken“, unterbrach Farahs Stimme ihre Gedanken. Sie hatte ihren Arm aus dem Wasser gezogen und hielt ihn Aylene hin.
„Tatsächlich, es sah schlimmer aus als es ist“, stimmte Aylene zu.
„Ja, er blutet kaum noch.“ Farah nickte eifrig und tauchte den Arm wieder hinein. „Das macht die Kälte.“
„Gut, dann können wir jetzt zu deinem Vater gehen und ihm alles erzählen.“

Farahs fröhliches Lächeln verschwand. „Was? Bitte nicht!“
Aylene seufzte. „Es muss sein. Keron wird wissen wollen, warum dein Arm so aussieht.“
„Wieso? Wegen der Kratzer? Ich bin halt hingefallen.“ Als Aylene schwieg, fügte sie kleinlaut hinzu: „Ich darf doch nicht hier sein. Bitte verpetze mich nicht.“
Aylene legte grübelnd ihr Gesicht in die Hände.

„Hier! Weil ich dir weh getan habe.“ Farah stieß Aylene an und hielt ihr einen halben Apfel hin. Als sie den ernsten Blick der Erwachsenen bemerkte sagte sie: „Die schmecken gut.“
Aylene schob ihre Hand weg. „Ich kann ihn dir doch nicht wegessen.“
„Quatsch! Die wachsen hier doch überall. Sie sind aber so groß, da schaffe ich immer nur die Hälfte.“ Sie hielt ihn erneut hin.
„Darf ich wirklich?“
„Natürlich, du arbeitest doch hier.“

Im freien Licht des Tages konnte Aylene besser das schmale Gesicht mit den großen grünen Augen erkennen. Sie blitzten sie offen an.
„Du hast keine Angst vor mir?“, platzte es aus Aylene heraus.
Erstaunen zog über Farahs Züge. „Nein, warum sollte ich?“ Sie stutzte, dann zog ein Schatten über ihr Gesicht. „Du hast es dir doch nicht anders überlegt?“
„Natürlich nicht“, hörte Aylene sich sagen.
Farah lächelte erleichtert. „Fein, jetzt nimm endlich.“

Halb in Gedanken über ihre eigenen Worte nahm sie das Geschenk an. Dabei fiel ihr Blick auf ein großes Messer in Farahs anderer Hand.
„Das ist ja das reinste Schwert“, staunte Aylene.
„Keron hat es mir geschenkt.“ Sie legte das Messer der Länge nach auf Handfläche und Unterarm und hielt es ihr hin. „Schaue es dir nur an.“

Aylene nahm das Messer vorsichtig am Griff entgegen. Es war schwer und mit der fast doppelt handlangen Klinge wäre es tatsächlich mehr Waffe als Werkzeug gewesen, wenn nicht der einseitige Schliff gewesen wäre. Doch das ungewöhnlichste war der Griff. Er war aus einem Aylene unbekannten Hartholz gefertigt, in das in sich überkreuzenden Wickelungen zwei Lederschnüre halb eingelegt waren. Nachdenklich reichte sie das Messer zurück.
„Gefällt es dir nicht?“
„Doch, es ist wunderschön. Verliere es nur nicht.“
Farah lachte. „Das sagt Ragar auch immer.“ Sie wischte das Messer sorgfältig an ihrem Kleid sauber und steckte es weg.

Schweigend saßen sie nebeneinander auf der Uferböschung und kauten den Apfel. Aylene sah zu, wie Farah manchmal Gräser oder kleine Aststücke in den Bach warf, um dann ihren wirbelnden Bahnen hinterher zu sehen. Dabei fragte sie sich, wieso das Kind keinerlei Furcht vor ihr hatte. Ob es sie nicht erkannte? Oder hatte der Schock es sie vergessen lassen? War es nicht ein schmutziger Betrug, sich nicht zu erkennen zu geben? Scham kam in ihr auf.

Aylene rang noch mit sich selbst, als Farah plötzlich aufsprang.
„Du, ich muss weg. Keron sucht mich bestimmt schon.“
Aylene nickte abwesend, immer noch von ihren eigenen Gedanken gefangen.
„Darf ich morgen wieder kommen?“
Als sie keine Antwort bekam, bat sie weiter: „Bitte! Ich störe auch ganz bestimmt nicht.“
„Du darfst nicht hier her kommen, das hast du doch selbst gesagt.“
„Also ja? Fein!“
Ehe Aylene etwas erwidern konnte, rannte Farah los.

*​

Die Luft stand am nächsten Tag still über den Feldern, und die stechenden Sonnenstrahlen schienen selbst den Schatten der Sträucher zu durchdringen. Gegen Nachmittag wurde die Schwüle immer drückender, sie zwang Aylene immer wieder dazu, die Arbeit zu unterbrechen und sich am Bach etwas abzukühlen.

