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[Story] Göttertraum - Director's Cut

Nero

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3 Oktober 2008
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Hallo, liebe Leser! :)
Hier findet ihr eine korrigierte Version meiner Geschichte Göttertraum.
Der Umfang beträgt ca. 420 Taschenbuchseiten.

Göttertraum

Am einen Ende der Welt verliebt sich ein Zauberer in eine Göttin. Am anderen Ende öffnen sich die Tore in eine höllische Unterwelt, und eine junge Kriegerin stellt sich im Namen ihres Ordens den dämonischen Feinden. Das Schicksal verknüpft die Lebensfäden der Kriegerin und des Zauberers, und die Konturen von Göttern und Dämonen verschwimmen.
Die beiden Menschen müssen ihren Weg in einer Welt erkämpfen, die nicht mehr die ihre ist - und vielleicht, wie sie erkennen müssen, es auch nie wirklich war.


Fantasy im Stil von David Gemmel, vielleicht ein wenig Stan Nicholls und Joe Abercrombie. Rasant statt ausufernd und eher mit farbigen Charakteren als mit epischem Hokuspokus. Deshalb eventuell auch für Nicht-Fantasy-Leser einen Versuch wert.

Ursprünglich ist die Geschichte kapitelweise veröffentlicht worden, mit wöchentlich einem neuen Kapitel. Ganz wie bei Robert E. Howard und seinem Conan, dem Barbaren.

Ach ja: Kommentare und Feedback sind auch weiterhin ausdrücklich erwünscht. :)

Kapitelübersicht

I Ewige Wacht
II Die letzte Order
III Himmel in Flammen
IV Reise mit dem Dämon
V Teufelssöhne
VI Blutgeboren
VII An der Schwelle
VIII Die Legende
IX Der Arm eines Gottes
X Baphomet
XI Ein gerechter Preis
XII Das größte Geschenk
XIII Gläserne Wüste
XIV Prinzessin Hundertwaffe
XV Göttertraum
XVI Zwei Königinnen
XVII Unsterblich
XVIII Epilog: Das Ende des Traums

