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Muchnara

Herrlich. Einfach wundervoll geschrieben. Ich finde es sehr krass, wie Hilde sich in diesen 3 Wochen verändert hat. Hätte ich nicht von ihr erwartet. Ging mir vielleicht ein bisschen zu schnell. Anderseits wäre es schwierig, so etwas langsam zu beschreiben und dann die Story immer noch spannend zu halten. Würde vermutlich dann eintönig werden.

Weiter so. Sehr Gut.

lg, Gandalf
 
Hallihallo!

Leider kam ich erst heute dazu, die Fortsetzung deiner Geschichte zu lesen. Ich finde sie, wie meine beiden Vorgänger, sehr gut gelungen. Ich muss jedoch auch Gandalf recht geben, dass der Umschwung vielleicht etwas zu plötzlich kam. Aber es ist vielleicht auch nachvollziehbar. Wenn Farah Allayah vollkommen vertraut, kann sie ja nicht schlecht sein, oder? Und die Alten mit ihrer Lebensweisheit können/wollen es halt schneller verstehen.

Wie du die Geschichte schreibst, gefällt mir auch ganz gut. Ich hoffe, wir erfahren im nächsten Abschnitt, was eigentlich passiert sein soll. So weit sind wir glaube ich. Ich bin auf jeden Fall gespannt.

Bis dann denn
Skuhsk
 
Na, eigentlich wollte ich nur kurz im Forum nachkucken ob es was neues gibt... jetzt ist meine Mittagspause rum, und das ist alleine deine Schuld ;)

Nein, Spaß. Ich hab mir deine Story soweit durchgelesen, und konnte einfach nicht stoppen. Das ist ein sehr interessantes Szenario was du da aufziehst, und auch eher ungewöhnlich. Aber das reizt auch auf jedenfall.

Was ich nicht so ganz einordnen kann ist die Bäuerin. Irgendwie schwingt sie mit ihrer Einstellung schnell hin- und her. Mal hasst sie die kleine Tochter, mal wieder nicht. Dann will sie mit der Gefangenen nichts zu tun haben, später kümmert sie sich rührend um sie. Irgendwie kommt mir das alles immer etwas zu schnell. Du musst auch aufpassen das du nicht zu arg ins "klischeehafte" reinkommst, auch wenn ich selbst weiß dass das nicht so leicht ist ;)

Aber das sind nur Kleinigkeiten. Ansonsten finde ich großen Gefallen an deinem Text, und bin mal gespannt wie es weitergeht. Das mit der Schreibblockade kenne ich zu gut, da leide ich auch schon mehrere Jahre darunter *schmunzel*
 
Hallo,
zunächst Danke für euere Kritiken. Kurz gesagt, ich stimme ihnen zu.
Hilde ist ein viel schwierigere Charakter geworden als geplant, insbesondere ihr Verhältnis zu Farah ist kompliziert und müsste klarer herausgearbeitet sein. Hilde meint, durch eine besonders gute Erziehung Fahras Makel auszugleichen zu müssen, wobei sie auch meint, Keron würde seine Tochter verwöhnen. Doch sie erntet nur Undank, das frustriert sie. Hilde ist daher ein unter emotionalem Druck stehener Mensch. Farah dagegen fühlt sich von ihrer Großmutter nicht verstanden und schikaniert, worauf sie mit Trotz und Ablehnung reagiert. Aylene brach nun in diesen Teufelskreis ein, wodurch sie bei Hilde, die ihr vorher eher neutral gegenüber stand, an Vertrauen gewann.
Es besteht die Gefahr, dass die Story nun, vor allem im nächsten Teil, zu "happy" wird, und bin noch am grübeln darüber. Vielleicht täuscht auch der Schein? Ein möglicher Titel ist "Im Auge des Sturms".
Der Vorfall in der Scheune wird im Folgenden weiter aufgeklärt werden. Das macht mir besonderen Spaß.
 
Muchnara 6
Schmutz der Welt

Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang ging Aylene zu der kleinen Scheune. Hilde hatte ihr gesagt, sie solle sich hier einen Platz zum Übernachten vorbereiteten, da die trockene Jahreszeit sich ihrem Ende nähere und sie bei Regen nicht im ungeschützten Freien bleiben solle.

Als sie die Tür öffnete, verstand sie, weshalb eine Vorbereitung nötig war. Durch den Verlust der großen Scheune war Lagerraum auf dem Hof zur Mangelware geworden, und die gesammelte Strauchwolle war zwar verkauft, aber noch nicht abgeholt worden. So nahmen ihre weißen Ballen auch noch den letzten freien Winkel in der hoffnungslos überfüllten Scheune in Beschlag. Aylene sah daher nur eine Möglichkeit, sich Platz zu schaffen: Zuerst müsse sie einen Bereich völlig ausräumen und anschließend die Ballen irgendwie wieder in der restlichen Scheuen unterbringen.

Aylene schritt an die Ballen heran, die sich direkt hinter der Tür zu einer Wand auftürmten. Einen Moment gab sie sich dem befriedigenden Gefühl hin, vor den Früchten ihrer Arbeit zu stehen. Das war ihr Verdienst, sie hatte damit den Baragnars geholfen, die Folgen ihrer Tat zu überwinden. Sie spürte, wie erneut eine Last von ihrer Seele wich. Eine Last, die sie zuvor nicht bewusst bemerkt hatte, sondern erst jetzt, als sie von ihr glitt.

Die Strauchwolle war zu Quadern gepresst und mit Schnüren zusammengebunden worden. Beschwingt ergriff Aylene den obersten, sich auf Stirnhöhe befindlichen, Ballen an seinen Schnüren und zog ihn an sich. Er war zwar groß aber nicht schwer und so gelang es ihr ohne sonderliche Anstrengung, ihn vom Stapel zu ziehen. Als der Ballen jedoch seinen Halt verlor, fiel er für sie überraschend nach unten. Reflexartig wollte Aylene den Fall aufhalten, indem sie ihn an den Schnüren an sich heranriss. Doch der Ruck war zu hart und ließ ihn zerbrechen. Seines Zusammenhalts beraubt zerstob er in eine Wolke von Flocken, die vom nächsten Windstoß weiter aufgewirbelt wurde.
„Oh nein!“, rief Aylene erschrocken aus und versuchte die Flocken einzufangen.

Ragar und Farah waren bereits vor einer halben Stunde in das Haus gegangen, während Keron noch eine angefangene Arbeit zu Ende führen wollte. Als er Aylenes Schrei hörte, sah er hinüber zu der kleinen Scheune. Dort entdeckte er ihre schlanke Gestalt vor der offenen Tür, wie sie bis zu den Knien in einer weißen Wolke stand und mit den Armen um sich ruderte. Mit einem unterdrückten Fluch sprang er auf und rannte zu ihr hin.
„Was machst du denn da?“, rief er auf halbem Weg.

Aylene erschrak, als sie Keron erkannte. Sie gab ihre sinnlosen Bemühungen auf, die Flocken einzufangen, und starrte stattdessen jenen großen Mann an, der sie damals so drangsaliert hatte. Was würde jetzt passieren?

Doch auch Keron schien zu zögern. Für einen Moment starrte er zurück, und es schien sich nicht nur Ratlosigkeit, sondern auch Verlegenheit in seinem Gesicht zu spiegeln.
„Was...was machst du da?“, wiederholte er stockend.

Aylene hob langsam ihren rechten Arm und deutete auf die offene Scheunentür.
„Ich...Verzeihung...ich wollte etwas Platz schaffen...“
„Deinen Schlafplatz? Hilde erzählte mir davon.“
„Ja, aber ich werde es natürlich nur machen, wenn Ihr zustimmt.“

Keron winkte ab und ging zur Tür. Er stellte sich vor den Ballenstapel und schien ihn intensiv zu betrachten, als ob er ihn zum ersten Mal sehen würde. Dann drehte er sich um.
„Die Ballen darf man nicht an den Schnüren anfassen, man muss sie mit den Armen umfassen, sonst fallen sie auseinander“, meinte er sachlich. Er deutete auf eine hölzerne Vorrichtung in wenigen Schritten Entfernung. „Sammel die Strauchwolle ein und stopfe sie dort in die Presse hinein, ich mache dir inzwischen deinen Platz frei.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder um und fing an, die Ballen aus der Scheune zu tragen. Anstatt sie im Freien abzulegen, trug er sie kurzerhand in das Wohnhaus. Aylene sah ihm ungläubig nach. Warum half ausgerechnet er, der seinen Hass so deutlich gezeigt hatte, ihr? Sie wagte nicht zu fragen, stattdessen fing sie an, die verstreute Strauchwolle einzusammeln und zu der Presse zu bringen. Dabei versuchte sie Keron auszuweichen, indem sie ihre Schritte stets so wählte, dass sie bei der Presse war, wenn er wieder auf dem Weg war.

Als Aylene fertig war, ging sie zur Scheune, in der Keron seit einiger Zeit verschwunden war. Angespannt spähte sie zu der offenen Tür hinein.
„Oh!“, entfuhr es ihr ungewollt, als sie das Ergebnis von Kerons Bemühungen erblickte.

Keron kam hinter einem Kistenstapel hervor und deutete auf die von ihm freigeräumte Fläche. Sie war etwa drei Schritte lang und zwei Schritte breit.
„Im Haus haben wir noch Strohmatten, deine Decke musst du dir dagegen vom Feld mitbringen.“
„Danke, das ist sehr großzügig von Euch.“
„Das in der Scheune, das war doch keine Absicht, oder?“, fragte er unvermittelt. „Bitte verspreche mir, Farah kein Leid anzutun. Sie ist nur ein unschuldiges Kind.“
Aylene starrte Keron sprachlos an. Keron, der ihr Schweigen falsch interpretierte, fuhr fort:
„Oder sollten wir dich besser doch an die Soldaten zurückgeben? Meine Tochter vertraut dir, sie setzt sich für dich ein. Wenn du dich rächen willst, dann an mir, aber ...“
„Nein!“, unterbrach Aylene den immer aufgeregteren Redefluss. „Nein, ich wollte sie nie verletzen. Ich wollte überhaupt Niemanden verletzen. Ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte.“

„Indem du uns überfallen hast“, mischte sich Ragars Stimme unvermittelt ein.

Aylene drehte sich um. Ragar hatte sich ihnen unbemerkt bis auf zwei Schritte genähert, er winkte sie und Keron zu sich heran.
„Du hast uns überfallen, aber nicht, um irgendjemanden zu töten“, meinte Ragar zu Aylene, „auch wenn dieser Jazor das behauptet hat. Ich habe es ihm anfangs geglaubt, doch inzwischen zweifele ich daran, immer mehr. Jetzt, Aylene, ich will ich von dir die Wahrheit wissen, warum du uns überfallen hast.“
„Ich wollte Euch ausrauben und töten.“
„Das glaube ich dir nicht.“ Ragar schüttelte den Kopf. „Bei uns ist Nichts zu holen. Auch die Behauptung, dass du uns töten wolltest, glaube ich nicht, denn dann wärst du nicht zuerst in die Scheune eingedrungen, sondern in das Haus.“
„Was kann schlimmer sein als uns umbringen zu wollen?“, fragte Keron verwundert dazwischen.
Aylene hob abwehrend die Arme. „Ich habe es so gestanden, und sie würden einen Wiederruf nicht dulden.“

Ragar trat an Aylene heran und packte ihre Handgelenke. Sein Griff war fordernd, aber nicht hart.
„Aylene“, sagte er erstaunlich sanft. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich weiß inzwischen, wie dein Geständnis zustande kam, und ich möchte das nicht aussprechen. Mein Wort, Niemand wird von dem erfahren, was du uns erzählst. Doch ich trage die Verantwortung für meine Familie und muss die Wahrheit wissen.“ Er sah ihr in die Augen. „Bitte sage uns die Wahrheit, ich werde dich nicht bestrafen, egal, was du sagst.“

Aylene konnte seinem Blick nicht lange standhalten.
„Ich wollte Euch vertreiben“, sagte sie beschämt.
„Warum?“, fragte Ragar nur, ohne Vorwurf in der Stimme.
„Dies ist das Land meines Volkes. Auch meine Eltern lebten einst hier in der Umheide, bis Caron sie besetzte und sie vertrieb.“
„Und du meinst, wir hätten uns zu Unrecht auf geraubtem Land breit gemacht?“
„Ich wollte nur unser Land zurück.“
„Indem wir dorthin zurückkehren, woher wir kamen?“
Aylene nickte stumm.