Etwa drei Stunden vor Sonnenuntergang, es war inzwischen etwas kühler geworden aber immer noch warm, spritzte sie sich gerade etwas Wasser in ihr Gesicht, als jemand sie leicht anstieß. Sie fuhr herum und blickte in ein fröhliches Grinsen.
„Farah!“, entfuhr es ihr erleichtert. Sie federte hoch und lächelte. „Schön, dass du da bist.“
„Ich musste so lange bei der Scheune mithelfen, Dübel schnitzen.“
„Du meinst diese Holzstifte? Machst du die mit deinem großen Messer?“
„Ja, doch Ragar meint, jetzt haben wir erst einmal genügend davon. Sag, kannst du schwimmen?“
„Nicht sonderlich gut.“
„Fein! Dann können wir zum See gehen. Du hast doch Lust, oder?“
„Ist der nicht zu kalt?“
„Nee! Der See ist nicht kalt, du musst nur wissen wo.“ Sie packte Aylenes Arm und zog ungeduldig. „Jetzt komm schon!“

Farah rannte am Bach entlang voraus. Hier, zwischen dem Wasser und den Feldern, befand sich ein schmaler Streifen, der von wadenhohem Gras bewachsen war, aus dem verstreut wirkende Ähren und gelegentlich ein niedriger Busch hervorragten. Das Mädchen ließ kaum eine Gelegenheit aus, im vorbeilaufen mit den Händen über sie zu streifen. Doch es lag keine Aggressivität, sondern Vertrautheit in ihren Bewegungen.

Als sie das Ende der bebauten Felder erreichten, bog Farah nach links ab, um quer über jenes Feld zu laufen, das Aylene damals hatte bewässern sollten. Doch Farahs Eifer hatte sie längst erfasst, so folgte sie unbeirrt über den harten Boden bis zu der Stelle, wo der Weg am See endete. Hier wartete Farah auf die etwas zurückgefallene Aylene.

„In deinen Sandalen läufst du lustig“, meinte sie.
„Du keuchst aber auch nicht schlecht“, konterte Aylene.
„Stimmt doch gar nicht!“, erwiderte Farah und bemühte sich sichtlich angestrengt, ruhig zu atmen, was ihr aber nicht gelang. Schnell deutete sie am See entlang nach links: „Bei der Hitze ist es dort am besten“, meinte sie und lief weiter.

Sie blieben in einer kleinen Bucht stehen. Aylene sah sich um. Eine bogenförmige Bodenerhebung umgab sie von drei Seiten, und vor ihr breitete sich der See aus, von dem her eine sanfte Brise kühlend wehte. Doch es war der Anblick, der sie fesselte. Von hier aus blickte man genau auf die am linken und gegenüberliegenden Ufer aufragenden Felsen, die den See in einer Weise einrahmten, die ihm eine eigentümliche Weite und eine geheimnisvolle Tiefe verliehen.

„Was ist? Kommst du nun, oder nicht?“, riss Farah sie aus der Betrachtung. Das Mädchen stand bereits bis zu den Knien im Wasser und winkte ungeduldig.
„Ja, gleich“, antwortete Aylene. „Doch so wird dein Kleid ganz nass werden.“
Farah sah an sich hinab. Sie trug ebenso wie Aylene ein einteiliges, knapp knielanges Kleid aus grünem Stoff. Dessen Unterkante hatte bereits genügend Bekanntschaft mit dem Wasser gemacht, um an ihren Beinen festzukleben. Farah verzog unwillig ihr Gesicht, stieg aus dem Wasser und fing an, umständlich an ihrem Kleid herumzunesteln.
„Du brauchst nicht verlegen zu sein“, ermunterte Aylene sie. „Ich bin doch eine Frau.“
„Ja, ich weiß“, kam es kleinlaut zurück.
„Weil ich eine Fremde bin? Gut, dann ich zuerst.“ Aylene zog sich ihr Kleid über den Kopf. „Jetzt bist du dran.“

Farah machte ein unglückliches Gesicht, als sie sich schließlich auszog. Kaum war sie nackt, versuchte sie mit ihrer rechten Hand eine Stelle am linken Bauch zu bedecken, doch Aylene hatte die große Narbe bereits entdeckt.
„Ist das ... von mir?“
„Nein!“, kam es trotzig zurück.

„Farah“, versuchte Aylene es mit bittender Stimme, „ich bin damals auf dich gefallen und habe dich dabei verletzt. Das wollte ich nicht. Ich ...“ Sie unterbrach sich, als sie das energische Kopfschütteln sah.
„Blödsinn! Es war der Mann mit der Laterne. Ich wachte grade wieder auf, als er kam. Jemand lag auf mir drauf und ich wollte hervorkriechen, doch statt mir zu helfen hielt er mich fest und stach zu.“
„Was! Das glaube ich nicht!“
„Natürlich nicht, alles sagen, ich hätte das nur geträumt. Keron sagt das, Hilde sagt das und Ragar auch“, erwiderte Farah verärgert. „Und jetzt sagt du das auch. Aber ich will mich nicht mir dir streiten.“
„Deshalb wolltest du mir die Narbe nicht zeigen?“, fragte Aylene, dann begriff sie. „Deswegen hast du auch keine Furcht vor mir?“, platzte es heraus.
„Warum sollte ich Angst vor dir haben?“, kam es zurück. „Du hast mir nichts getan.“
„Aber...“
„Aber! Aber! Aber! Du bist auch nicht besser als die anderen!“, rief Farah zornig. Sie drehte sich abrupt um und watete in den See hinein. Aylene sah ihr eine Weile nachdenklich zu, wie sie langsam schwamm, dann folgte sie ihr.