Leseprobe: Die Ketten der Welt
 
Zuletzt bearbeitet:
I Ewige Wacht

„Du willst schon wieder Schacht spielen, Falke?“, fragte Jilis. Sie zog ihr Jagdmesser aus dem Tisch der Wachstube und deutete mit der Spitze auf das Spielbrett, das die junge Frau mit dem Knabengesicht ausbreitete.
„Bevor ich dir die Regeln beibringe, sollte ich vielleicht mit dem Namen anfangen: Es nennt sich Schach. Das Spiel der Könige.“
Sie trug ein feines Lächeln auf den Lippen und schüttete einen Becher weißer und schwarzer Spielsteine aus. Jilis drehte eine der schwarzen Holzfiguren zwischen den Fingern.
„Wenn Iyadema wüsste, dass wir während unserer Wache... Schach spielen, würde sie uns die nächsten Wochen zur Übung die Bögen abnehmen und die Verpflegung für das gesamte Kloster mit bloßen Händen erjagen lassen.“
„Weil sie nicht weiß, dass Schach eine weit bessere Vorbereitung auf die nächste Schlacht ist als die Schwestern Tag und Nacht damit zu beschäftigen, in die Wälder im Westen zu starren. Es schult den Geist. Und das ist ein Bauer.“
Falke rollte ihr über den Tisch eine weitere der Figuren zu. Das weiße Gegenstück zu der, die sie in der Hand hielt. Eigentlich ähnelte es einem Türknauf mehr als einem Bauer. Sie lachte und schob die Figuren zurück zu Falke.
„Die Ähnlichkeit ist ganz verblüffend, nur wo ist seine Heugabel?“
Die Schwester hob den Finger und sah sie durchdringend an. Dann fuhr sie fort, die Spielsteine auf dem Feld aufzustellen.
„Du solltest sie nicht unterschätzen, im Schach hat jede Figur ihre Berechtigung.“
Jilis ließ ihr Messer zwischen den Fingern hin- und hergleiten. Letzten Endes würde die Klinge ihr im Kampf doch mehr nutzen als die Fähigkeit, Figuren auf einem Holzbrett umherzuschieben.
„Erzähl das den Bauern in der Mark, das würde sie gewiss freuen."
Sorgenfalten zogen sich über Falkes Stirn.
„Hat es wieder Berichte gegeben?“
„Was weiß ich. Wir sind auch nur Bauern, die für ihre Königin in die Wälder im Westen starren. Aber einer muss es tun.“
„Der letzte Angriff liegt länger als zehn Jahre zurück, und damals hat nicht einer der Steppenräuber es bis an unsere Tore geschafft.“
Jilis straffte ihre Muskeln und richtete sich auf.
„Weil jeden Tag und jede Nacht Wachen Ausschau gehalten haben.“
Falke seufzte und begann, auf Jilis Seite des Feldes schwarze Figuren aufzustellen.
„Und deshalb müssen wir es wohl bis in die Ewigkeit tun?“
Wenn es notwendig würde...
Jilis zog ihren Langbogen aus der Ecke des Zimmers und legte ihn sich über die Oberschenkel. Mit den Fingern strich sie über das Holz.
„Für jede neue Schwester wird ein Baum gepflanzt, aus dessen Holz ihr Bogen gefertigt wird. Genau so, wie die Bäume an den Grenzen Wacht halten, müssen es auch die Schwestern auf den Mauern des Klosters tun.“
Falke sah sie schief an. „Im Auswendiglernen bist du gut.“
Jilis lächelte und zuckte mit den Schultern. „Es gibt eben Dinge, die man nicht vergessen sollte.“
Der Stuhl kratzte über das Mauerwerk, als Falke an das Fenster heranrutschte. Sie beugte sich spielerisch durch die Öffnung und machte einen spitzen Mund, als sie wieder hochkam.
„Schwester Jilis, mach Meldung bei der Oberin: Keine geflügelten Dämonen gesichtet. Nur der Schatten eines Barbarenreiters, der sich allerdings späterhin als der eines Himbeergesträuchs herausstellte.“
Jilis schob weiter ihr Messer auf dem Tisch herum. Auch, wenn Falke schon vier Jahre über der Ganzjährigkeit stand und ihr damit zwei voraus hatte... Manches würde sie nie begreifen, so oft sie auch den Psalmen in der Kathedrale lauschen mochte.
Ein leichter Wind wehte vom Hochland in ihre Wachstube auf den Zinnen des Klosters herüber. Nicht eine Bewegung in den Hügeln, und die Sonne versank erst hinter der Grenze der Wälder. Bis der Mond seinen höchsten Punkt erreichte und damit die Wachablösung herbeirief, würde es noch dauern.
„Na los. Zeig mir, wie man Schach spielt.“ Sie steckte ihr Messer weg und Falke stellte eben die letzten Bauern in der vorderen Reihe auf. Jilis betrachtete sich die dunklen Holzfiguren auf ihrer und die hellen auf der Seite ihrer Freundin. „Und sag mir, wieso ich die schwarzen Figuren habe. Sind das die einfallenden Horden der Finsternis?“
„Wenn dir ein Pakt mit ihnen genehm ist.“ Auch Falke warf noch einen Blick nach draußen, bevor sie zu erklären begann.
Sie spielten drei Partien, und jedes Mal richteten die weißen Krieger unter den schwarzen ein Massaker an. Schon nach dem ersten Spiel fühlte sich Jilis Kopf an, als wäre er mit Eisen gefüllt. Ein Gefühl, das dem beim endlosen Hocken über den Schriften in der Klosterakademie ähnelte.
Dann mochte dieses Spiel vielleicht wirklich den Geist schulen...
In der Mitte der vierten Partie genügte das Licht, das durchs Fenster einfiel, nicht mehr, um die Farben der Spielsteine zu unterscheiden.
Jilis warf sich einen der Bärenfellmäntel über. „Ich hole uns eine Kerze. Sonst schnappst du mir noch meinen König fort, ohne, dass ich es in der Dunkelheit merke.“
Außerdem purzelten in ihrem Kopf nur noch schwarze und weiße Steine durcheinander, und ohnehin war ihr Schädel wie taub.
„Hätte ich das denn nötig?“
Als Jilis sich eben erheben wollte, bewegte sich ein Lichtschimmer die Treppe von den Wehrgängen her zu ihnen nach oben. Sofort fuhr ihre Hand zum Messer an der Seite. Auch, wenn die einzigen Kämpfe, die sie noch fochten, die in Übungsgefechten in den Klosterhöfen und bei der Jagd in den Dunkelwäldern waren, so ermüdeten die Reflexe doch nie.
Der Lichtwurf einer Kerze flackerte die Wände entlang, getragen von einer verhüllten Gestalt.
„Wir haben Besuch“, sagte sie. Das dünne Organ von Vega. Jilis atmete auf und öffnete die Arme.
„Du bist der Besuch?“
Sie umarmte die junge Köchin, und heißes Kerzenwachs troff auf ihre Hände. Sie zuckte zurück und rieb sich die halbflüssige Substanz von den Fingern. Lange nicht so schlimm wie der Hauer eines Ebers zwischen den Rippen.
Die Jüngere zog die Kerze fort und flüsterte mit gesenktem Kopf eine Entschuldigung. Dann schob sie ihre Gugel zurück, und die Sommersprossen und der blonde Zopf leuchteten im Kerzenlicht.
„Nein, nein. Eine Wanderin ist durch die östlichen Tore gekommen, und nun sitzt sie mit Iyadema bei einem späten Mahl im Innenhof.“
„Iyadema selbst?“, fragte Jilis und sah sich zu Falke um, die die geschlagenen Spielfiguren studierte.
„Wenn wir irgendwann Hauptmänner sind, werden auch wir ohne Angabe von Gründen von den Köchen ein Nachtmahl verlangen können. Nur, weil eine alte Bekannte aufgetaucht ist.“
Ganz ohne Gründe würde auch Iyadema kein mitternächtliches Mahl in Auftrag geben lassen. Jilis schüttelte den Kopf.
„Ich will es sehen.“
Falkes Lachen füllte den ganzen Raum. „Das wird ihr gefallen. Du verlässt deinen Posten, um ihr nachzuspionieren.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Im schlimmsten Fall muss ich allein wilde Schweine jagen gehen. Etwas Abwechslung könnte ich ohnehin vertragen.“
„Allein musst du nicht gehen; ich komme mit“, sagte Vega und stellte ihre Kerze auf Falkes Tisch neben dem Spielbrett ab.
Jilis nickte.
„Zehn Minuten, Falke.“
„Die Könige warten auf dich, vergiss das nicht.“
Sie legte einen Arm um die Taille ihrer Freundin und schritt mit ihr die Treppe hinunter. Wer musste nicht lächeln, wenn er das Gesicht der jungen Schwester sah?
„Lass uns das schreckliche Geheimnis aufdecken“, sagte Jilis. Vega nickte eifrig.
„Ich wusste, dass du dabei sein würdest.“
Von den Wehrgängen aus nahmen sie die Verbindungstore zu den Terrassen, die um den Innenhof liefen. Die Kälte bohrte sich in Jilis Beine. Sie zog den Fellmantel enger um sich.
In der Finsternis boten die Statuen der Herrin des verborgenen Auges gute Deckung. Die vier Schwanenflügel, die aus ihrem Rücken sprossen, gaben genug Schutz für sie beide. Jilis winkte Vega zu sich, und die trippelte zu ihr hinter den Sockel der Statue. Der Schein der Fackeln im Innenhof schloss den Springbrunnen und die Sträucher und Beete ein, doch die Terrasse lag im Dunkeln.
Jilis spähte zwischen dem Flügelpaar auf ihrer Seite hindurch. Tatsächlich saß Iyadema hinter dem Holztischchen zwischen den Rebstöcken, Geschirr und einen Topf vor sich. Die Gestalt ihr gegenüber stand neben ihrem Stuhl und blickte auf den Hauptmann hinab. Durch das Fackellicht blieb die Fremde ein schwarzer Schattenriss.
„Sie essen nicht mehr“, flüsterte Vega.
„Hat die Fremde überhaupt gegessen?“
Das Geschirr lag in sauberster Ordnung an seinem Platz.
„Vielleicht ist sie gar nicht gekommen, um mit Iyadema zu speisen...“
Über ihnen zog ein Schwarm Fledermäuse vorbei. Zumindest ähnelten ihre Körper denen von Fledermäusen. So nah, wie sie vorüberflogen, hätten ihre Flügelschläge hörbar werden müssen. Kalt kroch es Jilis über die Arme, obwohl die im dicken Fell steckten. Oder die Wesen waren nicht nah vorübergeflogen, sondern von riesigen Ausmaßen, die sie in der Ferne so groß machten wie Fledermäuse in der Nähe...
„Etwas stimmt nicht“, sagte sie.
„Der Instinkt der Jägerin?“, fragte Vega und grinste breit.
„Ich verstehe zwar kein Wort von dem, was sie bereden, aber...“
„Aber was?“
„Aber das“, sagte sie unwillig. „Hast du deinen Bogen bei dir?“
„Sicher.“
Jilis verfluchte sich. Ihr Bogen lag gut dort bei Falke im Wachturm. Im Innenhof geschah etwas, und sie hatte dieses Stechen in der Stirn...
Iyadema redete auf ihre Besucherin ein, wedelte mit den Händen in wilden Gesten umher. Währenddessen stand ihr Gegenüber still wie eine Statue. Iyadema, die ihre Ruhe nicht einmal brach, wenn ein Bogen zu Bruch ging?
„Sie hat Angst“, sagte Vega. Jilis Wangen wurden warm. So etwas auszusprechen... Aber Recht hatte sie.
„Iyadema...“ Sie biss die Zähne aufeinander. Ein Gedanke fuhr in sie. „Vega, wir müssen näher heran. Wie viele Wachen hat der Innenhof?“
„Schau dich um.“ Vega breitete die Arme aus und umspannte den gesamten Terrassenpfad. „Wenn wir uns spontan verpflichten, könnten wir sagen: Zwei.“ Natürlich. Wachen an den Toren. Aber was auch immer den Weg hindurchgefunden hatte, das benötigte keine Aufsicht mehr. Sie krallte die Finger in die Flügel der steinernen Herrin, um deren Schutz sie täglich beteten.
„Dann tun wir das“, sagte sie.
„Was?“
„Uns verpflichten. Und wenn es darauf Strafe gibt, dann soll es so sein. Bist du dabei?“
Vega legte die Arme um ihre Brust und duckte sich etwas weiter hinter die Statue.
„Wenn du mir sagst, was du vorhast?“
Jilis antwortete nicht mehr. Sie presste das Gesicht so weit zwischen die Flügel, wie sie konnte. Bis der Stein an ihrem Hals schmerzte.
Die Fremde löste die Bänder ihres Gewandes und warf es von sich wie einen Schleier. Für die Dauer eines Lidschlages erstarrte die Welt. Jilis bohrte ihren Blick in die Gestalt, die dort zwischen den Rosenstöcken stand, um sie zu erkennen. Die Formen wichen zur Seite wie Wasser, wie das Hitzeflimmern über den Handelsstraßen im Hochsommer, wenn man genau hinsah. Der Wind stand still, und aus dem Körper der Besucherin wand sich etwas, das an eine Schlange erinnerte – eine Schlange aus Glut und Flammen. Sie steuerte wie schwerelos auf das Tor zum Außenhof zu. Dorthin, woher die Wanderin gekommen sein mochte.
Dann bewegte sich die Welt wieder. Ein schwaches Glühen strahlte von der Gestalt im Hof ab, und von einer Sekunde zur anderen schwoll es an zur Leuchtkraft einer Sonne. Weißes Feuer rauschte durch die Klostermauern, rasselte und knisterte – wie Holzperlen, die auf den Boden schepperten. Die Hitze umschloss Jilis Körper, stach zugleich in jede Pore ihrer Haut mit flammenden Lanzen. Ihre Augen brannten ihr im Schädel, als hätten sie sich in Feuerbälle verwandelt. Der Innenhof und die Statue der Göttin verschwanden hinter einer weißen Wand aus Taubheit. Harte Substanz stieß ihr in die Schulter. Sie stürzte. Auf den Boden der Terrasse, vielleicht auch durch den Stein hindurch und durch den Erdboden hindurch. Die weißen Flammen brannten ihr die Sinne fort, schnitten ihr den Atem ab. „Vega“, sagte sie. Oder dachte es. Vielleicht nicht einmal mehr das.