Ragar ließ Aylenes Handgelenke los und sah zu Keron hinüber.
„Siehst du?“, fragte er mit feststellendem Ton.
„Ja, du hattest Recht“, meinte Keron.
Ragar wandte sich wieder Aylene zu.
„Wir kommen aus dem Kinitat, das euer Fürst Ezlom besetzen lies“, erklärte er.
Aylene senkte ihren Blick.
„Das habe ich nicht gewusst. Askar hat das auch nicht gewusst.“
„Du meinst Askar Herl, den Anführer deiner Bande?“
„Ihr wisst von ihm?“, fragte Aylene und sah überrascht auf.
„Dieser Herl ist hier eine berüchtigte Gestalt. Er soll so allerlei dunkle Geschäfte treiben und gute Beziehungen haben. Als ich erfahren habe, wer hinter deinem Überfall steckt, wurde mir so einiges klar.“ Ragar grinste schief. „Auch, weshalb die Soldaten damals so schnell zur Stelle waren. Vermutlich hatte Herl dich an sie verraten. So können sie einen Erfolg vorweisen und er bekam dafür Gold und seine Ruhe.“
„Was?“, rief Aylene entsetzt aus. „Das kann ich nicht glauben.“
Ragar machte eine bedauernde Geste.
„Das ist sicherlich bitter für dich.“ Er deutete auf ihren Halsring. „Leider kann ich dir nicht erlassen, was Caron dir aufbürdete, doch ich werde darum bitten. In meinen Augen bist du bereits jetzt keine Sklavin mehr. Du musst nur deine restliche Schuld abarbeiten, und danach, also in etwa einem Jahr, kannst du von mir aus gehen, wohin du möchtest. Bis dahin werden wir dich wie eine Magd behandeln. Aber verschweige das gegenüber Fremden ebenso wie alles Andere.“

Ragar wartete, bis die tief getroffen wirkende Aylene bestätigend nickte, dann deutete er in Richtung Norden, zu dem Weg, der zu den Strauchwollfeldern führte. „Gut, dann kannst du jetzt gehen. Die nächste Zeit wirst du am Vormittag die restlichen Strauchwollfelder abernten, Mittags bei uns essen und Nachmittags Hilde im Haushalt helfen.“

„Sie spricht wie eine gebildete Frau, doch dann so eine Dummheit“, meinte Keron zu seinem Vater, als Aylene außer Sicht war.
„Das sagst du, obwohl sie Farah fast getötet hätte?“, wunderte sich Ragar. „Es freut mich zwar, dass du endlich deinen Hass begraben konntest, doch Mitleid habe ich keines mit ihr. Sie hat uns überfallen, daran ändert auch der Verrat an ihr nichts.“
„Ich weiß, Vater, ich kann es nicht erklären.“
„Vielleicht hat Farah dich weich geredet?“, meinte Ragar scherzhaft.
Keron zuckte mit den Schultern.
„Mag sein, sie hat sich sehr für ihre neue Freundin eingesetzt“, er lächelte versonnen bei der Erinnerung daran.
„Das habe ich gehört“, grinste Ragar. „So lebhaft ist sie selten gewesen.“ Er wurde wieder ernst. „Sag besser kein Wort zu ihr.“
„Meinst du? Was ist mit Hilde?“
„Sie scheint ähnlich wie deine Tochter längst mit dem Herzen herausgefunden zu haben, wozu ich wochenlange Erkundigungen benötigte.“ Ragar sah seinen Sohn noch ernster an. „Solange wir nicht wissen, wer alles hinter der Sache steckt, müssen wir schweigen. Nur Hilde werde ich noch einweihen. Farah ist für den Schmutz der Welt noch zu jung.“
 
Der Titel dieses Kapitel ließ mich ja nach der "Androhung", daß die Geschichte jetzt möglicherweise etwas zu "positiv" wird, schon etwas wundern, aber am Schluß war dann doch alles klar, und das vermeintliche Glück hat einen bitteren Beigeschmack erhalten :|

Kritik habe ich an sich keine. Persönlich hoffe/wünsche ich mir lediglich, daß die Hintergründe des jetzigen Geschehens aus der Perspektive der anderen Figuren (d.h. nicht Aylene) noch vertieft werden. Mag aber wohl sein, daß ich da etwas vorgreife. :)
 
Gefällt mir auch sehr gut. Die letzten Sätze zwischen Vater und Sohn verstehe ich nicht ganz - regen natürlich zum Nachdenken an und machen wieder Lust auf mehr. Ich gehe mal davon aus, dass dies so beabsichtigt ist - oder ich verstehe da mal wieder die kleinen Winke nicht. Weiter so.

lg, Gandalf
 
Muchnara 7
Warum nur?

Einen Monat später

Keron sah durch das geschlossene Küchenfenster hinaus. Schweigend kaute er auf seinem Schinkenbrot und beobachtete, wie die schweren Regentropfen gegen das dicke Glas schlugen, das zwar Licht hineinließ, aber zu verzerrend und trübe war, um mehr als die groben Umrisse von der neuen Scheune erkennen zu können. Doch war seine Aufmerksamkeit ohnehin weniger auf das Fenster gerichtet als auf das unregelmäßige Kratzen und Schaben hinter seinem Rücken. Manchmal wurde es unterbrochen, dann lauschte er aufmerksam.

„Wie viel ist 18 mal 36?“

Aylenes Aufgabe ließ Farah beim Schnitzen innehalten. Sie sah von ihrem Holzbild auf, und man konnte sehen, wie angestrengt sie nachdachte.
„18 mal 36? ... das ... das ist aber...“, meinte sie zögernd.
„Nicht ‚aber’, sondern ausrechnen“, mahnte Aylene. „360 plus 240 plus ?“
„Plus 48?“
„Ja, also zusammen?“

Keron ertappte sich, wie er versuchte, mit seiner Tochter um die Wette zu rechnen.

„648!“, rief Farah laut.

„Sehr gut!“, lobte Aylene, „so schnell war ich in deinem Alter nicht. Wenn du so weitermachst, wird dich kein Händler über das Ohr hauen.“
„Nein, aber ich ihn!“, freute sich Farah hörbar.

Keron drehte sich langsam um und sah unauffällig seine Tochter an. Sie saß zusammen mit Aylene an dem großen Küchentisch, und nahm mit ihrem von der Anstrengung immer noch geröteten Gesicht wieder das kleine Schnitzeisen auf, um sich erneut ihrem Werk zuzuwenden. Wie beabsichtigt bemerkte sie nicht seinen stolzen Blick, so konnte er ihn einen Moment lang auf ihr ruhen lassen und sich mit ihr in jener Verbundenheit über die erbrachte Leistung freuen, die man nicht erklären, sondern nur erleben kann.

„Eine heiße Milch?“, fragte Hilde und stellte einen dampfenden Becher auf den Tisch.
Farah nickte und nahm den Becher in beide Hände. Hilde deutete auf das Brett:
„Sieht schon ganz gut aus. Welcher Vogel wird das?“, fragte sie interessiert.
„Ein Graukopfsittich, Oma“, antwortete Farah. „Mit deinem Schnitzeisen ist es einfach.“

Wie gut sie jetzt miteinander auskommen!, dachte Keron, Und es ist so einfach, nur etwas Aufmerksamkeit. Doch wir waren blind. Sein Blick schweifte hinüber zu Aylene, die ihn ebenso wenig bemerkte wie zuvor seine Tochter. Er fand, dass ihr großer hagerer Körper und ihr schmales Gesicht mit den kurzen schwarzen Haaren und den ebenso schwarzen Augen etwas Strenges an sich hatten, was durch die gebildet und neuerdings manchmal leicht aristokratisch wirkende Stimme noch unterstrichen wurde. Seltsamerweise schien Farah das nicht zu stören, sondern zu bewundern.

Plötzlich drehte Aylene ihren Kopf und sah ihn an.
„Durch den Regen ist die Strauchwolle zu nass zum ernten, deshalb kannst du mir besser beim Feuerholz helfen“, sagte Keron rasch.
„Natürlich, Keron. Wann sollen wir los?“
„Nach dem Essen. Hoffentlich ist es dann trockener.“
Aylene nickte, dann wandte sie sich wieder Farah zu, man konnte sehen, wie sie bereits über ihre nächste Rechenaufgabe nachdachte.

*​

Am frühen Nachmittag gingen Keron und Aylene zusammen in den Wald. Er lag im Westen, wo er ein sanft geschwungenes Tal zwischen zwei kleinen Bergen ausfüllte. Einst reichte er bis an den Hof heran, doch durch den Raubbau der vorherigen Besitzer war der Waldrand nun fast eine Wegstunde entfernt. Dazwischen befand sich eine Mischung aus Gräsern und Büschen, die zwar mehr als mannshoch wuchsen, aber zu nichts nutze waren, außer dass sie den trockenen Boden vor der vollständigen Verwüstung bewahrten.

Die Baragnars hatten aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt und schonten den restlichen Wald so gut sie konnten. Entsprechend wurde das Feuerholz nicht geschlagen, sondern in Form von abgestorbenen Ästen eingesammelt. So dauerte es länger, dafür erforderte es weniger Kraft.

Nachdem sie etwa zwei Stunden lang einen großen Haufen an Feuerholz angesammelt hatten, teilten Aylene und Keron ihn in zwei Bündel auf und halfen sich dann gegenseitig, sie auf den Rücken zu schnallen.

Aylene schwankte unter der Last, bis sie sich nach einigen Schritten an sie gewöhnt hatte. Sie beobachtete, dass es dem vor ihr gehenden Keron nicht besser erging, hatte er sich doch die doppelte Last aufgebürdet. Sie hatte ihn nicht darum bitten müssen, im Gegenteil.

Der Rückweg war schwierig. Es war weniger das Gewicht ihrer Bündel, was sie behinderte, sondern einige sperrige, seitlich weit aus ihnen herausragende Zweige, mit denen sie sich immer wieder in den umgebenden Büschen verhakten. Gelegentlich geschah das so ruckhaft, dass man aus dem Gleichgewicht geriet und sogar stürzte. Schließlich klagte Keron:
„Ist das schwer! Es wird Zeit, dass wir unseren neuen Karren bekommen.“
„Was ist denn mit dem alten Karren passiert?“
„Verbrannt. Er war in der Scheune, die du angezündet hast. Dabei stand er mitten drin und sollte nicht zu übersehen gewesen sein“, antwortete er trocken. „Beim nächsten Mal rollst du ihn vorher raus, ja?“, fügte er nach einer kurzen Pause scherzend hinzu.
„Natürlich“, scherzte Aylene zurück, „dann werde ich später nicht so schleppen müssen.“

Das Feuerholz sollte in der neuen Scheune gelagert werden. Als sie endlich in Sicht kam, es war inzwischen später Nachmittag geworden, konnte Aylene sehen, wie sich die Sonne auf ihrer hellen Holzwand spiegelte.
„Magst du etwas Herbtee?“, fragte Keron wenige Schritte vor dem offenen Scheunentor.
„Du meinst dieses bittere Wasser?“, fragte Aylene skeptisch.
„Es ist herb und nicht bitter“, meinte Keron. „Du kannst aber auch Rottee haben. Ragar hat nach der Anstrengung bestimmt einen Schluck für dich über.“
„Stimmt doch, oder? Ragar?“, rief er in die Scheune und trat ein.

Die Scheune schien leer. Keron ging zum Ablageplatz für das Feuerholz und ließ seine Last von den Schultern gleiten.
„Er macht wohl gerade eine Pause“, meinte er und half Aylene beim Abladen. „Irgendwo wird schon ein Krug sein...“ Suchend sah er sich um.

„Vater!“, schrie er auf und rannte quer durch die Scheune.

Aylene bemerkte jetzt auch die leblose Gestalt, die zusammengekrümmt in der gegenüberliegenden Ecke lag.
„Oh!“, rief Aylene aus und rannte ebenfalls los.

Keron warf sich vor dem leblosen Körper auf die Knie und beugte sich gerade über ihn, als Aylene hinzukam. Auch sie kniete sich hin. Es war Ragar. Sie sah, was geschehen war, und diese Erkenntnis schlug ihr dumpf in die Magengrube.
„Was ist mit ihm?“, fragte Keron hilflos.
„Er ist ermordet worden“, antwortete Aylene tonlos.
„Ermordet?“
„Sein Hals ist durchschnitten worden“, hörte Aylene sich sagen.

Dies war zu unwirklich, sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Sie hob ihre Hand hoch, auf der sie sich abgestützt hatte, und sah sie an. Sie war rot vor Blut, und es klebte nicht nur an der Hand, sondern auch an beiden Schienbeinen und Knien. Aylene richtete sich auf, und fast wäre sie dabei in der Blutlache ausgerutscht, in der sie sich nun wiederfand. Sie kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder. Seltsamerweise war es der Gedanke, sich auf keinen Fall über Ragars Körper erbrechen zu wollen, der ihre Gedanken wieder in geordnete Bahnen lenkte.
„Wir müssen nach den Anderen sehen“, meinte sie.
Kerons Kopf ruckte zu ihr herum und starrte sie an, dann lief er los.

Aylene folgte ihm, doch im Gegensatz zu ihm lief sie nicht, sondern ging mit großen Schritten zum Wohnhaus. Jetzt herrschte eine unnatürliche Klarheit in ihrem Kopf, die jegliche Emotion unterdrückte. Sie glaubte zu wissen, was folgen würde. Es war bereits unabänderlich geschehen. Jetzt war wichtig, die Nerven zu behalten.

Auf den ersten Blick saß Hilde scheinbar ruhig und mit müden aber offenen Augen auf einem Stuhl in ihrer Küche. Erst die totenartige Blässe und das eingefallene Gesicht deuteten an, was der doppelt handgroße Blutfleck auf ihrem Kleid bezeugte: Auch sie war tödlich verletzt worden, lediglich die hinter der Rückenlehne gefesselten Arme hielten sie noch in dieser normales Leben vorgaukelnden Position.

Keron wollte die Fessel lösen, doch als er an ihr zog, stöhnte Hilde ebenso leise wie schmerzvoll auf. Aylene sah, wie sich dabei ein kleiner Schwall frischen Blutes in den Fleck drückte und ihn weiter anwachsen ließ. Sie schluckte die aufkommende Beklemmung herunter. Wieder ergriff diese unnatürliche Nüchternheit sie. Sie hielt Kerons Arm fest.
„Nicht, jede Bewegung quält sie nur noch unnötig.“
„Wir müssen ihr helfen!“, herrschte er sie an. „Oder soll ich sie so sterben lassen?“
„Es ist zu spät, sie ist verloren“, erwiderte Aylene ruhig. „Man hat ihr in den Bauch gestochen. Weil sich dabei das Blut im Körper ansammelt, sieht es harmloser aus als es ist“, fügte sie hinzu.
„Was sagst du da? Wie kannst du nur so gleichgültig sein?“, fuhr Keron sie an.

Ehe Aylenes auf Kerons Vorwurf reagieren konnte, stöhnte Hilde erneut auf.
„Farah!“
„Was?“, entfuhr es Keron, „Was ist mit Farah?“

Als Hilde nicht sofort antwortete, wollte er Hilde ergreifen, doch Aylene hinderte ihn erneut.
„Nicht!“, rief sie und hielt ihn fest. Kurz rangen sie miteinander.

