Muchnara 10
Das Dorf im Nebel
Am nächsten Morgen hatte es keiner weiteren Worte bedurft, um die Vereinbarung zu besiegeln. Eilig durchsuchten sie die Hütte nach allem, was für ihre Suche nützlich sein könnte. Sie fanden warme Decken, Feldgeschirr und Trockennahrung, was sie in die beiden Rucksäcke der toten Soldaten packten. Keron band sich noch ein großes Messer und eine kleine Axt an den Gürtel. Als er in einer Schublade einen Dolch fand, warf er ihn Samara zu, die ihn mit einem erstaunten Blick auffing. Keron nickte bekräftigend und zog sich mit derselben Selbstverständlichkeit den schwereren der beiden Rucksäcke über die Schultern. Den anderen nahm sich Sylissa, die ihre Ausrüstung, abgesehen von ihren Waffen und einem breiten, mit vielen kleinen Taschen besetzten Gürtel, verloren hatte.
Im Freien wurden sie vom farbenprächtigen Spiel der aufgehenden Sonne begrüßt. Doch sie hatten keinen Blick dafür. Sylissa drängte zur Eile, sie müssten sich schnell möglichst weit vom Stützpunkt entfernen. Sie versicherte, sie habe einen Plan und würde ihn unterwegs erläutern. Auf ihren Vorschlag hin zerbrach Keron noch schnell den Zaun an einigen weiteren Stellen, dann folgte er der Zauberin nach und kletterte ebenfalls an dem Seil hinab, das noch immer an dem Pfosten hing.
Da das Seil zu kurz war, um in einer großen Schlaufe bis zum Boden zu reichen, gab es nur eine Möglichkeit, auch diese Spur zu entfernen. Nachdem Keron und Sylissa hinabgekletter waren, befestigte Samara es für sich mit einem speziellen Knoten, den sie gelernt hatte. Behutsam legte sie sich in das Seil, denn es musste nun unter ständiger Belastung bleiben, damit sich der Knoten nicht öffnete. Sie hatte das oft geübt und glaubte die Technik zu beherrschen, doch etwa zwei Körperlängen über dem Boden ließ sie ein ungeduldiger Zuruf Kerons unvorsichtig werden. Sie stieß sich zu hastig mit dem Bein von der Steilwand ab, und ein kleiner Ruck lief durch das Seil. Er genügte, um den Knoten aufgehen zu lassen.
„Vorsicht!“, stieß Keron aus und wollte sie auffangen, doch er stand zu weit entfernt.
Hilflos musste er zusehen, wie sie seine ausgestreckten Arme verfehlte. Samara fiel mit dem Rücken auf den steilen Hang und rollte ihn hinab, bis sie gegen seine Beine stieß. Keron bückte sich zu ihr herab.
„Ist dir etwas passiert?“, fragte er mit besorgter Stimme.
Samara brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann stand sie geschmeidig auf.
„Nein, der Sturz war nicht schlimm. Seltsam, als wenn ein Heuballen mich aufgefangen hätte.“ Sie sah fragend zu Sylissa hinüber.
„Das war nicht weiter schwer, nur etwas Telekinese“, meinte die Zauberin beiläufig.
„Danke.“
„Was ist Telekinese?“, fragte Keron.
„Kraftausübung mittels Gedanken“, antwortete Sylissa knapp.
„Was?“
„Das meine ich“, sagte sie und ließ einen herumliegenden Stein ein Stückchen emporschweben.
„Oh ...“, entfuhr es Keron und sah sie entgeistern an. „Gibt es das wirklich?“
„Sie ist eine Zauberin“, antwortete Samara an Sylissas statt, die sich einfach umgedreht hatte und anfing, den Hang hinab zu steigen. „Wahrscheinlich hat sie damit auch ihren eigenen Sturz abgefedert. Es ist einer ihrer stärksten Kräfte, und damit hat sie mich gestern auch zu Boden geworfen.“
„Das ist doch Hexerei!“, entfuhr es Keron.
„Sag das nie zu ihr“, empfahl Samara.
„Wo bleibt ihr denn?“, hörten sie Sylissas unterdrückten Ruf.
Sie folgten ihr in den Wald hinein.