Es herrschte keinerlei Strömung, so dass die Sonne das Wasser angenehm erwärmt hatte. Beide schwiegen weiter, und Aylene ließ sich in der Stille regungslos auf dem Rücken liegend treiben. Doch sie fand keine Entspannung.
Nutzte ich hier nicht Farahs Täuschung aus? War diese Freundschaft nur ein Irrtum, gar schändlicher Betrug an einem Kinde?
Je länger sie darüber nachdachte, desto schlimmer wurde es.

Schließlich schwamm Farah zur Böschung und kletterte aus dem Wasser. Aylene sah zu, wie sie ihre Haare auswrang und sich das Kleid überzog.
Das Mädchen winkte ihr zu und rief: „Ich muss wieder zurück.“
Aylene rollte sich herum und schwamm in langsamen Zügen zum Ufer. Als sie in ihr Kleid schlüpfte suchte sie nach Worten, doch das Schweigen wurde nur quälender. Erst als Farah sich zum Gehen wandte, gelang es ihr endlich etwas zu sagen.
„Farah, du kommst doch wieder?“
„Du bist nicht mehr böse auf mich?“
„Nein, natürlich nicht“, meinte Aylene aufatmend.
„Ja? Gerne!“
Sie drehte sich mit einem kleinen Sprung um und rannte über den Weg in Richtung zum Hof.

Die laue Nacht und mehr noch die zweifelnden Gedanken ließen Aylene kaum Schlaf finden. Sicher war, sie war in jener verhängnisvollen Nacht in der Scheune auf Farah und einen Erwachsenen gestoßen. Etwas hatte sie dann im Rücken getroffen und nach vorne geschleudert. Es hatte sie dabei verbrannt, vermutlich war es Sylissa gewesen, die den Erwachsenen mit einer ihrer Feuerkugeln angreifen wollte. Sie prallte im Fallen gegen etwas und hörte einen Schrei, wie von einem Kind. Aber was passierte danach? Sie wusste es nicht. Sie hatte immer geglaubt, Farah unbeabsichtigt mit dem gezückten Dolch getroffen zu haben.

Wie gerne würde ich Farah glauben! Doch warum sollte jemand sie absichtlich verletzen oder gar töten wollen? Nur, um mir einen Kindesmord anhängen zu können? Sollten Askar und Sylissa mich in eine Falle gelockt haben? Nur weil ich Zweifel geäußert hatte? Dann hätte man mich vielleicht ausgeschlossen oder im Schlaf ermordet, aber nicht diesen Aufwand getrieben. Nein, das konnte unmöglich geplant gewesen sein. Außerdem, die Ragnars hätten niemals Farah geopfert.
 
Weiter so...Gefällt mir wie immer gut.

lg, Gandalf
 
Etwas lag bei dem Überfall also tatsächlich im Argen, aber was genau? It is a mystery. Hoffentlich nicht mehr allzu lange ;)

Edit: und schau mal in dein PM-Fach :)
 
Hi, das ist mir noch aufgefallen:

Stalker_Juist schrieb:
NutzE ich hier nicht Farahs Täuschung aus? War diese Freundschaft nur ein Irrtum, gar schändlicher Betrug an einem Kinde?

[Theorie]: Farah wurde damals von Soldaten vergewaltigt. Aylene hat die überrascht und die geben ihr die Schuld für Farahs Verletzung. Naja. Wohl eher nicht
:rolleyes:

Die story ist eine der besten atm, bitte mehr davon:top: :top:
 
Hallihallo!

Habe mir den Thread erst einmal markiert. Hatte schon die ersten drei Teile gelesen und bin nun wieder durch Zufall auf den vierten Teil gestossen. Da ich auch nicht will, dass die Geschichte auf die zweite Seite rutscht, hier mal ein :top:

Zu der Story: Die gefällt mir eigentlich ganz gut. Sie lässt sich flüssig lesen und ist auch interessant. Was ich nicht ganz nachvollziehen kann, ist das interesse von Farah. Wieso beobachtet sie Aylene? Aber so sind Kinder vielleicht? Immer das Verbotene tun?

Und was noch auffällt, ist die Offenheit mit der die beiden miteinander umgehen. Eine distanziertheit aber auch eine Vertrautheit.

Ich kann die beiden angesprochenen Punkte schlecht beschreiben. Mir fehlt dazu die Ausdrucksweise. Na ja, ist auch nicht so wichtig. Mach einfach weiter so. Ich finde die Geschichte auf jeden Fall ganz gut.

Bis dann denn
Skuhsk
 
Die Geschehnisse beim Überfall sind ein zentraler Punkt der Geschichte, daher kann ich hier nicht daruf eingehen.
Farahs Motivation ist eine Mischung aus Neugierde und Verbundenheit: Sie ist neugierig auf die Fremde, die sie angeblich verletzt haben soll. Doch Farah ist sich sicher, dass das nicht stimmt. Möglicherweise fühlt sie sogar etwas Schuld, dies den Erwachsenen nicht glaubhaft machen zu können? Später kam dan noch dazu, endlich jemanden zu haben, der mit ihr spielt und sie ernst nimmt.
 