Sie kämpfte sich durch einen Schleier, der die Welt vor ihr verbarg. Barrieren aus geronnener Milch vor ihren Augen. Eine nach der anderen stieß sie beiseite.
Ihr Körper erbebte wie von einem Stoß, und der Schmerz von hundert Wunden rammte sich in sie.
„Jilis, nicht viel Zeit“, drang eine Stimme durch den Rauch, der den Innenhof füllte. Sie hustete und würgte, ein bitterer Geschmack setzte sich ihr in den Rachen. Vor ihr tauchte das Gesicht von Tyreé, einer der Anwärterinnen, auf. Ein Gesicht mit den Zügen eines Raubvogels.
Da setzte ihr Herz aus. Falke. Sie war noch immer dort in dem Turm.
„Was ist...“
Jilis setzte sich auf. Ruß und rot schimmernde Schrammen bedeckten ihr die Beine, und ihr Fellmantel trug verbrannte Stellen vom Kragen bis zu den Ärmelaufschlagen. Neben ihr saß Vega an der Wand, die Augen zusammengekniffen. Ein Glück.
„Eindringlinge“, sagte Tyreé, „Auf Geheiß des Hauptmanns: Sammeln bei den Ställen in den äußeren Höfen und die Verteidigung vorbereiten.“
„Schon klar“, murmelte Jilis. Sie kroch einige Schritt nach vorn, und bei jeder Bewegung rieb die aufgeschürfte Haut am steifen Leder ihrer Rüstung. Ein Feuerschein wie von hundert Fackelträgern hüllte den ganzen Innenhof ein, beleuchtete die Trümmer der Statue vor ihr. Nur noch einen Flügel trug sie, die anderen lagen neben ihrem Sockel, zwei davon in Trümmer gesprengt. Vom Rand der Terrasse aus öffnete sich ein Inferno vor ihr. Feuer loderten auf jedem Meter des Hofs, verwandelten den Rasen in eine glühende Decke und die Weiden in überlebensgroße Kerzen. Die Beete waren zu Feuerschalen geworden, und eben erkletterten die Flammen die Heckenpflanzen.
Was hatte Tyrée gesagt? Geheiß des Hauptmanns? Iyadema konnte vermutlich nie mehr ein Geheiß aufgeben... Dann hatte also die nächste ihren Platz eingenommen.
Durch den Rauch zogen Schemen. Das Knallen von Bogensehnen. Zu spät. Zwei Blitze durchbrachen die Rauchwand und rasten zu ihr. Ein Ruck fuhr ihr in den Nacken und riss sie zurück. Die Pfeile prallten gegen die Wand hinter ihr, Tyrée ließ ihre Kapuze los.
„Verrat?“, fragte Jilis. Aber wer würde die Herrin des verborgenen Auges betrügen?
„Nein.“ In die Züge der Anwärterin stahl sich etwas, das ihre Maske brechen ließ. „Die Toten haben ihre Gräber verlassen.“
„Wir kämpfen gegen Tote?“
Tyrée zuckte hilflos mit den Schultern, und Jilis wandte sich Vega zu. Erst jetzt kniete sie sich neben die Jüngere und sah ihr ins Gesicht. Einige dunkle Schrammen hatten sich zu den Sommersprossen hinzugesellt.
„Sie haben keine Haut und kein Fleisch mehr“, sagte Vega, ein Auge dabei mühsam geöffnet.
„Was haben sie dann noch, mit dem sie sich uns entgegenstellen können?“
Tyrée trat hinzu und zog Jilis an der Schulter zurück.
„Knochen. Es sind Knochenmänner.“ Im Licht des Feuers war Tyrée selbst so bleich wie ein Knochenmann. „Wir wissen nicht, wie sie durch die Tore brechen konnten. Das Holz trägt glimmende Löcher, als wäre ein Stern hindurchgestürzt.“
Oder eine Schlange? Eine Schlange aus Feuer? Vor Jilis Gesicht trat wieder die zuckende Flamme, die aus dem Körper der vermummten Frau gebrochen war.
„In jedem Fall“, fuhr Tyreé fort, „sollen wir uns bei den Ställen sammeln. Rasch.“
Jilis schüttelte den Kopf. Falke, die noch immer über ihrem Spiel sitzen mochte.
„Wir sind nicht komplett.“
„Ja“, stimmte Vega ihr zu. „Falke.“
„Wir haben genug Zeit verschwendet. Vega, lass dich von Jilis stützen. Wir müssen denen bei den Ställen beistehen.“
Tyreés Miene verhärtete sich und sie nahm Jilis am Ellenbogen. Ihre Blicke trafen sich.
Dass sie ihren Bogen nicht hatte, hätte als Grund dafür gereicht, zurückzugehen. Aber nicht wegen dem Bogen würde sie es tun. Ihr Blut pumpte ihr kochend heiß durch die Schläfen. Tyreé? Sie aufhalten?
„Eine Schwester hält noch Wacht auf den Zinnen“, zischte Jilis und riss sich los.
„Wenn sie ihren Platz jetzt noch nicht verlassen hat, hält sie vermutlich ab jetzt ewig dort Wacht.“ Die Anwärterin erneuerte ihren Griff und packte diesmal Jilis Handgelenk. „Kommt! Das ist ein Befehl des Hauptmanns!“
In Jilis Hals raste ein Wutschrei nach oben, doch mit gefletschten Zähnen unterdrückte sie ihn.
„Dann ist das eine Missachtung des Befehls des Hauptmanns!“
Sie legte den Kopf in den Nacken und schmetterte Tyreé die Stirn ins Gesicht. Die Schwester taumelte zurück und hielt sich mit beiden Händen die Nase. Zwischen den Fingern sickerte Blut hindurch.
„Drei Höllen!“, fluchte Tyrée, „du kommst nicht mehr zurück, wenn du jetzt gehst, Jilis!“
Und ob ich zurückkomme. Falke auch.“ Sie ergriff die Hand Vegas und drückte sie. „Ist ein Versprechen.“
„Klar.“
Jilis maß die Distanz bis zum überdachten Überweg zu den Wehrgängen. Dreißig Meter mindestens.
„Die Schützen zielen gut, auch ohne Fleisch an den Fingern!“
Mit dem Fuß stieß sie gegen den losgebrochenen Flügel der Statue.
„Die Herrin des verborgenen Auges behütet mich“, sagte sie.
Sie hob den Flügel hoch. Ihr Rücken protestierte mit stechendem Schmerz, doch der mischte sich schnell zu dem der Verbrennungen und Schürfwunden. Das steinerne Federglied neben sich gehalten, marschierte sie los.
Als hätte sie den Schussbefehl gegeben, prasselte eine Pfeilsalve zu ihr. Einige Schäfte brachen an der Wand vor ihr, viele splitterten an ihrem Schutzschild aus Stein. Der Wind drehte sich und trieb den Rauch direkt in ihre Richtung. Sie hustete mehr, als dass sie atmete, und die Augen kniff sie vor dem Beißen des Rauchs zusammen.
Was für eine Macht war das, die den gesamten Innenhof mit Feuer überschüttet und sogar noch sie oben auf den Terrassengängen verbrannt hatte?
Ein Pfeil schlug dicht neben ihrem Stiefel gegen den Stein. Sie senkte den Flügel, bis die Spitze auf dem Boden schleifte, und zog ihn neben sich her. „Hat euch der Tod verlernen lassen, dass die Pfeile mit der Spitze nach vorn in die Sehne gespannt werden?“, rief sie in den Innenhof hinunter. Einige Pfeile schlugen noch gegen ihren Schild, dann erreichte sie die Wehrgänge und lehnte ihren Schutz gegen die Zinnen. Der Lärm von Feuer und Bogenschüssen lag hinter ihr, und die Worte Tyreés kehrten zu ihr zurück. ...hält sie vermutlich ab jetzt ewig dort Wacht...
Sie schüttelte sich, um den Hall der Worte aus ihrem Kopf zu vertreiben. Vor ihr führte die Treppe hinauf in die Wachstube. „Falke!“, rief sie, und hetzte die Stufen hinauf.
Das Licht der Kerze spiegelte sich auf dem Gesicht der Schwester, die dort zurückgelehnt auf ihrem Stuhl saß. Ihr Blick kreuzte sich mit dem von Jilis.
„Falke?“, fragte sie. Das Schachbrett stand unberührt da, und Falkes Hand umklammerte die Königin, die Jilis ihr aus dem Spiel geworfen hatte.
Jilis machte noch einen Schritt. Falkes Blick folgte ihr nicht, sondern blieb auf die Mauer fixiert. Aus ihrer Schläfe ragte der Schaft eines Pfeils.
Sekunden stand sie vor dem Tisch. Oder Minuten. Oder Stunden. Sie ließ sich auf ihren Platz fallen. Irgendetwas hätte sie denken sollen.
Sie umschloss die schwarze Königin und steckte sie ein.
Falkes Bogen stand neben ihrem in der Ecke. Sie hob ihn auf und legte ihn der Freundin auf die Oberschenkel, schloss ihr die Augen. Den eigenen Bogen nahm sie mit und schnallte sich den Köcher über.
„Gute Nacht, Falke“, sagte sie.
Die Närrin. Gemeinsam hatten sie es in den Rang der Hohen Jägerin schaffen wollen. Jetzt musste sie es alleine tun.