„Hört auf ... Farah!“, stöhnte Hilde wieder.
Keron ließ Aylene los.
„Ja, was ist mit ihr? Sag es endlich!“, forderte Keron verzweifelt.

Aylene kniete sich neben Hilde und strich ihr sanft über die Wange.
„Wir hören dich, Hilde“, sagte sie leise. „Was ist passiert?“
„Sie haben sie mitgenommen ... wollte es verhindern ... fesselten mich ... versagt ...“
„Wer hat sie mitgenommen?“, fragte Keron aufgeregt.
„Du hast nicht versagt“, überging Aylene Kerons Frage, „Ganz bestimmt nicht. Sie waren einfach stärker und haben dich überwältigt. Es ist nicht dein Fehler gewesen.“
„Es waren Diebe ... helfe meinem Sohn ... bitte ...“
„Ja, natürlich! Wir werden Farah bestimmt finden. Ich habe es gelernt, Banden zu verfolgen und zu finden.“

Hilde schloss die Augen. Ihre Worte hatten ihr die Kraft gekostet, die sie dafür so lange hatte aufsparen müssen. Doch ihr Körper erschlaffte nicht völlig.
„Danke für deine gute Behandlung, Hilde, das werde ich nie vergessen.“ Sie sah Keron an, der seine sterbende Mutter anstarrte. „Ich lasse dich jetzt mit Keron alleine, damit er sich von dir ... verabschieden kann. Vielleicht sehen wir uns wieder. Dort, wo es besser ist...“

Aylene wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging aus der Küche. Im Gang setzte sie sich auf den Boden. Eigentlich wollte sie noch weiter gehen, um Keron nicht zu hören, doch sie konnte es nicht.

Als Keron später auf den Gang folgte, musste er sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Fast wäre er über die zusammengekauerte Aylene gestolpert, die mit ihren verweinten Augen zu ihm hoch blickte.
„Sie sind tot. Warum nur? Gebt mir wenigstens meine Tochter wieder“, forderte er müde. „Ihr könnt haben, was ihr wollt, aber tut ihr nichts. Sag mir, was willst du?“

„Ich?“, stieß Aylene hervor. „Glaubst du wirklich, ich hätte hiermit zu tun?“
„Du, deine dreckige Bande oder die verdammten Soldaten! Wollen sie dich so freipressen? Das ist mir gleich, ich will nur Farah zurück.“

Keron wich vor Aylen zurück, als sie langsam aufstand.
„Ich verstehe dein Misstrauen, doch ich habe nichts damit zu tun“, sagte sie eindringlich. „Man kann mich nicht auf diese Art freipressen, denn nicht Ketten, sondern dieser Ring hier“, sie deutete auf ihren Metallreif um den Hals, „fesselt mich. Wäre es anders, ich hätte einfach weglaufen können oder man hätte mich abgeholt, als ich alleine in den Strauchfeldern war.“
„Was dann? Gold?“
„Ich weiß es nicht!“, schrie Aylene ihn laut an. „Hörst du: Ich weiß es nicht!“
Keron sprang auf sie zu. Hart erfasste er ihre Oberarme und riss sie an sich.
„Ich will meine Tochter zurück!“

Doch bevor Aylene etwas sagen konnte, ließ er sie wieder los. Keron begrub sein Gesicht in beiden Händen und wandte sich ab. Als sie bemerkte, dass er mit zuckenden Schultern weinte, schloss sie ihre Augen.
Wie sie sich gefreut hatte, als Hilde ihre Schnitzereien ansah.
Es kostete ihr alle Anstrengungen, diese Erinnerungen zurückzudrängen.
Ich muss ruhig bleiben, oder sie ist verloren!
Aylene öffnete wieder ihre Augen und trat an Keron heran. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und zog sie zu sich herum. Dann legte sie ihre Hände um seine Handgelenke und zog ihm seine Hände aus dem Gesicht. Sie blickte ihn intensiv an.
„Keron! Sie haben Farah entführt, aber nicht umgebracht. Es gibt also noch Hoffnung.“

Kerons Anspannung ließ spürbar nach. „Ja“, nickte er schließlich. „Das stimmt.“
„Dann denke nach.“
Er nickte und schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sah Aylene nachdenklich an. „Vielleicht hat sie sich irgendwo versteckt? Lass uns im Haus nachsehen, du oben, ich unten.“
„Gut“, meinte Aylene zögernd. Sie lief auf den Gang und weiter die Treppe hinauf.

Aylene war erst ein Mal im oberen Stockwerk gewesen, als Farah ihr Zimmer gezeigt hatte. Damals war ihr alles so klein, voll und lebendig vorgekommen, und sie hatte sich alles neugierig angesehen. Als sie das Zimmer jetzt wieder betrat, traf sie nur erdrückende Leblosigkeit vor. Schnell sah sie überall nach, wo sich ein Kind verstecken würde: unter dem Bett, im Schrank, in den zwei Truhen, doch ohne Erfolg. Rasch floh sie wieder aus dem Raum.

Das zweite Zimmer gehörte Keron. Sie hatte es nie zuvor gesehen, doch nun war keine Zeit für Neugierde. Stattdessen sah sie nur an möglichen Versteckstellen nach. Sie hatte von Anfang an nicht mit einem Erfolg gerechnet und nur zugestimmt, damit Keron sich beruhigen würde, so war sie nicht enttäuscht, als sie Farah auch hier nicht fand. Nein, es hatte keinen Sinn. Selbst wenn Hilde sich geirrt hätte, was sie nicht glaubte, könnten sie tagelang suchen, wenn Farah sich nicht von sich aus bemerkbar machen würde. Sie war zu geschickt und klug, um sich ungewollt finden zu lassen. Der Gedanke daran ließ Aylene kurz lächeln, bis ihr der traurige Ernst der Lage wieder bewusst wurde. Sie hastete aus dem Zimmer und lief die Treppe hinab.

Aylene fand Keron in der Küche. Er machte jetzt einen sehr ruhigen Eindruck auf sie. Erst ein genauerer Blick in sein starres Gesicht und sein fahriger Blick zeigten seine Anspannung.
„Farah ist nicht im Haus“, sagte Aylene.
„Natürlich nicht“, erwiderte Keron zu ihrer Überraschung. „Ich habe nachgedacht, wir brauchen Hilfe.“
„Sollen wir in das Dorf laufen?“
Er machte eine unsichere Geste. „Vielleicht... Doch so will ich meine Eltern nicht so zurücklassen.“

Bei diesen Worten ging er zum Stuhl und ergriff die Leiche seiner Mutter. Aylene nahm schnell ein Messer und durchschnitt ihre Fesseln, dann hob Keron sie hoch und legte sie behutsam auf den Küchentisch. Sorgfältig richtete er ihre Arme und Beine aus und zupfte ihre Kleidung ordentlich. Mit einer Handbewegung, die für sein Volk typisch war, bezeugte er noch seine Liebe, dann wandte er sich um zu Aylene.
„Dank dir konnte ich mich wenigstens noch von ihr verabschieden. Ich wollte ihr so viel sagen, doch es war so wenig Zeit. Ich hätte sie nicht anschreien dürfen ... und dich auch nicht.“
„Schon gut“, meinte Aylene abwehrend, an deiner Stelle hätte ich sicherlich nicht anders reagiert.“ Sie deute auf Hilde. „Darf ich auch?“
Keron nickte. „Natürlich, ihr habt euch immer gut verstanden.“

Aylene trat an den Tisch. Sie berührte mit den Zeigefingern und Mittelfingern ihrer beiden Hände zuerst ihren eigenen Mund, dann strich sie mit ihnen über Hildes Stirn. Dazu murmelte sie leise Worte, die Keron nicht verstehen konnte.

„Hilfst du mir bei meinem Vater?“, fragte er danach.
„Möchtest du ihn und deine Mutter beerdigen?“
Keron schüttelte seinen Kopf. „Das geht leider nicht. Der Bürgermeister wird bestimmt alles untersuchen lassen wollen. Doch ich möchte meinen Vater hierher bringen, in der Scheune würden ihn die Tiere nicht in Ruhe lassen.“

Sie gingen in Scheune zurück. Aylene wunderte sich, wie ruhig Keron inzwischen wirkte. Es kostete sie qualvolle Mühe, sich zu beherrschen, und es waren nicht ihre Eltern, die ermordet worden waren. Hatte man auf dem Land ein vertrauteres Verhältnis zum Tod? Oder war es die Sorge um Farah?

Der Anblick Ragars ließ einen Schauer über Aylenes Rücken laufen, es war schlimmer als beim ersten Mal. Sie musste sich mit Gewalt zwingen, in die Blutpfütze zu schreiten. Aylene begriff allmählich, dass es Schock des Ungeheuerlichen war, der sie und Keron schützte. Ein Schutz, der aber langsam nachließ.

Keron bückte sich und hob seinen Vater an den Schultern hoch, während Aylene dessen Beine nahm. Gemeinsam trugen sie ihn in die Küche und legten ihn neben seiner Frau auf den Tisch. Mit einem Tuch wischte Keron zunächst das Blut weg, danach richtete er, wie zuvor bei Hilde, die Arme und Beine sorgfältig gerade. Erst danach nahm er den rechten Arm seines Vaters und legte ihn auf den Leib seiner Mutter. Spontan spiegelte Aylene diese Geste mit Hildes linkem Arm. Keron wirkte etwas verwundert, doch er ließ sie gewähren. Als Aylene schließlich zurücktrat, bemerkte er ihren fragenden Blick.
„Das ist etwas ungewöhnlich, aber passend“, meinte er.

Beide schwiegen einen Moment lang, dann meinte Keron:
„Im Dorf wird man uns nicht helfen können.“ Er holte hörbar Atem. „Wir müssen zu den Soldaten auf dem Hügel.“
„Du willst die Soldaten um Hilfe bitten?“, fragte Aylene zweifelnd.
„Ja. Es bleibt mir keine andere Wahl. Im Dorf leben nur einfache Menschen wie wir. Sie haben nicht einmal Reitpferde. Die Soldaten dagegen sollen eine Nachrichtenanlage auf ihrem Hügel haben. Damit können sie Alarm schlagen.“
„Das stimmt, die Wachpunkte sind üblicherweise mit Spiegeln und Rauchfeuern ausgestattet. Sie sind vielleicht die einzige Möglichkeit, die Entführer zu finden, bevor sie untertauchen können. Nur...“
„Du glaubst, es war Herl und er steckt wieder mit den Soldaten unter einer Decke?“, fiel Keron ihr in das Wort.
„Ja. Dann laufen wir ihnen direkt in die Arme.“
Er seufzte. „Ich traue ihnen doch auch nicht! Aber habe ich eine Wahl?“

„Nein“, stimmte Aylene nach kurzem Überlegen zu. „Und es ist richtig, zu ihnen zu gehen, denn wahrscheinlich sind sie gar nicht beteiligt gewesen. Sie mögen mit Herl Geschäfte gemacht haben, aber warum sollten sie das hier getan haben? Das ergäbe keinen Sinn.“
Keron schüttelte seinen Kopf.
„Wie soll das überhaupt einen Sinn haben? Vielleicht war es einfach derselbe Hass, der auch Janina tötete?“
„Janina?“
„Meine Frau.“
„Deine Frau?“
Keron machte eine verzweifelte Geste. „Bitte lass mich damit in Ruhe!“ Er sah Aylene eindringlich an. „Jetzt ist Farah wichtig. Das war der letzte Wunsch meiner Mutter. Wir dürfen nicht an uns denken und was war. Die Soldaten sind meine einzige Hoffnung, nur sie können uns helfen.“
„Aber...“
„Kein ‚aber’!“, unterbrach er sie schroff. „Falls sie dahinter stecken, ist sowieso alles verloren. Ohne Farah ...“

Aylene konnte hören, wie sich seine Qual hörbar Bahn brach. Sie half ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Zu spät bemerkte sie, dass es ausgerechnet der Stuhl war, auf dem seine Mutter gestoben war. Ihr Blick schweifte von dem weinenden Mann über den Tisch mit den beiden Toten. Als sie fühlte, wie in ihr Wut aufkochte über die Tat, lenkte sie ihre Gedanken schnell in andere Bahnen.
Warum nur?
Doch sie fand keine Antwort.
 
Hallihallo Stalker!

Geht j aganz schön blutig weiter. Schade drum, dass diese beiden nun nicht mehr sind. Hättest es baer auch anders machen können. Egal, es nützt ja nichts.

Bin mal gespannt, wie sich das alles entwickelt. Weiter so.

Bis dann denn
Skuhsk
 
Und du hattest dir vor nicht allzu langer Zeit Sorgen gemacht, die Geschichte könnte zu "happy" werden? :D

Soviel also zur heimischen Idylle. Als Freund solcher Dinge begrüße ich diese Wendung; bleibt zu hoffen, daß die Verantwortlichen ebenfalls bald ausfindig gemacht werden... >:)
 
Viele lose Enden aber packend. Da möchte man nicht aufhören zu lesen. :D
Weiter so!