Sylissa war etwa ein Dutzend Baumreihen weit in den Wald gelaufen und wartete dort mit verschränkten Armen.
„Der Hang hat ihn ganz schön zugerichtet“, meinte sie und deutete auf einen Leichnam mit seltsam verrenkten Gliedern, der sich halb um einen Baum gewickelt hatte. „Wir sollten Margor tiefer in den Wald ziehen, damit sie ihn nicht finden.“
Samara sah sich den Toten an. Kein Zweifel, es war eindeutig Margor. Sie hatte ihn wegen seiner kriecherischen Unterwürfigkeit gegenüber Herl nie gemocht, doch der Anblick seines zerschmetterten Körpers bereitete ihr nun keinerlei Befriedigung, sondern nur Ekel. Der Sturz und das Herabrollen hatten seine Knochen zertrümmert und den Leib grotesk deformiert. Am schlimmsten anzusehen aber war das Gesicht. Nahezu unverletzt bezeugte es noch immer mit seinem weit aufgerissenem Mund und starren Augen den Moment der Erkenntnis des eigenen Todes.
Keron schob die erstarrt wirkende Samara sanft zur Seite. „Ich mache das schon.“
Er packte die Leiche bei ihren beiden Hosenbeinen und zog sie vom Baum weg. Sie hinter sich herschleifend stapfte er den Hang hinab, wobei die beiden Frauen alle Spuren verwischten. Nach einigen hundert Schritten fand er eine Felsspalte, in die er Margors Leichnam hinabrutschen ließ.
„Gut“, meinte Sylissa zufrieden. „Das dürfte sie endgültig abhängen.“ Sie streckte ihren Arm nach vorne aus. „Wir müssen zuerst durch das Tal und dann weiter über den Steinpass.“
„Du willst auf die andere Seite von der Grenze?“, fragte Keron.
„Ja, Askars Versteck befindet sich im Kinitat.“
„Weil sich dort Niemand für seine Verbrechen interessiert?“
Sylissa sah ihn seltsam an. „Im Kinitat halten sie uns für Helden.“
„Das habe ich auch einmal geglaubt“, fügte Samara hinzu. „Das ist einfach dumm von mir gewesen.“ Sie stutzte. „Dann hat Askar die Behörden im Kinitat also nie bestechen müssen?“
„Nein. Im Gegenteil, sie unterstützen ihn sogar“, antwortete Sylissa. „Zwar nur unter der Hand, aber sie machen es bereitwillig. Wie gesagt, er ist ein Held für sie.“
„Wäre er es auch noch, wenn wir ihnen von den Morden und der Entführung berichten?“
Sylissa zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Selbst wenn sie dir glauben würden, wäre es ihnen egal.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach Samara. „Ich bin zwei Jahre lang auf eine Offiziersschule gegangen, und man hat uns immer wieder eingetrichtert, das Gesetz zu wahren.“
„Tatsächlich?“ entgegnete Sylissa spöttisch.
„Ja! Dir geht es doch nur um deine Rache. Die Behörden werden uns helfen.“
Samara blickte erwartungsvoll zu Keron, doch dessen Gesicht drückte nur Ablehnung aus. Sylissa bemerkte ihre Enttäuschung und setzte nach:
„Dass du das noch glauben kannst? Ich dachte, im Kerker hätte man dir solche Flausen ausgetrieben.“
Samara erblasste schlagartig. Ihr Körper fing an zu zittern, und drohend langsam schritt sie auf die Zauberin zu.
„Nein!“, rief Keron aus und sprang dazwischen. „Was soll das? Wir brauchen keinen Streit!“
„Dieser treu-doofe Obrigkeitsglaube ...“, meinte Sylissa abschätzig.
Keron fuhr ihr harsch über den Mund: „Halt die Klappe! Halte bloß die Klappe!“ Er wollte sich Samara zuwenden, doch die blickte verbissen an ihm vorbei. „Wir werden es versuchen. Hinter dem Pass ist ein Grenzdorf, dessen Bürgermeister wir kennen. Ihn können wir um Hilfe bitten.“ Sein Kopf ruckte zurück zu Sylissa. „Etwas dagegen?“, schnappte er.