Sie schleuderte die kleine Kerze aus dem Fenster. Ein letzter Lichtblitz huschte über Falkes Gesicht.
Unter dem Fenster die geborstenen Überreste des Westtors. Von zwei Seiten waren die Eindringlinge gekommen.
Sie rannte. Zurück zu den Flammen und den untoten Kriegern; dorthin, wo sie keinen Gedanken an etwas anderes verwenden konnte als daran, am Leben zu bleiben.
Erneut wuchtete sie den Statuenflügel hoch und lief in die Deckung hinter der Statue. Vega stand allein dort, die Beine zitterten ihr, als könnten sie den Körper der jungen Kriegerin nicht tragen.
„Ist Falke schon vorgegangen?“
Jilis biss sich die Zähne in die Lippen.
„Ja. Aber soweit, dass wir ihr nicht folgen können.“
„Was meinst du? Sonst redest du nicht so–“
Vega brach ab. Brauchte eigentlich keine Antwort mehr.
„Sonst sehe ich auch nicht, wie meine Freundin mit einem Pfeil im Schädel die Wand anstarrt!“ Einige Atemzüge später klärte sich ihr Denken wieder. „Tyreé aber – die ist vorgegangen, ja?“
In Vegas Augen glitzerte Feuchtigkeit. „Sie sagt, wir sollen selbst unseren Weg nach unten finden.“
Vega, die immer genau wusste, wann sie sprechen und wann schweigen musste.
Alle Muskeln in Jilis Körper spannten sich. „Wenn du laufen kannst, dann komm.“
Zur Treppe zum Hof hinunter waren es zwanzig Schritt. Jilis nahm Vega mit in den Schutz des Flügels. Bei jedem Pfeileinschlag zuckte die Junge zusammen.
„Wir sind fast da“, presste Jilis hervor. „Geh direkt in die Ställe. Bitte.“
Bitte. Nicht so wie bei Falke.
„Kaschya und die anderen kämpfen schon im Hof.“
„Kaschya?“
„Sie besetzt jetzt Iyademas Posten.“
Wer auch sonst. Durch die Flammen des Hofs huschten tatsächlich mehr Schatten als zuvor, und die Pfeile durchschnitten die Luft nicht mehr nur in einer Richtung. Jilis stemmte ihren Flügelschild vor den Eingang des Treppenhauses und nickte Vega zu.
„Die Säulen, die die Terrasse halten, sind breit genug. Geh und such dir eine gute Deckung. Eine gute Deckung, klar?“
„Gute Deckung. Mache ich.“
„Egal, was dir Tyreé oder Kaschya befehlen.”
„Dann kommst du und gibst ihnen auf die Nasen?“
„Erst einmal sind diese verrotteten Schützen dran.“
„Welchen Weg nimmst du?“
„Einen anderen. Los, fort mit dir.“
Jilis wartete noch, bis Vegas blonder Schopf im Treppenhaus verschwunden war.
Sie schob den Flügel mit den Knien näher an die Kante der Terrasse heran. Über ihr Schild hinweg nahm sie den Hof in Augenschein. Die Feuer wüteten schlimmer, verzehrten das letzte Grün der Bäume. Bis zum Boden mochten es vier, fünf Schritt sein. Zwei Bogenschützen wichen vor einem Schusshagel zurück, unmittelbar unter sie. Kahle Schädel, nackte Knochen, und die Skelettfinger in eine Bogensehne gekrallt. Als wäre eine der Zeichnungen aus den Büchern über die Anatomie des Menschen lebendig geworden. Lebendig nicht mehr lange – dafür würde sie sorgen. Sie schob den Flügel noch einen Deut näher an die Kante, dann ließ sie ihn los. Er wankte. Bis zum Treppenhaus ging sie zurück, nahm Anlauf und stieß mit dem Stiefel gegen den Stein. Sie warf sich in die Tiefe, zusammen mit dem Flügel.
Eine der Knochenfratzen wandte ihre leeren Augenhöhlen nach oben. Zu spät. Jilis grinste. Der Flügel der Herrin stürzte auf die untoten Krieger und riss sie mit zu Boden. Einer wurde vollends begraben, dem zweiten stürzte das Gewicht in die Beine und ließ ihn fallen. Knochensplitter spritzten unter dem Stein hervor, und der Übriggebliebene grub seine Fingerknochen in das Erdreich unter dem glimmenden Gras, um sich unter dem Stein hervorzuziehen.
Jilis landete in die Flammenhölle und rollte sich ab. Dennoch fuhr ihr ein Ruck durch die Schenkel. Die Hitze wehte um sie wie ein unerträglicher Sommerwind.
Sie trat zu den verschütteten Skeletten. Vielleicht hatte eines von diesen beiden zu verantworten, was Falke widerfahren war.
Sie trat dem zappelnden Krieger auf die Knochenfinger und suchte in den leeren Augenhöhlen nach einem Funken von Begreifen, Intelligenz. Ebenso gut hätte sie bei einer wahrhaftigen Leiche suchen können. Das einzige was diese hier unterschied, war die schaurige Bewegung.
Ihr Stiefel zerdrückte den Schädel. Es knirschte, der Kiefer brach entzwei und die Hirnschale splitterte. Die Knochenarme erschlafften.
„Jilis! Runter mit dir!“, gellte ein Ruf von dem überdachten Teil des Hofs. Eine Reihe von Silhouetten hielt die Bögen auf sie gerichtet. Sie warf sich hin und rollte über das Gras. Eine Skelettfigur tauchte aus einer der Rosenhecken und raste auf sie zu, zwei Breitschwerter in den Händen. Fast ein Dutzend Pfeile sirrte durch die Luft. Einige prallten an der eisernen Haube des Kriegers ab, die nächsten bohrten sich in Handgelenk und Finger und öffneten den Griff soweit, dass das Schwert hinausglitt. Die Wucht der Einschläge ließ das Gerippe schwanken, die Schäfte vibrierten in seinen Knochen. Es fasste das verbliebene Schwert mit beiden Händen und hob es im Sprung gegen Jilis.
Nicht genug Zeit zum Aufspringen oder, um eine Waffe zu ziehen. Sie stieß sich von den Steinen ab, die ein brennendes Beet neben ihr umkränzten, und rollte sich auf den Gegner zu. Die Klinge stieß eine Handbreite neben ihr ins Gras, sie warf sich gegen die knöchernen Schienbeine. Die Knochengestalt kippte. Im Fallen hämmerte sich ihr die nächste Pfeilsalve in die Brust.
Jilis rappelte sich auf. Sofort schoss die Schwertspitze in ihre Richtung. Sie landete einen Rückhandschlag gegen den Unterarm des Skeletts. Das Schwert zuckte zurück, doch Blut färbte die Klinge, und an Jilis Hals rann es warm hinab. Sie setzte nach und prellte dem Krieger mit der Faust die Waffe aus der Hand. Skelettfinger reckten sich nach ihrem Gesicht wie bleiche Dolche. Blitzschnell warf sie den Kopf herum und tauchte unter der Reichweite der Arme hindurch. Das fallende Schwert fing sie auf, stieß mit dem Knauf gegen den Schädel des Untoten. Risse zogen sich über das Knochengesicht. Plötzlich drückte ihr etwas die Brust zusammen. Ihr Gegner schloss die Arme um sie in einer schrecklichen Umarmung. Die Rippen pressten sich gegen ihre und quetschten ihr die Lunge. Eine Macht steckte in den toten Gebeinen, die den Muskeln der Lebenden ebenbürtig war.
Jilis führte die Hände hinter dem Rücken des Skeletts zusammen und richtete das Schwert auf dessen Hinterkopf. Sie legte den Kopf zur Seite und riss die Waffe zu sich. Die Spitze brach aus Nasen- und Augenhöhle und überschüttete sie mit Knochensplittern. Ruckartig zog sie die Waffe hoch und brach durch die Schädeldecke hindurch, riss den Spitzhelm mit herunter.
Sofort löste sich der Griff um ihre Brust. Sie schüttelte die Arme ab, die sich um sie geschlungen hatten und atmete wieder frei.
„Hierher!“, rief die Stimme von eben.
Weiter pfiffen die Pfeile aus beiden Richtungen über den Hof. Jilis duckte sich hinter einen Rosenbusch und nahm das zweite Breitschwert des Besiegten auf. Zwei Schwerter hatte er getragen, und nicht eine Scheide. Doch die Scheiden würde sie so schnell nicht brauchen.
Im Fell ihres Mantels tanzten Funken, und sie warf ihn auf dem Weg zu den Schwestern fort.
In den Säulengang gekauert kniete Tyrée mit den ihr unterstellten Schwestern. Kaschya, in Kettenhemd und mit einem Bogen bewaffnet, der sie weit überragte, füllte ihren Köcher mit den Pfeilen aus dem Vorrat einer Schwester, die in ihrem eigenen Blut neben ihr lag.