Othin
 
Muchnara 8
Der Stützpunkt

Langsam beruhigte Keron sich. Er wischte sich schwer mit der Hand über das Gesicht und stand auf. Sein Blick fiel auf Aylene. Die hagere Frau stand scheinbar unberührt an der Wand und sah starr an ihm vorbei. Scham kam in ihm hoch, vor ihr geweint zu haben. Mit schmerzhafter Gewalt riss er sich zusammen.
„Ich gehe jetzt zum Stützpunkt“, sagte er.
Aylene sah ihn jetzt an. „Kann ich mitkommen?“, fragte sie.
„Natürlich, aber ich will dich nicht zwingen. Wenn sie es auf meine Familie abgesehen haben, werden sie bestimmt alle beseitigen wollen, auch dich.“
„Ich komme mit.“
„Danke. Ohne deine Ruhe würde ich das alles nie schaffen.“
„Ich ...“
„Schon gut“, unterbrach Keron mit sanfter Stimme Aylene. „Ich erkenne deinen Schmerz jetzt. Du unterdrückst ihn nur, so wie es damals Janina tat. Und ich versuche es nun ebenfalls.“ Er übersah Aylenes fragenden Blick und holte Luft. „Jetzt lass uns zum Stützpunkt gehen.“

Im Freien bemerkte Keron die tief stehende Sonne. Sie müssten sich beeilen. Der Weg zum Stützpunkt war schwierig und im Dunkeln gefährlich zu gehen. Er blickte zu der Frau hinüber, die scheinbar gelassen neben ihm stand. Vorhin noch hatte er sie unter einem Vorwand aus der Küche geschickt und gehofft, sie würde verschwinden, und war dann erleichtert, als sie wieder kam. Keron schüttelt den Kopf über sich selbst, dann ging er mit stapfenden Schritten voran.

*​

Als der Stützpunkt in Sicht kam, hatte die Abenddämmerung längst begonnen. Es war nur eine einsame Hütte, die am Ende des lang gezogenen Felsgrates stand, über den sie zum Gipfel hinaufgestiegen waren. Noch konnte man von ihr nicht viel mehr als einen dunklen Kasten erkennen. Mit bedächtigen Schritten balancierten sie sich über den immer schmaler werdenden Grat, der zu beiden Seiten hin steil abfiel, auf die Behausung zu.

Die Hütte stand auf einem kleinen Plateau, das von einem einfachen Holzzaun umfasst war. Dieser bestand aus eingerammten Pfosten, an denen eine waagerechte Lattenreihe entlanglief. Der Zaun machte bereits aus der Entfernung einen ungeplanten und primitiven Eindruck, und als sie das Gatter in ihm erreichten, war seine unfachmännische Bauweise nicht mehr zu übersehen.
„Sei vorsichtig mit den Füßen“, mahnte Keron. „Die Ebene ist tückisch, überall geht es tief nach unten, auch um die Hütte herum.“ Er deutete auf die etwa zehn Schritte entfernte Behausung.

Aylene hörte nur halb zu. Sie kniff ihre Augen zusammen und sah sich die Hütte genauer an. Die Tür schien von außen verriegelt zu sein, aber sie war sich bei dem schlechten Licht nicht sicher. Auf jeden Fall machte die Hütte einen deutlich solideren Eindruck als der Zaun, auch wenn sie schon einige Jahrzehnte alt erschien. Sie löste ihr Blick von ihr und suchte die Umgebung ab.
„Mein Vater hat mir erzählt, dass früher manchmal sogar die hier stationierten Soldaten verunglückt sind, bis sie sich den Zaun bauten“, drang Kerons Stimme in ihre Überlegungen.

Als er das Gatter öffnen wollte, hielt Aylene seinen Arm fest.
„Warte!“, stieß sie leise aber scharf hervor und streckte ihren anderen Arm aus. „Schau dir den Zaun links neben der Hütte an.“
„Wo ... ja, er ist dort zerbrochen.“ Keron hatte ebenfalls seine Stimme gesenkt.
„So, wie die Bruchstücke an den Pfosten hängen, kann es nicht lange her sein“, meinte Aylene.
„Stimmt, der nächste kräftige Windstoß würde sie abbrechen. Ob da jemand abgestürzt ist? Ich werde nachsehen.“
„Nein, lass mich das machen“, sagte Aylene. „Du bist zu groß.“

Ehe Keron etwas erwidern konnte, legte Aylene sich flach auf den Boden und schob sich elegant unter dem Zaun hindurch. Verblüfft sah er ihr zu, wie sie weiter kroch, und zum ersten Mal verstand er, was sie meinte, wenn sie von ihrer Ausbildung sprach.

Er verfolgte vom Gatter aus, wie Aylene bis zu der Bruchstelle kroch und sie untersuchte. Dann schob sie sich vorsichtig über die Kante und blickte in die Tiefe. Sie blieb dabei völlig lautlos, und Keron spürte, wie eine ihm unbekannte Spannung ihn ergriff. Doch nichts geschah, und schließlich stand Aylene auf und huschte zur linken Hüttenwand. Dort sah sie durch eines ihrer kleinen Fenster hinein. Danach schlich sie an der Wand entlang zurück zum Eingang der Hütte. Keron konnte nicht erkennen, was sie dort machte, doch dann winkte sie ihm auffordernd zu.

Keron stieg über den Zaun und lief zu ihr. Aylene deutete auf ein großes Vorhängeschloss.
„Die Hütte ist leer und von außen verschlossen“, sagte sie. „Vielleicht ist tatsächlich jemand durch den Zaun gebrochen, und jetzt holt sein Kamerad Hilfe.“
„Hast du unten etwas entdecken können?“
Aylene schüttelte ihren Kopf.
„Nein, es ist zu dunkel um etwas zu erkennen.“

Keron ging zu der Bruchstelle und sah hinunter. Unten waren die Wipfel eines Waldes zu erkennen, der bis auf wenige Schritte an die Felswand heranreichte. Doch es war zu dunkel, um etwas gut genug erkennen zu können, an dem er eine Entfernung hätte abschätzen können.
„Stimmt, das ist die Ostwand, die liegt jetzt im Schatten,“ meinte er.
„Wie tief geht es dort runter?“, fragte Aylene.
„Ich weiß es nicht. Leider war ich noch nie hier oben. Soll ich rufen?“

Aylene bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch flüsterten. Der zerbrochene Zaun und der verlassene Stützpunkt kamen ihr immer merkwürdiger vor. Doch es könne unmöglich einer der Mörder abgestürzt sein, dachte sie, denn dann hätten seine Komplizen ihn geborgen. Und von einer Bergung waren keine Spuren zu erkennen.
„Ja, aber sei vorsichtig“, meinte sie.
„Mir ist auch nicht wohl bei der Sache“, nickte Keron. „Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Er ging in die Knie, beugte sich weit vor und legte die Hände trichterartig um den Mund.
„Hallo? Ist dort unten jemand?“, rief er unterdrückt.

Er wartete etwas ab, dann rief er wieder: „Hallo? Ist dort unten jemand?“

„Wer fragt das?“, kam es überraschend aus der Tiefe zurück.

Aylene zuckte zurück. Diese Stimme!
„Sylissa!“, rief sie unwillkürlich aus. Sofort dämpfte sie wieder ihre Stimme. „Vorsicht, Keron, das ist Sylissa Chamal, Askar Herls rechte Hand. Sie ist gefährlich.“
„Von deiner Bande?“, fragte er.
„Meiner ehemaligen Bande. Sie haben mich verraten, und Sylissa ganz besonders.“

Ihre Stimme war zunehmend lauter und zorniger geworden, jetzt beugte sie sich über den Abgrund.
„Fahr zur Hölle, verräterische Hexe! Ihr habt die Ragnars umgebracht und Farah geraubt!“, rief sie wütend hinunter.
„Nein!“, kam es ebenso kräftig zurück. „Das habe ich nicht getan.“ Sylissas Stimme klang fest. „Natürlich musst du das glauben, Samara, doch so ist es nicht gewesen. Ich kann das erklären.“
„Alte Lügnerin!“
„Ich mag eine Hexe sein und manche halten mich für verräterisch, aber ich bin weder alt noch eine Lügnerin“, kam es gelassen und etwas spöttisch zurück. „Ich verstehe deine Wut auf mich, ich wäre es auch, doch du solltest mich anhören. Lasse mir ein Seil herab, damit ich die Wand hochklettern kann.“
„Ich soll dir helfen? Damit du uns anschließen umbringen kannst?“

Ein undeutlicher Schatten trat unten aus der Schwärze der Bäume. In der Dunkelheit waren ihre Umrisse nur schwer zu erahnen, doch dann winkte Sylissa mit beiden Armen nach oben.
„Hier bin ich!“

Aylene beugte sich wieder über den Abgrund, um Sylissa genauer zu erkennen. Plötzlich riss eine starke Kraft Aylene aus dem Gleichgewicht nach vorne, und wenn nicht eine ebenso große Kraft sie wieder zurückgeschleudert hätte, wäre sie nach unten gestürzt. So fiel sie lediglich zu Boden.

„Ich bin weder ernsthaft verletzt noch hilflos“, rief Sylissa nach oben. „Wenn ich gewollt hätte, würdest du jetzt hier unten liegen und dein Begleiter ebenfalls. Ich könnte auch weggehen, denn das hier ist ein Hang, der bis in das Tal reicht.“ Sie machte eine kurze Pause, und sprach dann mit noch etwas kräftigerer Stimme weiter. „Aber das will ich nicht! Ich will euch nichts anhaben, sondern möchte mit euch reden.“ Sie dämpfte ihre Stimme. „Doch wenn wir hier weiter so herumschreien, könnten Leute zu euch kommen, mit denen ihr bestimmt nichts zu tun haben wollt. Also helft mir endlich nach oben, damit wir vernünftig miteinander reden können.“

Keron verstand nicht, welche Kraft Aylene umhergeworfen hatte, doch er wollte keinesfalls die einzige Möglichkeit verlieren, die ihn vielleicht zu seiner Tochter führen könnte.
„Was wollt ihr für meine Tochter?“, rief er nach unten.
„Verdammt! Reicht mir endlich ein Seil runter! Dann sage ich es dir.“

Aylene war inzwischen wieder aufgestanden. Keron erhob sich ebenfalls, er erkannte deutlich die Ablehnung in ihrem Gesicht.
„Bitte!“, sagte er. Wir haben keine Wahl.“
Sie starrte ihn düster an und antwortete nicht.
„Was sollen wir sonst machen? Ich weiß nicht weiter. Bitte, ...“
„Na gut“, unterbrach Aylene ihn. „Ich traue ihr zwar nicht, aber wenn sie oder Askar uns hätten umbringen wollen, hätten sie es längst getan.“
Keron atmete auf und beugte sich wieder über den Abgrund.
„Warte, ich suche nach einem Seil“, rief er Sylissa zu.
„In der Hütte ist eines“, antwortete Sylissa.

Keron ging zur Hütte. Er hob einen Stein auf und schlug damit das Vorhängeschloss von der Tür. Es hätte Sylissas Hinweis nicht bedurft, denn er war schon öfters im Gebirge gewesen und hatte gelernt, wie gleich die Menschen sich hier verhielten. Insbesondere fand sich in nahezu jeder Hütte ein kräftiges Seil in der Nähe der Tür, um im Notfall nicht lange danach suchen zu müssen. So war es auch hier. Er nahm es von seinem Haken und eilte zurück zur Absturzstelle. Das eine Seilende band er um einen der Zaunpfähle, das andere Ende ließ er nach unten hinab.
„Soll ich dich nach oben ziehen?“, fragte er.
„Nein, es geht schon“, kam es zurück, dann straffte sich das Seil.

Er beobachtete gespannt, wie in unregelmäßigen Abständen ein kleiner Ruck durch das Seil lief, dann tauchten zwei zierliche Hände auf. Keron bückte sich, packte einen der Arme und zog die Fremde mit einem kräftigen Ruck ganz nach oben. Er hatte offensichtlich ihr Gewicht überschätzt, so kam sie etwas unsanft auf ihre Beine, doch es gelang ihr scheinbar mühelos das Gleichgewicht zu wahren. Keron trat einen Schritt zurück, um sie besser ansehen zu können.

Sylissa war eine knapp mittelgroße Frau von zierlichem Körperbau. In der zunehmenden Dunkelheit war ihr Gesicht kaum zu erkennen, doch auffällig waren ihre langen schwarzen Haare. Auch sie sah sich zunächst um, wobei sie der etwas abseits stehenden Aylene kurz zunickte, die aber nicht darauf reagierte. So wandte sie sich wieder Keron zu.
„Bist du der Vater von dem Mädchen?“, fragte Sylissa.
„Ja“, antwortete Keron. Er war von der direkten Anrede etwas verwirrt, übernahm sie aber unwillkürlich. „Was willst du für Farah haben?“
Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich habe sie nicht entführt. Im Gegenteil, ich bin hier, weil ich bei der Sache nicht mitmachen wollte.“
„Aber du bist doch Herls rechte Hand?“
„Ich war es, bis er mich umbringen wollte“, antwortete Sylissa trocken.
„Askar wollte dich töten?“, fragte Aylene dazwischen uns stellte sich neben Keron.
„Allerdings!“, erwiderte Sylissa empört. „Ich wollte ihn und seine Bande verlassen. Dass er mich deswegen gleich würde umbringen wollen, hätte ich nicht gedacht. Er beauftragte diesen schleimigen Margor damit, doch Janon warnte mich vor ihm.“ Sie deutete zu der Bruchstelle im Zaun. „Dort wollte Margor mir sein Messer in den Rücken stoßen, doch ich konnte dem Stoß ausweichen und habe ihn stattdessen mit dem eigenen Schwung durch den Zaun brechen lassen.“ Sie machte eine verärgerte Handbewegung. „Diese Ratte hat mich aber noch irgendwie gepackt und mit in die Tiefe gerissen. Wir krachten zusammen durch die Bäume und auf den Boden. Vielleicht hätte er es überlebt, hätte er mich nicht mit in die Tiefe gerissen. Doch so diente er mir als Polster. Jetzt ist er tot und ich nicht einmal verletzt.“
„Und was machten die Anderen?“
Sylissa zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich tot gestellt. Vermutlich glaubt Askar das auch, vielleicht aber auch nicht. Seinen Leuten wird er vermutlich irgendeine Geschichte über einen ‚Unfall’ erzählt haben. Außerdem waren sie in großer Eile.“
„Und weshalb wolltest du Askar verlassen?“, fragte Aylene.
„Wegen seines Kindes“, antwortete Sylissa und deutete mit dem Kinn auf Keron. „Askar wollte es entführen, ich war dagegen.“
„Du wolltest Farah nicht entführen und deshalb wollte Herl dich beseitigen?“, fragte Keron erstaunt.
„Das sollen wir dir glauben?“, ergänzte Aylene zweifelnd.