Muchnara 5
Das Mittagessen

Etwa drei Wochen später

Aylene summte eine einfache Melodie, als sie aus dem Feld hervortrat und zu dem am Wegesrand liegenden Sack ging. Sie ließ ihren Sammelbeutel von der Schulter gleiten und fing an, die Strauchwolle fest in den Sack zu stopfen, als ein Rascheln der Sträucher sie zurückblicken ließ. Es war Farah, die ihr, ihren Sammelbeutel nachlässig hinter sich herschleifend, folgte.
„Schön, dass du mir hilfst“, rief Aylene ihr zu.
„Es macht mir Spaß“, meinte das Mädchen und ließ den Beutel los. Ihr braungebranntes Gesicht glänzte in der bereits tiefstehenden Sonne, doch von Müdigkeit war keine Spur zu entdecken. „Und du hast mehr Zeit.“
Aylene lächelte. „Das stimmt natürlich. Willst du klettern oder schwimmen?“
„Beides!“ Sie deutete auf ihren prall gefüllten Beutel. „Ich habe mich extra angestrengt, damit wir gleich los können. Das reicht doch, oder?“
„Mehr, als ich den ganzen Tag lang geschafft hätte“, lachte Aylene und strich ihr anerkennend über den Kopf, dann füllte sie auch deren Ernte in den großen Sack um. Als sie anfing, einige Strauchwollfasern auf Farahs Haar zu zupfen wurde diese unruhig und tauchte schließlich unter der suchenden Hand weg.
„Ich kann das alleine“, knurrte das Mädchen und rannte los. „Komm lieber!“, rief sie über ihre Schulter und lief quer über den Weg zu einigen dort stehenden Bäumen.
Aylene seufzte belustigt auf, stopfte hastig die restliche Ernte in den Sack und verschnürte ihn mit einem Hanfseil.

Aylene ging mit schwenkenden Armen, sie waren durch das stundenlange Pflücken etwas steif geworden, zu den Bäumen und sah sich suchend um.
„Wo steckst du denn?“, rief sie.
„Hier oben!“
Sie blickte hoch und entdeckte das Mädchen auf einem riesigen Birnbaum, wie sie sich auf einem dicken Ast entlang balancierte. Trotz der beachtlichen Höhe hielt Farah sich dabei nur gelegentlich mit einer Hand an einem Zweig fest, bis sie ihr Ziel erreichte und nach dem Obst griff.
„Irgendwann fällst du noch runter“, mahnte Aylene, doch in ihrer Stimme lag keine Schärfe.
„Glaube ich nicht“, kam es frech zurück.
Farah zog an der Frucht, und als sie sich löste, fing sie das Schaukeln der Äste so geschickt mit den Beinen ab, dass ihr Oberkörper ruhig blieb.
„Die Birnen sind endlich reif“, rief sie fröhlich hinunter. „Ich mag sie lieber als Äpfel. Hier, fang!“

Aylene fing die Birne auf. Sie war ungewöhnlich groß, etwa wie die Faust eines Mannes, von grünlichem Gelb und mit braunen Punkten übersät.
„Vorsicht!“, rief Farah herab, dann sprang sie auch schon. Mit wirbelnden Armen fiel sie herab und rollte sich überschlagend am Boden ab.
„Aua!“, rief sie und blieb mit weit abgespreizten Gliedern auf dem Rücken liegen.
„Wieso ‚Aua’? Wegen des Hopsers?“, neckte Aylene das Mädchen und biss betont gleichgültig in ihre Birne.
Farah funkelte sie leicht enttäuscht an. „Alte Spielverderberin!“ Ohne aufzustehen, winkelte sie ihren Arm an. In der Hand hielt sie eine zweite Birne, die alles unbeschadet überstanden hatte, und biss hinein. Sie sah dabei einer ziehenden Wolke zu, bis sie mit vollem Mund fragte: „Aylene, du erzählst immer von den Sternen. Was findest du an ihnen so besonders? Für mich sind das nur irgendwelche Lichtpunkte.“
„Sie haben mich schon immer fasziniert“, meinte Aylene und legte sich neben Farah auf den Boden. Sie hob eine Hand und deutete in den Himmel. „Diese Lichter müssen sehr groß und sehr weit entfernt sein.“
„Manchmal redest du so seltsam. Was bedeutet ‚fasziniert’?“
„Ach, das ist nur so ein Wort, das ich gelernt habe. Es bezeichnet einen fesselnden Anblick.“
„‚Fesselnder Anblick’, wie komisch das klingt. Nein, ‚faszinierend’ klingt schöner ... ‚faszinierend’ ... ja, das gefällt mir.“