Sylissa schüttelte langsam ihren Kopf. „Es ist zwar reine Zeitverschwendung, aber von mir aus: Ja. Ich habe es nicht eilig mit Herl“, antwortete sie gelassen.
„Gut“, sagte Keron und wollte sich erneut Samara zuwenden, doch die hatte sich still abgesondert und saß nun außer Hörweite auf einem Baumstumpf.
„Sag mal, musste das sein?“, fragte Keron Sylissa vorwurfsvoll.
„Sie hat doch ihren Willen bekommen“, erwiderte sie kühl.
Wütend über ihre Antwort ließ Keron die Zauberin stehen und ging zu Samara. Noch bevor er sie erreichte, stand die hagere Frau auf. Ihr vorwurfsvoller Blick traf ihn schwer, und als er etwas sagen wollte, unterbrach sie ihn mit einem müden Kopfschütteln.
*
Die Stimmung blieb während des Weges eisig. Keron versuchte immer wieder Samara anzusprechen, doch sie reagierte nicht und starrte stattdessen verbissen zu Boden. Einmal wollte er Sylissa bitten, sich bei Samara zu entschuldigen. Doch der kühle Blick ihrer grauen Augen ließ ihn sein Vorhaben aufgeben, noch bevor er das erste Wort aussprechen konnte.
Auf der Passhöhe legten sie eine kurze Rast ein. Keron war schon einige Male hier gewesen, wenn er zusammen mit seinem Vater jenes Dorf auf der anderen Seite der Grenze besucht hatte, auf das er zunehmend seine Hoffnung stützte. Nachdenklich versuchte er es mit den Augen im gegenüberliegenden Tal ausfindig zu machen, doch eine dichte Dunstwolke verhinderte jeden Einblick in es.
„Dort, hinter dem Berg mit den beiden Gipfeln, lebt meine Familie“, hörte er unerwartet Samara Stimme. Sie klang traurig und niedergeschlagen. Er drehte seinen Kopf und sah, wie sie mit einem Arm nach vorne deutete, in Richtung von zwei Spitzen, die in unbestimmbarer Entfernung durch den Dunst ragten. Seine Augen wanderten zurück zu der hageren Frau, die er jetzt im Profil sah, wie sie weiter in die angegebene Richtung blickte. Er erkannte, wie eine Träne über ihre Wange hinab rollte.
„Du sehnst dich nach deiner Heimat?“, fragte er leise.
Sie nickte. „Ja, aber ich darf nicht dorthin zurückkehren.“
„Du wurdest verbannt?“
„Ich darf den Kinitat nie wieder bewohnen.“ Sie drehte ihr Gesicht Keron zu. „Ich darf ihn nur kurz betreten, wenn meine Pflichten als Sklavin es erfordern.“
„Als Sklavin? Ach, du bist schon lange frei. Wenn du möchtest, kannst du jederzeit gehen, Samara.“
„Wir müssen weiter“, mischte sich Sylissa Stimme ein.
Keron und Samara wandten sich zu ihr um. Die Zauberin stand direkt hinter ihnen und machte einen ungeduldigen Eindruck.
„Lasst uns jetzt zu deinem Bürgermeister gehen“, forderte sie.
*
Das Grenzdorf befand sich in einem Tal, das zwischen zwei im Norden und Süden gelegenen langgezogenen Hügelketten lag. Vom Westen her führte der einzige Weg in das schmale Tal, welches auf seiner gegenüberliegenden östlichen Seite von einem mächtigen Berg abgeschlossen wurde. Er war so hoch, dass sich an ihm die Wolken stauten und die gesamte Umgebung in zähen Dunst und Nebel tauchten.
Der Weg führte sie weiter in das Tal hinein, das sich scheinbar immer tiefer in sein Umland einschnitt. Die Landschaft verlor ihr Grün, vermutlich fing die im Süden liegende Hügelkette, die immer steiler und höher an ihnen emporwuchs, die wenigen Sonnenstrahlen ab, die dieser feuchten Gegend noch verblieben. Schließlich gab es nur noch graue Steine und Geröll zu sehen. Selbst die wenigen Dutzend Häusern, die aus dem Nebel auftauchten, wirkten wie von den Hängen herabgerutschte Felsblöcke.