Sylissa schüttelte ihren Kopf. Leider war ihr Gesicht nicht zu erkennen, aber ihre Stimme klang ironisch.
„Nein, natürlich nicht. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgegangen ist. Ich glaubte einmal, es zu wissen, doch dann dieser wahnsinnige Plan, das Mädchen zu entführen.“ Als Aylene zum Widerspruch ansetzte, machte sie eine abwehrende Handbewegung. „Natürlich nicht, weil ich niemanden entführen würde. Sondern weil ich das Risiko für viel zu hoch halte. Darüber haben wir uns gestritten, und ...“
„Das Risiko, eine Bauernfamilie zu ermorden und ein Kind zu rauben?“, unterbrach Aylene sie.

Sylissa schwieg.
„Sie haben seine Großeltern umgebracht? Das war unnötig ...“, sprach sie schließlich weiter, und es fand sich weder Ironie noch Bedauern in ihren Worten.
„Unnötig?“, rief Keron aufgebracht und schritt auf die Fremde zu. Er hob seine Faust, und blickte in den Schatten des Gesichts hinab, wo aber nichts außer Dunkelheit zu erkennen war. Langsam ließ er die Faust wieder sinken. „Wie kann man nur so denken?“
„Ich meinte, ich hätte es vermieden. Es ging nur um das Kind, nicht um seine Großeltern.“
„Was ist Askar an Farah so wichtig, dass er sie entführte?“, fragte Aylene rasch dazwischen. „Die Baragnars sind nicht reich.“
„Es geht nicht um die Baragnars, sondern um den Überfall von damals“, erwiderte Sylissa. Sie deutete auf die Hütte. „Das ist etwas verwickelt. Lasst uns dieses Verhör beenden und stattdessen in der Hütte weiterreden, dort erzähle ich alles von Anfang an.“ Sie wartete keine Antwort ab und ging voran in die Hütte.
 
Wird ja immer mysteriöser...

Und ich traue der Zauberin trotzdem nicht, da kann sie sagen, was sie will. :Þ

(Edit: ist das eigentlich Absicht, daß sie sich an einer Stelle selbst widerspricht? :D)
 
Hallihallo!

Ja, da muss ich mich DybrarH nur anschließen. Was mag da wohl nun als Begründung kommen. Ich bin da aber auch gespannt.

Wann geht es weiter? :D

Bis dann denn
Skuhsk
 
Bin auch erst jetzt dazu gekommen das update zu lesen. Sehr schön. Auch bei mir sind immer mehr und mehr Fragen entstanden. Ich freue mich auf ein Update :)

lg, Gandalf
 
Muchnara 9
Der falsche Dolch

„Wir können die Nacht über hier bleiben, aber dann müssen wir verschwinden“, meinte Sylissa und zündete eine auf dem Tisch stehende Öllampe an. In deren Schein wurde nun ihr Gesicht besser erkennbar. Es war schlank aber ohne jene asketische Härte, die für Aylene immer prägender zu werden schien. Fast hätte man die Zauberin für eine zarte Person halten können, wären da nicht ihre strengen eisgrauen Augen gewesen.

„Wir waren öfters hier zu Gast bei den Soldaten, um mit ihnen unsere Unternehmungen abzustimmen“ fuhr sie fort und lächelte leicht über Aylenes erstaunten Gesichtsausdruck. „Askar hatte schon lange eine Vereinbarung mit den hiesigen Kommandanten und Soldaten getroffen, wonach sie etwas von der Beute abbekamen, wenn sie im Gegenzug uns in Ruhe ließen. Wir sind gut damit gefahren und sie sind gut damit gefahren.“ Sie holte Luft. „Aber jetzt ist es damit aus und vorbei. Askar brach das Abkommen, und vermutlich liegen die beiden Soldaten dieses Stützpunktes jetzt in irgendeiner Schlucht.“
„Ihr habt zwei Soldaten umgebracht?“, fragte Keron.
„Askar hat sie umgebracht, um das Geheimnis für sich nutzen zu können.“
„Welches Geheimnis?“, fragte Keron weiter.

Sylissa lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Aylene an.
„In der Nacht, in der wir zusammen in die Scheune gingen, war die Entscheidung längst gefallen, dich an die Soldaten auszuliefern.“
Aylene erwiderte den Blick.
„Warum? Was habe ich euch getan, dass ihr mir das antatet? Mich so zu verraten?“
„Weil du uns längst verraten hattest.“
„Was?“
„Sei doch ehrlich zu dir selbst!“, forderte Sylissa. „Warst du mit uns jemals wirklich zusammen? War dein Zögern beim Überfall durch Vorsicht, durch Angst oder nicht doch durch Zweifel verursacht?“

Aylene schwieg kurz, dann antwortete sie:
„Vielleicht wollte ich euch verlassen, aber nicht verraten.“
„Das sagst du jetzt. Nein, es war richtig, dich auszustoßen.“
„Was weißt denn du!“, rief Aylene aufgebracht und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Was glaubst du, was sie in ihren Gefängnissen machen? Was sie dort mit einer Frau machen?“

Sylissa senkte nur kurz den Blick, dann sah sie Aylene wieder an.
„So war das nicht geplant gewesen, Samara. Die Soldaten sollten dich verschonen. Askar meinte, deine Eltern würden dich freikaufen.“
„Du meinst den Askar, der dich beseitigen wollte?“
„Ja.“
„Und was hast du dir dabei gedacht?“
„Das, oder sie würden dich aufhängen.“
„Macht das für dich keinen Unterschied?“
„Du hast es dir selbst zuzuschreiben.“

Keron Augen sprangen hilflos zwischen den beiden Frauen hin und her. Schließlich nahm er Aylenes Hand und drückte sie tröstend. Sie schwieg, so blickte er Sylissa an und wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor:
„Ich hoffe, wenigstens du und dein Vater habt sie in Ruhe gelassen.“
„Was? ... Oh nein, wir sind Bauern und keine Soldaten“, erwiderte er mit verächtlicher Stimme.
„Du hältst wohl nicht viel von ihnen?“, fragte Sylissa, aber Keron antwortete nicht.

Endlich unterbrach Sylissa das bedrückende Schweigen.
„Wie gesagt, es war mit den Soldaten vereinbart, dass ich Samara bewusstlos mache. Sie sollten sie dann gefangen nehmen und danach die Scheune anzünden.“
„Samara?“
„Das ist ihr richtiger Name.“ Sie deutete auf Aylene, die aber weiter stumm blieb. „Genau genommen Samara De Veracas.“ Sie grinste über Kerons Überraschung. „Ja, ihr habt die Tochter eines Adeligen als Sklavin bekommen.“
„Oh ...“
„Aber das ist jetzt unwichtig“, meinte Sylissa und wurde wieder ernst. „In der Scheune trafen wir dann auf dich und deine Tochter. Das war natürlich nicht geplant. Vor Überraschung schoss ich einen Feuerball auf euch ab, doch er traf Samara an der Schulter. Zum Glück war der Feuerball nur klein, so wurde sie lediglich nach vorne geworfen, ohne größere Verbrennungen zu erleiden. Der Feuerball erlosch, und im Dunkeln hörte ich dann die Schritte der sich nähernden Soldaten. Ich glaubte alles wäre in Ordnung und schlich mich weg.“
„War das alles?“
„Nein!“, erwiderte Sylissa und grüne Augen blitzten ihn zornig an. „Was dann geschah, ist niemals so vereinbart gewesen.“
„Ich kann mich leider an Nichts mehr erinnern, aber Farah hat immer von einem Mann mit einer Laterne erzählt, der sie erstechen wollte. Das kann ich aber nicht glauben.“
„Glaube es nur, denn es ist wahr. Einer der Soldaten hat versucht, deine Tochter zu töten.“
„Aber warum?“, fragte Keron. „Nur, um ... Samara einen Kindesmord anzuhängen?“ Er wandte seinen Kopf der immer noch schweigsamen Frau zu. Ihre unbewegten Gesichtszüge waren in dem Licht der Öllampe besonders gut zu erkennen, und er spürte das Zittern ihrer verkrampften Hand.
„Das habe ich mich auch oft gefragt“, meinte Sylissa weiter. „Aber ich konnte nie einen Grund finden.“ Sie wandte sich an Samara. „Wüsstest du einen, Samara?“

Samara brach ihr Schweigen.
„Nein. Natürlich hat meine Familie auch Feinde, aber dessen Macht wirkt nicht hier in der Umheide. Außerdem geht es denen immer nur um Gold.“
„Außerdem war es Zufall, dass wir überhaupt in der Scheune waren“, warf Keron ein.
„Das glaube ich auch“, bekräftigte Sylissa trocken. „Denn es war ein Idiot und kein geübter Mörder, der zustach.“
„Wie meinst du das?“, fragte Samara. „Weil Farah überlebt hat?“ Sie blickte zu Keron, der aber ruhig blieb.

Sylissa hob demonstrativ ihre rechte Hand und streckte zwei Finger aus.
„Er hat gleich zwei Fehler gemacht: Das Opfer hat überlebt und er hat einen Beweis hinterlassen, dass du nicht die Täterin gewesen sein kannst.“
„Was für ein Beweis?“, fragte Samara gespannt.
„Die Verletzung des Kindes passt nicht zu deinen Waffen. Sie stammt eindeutig von einem zweischneidigen Dolch, und so einen hast du nicht dabei gehabt.“

Die Zauberin ließ in der entstandenen Stille ihren Blick über ihre beiden Zuhörer schweifen. Während Samaras Erstaunen unübersehbar war, schien der Mann noch nicht verstanden zu haben. Das war auch nicht zu erwarten gewesen, denn er hatte sicherlich nie eine militärische Ausbildung erfahren. Als ihre Blicke sich trafen, fragte er:
„Hat Samara denn keinen Dolch dabei gehabt?“
„Doch“, antwortete Sylissa. Sie zog ihren eigenen Dolch aus der Scheide und legte ihn vor sich auf den Tisch.
„Samara trug immer einen Dolch wie diesen bei sich.“
„Das stimmt“, bestätigte Samara. „Außerdem ein Messer und ein Kurzschwert.“ Sie blickte kurz zu Sylissa, die auffordernd nickte. „Aber in der Scheune habe ich nur den Dolch gezogen.“ Sie deutete auf die Klinge. „Das ist eine militärische Waffe, ein sogenannter Rüstungsstecher. Er ist nicht zum Schneiden gebaut worden, sondern zum Zustechen. Die Klinge hat einen fast quadratischen Querschnitt und ist dadurch sehr fest, man kann mit ihr sogar leichte Rüstungen durchschlagen, ohne dass sie abbricht.“ Sie machte eine entschuldigende Geste. „Genau genommen ist es also gar kein Dolch, denn die haben immer zwei Schneiden. Aber meistens nennt man ihn dennoch so, weil er ihn ersetzt hat und wie Dolche ebenfalls zum Stechen gedacht ist.“

Keron hob den Rüstungsstecher auf und betrachte ihn genauer. Er war überraschend schwer und erzeugte ein ihm unbekanntes Gefühl in ihm.
„Ja ...“, meinte er nachdenklich. „Jetzt verstehe ich. Dieser Dolch würde ein Loch hinterlassen, aber Farahs Verletzung war ein Schlitz.“
„Genau“, bekräftigte Sylissa. „Doch Samara soll damit zugestochen haben. Laut amtlichem Bericht soll er sich mit Blut beschmiert in Samaras Faust befunden haben. Messer und Schwert sollen noch in ihren Scheiden gesteckt haben, und zu ihnen würde die Verletzung ebenfalls nicht passen. Also muss es jemand anders gewesen sein.“

Sylissa wartete ab, bis Keron den Dolch wieder auf den Tisch zurücklegte. Es war gut zu erkennen, wie es in seinem Gesicht arbeitete, doch er sagte nichts.
„Lange Zeit ist das niemandem aufgefallen“, fuhr sie fort. „Vorgestern Abend war ich mit Janon in der Herberge ‚Schwarzer Eber’. Wir kennen dessen Wirt gut und kaufen von ihm gelegentlich einige der Sachen, die wir auf andere Weise nicht bekommen können. Perimor, das war einer der Soldaten vom Stützpunkt, war ebenfalls dort. Wir setzten uns in einem abgesonderten Nebenzimmer zusammen, um bei der Gelegenheit einige neue Absprachen zu treffen. Wir wollten schon aufbrechen, als ein mir Unbekannter hinzukam. Zuerst habe ich mich gewundert, weshalb der Wirt ihn in den Raum gelassen hatte, könnte er doch mich oder Janon als Räuber erkennen, aber der Fremde hatte den Wirt einfach stehen gelassen und war schnurstracks zu Perimor gegangen, den er offensichtlich gut kannte. Es war Malorus, der Garnisionsarzt.“

Dieses Mal war es Keron, der sofort begriff.
„Malorus!“, rief er aus. „Farah leidet immer noch unter der Verletzung, und wir haben lange sparen müssen, um uns einen richtigen Arzt leisten zu können, der sich damit auskennt. Hat er den Widerspruch entdeckt?“
Sylissa nickte. „Ja, und er bestand darauf, es zu melden. Perimor versprach, das sofort nach seiner Rückkehr, die er für Heute morgen plante, zu machen.“ Frustriert fuhr ihre Hand durch die Luft. „Auch wenn Perimor später mir gegenüber versprach, es sich noch einmal zu überlegen, so war mir klar, er würde es tun, denn ich konnte geradezu fühlen, was er dachte: Ich hätte es getan und eine falsche Spur gelegt.“
„Das würde ich nun auch glauben“, warf Samara ein, „hätte nicht Farah von einem Mann erzählt.“