Als Aylene nichts sagte, drehte Farah ihren Kopf und sah sie seitlich an. „Ist etwas?“, fragte sie.
„Nein ...“, kam es schleppend zurück, „Nein ... Die Sterne, sie sind überall gleich. Egal, wo ich bin, hier oder Zuhause, sie sind immer gleich ...“ Sie sah jetzt Farah an. „Verstehst du das?“
„Nein“, antwortete Farah vorsichtig, „aber ich wollte dich nicht traurig machen.“
„Natürlich nicht.“ Aylene wischte sich über das Gesicht, straffte sich und stand auf. „Komm, lass uns jetzt zum See gehen. Dort kannst du die Felswand raufklettern und danach schwimmen wir noch.“
Sie reichte Farah die Hand und zog sie mit einem kräftigen Ruck hoch.
„Willst du nicht auch klettern?“, fragte das Mädchen. „Wir könnten um die Wette machen, dann springen wir von oben in den See und ...“
„Du springst nicht vom Felsen aus!“, fuhr Aylene ihr dazwischen. „Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, das Wasser ist dort viel zu flach dafür.“
„Och, nur einmal.“
„Nein!“
„Das ist gemein!“, meinte Farah, doch ihre Stimme klang nicht beleidigt. „Aber wir klettern zusammen?“
„Na schön“, seufzte Aylene. „Eigentlich wollte ich mich etwas ausruhen.“
Aylene sah, wie Farah plötzlich an ihr vorbeiblickte. Sie drehte sich um, doch bereits während der Bewegung klang Hildes Stimme auf:
„Habe ich mir doch gedacht, dass du hier bist.“

Die Bäuerin trat bis auf zwei Schritte heran und sah Farah, die sich hinter Aylene zu verstecken schien, streng an.
„Komm gefälligst hervor, damit ich dich richtig ansehen kann!“
Farah schlich seitlich hervor. Hilde sah das Kind mit strengem Blick an, bis es schuldbewusst den Kopf senkte.
„Darfst du hier sein?“, fragte sie scharf.
„...nein....“, antwortete Farah kleinlaut.
Hilde wartete, bis ihre Enkeltochter anfing, verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten. Dann streckte sie ihren Arm aus und deutete in einem weiten Bogen in Richtung zum Hof. „Ab nach Hause! Wir reden später weiter.“

Aylene berührte Farah am Arm.
„Hab keine Angst“, flüsterte sie ihr leise zu und gab ihr einen unmerklichen Schubs.
Das Kind ging langsam zum Weg, dabei wich sie Hilde aus, deren Blick sie verfolgte. Am Weg blieb sie noch einmal stehen.
„Bitte tue ihr nichts, Großmutter“, bat sie.
„Nein“, antwortete Hilde, „sie hat doch nichts getan. Und jetzt geh!“
Aylene konnte Farah noch aufmunternd zunicken, dann drehte sich das Kind endgültig um und stapfte schwermütig über den Weg fort.

Als Farah außer Sicht war, wandte sie sich Aylene zu, doch ohne sie wirklich anzusehen.
„Angelogen hat sie mich!“, klagte sie und der Zorn war ihr anzusehen. „Mich einfach angelogen. Warum nur?“ Sie ging ohne sie zu beachten an Aylene vorbei zu einem Baumstumpf und setzte sich. „Warum nur?“, wiederholte sie, und statt Zorn lag nun Nachdenklichkeit in ihrer Stimme. „Warum nur?“ Schwer legte sie ihr Gesicht in ihre Hände und verstummte.

„Herrin...“, fragte Aylene vorsichtig.
„Bitte nenne mich nicht immer so“, murmelte Hilde in ihre Hände und sah auf. „Wie soll dieses ungezogene Mädchen je einen Mann finden? Keron verwöhnt sie nur. Ich versuche sie zu erziehen, doch nun misstraut sie mir, ihrer eigenen Großmutter“, sagte sie mit bitterer Stimme.
„Nein. Entschuldigt, dass ich widerspreche, doch Farah ist nur ein Kind. Ihr habt ihr etwas verboten, das sie nicht einsieht. Da blieb ihr nichts anderes übrig als zu lügen, aber sie meint es nicht böse und sie misstraut Euch nicht. Sie liebt Euch.“
„Das sagst du doch nur, um mir zu schmeicheln.“
Aylene schüttelte ihren Kopf. „Ich kenne Farah jetzt seit drei Wochen, und sie hat nie etwas Schlechtes über Euch gesagt. Im Gegenteil, sie lobte Euch.“
„Wie meinst du das?“
„Nun ... Zum Beispiel hat sie mir erzählt, dass Ihr einen Kirschkuchen gebacken habt. Darüber hat sie sich sehr gefreut, denn es sei ihr Lieblingskuchen.“
„Das war nur ein Kuchen.“
„Farah hat sehr wohl begriffen, dass der Kuchen für sie war, und darüber hat sie sich gefreut.“
„Wirklich?“
„Ja!“

Hilde saß einige Minuten lang nachdenklich da, dann stand sie auf. „Ich muss mich jetzt um Farah kümmern“, meinte sie.
„Bitte bestraft sie nicht zu streng.“
„Was soll ich machen? Sie hat immer noch gelogen.“
„Sie tat es nicht für sich, sondern um mich zu schützen.“
„Um dich zu schützen?“, fragte Hilde.
„Bei unserer ersten Begegnung habe ich sie erschreckt, wodurch sie stolperte und sich am Arm verletzte. Sie wollte nicht, dass man mir die Schuld dafür gibt, deshalb fing sie an zu lügen.“
„Ach, deshalb tat sie damals so geheimnisvoll.“ Hilde kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, dann nickte sie. „Keine Sorge, ich bin kein Unmensch.“

*​

Am nächsten Morgen zupfte Aylene lustlos an den Sträuchern. Zum ersten Mal kam ihr die Stille des Feldes wie eine Last vor, die sich wie kalter Nebel um ihr Gemüt legte. Als sie dann Hilde ihren Namen rufen hörte, war sie fast dankbar für die Angst, die ihre trüben Gedanken vertrieb. Sie schloss ihre Augen und holte tief Luft, dann ging sie mit müden Schritten aus dem Feld heraus auf den Weg, wo Hilde auf sie wartete.