„Hauptmann“, grüßte Jilis, sah zuerst Kaschya und dann die anderen an.
„Das müsste in eine Legende, wie du die zwei zertrümmert –“, sagte eine der Kriegerinnen.
Tyreé schnitt ihr das Wort ab. „Sorg dich darum, dass es nach dieser Nacht überhaupt noch jemanden gibt, der hiervon berichten kann.“ Eine Blutkruste färbte ihr Lippen und Kinn, dass sie wie ein Raubtier nach der Mahlzeit aussah. Tyrée bemerkte Jilis Blick. „Nach der nächsten Übung wirst du so aussehen.“
Wenn es je noch eine Übung geben würde.
Kaschya stellte sich auf, gedeckt vor den Pfeilschüssen durch eine Säule. Ihre kurzen blonden Haare glühten im Feuerlicht selbst wie Flammen.
„Die Schlacht ist verloren gewesen im Moment, da sie begonnen hat. Diese Feinde haben kein Herz, auf das wir zielen können.“
„Und sie mit Pfeilen zu spicken, bis sie Igeln ähnlicher als Menschen sind, dient uns nicht besonders“, fügte Tyreé hinzu.
Auf dem Innenhof flogen die Pfeile noch immer. Verschwendet gegen diese Feinde, denen eine böse Macht jeglichen Schwachpunkt genommen hatte. Allein Iyadema mochte diese böse Macht erblickt haben, und im selben Moment zu Asche verbrannt sein. Über ihrem Leichnam fochten die Schwestern einen aussichtslosen Kampf. Der Rauch verdeckte das Kampfgeschehen, aber immer wieder wateten dürre Schemen auf andere zu, unaufhaltsam, und streckten sie nieder.
„Was hat diese Verfluchten aus ihren Gräbern kriechen lassen?“, fragte Jilis.
„Fragen wir uns das an einem Ort, an dem die Luft uns nicht die Lungen mit jedem Atemzug verbrennt“, sagte Kaschya. Als einzige stand sie aufrecht von den Schwestern. „Wir sammeln uns in der Kathedrale. Die Tore erkaufen uns Zeit.“
Auch, wenn die Flammenschlange zurückkehrte? Zwar sagte ihr jeglicher Verstand, dass auch die Zauberin selbst in den Feuern umgekommen sein musste. Doch dagegen stand die Tatsache, dass in dieser Nacht genug Teufelei geschehen war, um jede Gespenstergeschichte am Lagerfeuer zu einer Komödie zu machen.
Jilis Blick wanderte über die Gesichter der kauernden Schwestern. Ein zweites Mal. Vegas Gesicht fehlte.
„Vega ist schon in den Mauern der Kathedrale?“
„Sie ist mit Kerill und Marika in der Bibliothek, um Akara zu suchen. Bei allen grausamen Wundern in dieser Nacht ist es doch keins, dass unsere Priesterin unsere größte Schlacht seit Jahren über ihren Büchern verpasst.“ Kaschya wies auf den Durchlass, der hinab in den Bibliothekskeller führte. Jilis rannte los, bevor der Hauptmann den Arm sinken lassen konnte.
„Welchen Pfad hat Falke genommen?“, rief Tyreé ihr nach.
„Du triffst sie wieder, wenn du dir von einer dieser Bestien hier deinen Schädel zerspalten lässt.“
Hatte sie Vega nicht gesagt, in Sicherheit bei den anderen zu bleiben? Jilis Schritte rasten die Treppe hinunter. Sie wog die Schwerter in den Händen. Schmucklose Eisenwaffen ohne Wappengravur, die jeder Räuberbande gedient haben konnten.
Zumindest brachten die Eindringlinge die Waffen mit, mit denen sie sich bekämpfen ließen.
Ihre Stiefel ließen das Blut hochspritzen, dass sich auf einer der Stufen in einer Pfütze sammelte. Kerills Körper lehnte an der Wand, das Haar bedeckte ihr Gesicht. Von der Schulter bis zur Hüfte lief ein Schnitt durch ihre Rüstung, aus dem das Blut sickerte. Die Hände um den Bogen und einen Pfeil geschlossen. So musste sie gefallen sein.
Sie lief noch schneller, sprang die Stufen der gewundenen Treppe herab. Die Echos von Rufen und des Klangs von Metall auf Metall schallten zu ihr hoch.
Nur Kerzen erhellten alle paar Meter die Wände der Bibliothek. Klingenhiebe auf Stein drangen von der linken Regalreihe zu ihr. Sie bog ab, und ein gurgelnder Schrei erschallte. Im Licht einer der Kerzen stand Marika einem Skelettfeind gegenüber. Die zwei Schwerter, die er führte, hefteten sie durch den Hals hindurch an die Kellerwand. Marikas Bogen polterte auf den Boden, und ihr Kopf neigte sich zu Jilis hinüber, ohne ihn so hoch heben zu können, dass sie sie hätte anblicken können. Der Feind riss die Schwerter zurück, und Schweife aus Blut folgten den Klingen, malten sich wie Striche vergossener Farbe auf die Reihen der Buchrücken. Marikas schlaffer Leib gab dem eigenen Gewicht nach und kippte zur Seite. „Jil…“, hauchte sie.
Im selben Moment wandte sich der Totenschädel ihr zu, die fleischlosen Zahnreihen in ein ewiges Grinsen gebannt.
Ein glühender Fluss rauschte ihr vom Nacken bis in Zehen und Fingerspitzen. Sie nahm Schwung und warf sich voran. Marikas Mörder machte einen Schritt zurück und verschwand fast im dämmrigen Licht. Jilis ließ die Klingen im Wechsel von oben und unten zu ihm zucken, riss Stücke aus den Rippen und Schulterblättern. Er hob eine Klinge zur Verteidigung, parierte einen Streich und stieß selbst mit der zweiten Waffe auf ihre Brust. Ein Sprung nach hinten brachte sie außer Reichweite, und ihr Gegner musste zurück ins Licht treten. Seine Breitschwerter kamen in einer Kaskade aus Angriffen auf sie zu. Ihr Geist fokussierte sich auf das Blitzen des Metalls. Links, rechts, Ausfall. Ihre eigenen Waffen warfen sich wie automatisch zur Parade dagegen. Diesmal zog der Skelettkrieger sich nicht zurück. Er presste die flache Seite seiner Schwerter gegen ihre und drückte sie zurück.
Ihr schwindelte, die übermannshohen Regale drehten und wanden sich um sie in die Höhe. Das Blut bedeckte ihren Hals wie ein Schal. Zuviel Blut. Der Krieger drückte sie soweit zurück, dass sie den Rücken nach hinten biegen musste. Noch immer unverändert das grässliche Grinsen des Todes.
Mit einem Mal rutschte ein Bein ihres Gegners nach hinten und der Druck ließ nach. Hatte Marikas Körper gezuckt?
Sie nutzte den Moment, in dem das Skelett nach Halt suchte und trieb ihm mit einem Ruck die Klingen auseinander, öffnete seine Deckung.
„Mich nicht auch noch!“
Sie hämmerte ihm das Knie gegen die Rippen, und als er zurücktaumelte, setzte sie mit einem Fußtritt nach. Er fand sein Gleichgewicht wieder und setzte zu einem neuerlichen Ansturm an. Vor ihren Augen verblich die Welt. Den Schädel sah sie noch, wie er zurück ins Kerzenlicht rückte. Vier Schritt. Sie schleuderte die erste Klinge los. Bis zur Hälfte drang die Klinge durch das Nasenbein in den Schädel. Der Tote lief weiter. Noch zwei Schritt. Sie holte aus und warf die zweite Klinge. In einem Wirbel aus Silber bohrte sie sich in die Schädeldecke und spaltete sie. Ein Schritt. Der Tote stürmte zu ihr, im letzten Satz knickten ihm die Beine ein wie gebrochene Streichhölzer. Die Magie, die seine Knochen zusammengehalten hatte, brach nieder und der Krieger mit ihr. Als ein Haufen weißer Scherben und Bruchstücke verteilte er sich auf dem Boden.
„Vega“, rief Jilis. Weiter verschwamm die Welt, als ginge ein dichter Regen vor ihr nieder. Sie presste sich die Hände an den Kopf und schloss die Augen. Nur noch ein paar Minuten. Mehr brauchte sie nicht. Bitte.
Vom anderen Ende des Bibliothekskellers erwiderte jemand ihren Ruf. Jemand, dessen Stimme sie unfehlbar kannte.
Sie schleppte sich über den Mittelgang, an dessen Ende der große Foliantenständer ruhte. Dünne Blitze zuckten vor der Wand über den Gang. Pfeile. Nur aus einer Richtung.