Sylissa warf ihr einen seltsamen Blick zu, dann sprach sie weiter: „Janon und ich trennten uns. Währen ich mich um Malorus kümmerte, sollte er zu Askar eilen, um eine Meldung der Soldaten zu verhindern.“
„Deswegen habt ihr alle umgebracht?“, fragte Samara.
„Nein!“, erwiderte Sylissa und machte eine um Geduld bittende Geste zu Keron, der zwar stumm blieb, aber sichtlich um seine Beherrschung rang. „Hört mich erst ganz an und urteilt danach!“ Sie warte ab, bis Keron sich etwas entspannte.
„Ich brauchte Malorus nicht zu töten, denn er war leicht einzuschüchtern. Als ich dann zum Stützpunkt aufstieg, um mich dort mit Askar zu treffen, hatte er bereits die beiden Soldaten getötet.“ Sylissa schüttelte ihren Kopf. „Das war dumm von ihm gewesen. Ich stritt mich mit ihm, und als er auch noch seinen Plan offenbarte, das Kind zu entführen, um seine ehemaligen Auftraggeber damit erpressen zu können, kam es zum Bruch.“

„Was hättest du getan?“, fragte Samara in die entstandene Stille hinein.
„Dasselbe wie bei Malorus. Ich hätte alle zum Schweigen gebracht, aber möglichst ohne sie zu töten.“
„Warum nicht?“
„Weil es zu auffällig wäre.“
Sylissa ignorierte ihren zweifelnden Blick und wandte sich Keron zu. „Die Soldaten müssen jeden Tag eine Parole melden. Wegen des Regens konnten sie das Heute nicht mit dem Spiegel machen, aber spätestens in der Nacht wird man die Parole mit einem Feuer in der Garnison erwarten. Das nimmt man hier an der Grenze sehr genau und man wird bei seinem Ausbleiben sofort eine Truppe zum Nachsehen schicken. Deswegen war Askar auch in Eile. Er muss sein Versteck erreichen, bevor seine ehemaligen Partner bemerken, dass er die Vereinbarung gebrochen hat.“
„Du weißt, wohin sie Farah bringen?“, fragte Keron.
Sylissa nickte. „Es kommt nur ein Versteck in Frage, alle anderen sind zu unsicher.“

Als Keron nachdenklich schwieg, schlug Samara vor: „Wenn du es uns verrätst, könnten es den Soldaten mitteilen. Dafür würden wir ihnen auch sagen, dass du weder Farah verletzt hast, noch mit den Morden etwas zu tun hast.“
Sylissa schüttelte langsam den Kopf. „Ich will Askar haben. Er soll mir für seinen Verrat büßen.“
„Ist dir das so wichtig? Wie sollen wir ohne die Unterstützung der Soldaten Farah retten?“
„Du hast noch nicht ganz begriffen. Die Soldaten würden das Mädchen ohnehin nicht retten wollen. Im Gegenteil, sie und ihre Kommandeure werden ihre Geschäfte mit uns vertuschen wollen, und sie haben ihre Bereitschaft zu allen Mitteln bereits deutlich gezeigt. Nein, nur wir können sie retten. Dabei helfe ich euch, wenn ihr mir helft, Askar zu bekommen.“
Samara machte ein unglückliches Gesicht und sah Keron an.
„Damit könnte sie Recht haben“, meinte Keron nickend und wandte sich an Sylissa: „Aber wir müssten dir vertrauen können.“
„Kann ich euch vertrauen?“ Sylissa zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wir haben keine Wahl als zusammenzuarbeiten, wollen wir das Ziel erreichen.“
„Und dann?“
„Danach trennen wir uns wieder.“ Sylissa stand auf. „Überlegt es euch bis Morgen früh.“

*​

Keron hatte den Frauen die beiden schmalen Betten überlassen, während er selbst am Tisch sitzen geblieben war, um, wie er sagte, über alles nachzudenken. Doch er fand zu keinem klaren Gedanken. Im Gegenteil, die Gedanken fingen an, ihn zu finden. Keron sprang auf und eilte hinaus auf das Plateau, wo er ruhelos umherging. Er versuchte, seine Gedanken, wenn er sie schon nicht ausschalten konnte, so wenigstens unbeachtet vorbeiziehen zu lassen. Doch sie umschlichen ihn weiter wie Raubtiere, und manchmal, wenn er zu sehr aufpasste, sprangen sie ihn an. Es waren quälende Erinnerungen an eine Zeit, die nicht wieder kommen würde. Es hatte keinen Zweck, er konnte ihnen nicht davon laufen. Keron blieb stehen.

Er hatte sich mit seinen Eltern mehr als einmal über ihren Tod unterhalten, und es war stets Hildes und Ragars feste Überzeugung gewesen, er solle nicht über Dinge trauern, die unabänderlich waren. Nein, ihr Tod war nicht die Quelle seiner Unruhe, sie war es nie gewesen. Keron spürte, wie langsam seine Trauer und Wut über den Mord an seinen Eltern einer seltsamen, kaum zu greifenden Ernüchterung wich.

Er sah wieder, wie sich seine Mutter sterbend auf dem Stuhl krümmte.
Warum versteht ich immer erst, wenn es zu spät ist?
Erst in diesen wenigen Minuten vor ihrem Tode hatte er erkannt, wie sehr Hilde immer unter ihrem ... Versagen ... gelitten hatte. Es war dieser innere Schmerz, der sie krümmte, die Verdammnis, niemals gutmachen zu können, was sie glaubte, getan zu haben. Damals, als sie Janina abgeholt hatten.
Und was habe ich getan?

Es war ein Abschied auf immer gewesen. Hätte er das damals geahnt, er hätte es verhindert.
Zu spät!
Hätte er nicht Angst um jenes lebende Bündel gehabt, das Janina ihm in die Arme gelegt hatte, er hätte es verhindert. Hätte Janina ihn nicht so angesehen, er hätte es verhindert. Hätte er nicht ...
Ausreden!
Keron stieß an den Zaun. Die unerwartete Berührung löste ihn kurz aus seinen Gedanken, und er presste seine Hände um das Holz.

*​

Auch Samara fand keinen Schlaf. Sie grübelte über Sylissas Worte. Wie lange sie auch nachdachte, wie oft sie auch die Worte drehte und wendete, sie kam zu keinem Schluss. Doch machte es Sinn, die zu fragen, der sie nicht traute?

„Sylissa?“, fragte Samara schließlich leise.
„Ja?“, kam es wach zurück.
„Willst du wirklich Farah retten?“
Ein leises Lachen erklang. „Auf diese Frage habe ich gewartet, seit du mich so zweifelnd angesehen hast.“
„Weiche mir nicht aus.“
Das Lachen verstummte. „Das will ich gar nicht, Samara. Vielleicht hätte ich das Kind getötet. Vielleicht aber auch nicht, ich weiß es nicht. Doch jetzt ist es mir egal.“
„Wirklich? Jemand könnte Perimors Gedanken erneut aufgreifen und dich anklagen.“
„Nein, bestimmt nicht. Man wird es vertuschen wollen, und dabei keinerlei Skrupel haben.“
„Meinst du? Es können doch nicht alle darin verstrickt sein.“
„Das nicht, aber man hat in dir bereits eine Schuldige gefunden, wozu also eine Neue? Damit würden sie nur einen Fehler zugeben.“
„Du glaubst nicht an Gerechtigkeit?“
„Glaubst du etwa noch daran? Nur zu! Erzähle ihnen, ich wäre es gewesen und du könnest es beweisen.“
„Ich würde niemals jemanden absichtlich fälschlich einer solchen Tat bezichtigen.“
„Tatsächlich? Das wäre doch eine schöne Rache an mir, oder nicht?“
„Ich bin nicht du.“
Sylissa schnaufte verärgert. „Hör mal! Sitz nicht so auf dem hohen Ross und spiele den Moralprediger! Du kennst mich kaum und bildest dir dennoch ein, mich beurteilen zu können. Ja, ich war nur deswegen gegen Askars Plan, weil ich mich nicht mit Mächten anlegen will, die mir über sind. Aber nein, ich hätte nicht alles um das Kind herum abgeschlachtet, nur weil es einen Vorteil bringen könnte. Glaube das jetzt, oder lasse es sein!“

„Gut, in Ordnung“, meinte Samara nach einer Pause beschwichtigend. „Jetzt würdest du Farah also retten wollen?“
„Ja, wenn ihr mir bei Askar helft.“
„Habe ich dein Wort, dass du es ehrlich meinst?“
„Wenn du Wert darauf legst, kannst du es gerne haben.“ Sie seufzte. „Also gut: Du hast mein Wort, dass ich Farah retten will. Ich will nur eure Hilfe für Askars Kopf als Gegenleistung haben. Das meine ich ehrlich und ohne Hintergedanken.“
„Du hast sie eben zum ersten Mal bei ihrem Namen genannt“, meinte Samara.
„Du hast ihn auch oft genug genannt“, erwiderte Sylissa.

Samara brauchte nicht mehr nachzudenken, ihre Entscheidung war gefallen. Sie stand auf und tastete sich durch den Raum hindurch auf das durch den Türspalt schimmernde Mondlicht zu. Sie schlüpfte durch die angelehnte Tür in das Freie und sah sich suchend um. Sie entdeckte Kerons breite Umrisse sofort. Einen Moment zögerte sie, die bewegungslose Gestalt anzusprechen, die sich so schwer auf den Zaun stützte, als wenn sie darüber nachdächte, ob sie sich in die Tiefe stürzen sollte.
„Keron?“, fragte sie vorsichtig.

„Keron?“, fragte sie erneut. „Kann ich dir helfen?“

„Wir haben sie im Stich gelassen, als die Soldaten sie holten“, flüsterte er ohne sich zu bewegen. „Sie wollte es so, wegen ihres Kindes. Als ich endlich wagte, nach ihr zu fragen, wusste niemand etwas. Angeblich wären es keine Soldaten gewesen, logen sie.“
„Was?“, fragte Samara verwirrt.
„Janina. Sie war eine Jägerin. Verstehst du jetzt?“
„Nein, aber bitte erkläre es mir.“

Die Gestalt drehte sich zu ihr um.
„Janina war meine Frau. Wir waren beim Essen, als eine Gruppe von Soldaten Einlass verlangte, um sie mitzunehmen. Man müsse ihre Anwesenheit bei uns untersuchen.“
„Sie haben deine Frau einfach so mitgenommen?“
„Entweder sie komme freiwillig mit, oder man würde auch ihr Kind in die ‚Untersuchung’ mit einbeziehen, drohten sie. Was hätten wir machen sollen?“
Samara fiel keine Antwort ein.
„Ich sehe den Schmerz in ihre grünen Augen noch immer, als sie mir Farah auf den Schoß legte. Das ist meine letzte Erinnerung an sie.“
„Du glaubst, sie haben sie umgebracht?“
„Es geschah während der Jäger-Pogrome.“

Samara erinnerte sich an Erzählungen über diese Zeit, als eine Welle zügellosen Hasses auf alles Fremde über das Land geschwappt sein soll. Das Volk der Jäger war davon besonders betroffen gewesen, und es gab Gerüchte, wonach die Soldaten beider Grenzfürsten nicht unbeteiligt gewesen sein sollen.

„Ich will dich nicht mit meinen Erinnerungen belasten“, fuhr Keron fort. „Nur, damit du verstehst, weshalb ich keinem Soldaten mehr vertrauen kann. Es war die reine Verzweiflung, die mich hier hergetrieben hat. Ehrlich gesagt, es tut mir nicht einmal Leid um die Beiden.“
„Hältst du sie für schuldig?“
„Nein!“, schnaubte Keron. „Damals müssen sie selbst noch Kinder gewesen sein.“ Unsicher zweifelnd schüttelte er seinen Kopf. „Aber dennoch ... Natürlich ist das ungerecht von mir, aber ich kann nicht anders. Sogar diese Diebin ist mir lieber als sie.“
„Du willst ihren Vorschlag annehmen?“
„Ja.“ Er streckte seinen Arm aus und legte seine Hand auf Samaras Schulter. „Ich weiß, was ich dir damit zumute.“
Samara nickte. „Das ist in Ordnung. Ich wollte es gerade selbst vorschlagen.“
„Tatsächlich?“ Kerons Stimme drücke Verwunderung und Erleichterung zugleich aus.
„Sylissa mag kein Gewissen haben, aber sie lügt nicht“, meinte Samara.
 
Haengebauchschwein schrieb:

Mir auch! Find ich sehr cool, dass du hier die ganzen Dinge mal etwas aufgeklärt hast. Hat mich ein bisschen an das 3te Reich erinnert, was du dort über das Jäger-Pogrome geschrieben hast. Schon krank zu was sich Menschen entwickeln können :cry:

lg, Gandalf
 
Muchnara 10
Das Dorf im Nebel

Am nächsten Morgen hatte es keiner weiteren Worte bedurft, um die Vereinbarung zu besiegeln. Eilig durchsuchten sie die Hütte nach allem, was für ihre Suche nützlich sein könnte. Sie fanden warme Decken, Feldgeschirr und Trockennahrung, was sie in die beiden Rucksäcke der toten Soldaten packten. Keron band sich noch ein großes Messer und eine kleine Axt an den Gürtel. Als er in einer Schublade einen Dolch fand, warf er ihn Samara zu, die ihn mit einem erstaunten Blick auffing. Keron nickte bekräftigend und zog sich mit derselben Selbstverständlichkeit den schwereren der beiden Rucksäcke über die Schultern. Den anderen nahm sich Sylissa, die ihre Ausrüstung, abgesehen von ihren Waffen und einem breiten, mit vielen kleinen Taschen besetzten Gürtel, verloren hatte.