„Was für eine armselige Gegend“, kommentierte Sylissa. „Ich habe mich immer gefragt, weshalb die Menschen sich wegen dermaßen unfruchtbaren Bodens gegenseitig die Köpfe einschlagen. Hier wachsen doch nur Steine.“
„Sie leben vom Fischfang“, erwiderte Keron. „Es gibt hier Seen, in denen sie begehrte Fische züchten. Daher kennen wir sie auch, wir haben ihnen unsere Strauchwolle im Tausch für den Fisch gegeben.“
Das Haus des Bürgermeisters stand schwer und dunkel in der menschenleeren Siedlung. Die feuchte Luft kondensierte an den grauen Steinen zu winzigen Tropfen, die im trüben Licht matt schimmerten und sich am Boden zu kleinen Rinnsalen versammelten, die kreuz und quer über den Weg zu einem gegenüberliegenden Bach krochen. Sein sanftes Gluckern war das einzig wahrnehmbare Geräusch.
Keron schlug mit der Faust gegen die winzige Tür. Es dauerte nicht lange, und sie schwang nach innen auf. Ein großer Mann von schwer zu bestimmendem Alter sah sie mürrisch durch seinen verfilzten Bart hindurch an.
„Seit ihr der Bürgermeister?“, fragte Keron ihn.
„Ja. Was wollt ihr? Es gibt keine Herberge im Dorf.“
„Erkennt ihr mich? Ich bin Keron Baragnar. Man hat uns überfallen, und jetzt brauchen wir Hilfe von der Garnison. Es gibt doch eine ganz in der Nähe? Könntet Ihr uns bitte zu ihr bringen und vermitteln?“
„Ihr seid Ragar Baragnars Sohn?“
„Ja, bis sie ihn umbrachten.“
„Kommt herein.“
Sie folgten ihm in einen fensterlosen Gang. Es war finster und feucht, als würden sie eine Felshöhle betreten. Samara erschauerte unter dem Eindruck trostloser Armut, doch noch mehr ging ihr die Reaktion des Bürgermeisters im Kopf herum. Etwas stimmte nicht damit.
Der Bürgermeister schlug einen schweren Vorhang zur Seite. Ein Schwall wärmerer Luft, stickig und durchsetzt mit dem Gestank von brennendem Öl, schlug ihnen entgegen. Der Hausherr machte eine einladende Geste, ließ Keron den Vortritt und folgte ihm dann nach. Wie es in dieser Gegend üblich war, ignorierte er die beiden Frauen auf dem Gang völlig und ließ den Vorhang hinter sich zuschwingen.
Bis sie ihn umbrachten ... Wieso überraschte es ihn nicht?
Samara drehte sich nach der ihr nachfolgenden Sylissa um und gab ihr ein warnendes Handzeichen. Die Zauberin schien ebenfalls Verdacht geschöpft zu haben, denn sie gab ihr sofort mit einigen weiteren Handzeichen Anweisungen. Samara nickte verstehend, und drehte sich wieder um. Sie legte ihre linke Hand auf den Dolch und schob den Vorhang mit dem rechten Arm weit zur Seite. Ihre Augen huschten einschätzend über den Raum und erfassten drei Soldaten. Ihr unerwarteter Anblick weckte schlagartig jene Kampfbereitschaft in ihr, die sie zuletzt in jenem Strauchwollfeld verspürt hatte, als sie Farah entdeckt hatte. Zwei von ihnen standen hinter einem großen Tisch, dem Brustpanzer nach war einer von ihnen ein Offizier. Der dritte Soldat stand direkt neben dem Zugang und wandte gerade sein Gesicht ihr zu. Sofort hatte sie einen Plan und trat ein.
„Ihr habt einen Offizier und zwei Soldaten zu Gast?“, frage Samara laut und verstellte wie zufällig dem vorderen Soldaten den Weg zum Zugang. Es war ein unerfahrener junger Mann, und es genügte ihr ein einziger Blick in sein angespanntes Gesicht, um den letzten Zweifel an einem Hinterhalt zu verlieren. Samara trat nun unmittelbar an ihn heran. Der Soldat wollte zurückweichen, stieß dabei aber mit dem Rücken gegen die Wand. Als er nach seinem an der Seite steckenden Schwert greifen wollte, machte Samara eine abwehrende Geste und deutete mit den Augen auf ihren Dolch, den sie halb aus der Scheide gezogen hatte.