„Ragar und Keron sind einverstanden, dass du mir in den nächsten Tagen im Haus hilfst“, rief die Bäuerin ihr gut gelaunt zu. Sie wartete ungeduldig, bis Aylene sie erreichte, um sie dann mit einer Geste zum Mitkommen aufzufordern.
„Keron war gestern Abend sehr wütend über Farah“, erzählte sie dabei. „Er verbat ihr, dich wieder zu treffen, worüber sie völlig verzweifelt war.“
„Armes Kind“, meinte Aylene.
„Keron ging es auch nicht besser. Die Erkenntnis, dass seine Tochter wochenlang in deiner Nähe war, hatte ihn zunächst kopflos werden lassen. Er forderte sogar deine Abschiebung an die Soldaten, obwohl er inzwischen weiß, was das für dich bedeuten würde.“ Hilde warf ihr einen Blick zu. „Auch, wenn er es nie begreifen wird.“
Sie schwieg einige Schritte, dann sprach sie weiter: „Nach einigem Zureden wurde er endlich vernünftig und stimmte zu, dich auf den Hof zu holen. Dort kann er meinetwegen aufpassen, wenn Farah sich mit dir trifft.“
„Oh...Wie kann ich Euch dafür danken?“
Hilde blieb stehen und ein versonnenes Lächeln huschte zaghaft über ihr Gesicht. „Mir wurde schon gedankt.“ Ihr Blick kehrte zurück und sah Aylene ernst an. „Bitte enttäusche uns nicht.“
„Das werde ich nicht“, versprach Aylene fest. „Doch warum habt Ihr das für mich getan, obwohl ich eure Scheune anzündete und Farah verletzte?“, fragte sie.
„Ich tat es nicht für dich“, kam es etwas schroff von Hilde zurück und sie setzte den Weg fort. Nach einigen Schritten meinte sie versöhnlicher: „Gestern habe ich euch Beiden eine Weile zugesehen. Farah ist manchmal ungezogen, doch sie hat auch ein feines Gespür. Sie mag dich.“ Sie nickte bekräftigend mit dem Kopf. „Eigentlich war ich mir immer sicher, dass du kein böser Mensch bist. Das mit der Scheune war eine große Dummheit von dir. Mache es wieder gut, und wir werden dir verzeihen.“

*​

Als Hilde und Aylene den Hof betraten, sahen Ragar und Keron sahen nur kurz von ihrer Arbeit an der großen Scheune auf. Farah dagegen ließ ihr Holzstück, an dem sie schnitzte, fallen und rannte freudenstrahlend auf Aylene zu. Es sah abenteuerlich aus, wie sie im Laufen mit ihrem großen Messer herumfuchtelte, doch, ehe jemand reagieren konnte, erreichte sie Aylene und umarmte sie.

Ragar zog nur die Augenbraunen hoch, dann sägte er scheinbar unberührt an einem Brett weiter. Keron, der seiner Tochter hinterhergelaufen war, blieb auf halber Strecke stehen und sah verwundert dem Treiben zu. Er konnte nicht verstehen, was die Beiden sich sagten, nur sehen, wie Farah einmal zu Aylene hoch sah, die ihr daraufhin kopfschüttelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob.

Schließlich löste sich Farah aus Aylenes Armen.
„Komm, ich zeig dir, was ich mache“, sagte sie und zog sie am Arm näher zur Scheune.

Deren Wand erstreckte sich über acht Schritte in die Länge und zweieinhalb Mann in die Höhe, wo sie in das weiter aufstrebende Lattengerüst des Daches überging. Die Holzkonstruktion ruhte auf einem knapp kniehohen Steinsockel, und die bereits fertig gestellte Wandung bestand an der Außenseite aus senkrechten Planken. Stumpf aneinandergefügt ergaben sie eine ebenmäßige Fläche, die nur von drei kleinen Fenstern und einer Tür unterbrochen wurde. Außerdem wurde sie von drei Lattenreihen wie von Gürteln umlaufen, eine am Sockel, eine an der Dachkante und eine, auffällig breitere Reihe, in der Mitte.