Im Freien wurden sie vom farbenprächtigen Spiel der aufgehenden Sonne begrüßt. Doch sie hatten keinen Blick dafür. Sylissa drängte zur Eile, sie müssten sich schnell möglichst weit vom Stützpunkt entfernen. Sie versicherte, sie habe einen Plan und würde ihn unterwegs erläutern. Auf ihren Vorschlag hin zerbrach Keron noch schnell den Zaun an einigen weiteren Stellen, dann folgte er der Zauberin nach und kletterte ebenfalls an dem Seil hinab, das noch immer an dem Pfosten hing.

Da das Seil zu kurz war, um in einer großen Schlaufe bis zum Boden zu reichen, gab es nur eine Möglichkeit, auch diese Spur zu entfernen. Nachdem Keron und Sylissa hinabgekletter waren, befestigte Samara es für sich mit einem speziellen Knoten, den sie gelernt hatte. Behutsam legte sie sich in das Seil, denn es musste nun unter ständiger Belastung bleiben, damit sich der Knoten nicht öffnete. Sie hatte das oft geübt und glaubte die Technik zu beherrschen, doch etwa zwei Körperlängen über dem Boden ließ sie ein ungeduldiger Zuruf Kerons unvorsichtig werden. Sie stieß sich zu hastig mit dem Bein von der Steilwand ab, und ein kleiner Ruck lief durch das Seil. Er genügte, um den Knoten aufgehen zu lassen.

„Vorsicht!“, stieß Keron aus und wollte sie auffangen, doch er stand zu weit entfernt.
Hilflos musste er zusehen, wie sie seine ausgestreckten Arme verfehlte. Samara fiel mit dem Rücken auf den steilen Hang und rollte ihn hinab, bis sie gegen seine Beine stieß. Keron bückte sich zu ihr herab.
„Ist dir etwas passiert?“, fragte er mit besorgter Stimme.

Samara brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann stand sie geschmeidig auf.
„Nein, der Sturz war nicht schlimm. Seltsam, als wenn ein Heuballen mich aufgefangen hätte.“ Sie sah fragend zu Sylissa hinüber.
„Das war nicht weiter schwer, nur etwas Telekinese“, meinte die Zauberin beiläufig.
„Danke.“
„Was ist Telekinese?“, fragte Keron.
„Kraftausübung mittels Gedanken“, antwortete Sylissa knapp.
„Was?“
„Das meine ich“, sagte sie und ließ einen herumliegenden Stein ein Stückchen emporschweben.
„Oh ...“, entfuhr es Keron und sah sie entgeistern an. „Gibt es das wirklich?“
„Sie ist eine Zauberin“, antwortete Samara an Sylissas statt, die sich einfach umgedreht hatte und anfing, den Hang hinab zu steigen. „Wahrscheinlich hat sie damit auch ihren eigenen Sturz abgefedert. Es ist einer ihrer stärksten Kräfte, und damit hat sie mich gestern auch zu Boden geworfen.“
„Das ist doch Hexerei!“, entfuhr es Keron.
„Sag das nie zu ihr“, empfahl Samara.
„Wo bleibt ihr denn?“, hörten sie Sylissas unterdrückten Ruf.
Sie folgten ihr in den Wald hinein.

Sylissa war etwa ein Dutzend Baumreihen weit in den Wald gelaufen und wartete dort mit verschränkten Armen.
„Der Hang hat ihn ganz schön zugerichtet“, meinte sie und deutete auf einen Leichnam mit seltsam verrenkten Gliedern, der sich halb um einen Baum gewickelt hatte. „Wir sollten Margor tiefer in den Wald ziehen, damit sie ihn nicht finden.“

Samara sah sich den Toten an. Kein Zweifel, es war eindeutig Margor. Sie hatte ihn wegen seiner kriecherischen Unterwürfigkeit gegenüber Herl nie gemocht, doch der Anblick seines zerschmetterten Körpers bereitete ihr nun keinerlei Befriedigung, sondern nur Ekel. Der Sturz und das Herabrollen hatten seine Knochen zertrümmert und den Leib grotesk deformiert. Am schlimmsten anzusehen aber war das Gesicht. Nahezu unverletzt bezeugte es noch immer mit seinem weit aufgerissenem Mund und starren Augen den Moment der Erkenntnis des eigenen Todes.

Keron schob die erstarrt wirkende Samara sanft zur Seite. „Ich mache das schon.“
Er packte die Leiche bei ihren beiden Hosenbeinen und zog sie vom Baum weg. Sie hinter sich herschleifend stapfte er den Hang hinab, wobei die beiden Frauen alle Spuren verwischten. Nach einigen hundert Schritten fand er eine Felsspalte, in die er Margors Leichnam hinabrutschen ließ.

„Gut“, meinte Sylissa zufrieden. „Das dürfte sie endgültig abhängen.“ Sie streckte ihren Arm nach vorne aus. „Wir müssen zuerst durch das Tal und dann weiter über den Steinpass.“
„Du willst auf die andere Seite von der Grenze?“, fragte Keron.
„Ja, Askars Versteck befindet sich im Kinitat.“
„Weil sich dort Niemand für seine Verbrechen interessiert?“
Sylissa sah ihn seltsam an. „Im Kinitat halten sie uns für Helden.“
„Das habe ich auch einmal geglaubt“, fügte Samara hinzu. „Das ist einfach dumm von mir gewesen.“ Sie stutzte. „Dann hat Askar die Behörden im Kinitat also nie bestechen müssen?“
„Nein. Im Gegenteil, sie unterstützen ihn sogar“, antwortete Sylissa. „Zwar nur unter der Hand, aber sie machen es bereitwillig. Wie gesagt, er ist ein Held für sie.“
„Wäre er es auch noch, wenn wir ihnen von den Morden und der Entführung berichten?“
Sylissa zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Selbst wenn sie dir glauben würden, wäre es ihnen egal.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach Samara. „Ich bin zwei Jahre lang auf eine Offiziersschule gegangen, und man hat uns immer wieder eingetrichtert, das Gesetz zu wahren.“
„Tatsächlich?“ entgegnete Sylissa spöttisch.
„Ja! Dir geht es doch nur um deine Rache. Die Behörden werden uns helfen.“
Samara blickte erwartungsvoll zu Keron, doch dessen Gesicht drückte nur Ablehnung aus. Sylissa bemerkte ihre Enttäuschung und setzte nach:
„Dass du das noch glauben kannst? Ich dachte, im Kerker hätte man dir solche Flausen ausgetrieben.“

Samara erblasste schlagartig. Ihr Körper fing an zu zittern, und drohend langsam schritt sie auf die Zauberin zu.
„Nein!“, rief Keron aus und sprang dazwischen. „Was soll das? Wir brauchen keinen Streit!“
„Dieser treu-doofe Obrigkeitsglaube ...“, meinte Sylissa abschätzig.
Keron fuhr ihr harsch über den Mund: „Halt die Klappe! Halte bloß die Klappe!“ Er wollte sich Samara zuwenden, doch die blickte verbissen an ihm vorbei. „Wir werden es versuchen. Hinter dem Pass ist ein Grenzdorf, dessen Bürgermeister wir kennen. Ihn können wir um Hilfe bitten.“ Sein Kopf ruckte zurück zu Sylissa. „Etwas dagegen?“, schnappte er.
Sylissa schüttelte langsam ihren Kopf. „Es ist zwar reine Zeitverschwendung, aber von mir aus: Ja. Ich habe es nicht eilig mit Herl“, antwortete sie gelassen.
„Gut“, sagte Keron und wollte sich erneut Samara zuwenden, doch die hatte sich still abgesondert und saß nun außer Hörweite auf einem Baumstumpf.
„Sag mal, musste das sein?“, fragte Keron Sylissa vorwurfsvoll.
„Sie hat doch ihren Willen bekommen“, erwiderte sie kühl.

Wütend über ihre Antwort ließ Keron die Zauberin stehen und ging zu Samara. Noch bevor er sie erreichte, stand die hagere Frau auf. Ihr vorwurfsvoller Blick traf ihn schwer, und als er etwas sagen wollte, unterbrach sie ihn mit einem müden Kopfschütteln.

*​

Die Stimmung blieb während des Weges eisig. Keron versuchte immer wieder Samara anzusprechen, doch sie reagierte nicht und starrte stattdessen verbissen zu Boden. Einmal wollte er Sylissa bitten, sich bei Samara zu entschuldigen. Doch der kühle Blick ihrer grauen Augen ließ ihn sein Vorhaben aufgeben, noch bevor er das erste Wort aussprechen konnte.

Auf der Passhöhe legten sie eine kurze Rast ein. Keron war schon einige Male hier gewesen, wenn er zusammen mit seinem Vater jenes Dorf auf der anderen Seite der Grenze besucht hatte, auf das er zunehmend seine Hoffnung stützte. Nachdenklich versuchte er es mit den Augen im gegenüberliegenden Tal ausfindig zu machen, doch eine dichte Dunstwolke verhinderte jeden Einblick in es.

„Dort, hinter dem Berg mit den beiden Gipfeln, lebt meine Familie“, hörte er unerwartet Samara Stimme. Sie klang traurig und niedergeschlagen. Er drehte seinen Kopf und sah, wie sie mit einem Arm nach vorne deutete, in Richtung von zwei Spitzen, die in unbestimmbarer Entfernung durch den Dunst ragten. Seine Augen wanderten zurück zu der hageren Frau, die er jetzt im Profil sah, wie sie weiter in die angegebene Richtung blickte. Er erkannte, wie eine Träne über ihre Wange hinab rollte.
„Du sehnst dich nach deiner Heimat?“, fragte er leise.
Sie nickte. „Ja, aber ich darf nicht dorthin zurückkehren.“
„Du wurdest verbannt?“
„Ich darf den Kinitat nie wieder bewohnen.“ Sie drehte ihr Gesicht Keron zu. „Ich darf ihn nur kurz betreten, wenn meine Pflichten als Sklavin es erfordern.“
„Als Sklavin? Ach, du bist schon lange frei. Wenn du möchtest, kannst du jederzeit gehen, Samara.“
„Wir müssen weiter“, mischte sich Sylissa Stimme ein.
Keron und Samara wandten sich zu ihr um. Die Zauberin stand direkt hinter ihnen und machte einen ungeduldigen Eindruck.
„Lasst uns jetzt zu deinem Bürgermeister gehen“, forderte sie.

*​

Das Grenzdorf befand sich in einem Tal, das zwischen zwei im Norden und Süden gelegenen langgezogenen Hügelketten lag. Vom Westen her führte der einzige Weg in das schmale Tal, welches auf seiner gegenüberliegenden östlichen Seite von einem mächtigen Berg abgeschlossen wurde. Er war so hoch, dass sich an ihm die Wolken stauten und die gesamte Umgebung in zähen Dunst und Nebel tauchten.

Der Weg führte sie weiter in das Tal hinein, das sich scheinbar immer tiefer in sein Umland einschnitt. Die Landschaft verlor ihr Grün, vermutlich fing die im Süden liegende Hügelkette, die immer steiler und höher an ihnen emporwuchs, die wenigen Sonnenstrahlen ab, die dieser feuchten Gegend noch verblieben. Schließlich gab es nur noch graue Steine und Geröll zu sehen. Selbst die wenigen Dutzend Häusern, die aus dem Nebel auftauchten, wirkten wie von den Hängen herabgerutschte Felsblöcke.

„Was für eine armselige Gegend“, kommentierte Sylissa. „Ich habe mich immer gefragt, weshalb die Menschen sich wegen dermaßen unfruchtbaren Bodens gegenseitig die Köpfe einschlagen. Hier wachsen doch nur Steine.“
„Sie leben vom Fischfang“, erwiderte Keron. „Es gibt hier Seen, in denen sie begehrte Fische züchten. Daher kennen wir sie auch, wir haben ihnen unsere Strauchwolle im Tausch für den Fisch gegeben.“

Das Haus des Bürgermeisters stand schwer und dunkel in der menschenleeren Siedlung. Die feuchte Luft kondensierte an den grauen Steinen zu winzigen Tropfen, die im trüben Licht matt schimmerten und sich am Boden zu kleinen Rinnsalen versammelten, die kreuz und quer über den Weg zu einem gegenüberliegenden Bach krochen. Sein sanftes Gluckern war das einzig wahrnehmbare Geräusch.

Keron schlug mit der Faust gegen die winzige Tür. Es dauerte nicht lange, und sie schwang nach innen auf. Ein großer Mann von schwer zu bestimmendem Alter sah sie mürrisch durch seinen verfilzten Bart hindurch an.
„Seit ihr der Bürgermeister?“, fragte Keron ihn.
„Ja. Was wollt ihr? Es gibt keine Herberge im Dorf.“
„Erkennt ihr mich? Ich bin Keron Baragnar. Man hat uns überfallen, und jetzt brauchen wir Hilfe von der Garnison. Es gibt doch eine ganz in der Nähe? Könntet Ihr uns bitte zu ihr bringen und vermitteln?“
„Ihr seid Ragar Baragnars Sohn?“
„Ja, bis sie ihn umbrachten.“
„Kommt herein.“

Sie folgten ihm in einen fensterlosen Gang. Es war finster und feucht, als würden sie eine Felshöhle betreten. Samara erschauerte unter dem Eindruck trostloser Armut, doch noch mehr ging ihr die Reaktion des Bürgermeisters im Kopf herum. Etwas stimmte nicht damit.

Der Bürgermeister schlug einen schweren Vorhang zur Seite. Ein Schwall wärmerer Luft, stickig und durchsetzt mit dem Gestank von brennendem Öl, schlug ihnen entgegen. Der Hausherr machte eine einladende Geste, ließ Keron den Vortritt und folgte ihm dann nach. Wie es in dieser Gegend üblich war, ignorierte er die beiden Frauen auf dem Gang völlig und ließ den Vorhang hinter sich zuschwingen.