„Keron Baragnar!“, donnere eine befehlsgewohnte Stimme durch den Raum. Der Offizier deutete auf den mitten im Raum stehenden Keron. „Ihr seid festgenommen!“ Er sah zu Samara hinüber. „Sklavin, du lässt sofort meinen Mann in Ruhe!“
„Oh! Ich wollte nur den Weg zum Durchgang für Euch frei machen“, erwiderte Samara und machte eine ausladende Geste.
Der Offizier wurde rot vor Wut. Samara wiederholte die Geste, und endlich wichen auch der Bürgermeister und Keron zur Seite.
„Du wirst deine Frechheit noch bereuen!“, donnerte der Offizier wütend. „Ich ...“
In diesem Moment stürzte sich Sylissa in den Raum. Sie schleuderte sofort und noch aus der Bewegung heraus einen Feuerball auf die beiden hinter dem Tisch stehenden Soldaten ab. Er traf mit einem dumpfen Schlag gegen den Brustpanzer des Offiziers und warf ihn nach hinten um. Die Feuerkugel zerbarst beim Aufschlag in ungezählte Splitter, die zu Boden fielen und beide Angegriffenen in ein Flammenmeer tauchten. Der Soldat schrie entsetzt auf und fing an, in Panik um sich zu schlagen, während der Offizier versuchte, aus dem Feuer zu kriechen. Doch als seine eisenbeschlagenen Stiefelspitzen auf dem glatten Steinboden keinen Halt fanden und immer wieder mit einem hässlichen Kreischen abglitten, war es auch um seine Beherrschung geschehen.
Sylissa sprang auf den Tisch. Das Feuer schien ihr nichts auszumachen, halb in ihm kniend riss sie ihr Kurzschwert aus der Rückenscheide und stach zuerst dem unkontrolliert um sich schlagenden Soldaten in die Brust. Sie traf sein Herz und seine Schreie verstummten sofort. Sylissa zog die Klinge aus dem zusammensackenden Körper und ließ sich vom Tisch auf den keuchenden Offizier fallen, der immer noch auf dem Bauch liegend vergeblich um Halt suchend mit Armen und Beinen strampelte. Sie kam auf seinem Rücken zum sitzen, packte ihre Waffe mit beiden Händen am Griff und rammte es von oben durch sein Kettenhemd hindurch zwischen die Schulterblätter. Sein Keuchen wurde durch einen Schrei beendet, der in einem Gurgeln erstarb.
Während die Flammen um sie herum erloschen, stand Sylissa scheinbar gelassen auf. Sie schien unversehrt, nicht einmal ihre Haare waren angesengt. Sie stemmte einen Fuß auf den Rücken des Offiziers und zog mit einem kräftigen Ruck ihr Schwert aus ihm heraus.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie den schreckensstarren Keron. „In der Eile konnte ich das Feuer nicht ganz auf die Beiden zu beschränken.“ Sie ging um den Tisch herum zu ihm hin und sah ihn kritisch an. Keron blickte mit starrem Blick an ihr vorbei. Sylissa zuckte mit ihren Schultern und wandte sich Samara zu.
„Das hast du gut gemacht“, meinte Sylissa mit einem Nicken. Sie deutete auf den Soldaten hinter ihr. „Jetzt musst wir nur noch ihn beseitigen, dann sollten wir von hier verschwinden. Wie konnten die uns nur so schnell finden?“ Sie machte einen Schritt auf den Soldaten zu und holte mit ihrem Schwert aus. Der war vom Schock des Erlebten noch völlig paralysiert und reagierte nicht.
„Warte!“, unterbrach Samara sie.
Sylissa hielt inne und sah Samara fragend mit grün glitzernden Augen an.