Farah deutete auf die mittlere umlaufende Lattenreihe. Aylene konnte jetzt aus der Nähe erkennen, dass sie aus zahlreichen Segmenten bestand, von denen einige mit eingeschnitzten Motiven verziert waren. Sie schienen ausnahmslos Pflanzen und Tiere darzustellen, auch wenn Aylene nicht alle davon erkannte.
„Die habe ich gemacht. Gefallen sie dir?“
„Donnerwetter!“, entfuhr es Aylene, „Sind die aber schön. Sind die wirklich alle von dir?“
„Natürlich. Ich zeichne sie erst vor, dann ritze ich sie ein. Manche hat auch Keron gezeichnet, aber die meisten habe ich ganz alleine gemacht.“

Aylene betrachtete nachdenklich ein auffallend großes und detailreiches Tierbild.
„Das hier ist besonders schön. Was für ein Tier ist das?“
„Ein Gesko.“
„Ein Gesko? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Das musst du Keron fragen. Er hat es gezeichnet.“

Aylene zögerte, dann drehte sie sich um. Keron stand etwa zwei Schritte entfernt und sah sie mit undurchdringlicher Miene an.
„Geskos leben in den nördlichen Wäldern“, sagte er knapp.
„Bei den Druidenvölkern und Waldläufern?“, fragte sie weiter.
„Ja. Du solltest jetzt zu Hilde gehen, sie wartet schon auf dich“, erwiderte er und deutete auf das Haus. „Sie ist bestimmt in der Küche, die ist gleich rechts im Haus.“
Aylene nickte langsam, dann sah sie zu Farah, die etwas bedrückt wirkte. „Ich muss arbeiten. Bestimmt kannst du mir später alle Bilder zeigen.“
Sie sah, wie Farahs Gesicht sich etwas aufhellte, dann drehte sie sich um und ging zum Haus.

Hilde befand sich tatsächlich in ihrer Küche. Sie hatte angefangen, einen Hefeteig zu kneten, doch als Aylene eintrat stand sie reglos am Arbeitstisch und sah mit einem feinen Lächeln durch das offene Fenster hinaus auf den Hof. Ohne fortzusehen, winkte sie Aylene zu sich.
„Schau nur, aber gehe nicht zu nahe an das Fenster“, flüsterte sie verschwörerisch.

Draußen standen Farah und Keron noch immer vor der Scheune. Beide schienen aufgeregt miteinander zu diskutieren. Aylene konnte nichts verstehen, denn Ragar sägte weiterhin Bretter, doch es war gut zu erkennen, wie Farah manchmal aufgeregt auf ihren Vater zeigte und der dann beschwichtigend seine Hände anhob.
„Die Beiden streiten sich über dich“, meinte Hilde. „Natürlich wird sich Farah durchsetzen.“ Sie lachte leise. „Sonst ärgere ich mich darüber, aber dieses Mal ist es gut so.“
„Was macht Euch so sicher?“
„Vielleicht mein Alter?“, meinte Hilde knapp und wandte sich wieder dem Teig zu. Der Tisch knarrte leicht unter ihren Anstrengungen. „Das wird ein Apfelkuchen. Keron mag ihn am liebsten mit diesem festen Teig.“ Sie sah auf. „Er hat es noch am schwersten.“
„Warum tut Ihr das für mich?“
„Hass hat noch nie genutzt, er wird nur genutzt.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Das haben wir selbst erlebt...“ Fahrig wischte sie sich über das Gesicht, um die dunklen Erinnerungen zu verscheuchen. „Das verstehst du nicht. Lass es uns einfach versuchen.“ Übergangslos lächelte sie wieder und deutete auf eine Schüssel. „Du kannst die Äpfel schälen und schneiden.“

*​

Gegen Mittag versammelte sich die gesamte Familie in der Küche zum Essen. Als Erste traf Farah ein. Sie lief sofort zu dem großen Tisch, der groß und wuchtig die linke Raumhälfte einnahm, und kletterte auf die Sitzbank. Aylene, die den Unmut in Hildes Gesicht erkannte, ging zu Farah und flüsterte etwas in ihr Ohr, die daraufhin weniger begeistert zum Spülbecken ging und sich die Hände wusch.

Kaum war Farah wieder zurück zur Bank gelaufen, da betrat Keron den Raum. Er wirkte verschlossen, als er sich ohne umzusehen neben seine Tochter setzte. Kurz darauf folgte Ragar. Auch er verlor kein Wort und wirkte ungewöhnlich ernst, als er zu seinem angestammten Platz ging, dem Stuhl am dem Hausinneren zugewandten Stirnende des Tisches, doch im Gegensatz zu seinem Sohn wirkte er nicht angespannt.

Farah beobachtete mit wachen Augen Aylenes Hände, während sie die Teller und Löffel auf dem Tisch verteilten. Unruhig trommelten dabei ihre Fersen gegen die hölzerne Bank, bis Keron sie anstieß. Sie hielt inne, doch dann erklang wieder das dumpfe Klopfen. Ragar, der bisher völlig ruhig geblieben war, warf ihr, ohne den Kopf zu bewegen, einen mahnenden Blick zu. Mit einem unschuldigen Lächeln hielt sie erneut inne, doch die Anstrengung und innere Unruhe waren ihr deutlich anzusehen.