„Sinnlos, Schwester“, vernahm sie die Oberin Akara. Die Pfeile flogen weiter.
Auf der einen Seite stand Vega und legte Pfeil um Pfeil in die Sehne ein, hinter sich Akara. Was auf der anderen Seite stand, war kein Rätsel. Jilis fasste eines der oberen Regalbretter und drückte dagegen. Dafür noch mussten ihre Kräfte reichen. Dann konnte die Welt hinter einem grauen Schleier versinken, wenn sie mochte.
Mit einem Schrei warf sie sich gegen das Regal. Es neigte sich, stand schwerelos. Noch einmal schleuderte sie ihren Körper dagegen, und bei dem Aufprall tanzten schwarze Flecke vor ihren Augen.
Der Aufprall dröhnte durch das ganze Gemäuer, übertönte das Knirschen der Knochen. Staubwolken erhoben sich um das gestürzte Regal, und einzelne Pergamentseiten und geöffnete Schriftrollen segelten durch die Luft.
Jilis Welt kehrte sich um, die Schwerkraft zog sie zu Boden wie eine fallende Frucht. Weiche Arme hielten sie.
„Hab dich.“ Die Junge richtete sie wieder auf. Noch immer schwankten die Wände. Jilis stützte sich an der Schulter von Vega.
Neben ihnen huschte der violette Umhang der Oberin umher.
„Bitte kommt, Akara“, bat Vega, „jede Minute fallen mehr unserer Schwestern auf den Höfen.“
„Wir werden all diese Weisheit zurücklassen müssen...“
Jilis würgte, ein saurer Geschmack trat ihr in die Kehle. Sie schluckte herunter, was auch immer in ihr hochkommen wollte. Langsam schärfte sich ihr Blick wieder, und Vega sah sie hilflos an.
Jilis hob sich etwas höher.
„Besser, als wenn die Untoten dafür sorgen, dass die Schwesternschaft unsere zerschmetterten Körper hier zurücklassen muss.“
Eine Halle voller staubiger Bücher beinahe über das eigene Leben zu stellen – eine seltsame Denkweise.
Mit geöffnetem Mund wandte sich die Oberin zu der Verwundeten um.
„Sicher, Schwester... Wir sollten gehen.“
Am Treppenaufgang machte Jilis sich von Vega los und setzte einen Fuß auf den Schädel des Besiegten neben Marika. Sie zog die Schwerter wieder heraus. Ein leichter Taumel griff sie.
Vega kam sofort, um sie wieder zu stützen.
„Du hast viel Blut verloren.“
„Und du hast dich nicht an meinen Rat gehalten.“
„Kaschya meinte, es wäre wichtig. Akara...“
„Ja, ja, sicher. Es ist auch wichtig gewesen, dich nächtens zu wecken und dich ein Mahl für Iyadema und ihre Zauberin zubereiten zu lassen.“
Genau so gut wie Kerill und Iyadema hätte auch ihre Freundin jetzt in ihrem Blut liegen können.
Sie wichen dem Leichnam Kerills auf der Treppe aus und kehrten in den Innenhof zurück. Zwei der Weiden waren gestürzt und bedeckten das brennende Schlachtfeld nun mit ihren geschwärzten Stämmen. Vom Rasen blieb an vielen Stellen nur noch die blanke Erde, bedeckt mit Aschehaufen. Hustend und keuchend kämpften sie sich in Richtung des Kathedralenportals. Zwei Schwestern, die in ihrer Deckung hockten, schlossen sich ihnen an, und alle fünf Schritte mussten sie über zersplitterte Knochen oder den erschlafften Leib eines weiteren Mädchens steigen. Aus den Seitengängen zum Speisesaal sprangen die Toten sie erneut an. Jilis drosch einem den Schwertgriff in den Schädel und dem nächsten hieb sie erst das Becken von der Wirbelsäule, dann den Kopf vom Hals. Den Rest des Weges führte Vega sie. Sie pochten an das Kathedralenportal, während Jilis nach Skeletten im Hof Ausschau hielt.
Schließlich öffneten sich die Torflügel und sogen sie hinein in den Chorraum. Zwei Schwestern wuchteten das Portal wieder zu und sperrten die Rauchschwaden des Hofs aus. Auch der Balken, mit dem sie den Eingang versperrten, würde nicht ewig halten.
Jilis schleppte sich auf eine der Bänke in den vordersten Reihen, Vega setzte sich neben sie. Noch vier Dutzend Schwestern insgesamt bevölkerten die Kathedrale, und Akara stellte sich zu Kaschya am Altar.
„Das hier ist die dunkelste Stunde der Schwesternschaft“, begann der Hauptmann. „Wir werden unser Heim verlassen müssen.“
Akara faltete die Hände vor der Brust. „Über Jahrzehnte haben wir hier gelebt...“
„Ein Wolf, der seine Beute am ersten Tag ziehen lässt, kehrt am zweiten zurück, um sie zu schlagen“, rief Kaschya, und die jüngeren Schwestern applaudierten. In den Applaus mischte sich das Hämmern von Schlägen gegen das große Eichenportal, aber niemand wandte sich von Kaschya ab. „Schwestern sind wir jetzt, Jägerinnen gewesen. Aber Jägerinnen müssen wir wieder werden.“
„Sie ist gut, für ihren ersten Tag“, flüsterte Vega in Jilis Ohr.
Im Portal klafften Risse, die Schneiden von Schwertern brachen hindurch und hackten sich in das Holz, wo die Eisenbeschläge es nicht schützten. Die Klingen fanden den Balken, der den Eingang verbarrikadierte und stürzten sich auf ihn.
„Wir holen unsere Heimstatt zurück. An einem anderen Tag.“
Auf ihren Wink hin packten zwei Schwestern die meterhohen Kerzenständer neben dem Altar und trieben sie durch die Buntglasfenster, die fast ebenerdig abschlossen. Das Gesicht der Herrin des verborgenen Auges, zusammengesetzt aus Glas in allen Farben des Regenbogens, brach im selben Moment wie der Balken vor dem Kirchenportal.
Jilis sprang auf den Gang.
Der Widerschein des Infernos im Hof kroch über die Bänke, fast bis zum Altar, und zahllos stürmten die lebenden Toten in die Kapelle.
„Nein, Jilis! Du hast genug gekämpft.“
Vega zog sie mit sich zu den anderen, die durch die durchstoßenen Fenster in die Nacht hinauskletterten.
„Habe ich nicht. Die Hunde aus der Hölle nehmen sich unser Kloster, und ich renne nach draußen in die Wälder...“
Aber Vega hatte recht...
Sie folgte Vega und reihte sich in den Strom der Jägerinnen. Jägerinnen, das klang besser als Schwestern.
Akara folgte ihnen als eine der letzten. Eine Oberin würde schwerlich unter Jägerinnen einen Platz haben.
Die Skelettkrieger schwärmten aus, besetzten die Seitenschiffe und ließen kaum einen Schritt Platz. Keiner folgte ihnen, sie schnitten ihnen nur den Rückweg ab.
Jilis schleuderte die Breitschwerter von sich und kletterte aus dem Fenster. Die Feuer des Innenhofs zeigten ihr die Konturen einer Gestalt, die durch das niedergerissene Tor trat. Nicht so schmal und ohne Fleisch wie die Untoten. Das Feuer blendete sie, und sie sprang in die dichten Büsche unterhalb des Fensters.
Mit Vega zusammen, mit all den Jägerinnen, rannte sie in das Hügelland der Nordmark. Kaschyas Kettenhemd blitzte an der Front des Zuges, dahinter verteilten sich einzelne Mädchen und kleine Grüppchen über die gesamte Fläche zwischen den Fronten der Wälder um sie herum. Sie stolperten über sumpfiges Gras, und nur das eigene Keuchen begleitete sie. Auf einem seichten Hügel hielten die ersten an, denen der Atem ausging, und Kaschya hob die Hand. Der ganze Trupp stoppte, und Jilis schleppte sich noch auf die Hügelkuppe. Um sie schnaufende und schwitzende Kriegerinnen, denen Blut und Ruß an den Rüstungen klebte. Rüstungen, die so lange nicht benutzt worden waren.
Feuerarme griffen hoch in den Himmel hinein, in ihrem Zentrum die Klostermauern. Alles brannte. Alles, was ihre Welt gewesen war. Fast.
Sie legte Vega einen Arm um die Schulter, und die lächelte ihr aus einem dreckverkrusteten Gesicht zu.
„Falke will, dass wir das wieder geradebiegen“, sagte Jilis. Ewig Wacht halten würde sie, wie Tyreé gesagt hatte. Ausgerechnet Falke, die über die Wachstunden immer gegrollt hatte. Und letztlich, geholfen hatten sie nicht.
„Ja.“
 