„Was ist?“
Samara rang verzweifelt nach Worten. Sie hatte Sylissas Fähigkeiten bereits einmal kennen gelernt. Damals hatte Askar eine Händlergruppe überfallen, und Sylissa hatte zur Einschüchterung einen ihrer Feuerbälle in einen Busch geschleudert. So hatte sie das Feuer nicht überrascht, wohl aber seine brutale Wirkung. Die Schreie der Getroffenen hallten ihr noch durch den Kopf.
„Warte, nicht so schnell“, sagte sie, weiter um Worte ringend. „Wir ... wir sollten ihn fragen, warum sie uns festnehmen sollten.“
Sylissa nickte. „Gut. Wir sollten erfahren, was sie wissen“, sagte sie und sah den Soldaten kühl an. „Also, du hast gehört?“
Der Soldat brachte kein Wort hervor. Samara bemerkte, wie er vor Angst zitterte.
„Bist du taub?“, herrschte die Zauberin ihn an.
„So hat das keinen Zweck“, meinte Samara. „Lass es mich versuchen.“ Sie wandte sich an den jungen Mann. „Sag, du bist noch nicht lange in der Armee? Wie heißt du?“
Sie unterbrach Sylissas ungeduldiges Schnaufen mit einer Handbewegung und deutete auf einen Stuhl.
„Setz dich dort hin.“
Steifbeinig wankte er zu dem Stuhl und ließ sich auf ihn fallen. Samara zog einen zweiten Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber hin. Sie schloss die Augen, um ihre Nerven zu beruhigen, dann versuchte sie, den Soldaten möglichst gelassen anzusehen.
„Hör mal, mein Junge“, mischte sich Sylissa ein. „Ob ich zwei oder drei von eurer hinterhältigen Sorte umlege, ist für mich kein Unterschied. Also mache gefälligst das Maul auf.“
Samara sah sie verweisend an. „Bitte! Es war bestimmt nicht seine Idee, uns hier aufzulauern.“ Sie suchte wieder den Blickkontakt mit dem Soldaten.
„Wie lautet dein Name?“, fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme möglichst sanft und sicher klingen zu lassen. Das gelang ihr besser als erhofft, was ihre Entschlossenheit, ihn zu retten, sichtbar anwachsen ließ. Ihr Blick gewann weiter an Gelassenheit und Sicherheit.
„Arbor Dawes“, antwortete er endlich.
„Gut, Arbor. Keine Angst, wir bringen niemanden um, der uns nicht bedroht. Oder war das hier deine Idee?“
„Nein! Nein, ganz bestimmt nicht!“, rief der Soldat aus. „Ich bekam den Befehl dazu von Folmar.“
„Ist das der Offizier gewesen?“
„Ja ...“ Er schluckte hörbar und sah zu der Stelle, wo seine Kameraden lagen, konnte sie aber wegen der im Blick liegenden Tischplatte nicht sehen. „Folmar sagte uns nur etwas über ein Ersuchen der Malunen an den Garnisonskommandanten, hier alle Mitglieder der Baragnars festzunehmen, die vorbeikämen.“
Samara zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wann hat er den Befehl bekommen?“
„Heute am frühen Morgen. Es war noch dunkel, und bei Sonnenaufgang mussten wir sofort losziehen.“
Sylissa setzte sich zwischen dem Soldaten und Samara auf den Tisch. Sie hatte sich offensichtlich wieder beruhigt, und ihre Stimme hatte wieder ihre gewohnte sachliche Bestimmtheit. Kühl sah sie den Soldaten mit ihren grauen Augen an.
„Etwas mehr musst du schon erzählen, wenn ich dich am Leben lassen soll“
„Folmar hat uns nicht mehr gesagt. Ich habe ihn noch gefragt, weshalb ein solcher Aufwand getrieben wird, dass man Dutzende von Patrouillen zu allen denkbaren Orten losschickt. Er wusste es nicht.“
„Du willst mir also erzählen, euer Kommandant hätte ein Hilfeersuchen von den Malunen bekommen, also seinen Feinden, und er hätte daraufhin die halbe Garnison losgeschickt, um uns zu suchen?“, fragte Sylissa skeptisch und runzelte ihre Stirn. „Nein, genauer gesagt nur eine harmlose Bauernfamilie.“
„Ja! Ich weiß es nicht anders. Währe es Euch lieber, ich würde Euch anlügen?“, entfuhr es dem Soldaten in einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung.