Als Hilde die Suppe zum Tisch trug, wollte Aylene die Küche verlassen, um in der kleinen Scheune etwas von ihrem aufgesparten Brot zu essen, doch die Bäuerin hielt sie mit einem Zuruf zurück:
„Aylene, wohin willst du?“ Sie stellte den Topf auf den Tisch, er war aus schwerem Gusseisen und gut gefüllt, und sah Farah fragend an.
„Ich habe nichts gesagt“, reagierte das Mädchen auf die unausgesprochene Frage. „Das hatte ich doch versprochen.“
„Ich wollte abwarten, bis es alle hören können“, mischte sich Ragar ein und winkte Aylene herbei. Er sah sie betont ernst an. „Ab heute sollst du zusammen mit uns essen.“
„Was?...Ich...“, stammelte Aylene überrascht. Über Ragars Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln, dann wurde er wieder ernst und wandte sich ab.
„Du hast doch gehört“, meinte Hilde burschikos und stellte demonstrativ einen zweiten Stuhl an den Tisch. „Setz dich nur, ich bringe dir noch einen Teller.“

Völlig überrumpelt nahm Aylene Platz. Hilflos blickte sie in die Runde. Zuerst sah sie die gegenübersitzende Farah an, sie schien sich zu freuen und strahlte Aylene gerade zu an. Dann glitten ihre Augen weiter zu Keron. Der bemerkte ihren Blick nicht, weil er seit Ragars Worten sichtlich verärgert auf den Tisch starrte. Schließlich sah sie zu Ragar, der scheinbar gleichgültig längs über den Tisch blickte.
„Warum?...“
„Weil ich es so will“, antwortete Ragar knapp und griff ohne eine weitere Erklärung zu der Suppenkelle.

Nachdem Ragar sich bedient hatte, übernahm Keron die Suppenkelle und schöpfte erst seiner Tochter, dann sich selbst auf. Während er mit unbewegtem Gesicht in seiner Suppe rührte, blies Farah kräftig in sie, bis Hilde ihr einen strengen Blick zuwarf. Das Mädchen fing nun ebenfalls an zu rühren, wenn auch sichtlich ungeduldiger als ihr Vater.

Hilde, die es gewohnt war, immer als Letzte zu nehmen, zögerte einen Moment, dann bediente sie sich. Auffordernd schob sie danach den Kellengriff zu der links neben ihr sitzenden Aylene, doch die zögerte auch jetzt noch. Kurzerhand griff Hilde erneut zu und schöpfte ihr zwei Kellen voll auf den Teller.

Es war still während des Essens, lediglich das Klappern und Schaben der eisernen Löffel auf den gebrannten Tontellern war zu hören. Es war der Hunger und die heiße Suppe, welche die Aufmerksamkeit der Familie beanspruchten, so sehr, dass selbst Farah nicht gleich bemerkte, wie Aylene regungslos in ihren Teller starrte. Doch dann war sie die Erste, die innehielt. Mit einem Schlag wurde es völlig still, und jetzt konnte jeder das leise Schluchzen hören.
„Was ist denn?“, fragte Farah vorsichtig.

Verschämt verbarg Aylene ihr Gesicht in den Händen und krümmte sich weiter zusammen, doch es dauerte nicht lange, bis die Tränen zwischen den Fingern hindurchliefen und in die dampfende Suppe tropften.
„Was hat sie denn?“, fragte Farah erneut und sah Keron an. Doch ihr Vater reagierte nicht, er starrte nur Aylene an. Verunsichert sah sie zu Hilde hinüber, die ihr mit einem leichten Lächeln beruhigend zunickte.
„Keine Sorge, mein Kind. Aylene freut sich nur.“
„Sie freut sich? Aber sie weint doch, das verstehe ich nicht.“
„Es ist aber so“, meinte Hilde und legte eine Hand auf Aylenes Schultern. Wie bei einem Kind fuhr sie sanft über ihren Rücken, doch anstatt sich zu beruhigen, fing Aylene an, nun hemmungslos zu schluchzen.

Es dauerte einige Minuten, bis Aylene sich wieder beruhigt hatte. Mit einer entschuldigenden Geste half Hilde ihr zum Spülbecken, um sich mit dem kalten Wasser zu erfrischen. Als sie zurückkamen, wich Keron immer noch ihrem Blick aus, doch statt Zorn spiegelte sich nun Nachdenklichkeit in seinem Gesicht.

Nach dem Essen lehnte Ragar sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Blick über alle streifen.
„Es gibt gute Nachrichten“, fing er an. „Die Preise für Strauchwolle sind in diesem Jahr ungewöhnlich hoch, so konnte ich für unsere Ernte genügend bekommen, um nicht nur das Holz für die Scheune bezahlen zu können, sondern wir werden damit auch gut über die Runden kommen.“
„Wir müssen also nichts verkaufen?“, fragte Hilde.
„Nein“, antwortete Ragar und streichelte die Hand seiner Frau, wobei er mit ihrem Ring spielte. „Es waren schwere Zeiten, doch ich habe immer an uns geglaubt.“
 
Freut mich, daß es weitergeht. :) Ich hoffe ja bei jedem neuen Kapitel fast darauf, daß einige neue Puzzleteilchen des damaligen Verrates (anders kann ich es mir zumindest nicht erklären) ins Spiel gebracht werden, aber du gestaltest deine Figuren so schön, daß ich stets darüber "hinweggetröstet" werde :D Wirklich gut gelungen.

PM kommt auch noch ;)
 
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