Zuletzt bearbeitet:
II Die letzte Order

Die Flamme auf dem Altar verbreitete den Duft, der den Tod brachte. Der Rauch schloss den gesamten Tempelraum ein, trennte ihn ab von dem Dorf, dem Dschungel und den Mooren. Maro hielt die Hände gefaltet, die Beine auf dem Meditationskissen gekreuzt. Die Gesichter der anderen Akolythen verschwammen hinter der Wand aus Rauch. Die Dämpfe brannten in seiner Nase, sogar auf seiner Haut, doch er rührte keinen Muskel. Manche Jungen wiegte das Gift der schwarzen Yata-Pflanze in ewigen Schlaf. Ihn nicht. Er würde leben.
Die Schädelfratzen an den Wänden starrten auf ihn hinab. Durch die vor Hitze zitternde Luft verzerrten sich ihre Mienen, als würden sie lächeln.
Schweißtropfen rannen durch seine Augenbrauen hindurch und in die Augen. Er schloss sie nicht. Der Schweiß brannte kaum mehr darin als die Dämpfe der verbrennenden Pflanzen.
Das Gleichgewicht halten. Zu sehr den Geist vom Körper lösen, und beide würden nie mehr zueinander finden, getrennt durch die Wand des tödlichen Dufts. Zu sehr den Geist von den Schmerzen ablenken lassen, und er würde den Moment nicht wahrnehmen können, auf den er zusammen mit den dreizehn Jungen wartete.
Ein Luftzug strich über ihn und schickte einen Schauer wie ein eiskaltes Rinnsal seinen Rücken hinab. Die Flamme in der Altarschale wand sich und zitterte, schließlich drückte der Wind sie zur Seite und erstickte sie. Maro hielt den Atem an. Endlich.
Nur noch das Licht der Dämmerung erhellte den Raum. Die Stunde zwischen Nacht und Tag – wann sonst hätte es geschehen können?
Schritte tappten die Treppe hinunter zu ihm. Da war plötzlich ein anderer Duft neben dem bitteren der Pflanzen. Ein süßer, der sich ihm in die Glieder senkte und die Anspannung löste.
Nicht einmal mehr den eigenen Atem hörte er. Nur die Schritte.
Barfuß ging die Göttin an ihm vorüber. Ihr wehte ein Schleier nach, schwarz wie der Nachthimmel, und ihre Haare tanzten in der Luft, als gäbe es keine Schwerkraft.
Sie beugte sich zu dem Jungen neben ihm hinab und nahm sein Gesicht in ihre Hände. Die Arme sackten ihm herab, und der Kopf fiel auf die Brust. Er hatte es nicht geschafft.
Die Göttin ging zum nächsten, und der Rauch verschluckte sie.
Er würde der letzte sein, den sie prüfte. Sechs würden nicht bestehen, Sieben die Weihe erhalten. Wenn sie sechsen vor ihm die Augen für immer schloss, dann durfte er leben.
Aber der Rauch verbarg, was mit den Jungen geschah. Tod oder Leben. Er ließ sich hineinfallen in den süßen Duft, den die Göttin gebracht hatte.
Die Schleier tanzten ihr voran, und sie trat vor ihn. Ihre Haut war wie geschnitzt aus Elfenbein, und in ihren Augen funkelte ein Meer. An den Fingern, mit dem sie ihm über die Wangen strich, funkelten die Nägel wie Kristalle. Sie lächelte. Sein Herz wollte schneller schlagen, doch das Gift der Yata betäubte es. Er verstand. Tod oder Leben, Leben oder Tod. Kein Unterschied. Was sie ihm bringen würde, würde er hinnehmen. Das Lächeln und die silbernen Lippen konnte er nicht behalten. Egal, was geschah.
Sie löste ihre Berührung, und er fühlte etwas aus sich herausgerissen. Tränen sickerten ihm in die Mundwinkel. Ihr Gesicht tauchte in den Rauch zurück, noch immer das Lächeln darauf. Nein, dachte er. Keine Bewegung wollte in seine Arme, Hände, Finger. Er saß auf dem Meditationskissen und starrte in die graue Dunkelheit des Raumes, und eine schwarze Schwere griff nach seinem Geist und zog ihn hinab.