„Schon gut, ich glaube dir“, beschwichtigte Samara und legte ihre Hand beruhigend auf den Arm des Soldaten. „Wir haben zur Zeit Frieden, da arbeiten die Grenztruppen manchmal zusammen. Sie hängen das nicht an die große Glocke, aber eine Hand wäscht die Andere. Allerdings gibt mir der Umfang der Aktion zu denken.“
Sylissa nickte. „Das hast du wieder reichlich fein ausgedrückt“, meinte sie. „Ich würde sagen, hier deckt eine Lüge die Andere.“
Sie wandte sich an den Soldaten und klopfte ihm jovial auf die Schulter. „Du hast Mut.“ Sie lächelte dünn bei seinem erstaunten Blick. „Dafür lasse ich dich am Leben.“ Ihre Hand deutete auf den immer noch am Boden liegenden Bürgermeister. „Dich aber nicht!“
Sylissas letzter Satz rüttelte Keron auf.
Gestern noch hätte ich keinen Hund getreten, und jetzt sehe ich ungerührt zu, wie wir über einen wehrlosen Menschen richten? Wie kann mich das alles nur so gleichgültig lassen?
„Wir bringen niemandem um“, rief Keron erschrocken über sich selbst aus. Er deutete auf den Bürgermeister. „Nicht einmal diesen Verräter.“
„Du willst diese feige Ratte am Leben lassen?“, widersprach Sylissa und ließ sich von der Tischplatte herabgleiten. Mit zwei Schritten war sie beim Bürgermeister. „Er hätte uns leicht warnen können. Ohne Samaras kluges Verhalten wären wir jetzt verloren.“ Sie trat der zitternden Gestalt hart in die Seite. „Sag, Ratte, was haben sie dir dafür versprochen?“
„Lass ihn in Ruhe!“, schrie Keron sie an.
Sylissa fuhr herum, ihre Augen funkelten in grünem Zorn.
„Willst du mir befehlen? Ich lasse mich von niemandem verraten, weder von Herl noch von diesem dreckigen Kriecher!“, schrie sie zurück.
„Sylissa, niemand will dir befehlen“, meinte Samara beschwichtigend. „Bitte, wir sind alle mit den Nerven am Ende.“ Sie wartete ab, bis die Zauberin ihren Blick erwiderte. „Herl hatte die Wahl, diese Männer hier nicht. Wenn du jetzt den Bürgermeister tötest, dann hilft das nur unseren Feinden, uns anzuklagen.“
Sylissa holte tief Luft und stieß sie dann langsam durch die Nase aus. „Na gut. Diese Ratte ist mir keinen Streit wert“, meinte sie angestrengt und sah zu dem Soldaten hinüber. „Sonst glaubt der Junge noch, wir währen Mörder.“ Sie deutete mit dem Finger auf ihn. „Glaubst du das etwa?“, rief sie.
„Nein ... Nein, dann würde man nicht einen solchen Aufwand treiben.“
„Aha? Was glaubst du dann?“, fragte Sylissa verdutzt.
Es wurde still im Raum.
„Sag nur, was du denkst“, forderte Sylissa weiter. Sie schien jegliche Wut verloren zu haben.
„Ihr seid jemandem mit Beziehungen in die Quere geraten.“
„Du bist gar nicht so dumm, mein Junge. Aber sag das zu niemandem sonst.“
„Natürlich nicht.“
Sylissa beugte sich wieder über den Bürgermeister.
„Du kannst jetzt aufstehen. Bedanke dich bei Keron für dein Leben.“
Keron bückte sich und zog den Bürgermeister auf die Beine. Der zitterte am ganzen Leib und brachte kein Wort heraus.
„Ich will nichts hören“, sagte Keron eindringlich. „Am besten, Ihr haltet Euch aus der Sache heraus. Ihr habt nichts gesehen und schon gar nichts gehört.“ Er stieß den Mann von sich. „Ist das klar?“, fragte er den Bürgermeister scharf.
„Ja, Herr. Es tut mir leid, mein Herr, ich ...“
Keron winkte ab. „Sprecht Euch mit Arbor ab. Er hat verstanden, worum es hier geht.“