Bis sie ihn umbrachten ... Wieso überraschte es ihn nicht?
Samara drehte sich nach der ihr nachfolgenden Sylissa um und gab ihr ein warnendes Handzeichen. Die Zauberin schien ebenfalls Verdacht geschöpft zu haben, denn sie gab ihr sofort mit einigen weiteren Handzeichen Anweisungen. Samara nickte verstehend, und drehte sich wieder um. Sie legte ihre linke Hand auf den Dolch und schob den Vorhang mit dem rechten Arm weit zur Seite. Ihre Augen huschten einschätzend über den Raum und erfassten drei Soldaten. Ihr unerwarteter Anblick weckte schlagartig jene Kampfbereitschaft in ihr, die sie zuletzt in jenem Strauchwollfeld verspürt hatte, als sie Farah entdeckt hatte. Zwei von ihnen standen hinter einem großen Tisch, dem Brustpanzer nach war einer von ihnen ein Offizier. Der dritte Soldat stand direkt neben dem Zugang und wandte gerade sein Gesicht ihr zu. Sofort hatte sie einen Plan und trat ein.

„Ihr habt einen Offizier und zwei Soldaten zu Gast?“, frage Samara laut und verstellte wie zufällig dem vorderen Soldaten den Weg zum Zugang. Es war ein unerfahrener junger Mann, und es genügte ihr ein einziger Blick in sein angespanntes Gesicht, um den letzten Zweifel an einem Hinterhalt zu verlieren. Samara trat nun unmittelbar an ihn heran. Der Soldat wollte zurückweichen, stieß dabei aber mit dem Rücken gegen die Wand. Als er nach seinem an der Seite steckenden Schwert greifen wollte, machte Samara eine abwehrende Geste und deutete mit den Augen auf ihren Dolch, den sie halb aus der Scheide gezogen hatte.

„Keron Baragnar!“, donnere eine befehlsgewohnte Stimme durch den Raum. Der Offizier deutete auf den mitten im Raum stehenden Keron. „Ihr seid festgenommen!“ Er sah zu Samara hinüber. „Sklavin, du lässt sofort meinen Mann in Ruhe!“
„Oh! Ich wollte nur den Weg zum Durchgang für Euch frei machen“, erwiderte Samara und machte eine ausladende Geste.
Der Offizier wurde rot vor Wut. Samara wiederholte die Geste, und endlich wichen auch der Bürgermeister und Keron zur Seite.
„Du wirst deine Frechheit noch bereuen!“, donnerte der Offizier wütend. „Ich ...“

In diesem Moment stürzte sich Sylissa in den Raum. Sie schleuderte sofort und noch aus der Bewegung heraus einen Feuerball auf die beiden hinter dem Tisch stehenden Soldaten ab. Er traf mit einem dumpfen Schlag gegen den Brustpanzer des Offiziers und warf ihn nach hinten um. Die Feuerkugel zerbarst beim Aufschlag in ungezählte Splitter, die zu Boden fielen und beide Angegriffenen in ein Flammenmeer tauchten. Der Soldat schrie entsetzt auf und fing an, in Panik um sich zu schlagen, während der Offizier versuchte, aus dem Feuer zu kriechen. Doch als seine eisenbeschlagenen Stiefelspitzen auf dem glatten Steinboden keinen Halt fanden und immer wieder mit einem hässlichen Kreischen abglitten, war es auch um seine Beherrschung geschehen.

Sylissa sprang auf den Tisch. Das Feuer schien ihr nichts auszumachen, halb in ihm kniend riss sie ihr Kurzschwert aus der Rückenscheide und stach zuerst dem unkontrolliert um sich schlagenden Soldaten in die Brust. Sie traf sein Herz und seine Schreie verstummten sofort. Sylissa zog die Klinge aus dem zusammensackenden Körper und ließ sich vom Tisch auf den keuchenden Offizier fallen, der immer noch auf dem Bauch liegend vergeblich um Halt suchend mit Armen und Beinen strampelte. Sie kam auf seinem Rücken zum sitzen, packte ihre Waffe mit beiden Händen am Griff und rammte es von oben durch sein Kettenhemd hindurch zwischen die Schulterblätter. Sein Keuchen wurde durch einen Schrei beendet, der in einem Gurgeln erstarb.

Während die Flammen um sie herum erloschen, stand Sylissa scheinbar gelassen auf. Sie schien unversehrt, nicht einmal ihre Haare waren angesengt. Sie stemmte einen Fuß auf den Rücken des Offiziers und zog mit einem kräftigen Ruck ihr Schwert aus ihm heraus.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie den schreckensstarren Keron. „In der Eile konnte ich das Feuer nicht ganz auf die Beiden zu beschränken.“ Sie ging um den Tisch herum zu ihm hin und sah ihn kritisch an. Keron blickte mit starrem Blick an ihr vorbei. Sylissa zuckte mit ihren Schultern und wandte sich Samara zu.
„Das hast du gut gemacht“, meinte Sylissa mit einem Nicken. Sie deutete auf den Soldaten hinter ihr. „Jetzt musst wir nur noch ihn beseitigen, dann sollten wir von hier verschwinden. Wie konnten die uns nur so schnell finden?“ Sie machte einen Schritt auf den Soldaten zu und holte mit ihrem Schwert aus. Der war vom Schock des Erlebten noch völlig paralysiert und reagierte nicht.
„Warte!“, unterbrach Samara sie.
Sylissa hielt inne und sah Samara fragend mit grün glitzernden Augen an.
„Was ist?“

Samara rang verzweifelt nach Worten. Sie hatte Sylissas Fähigkeiten bereits einmal kennen gelernt. Damals hatte Askar eine Händlergruppe überfallen, und Sylissa hatte zur Einschüchterung einen ihrer Feuerbälle in einen Busch geschleudert. So hatte sie das Feuer nicht überrascht, wohl aber seine brutale Wirkung. Die Schreie der Getroffenen hallten ihr noch durch den Kopf.
„Warte, nicht so schnell“, sagte sie, weiter um Worte ringend. „Wir ... wir sollten ihn fragen, warum sie uns festnehmen sollten.“
Sylissa nickte. „Gut. Wir sollten erfahren, was sie wissen“, sagte sie und sah den Soldaten kühl an. „Also, du hast gehört?“

Der Soldat brachte kein Wort hervor. Samara bemerkte, wie er vor Angst zitterte.
„Bist du taub?“, herrschte die Zauberin ihn an.
„So hat das keinen Zweck“, meinte Samara. „Lass es mich versuchen.“ Sie wandte sich an den jungen Mann. „Sag, du bist noch nicht lange in der Armee? Wie heißt du?“
Sie unterbrach Sylissas ungeduldiges Schnaufen mit einer Handbewegung und deutete auf einen Stuhl.
„Setz dich dort hin.“

Steifbeinig wankte er zu dem Stuhl und ließ sich auf ihn fallen. Samara zog einen zweiten Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber hin. Sie schloss die Augen, um ihre Nerven zu beruhigen, dann versuchte sie, den Soldaten möglichst gelassen anzusehen.
„Hör mal, mein Junge“, mischte sich Sylissa ein. „Ob ich zwei oder drei von eurer hinterhältigen Sorte umlege, ist für mich kein Unterschied. Also mache gefälligst das Maul auf.“
Samara sah sie verweisend an. „Bitte! Es war bestimmt nicht seine Idee, uns hier aufzulauern.“ Sie suchte wieder den Blickkontakt mit dem Soldaten.
„Wie lautet dein Name?“, fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme möglichst sanft und sicher klingen zu lassen. Das gelang ihr besser als erhofft, was ihre Entschlossenheit, ihn zu retten, sichtbar anwachsen ließ. Ihr Blick gewann weiter an Gelassenheit und Sicherheit.

„Arbor Dawes“, antwortete er endlich.
„Gut, Arbor. Keine Angst, wir bringen niemanden um, der uns nicht bedroht. Oder war das hier deine Idee?“
„Nein! Nein, ganz bestimmt nicht!“, rief der Soldat aus. „Ich bekam den Befehl dazu von Folmar.“
„Ist das der Offizier gewesen?“
„Ja ...“ Er schluckte hörbar und sah zu der Stelle, wo seine Kameraden lagen, konnte sie aber wegen der im Blick liegenden Tischplatte nicht sehen. „Folmar sagte uns nur etwas über ein Ersuchen der Malunen an den Garnisonskommandanten, hier alle Mitglieder der Baragnars festzunehmen, die vorbeikämen.“
Samara zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wann hat er den Befehl bekommen?“
„Heute am frühen Morgen. Es war noch dunkel, und bei Sonnenaufgang mussten wir sofort losziehen.“

Sylissa setzte sich zwischen dem Soldaten und Samara auf den Tisch. Sie hatte sich offensichtlich wieder beruhigt, und ihre Stimme hatte wieder ihre gewohnte sachliche Bestimmtheit. Kühl sah sie den Soldaten mit ihren grauen Augen an.
„Etwas mehr musst du schon erzählen, wenn ich dich am Leben lassen soll“
„Folmar hat uns nicht mehr gesagt. Ich habe ihn noch gefragt, weshalb ein solcher Aufwand getrieben wird, dass man Dutzende von Patrouillen zu allen denkbaren Orten losschickt. Er wusste es nicht.“
„Du willst mir also erzählen, euer Kommandant hätte ein Hilfeersuchen von den Malunen bekommen, also seinen Feinden, und er hätte daraufhin die halbe Garnison losgeschickt, um uns zu suchen?“, fragte Sylissa skeptisch und runzelte ihre Stirn. „Nein, genauer gesagt nur eine harmlose Bauernfamilie.“
„Ja! Ich weiß es nicht anders. Währe es Euch lieber, ich würde Euch anlügen?“, entfuhr es dem Soldaten in einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung.

„Schon gut, ich glaube dir“, beschwichtigte Samara und legte ihre Hand beruhigend auf den Arm des Soldaten. „Wir haben zur Zeit Frieden, da arbeiten die Grenztruppen manchmal zusammen. Sie hängen das nicht an die große Glocke, aber eine Hand wäscht die Andere. Allerdings gibt mir der Umfang der Aktion zu denken.“
Sylissa nickte. „Das hast du wieder reichlich fein ausgedrückt“, meinte sie. „Ich würde sagen, hier deckt eine Lüge die Andere.“
Sie wandte sich an den Soldaten und klopfte ihm jovial auf die Schulter. „Du hast Mut.“ Sie lächelte dünn bei seinem erstaunten Blick. „Dafür lasse ich dich am Leben.“ Ihre Hand deutete auf den immer noch am Boden liegenden Bürgermeister. „Dich aber nicht!“

Sylissas letzter Satz rüttelte Keron auf.
Gestern noch hätte ich keinen Hund getreten, und jetzt sehe ich ungerührt zu, wie wir über einen wehrlosen Menschen richten? Wie kann mich das alles nur so gleichgültig lassen?
„Wir bringen niemandem um“, rief Keron erschrocken über sich selbst aus. Er deutete auf den Bürgermeister. „Nicht einmal diesen Verräter.“

„Du willst diese feige Ratte am Leben lassen?“, widersprach Sylissa und ließ sich von der Tischplatte herabgleiten. Mit zwei Schritten war sie beim Bürgermeister. „Er hätte uns leicht warnen können. Ohne Samaras kluges Verhalten wären wir jetzt verloren.“ Sie trat der zitternden Gestalt hart in die Seite. „Sag, Ratte, was haben sie dir dafür versprochen?“
„Lass ihn in Ruhe!“, schrie Keron sie an.

Sylissa fuhr herum, ihre Augen funkelten in grünem Zorn.
„Willst du mir befehlen? Ich lasse mich von niemandem verraten, weder von Herl noch von diesem dreckigen Kriecher!“, schrie sie zurück.
„Sylissa, niemand will dir befehlen“, meinte Samara beschwichtigend. „Bitte, wir sind alle mit den Nerven am Ende.“ Sie wartete ab, bis die Zauberin ihren Blick erwiderte. „Herl hatte die Wahl, diese Männer hier nicht. Wenn du jetzt den Bürgermeister tötest, dann hilft das nur unseren Feinden, uns anzuklagen.“
Sylissa holte tief Luft und stieß sie dann langsam durch die Nase aus. „Na gut. Diese Ratte ist mir keinen Streit wert“, meinte sie angestrengt und sah zu dem Soldaten hinüber. „Sonst glaubt der Junge noch, wir währen Mörder.“ Sie deutete mit dem Finger auf ihn. „Glaubst du das etwa?“, rief sie.

„Nein ... Nein, dann würde man nicht einen solchen Aufwand treiben.“
„Aha? Was glaubst du dann?“, fragte Sylissa verdutzt.
Es wurde still im Raum.
„Sag nur, was du denkst“, forderte Sylissa weiter. Sie schien jegliche Wut verloren zu haben.
„Ihr seid jemandem mit Beziehungen in die Quere geraten.“
„Du bist gar nicht so dumm, mein Junge. Aber sag das zu niemandem sonst.“
„Natürlich nicht.“
Sylissa beugte sich wieder über den Bürgermeister.
„Du kannst jetzt aufstehen. Bedanke dich bei Keron für dein Leben.“

Keron bückte sich und zog den Bürgermeister auf die Beine. Der zitterte am ganzen Leib und brachte kein Wort heraus.
„Ich will nichts hören“, sagte Keron eindringlich. „Am besten, Ihr haltet Euch aus der Sache heraus. Ihr habt nichts gesehen und schon gar nichts gehört.“ Er stieß den Mann von sich. „Ist das klar?“, fragte er den Bürgermeister scharf.
„Ja, Herr. Es tut mir leid, mein Herr, ich ...“
Keron winkte ab. „Sprecht Euch mit Arbor ab. Er hat verstanden, worum es hier geht.“
 
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