„Hoch mit dir“, sagte eine Stimme in der Ferne. Dann rüttelten Hände an seinen Schultern. Er öffnete die Augen, und die Sonne blendete ihn. Sie schien durch den Tempeleingang herein und spiegelte sich auf dem blanken Obsidianboden.
Am Altar lehnte Maester Varn und vertrieb mit den Händen die letzten Schwaden des Rauchs.
„Anderen Jungen bleibt wegen der Prüfung beinahe das Herz stehen, und du schläfst danach einfach ein.“
Ein Lachen schüttelte die Brust des Mannes, und seine weiße Mähne schüttelte sich mit.
Maro rieb sich den Kopf – ein leichtes Dröhnen war noch geblieben. Eine Sekunde lang zuckte ein Bild vor seinem Auge umher. Die Lippen aus Silber und die Haut aus Elfenbein.
„Wohin ist sie, Maester?“, fragte er.
„Die Göttin?“
Er nickte, und in seinem Schädel rumorte es.
„Sie ist nie hier gewesen. Müsstet ihr euch sonst den Dämpfen der schwarzen Yata aussetzen, um sie erblicken zu können?“
Natürlich nicht. Nur im Traum des Rauschs konnten die Nekromanten von Evra ihrer Göttin begegnen, die ihnen ihre Kraft gab.
Varn half ihm, sich aufzurichten.
„Du bist als Letzter ausgewählt worden, Maro. Es hat sich an Coren entschieden, der neben dir saß. Die Göttin hat lange vor ihm gestanden, und entweder hätte er zusammensinken müssen oder du.“
„Coren?“, fragte Maro. Der Fischerssohn mit dem flachsblonden Haar, der ihn nach der Prüfung mit auf eine Fahrt den Fluss hinunter hatte nehmen wollen, ins Herz des Dschungels.
Aber auch Coren hatte die Göttin gesehen und gespürt. Schauer krochen über Maros Arme, und Varn musste ihn festhalten, damit er nicht einknickte. Das Antlitz blitzte wieder vor ihm auf, und das Herz pochte ihm in der Brust. Sie war keines von den Mädchen mit der erdfarbenen Haut, die hier im Dorf wohnten und Körbe flochten oder Spinnenseide sponnen.
„Er hat gewusst, worauf er sich einließ, wie ihr alle. Gerade du solltest nicht an die Opfer der letzten Nacht denken. Es ist Morgen, und das Fest hat längst begonnen. Dein Fest.“
Maro fühlte einen Klaps auf den Rücken, Varns Hände ließen ihn los. Bis zu den Treppenstufen kam er, dann musste er sich wieder abstützen. Die Reihentänze und die meterlange Tafel dachte, die sich jedes Jahr aufs Neue auf dem Marktplatz ausbreitete... Es murmelte ungut in seinem Magen.
„Evra“, sagte er, „wann sehen wir sie wieder?“
Varn lachte und erklomm die Treppe neben ihm.
„Nicht alle können sich damit anfreunden, ein Leben lang einer Wesenheit zu dienen, die sie nur ein Mal, am Tag ihrer Initiation, sehen.“ In den Blick des alten Nekromanten trat etwas, das so hart war wie seine Züge. „Aber nun hat sie euch ihre Kraft verliehen.“
Die Kraft, Leben zu verleihen, wo es keines gab... Die Golems, die sie bisher nur aus der Kontrolle der Maester übernommen und dann selbst gelenkt hatten, würden sie jetzt selbst mit dem Funken des Lebendigen füllen können. Und mehr.
Doch das zählte nicht. Nichts davon.
„Was wäre, wenn wir sie rufen?“
Wieder ließ ein Lachen die Brust des Maesters erbeben.
„Sie rufen? Wie du einen gezähmten Paradiesvogel zu dir rufst? Stell dir vor, was geschehen würde, wenn wir sie und ihre Geschwister einfach auf die Erde holen könnten. Irgendjemand käme sicher auf die Idee, den Herrn der Zerstörung, den des Schreckens, oder die Herrin der Schmerzen in seine Hütte zu rufen.“
„Ich könnte bei der Initiation im nächsten Jahr wieder teilnehmen“, sagte Maro leise. Auch, wenn er dabei sterben würde. Ein Mal hätte er sie dann noch gesehen.
„Du sprichst wirr. Das ist nur die Nachwirkung des Giftes. Gib dir eine halbe Stunde, und dein Körper ist damit fertig geworden.“
In Maros Bauch brodelte die Wut.
„Das ist er längst, Maester.“
„Dafür torkelst du noch wie ein Betrunkener und redest ziemlichen Unsinn.“
Maro drehte sich zu Varn um und funkelte ihn an, doch der schob ihn nur die letzten Treppenstufen hinauf.
Wie hätte er erwarten können, dass der uralte Mann verstand. Längst musste er das Antlitz der Göttin vergessen haben. Ihm würde das nicht passieren, nie in seinem ganzen Leben.
„Die Nacht der Geister und des Todes ist vorüber“, sagte Varn, „vielleicht findet das endlich Einlass in deinen Schädel, wenn du das geschmückte Dorf gesehen hast.“
Viele Male hatte er das Dorf gesehen, wie es zu der Initiation der Nekromantengenerationen vor ihm in Licht und Farben gehüllt worden war. Doch diesmal strahlten die Straßen, als hätte sich aller Glanz und alles Licht für ein letztes Fest versammelt. Für ihn würde es das auch sein.
Während er mit Varn über die Stege ging, streuten Mädchen aus Körben rote Blütenblätter auf den Weg. Ein einziger Teppich aus rubinroter Farbe streckte sich über die Sümpfe hin, führte vom Tempel der Evra bis hin zum Marktplatz.
Der Blumenduft kam nicht an gegen den süßlichen Geruch des Moors. Aber kein Duft würde je ankommen gegen den, den die Göttin in den Tempel gebracht hatte. Eine Gänsehaut kroch ihm über die Arme.
Varn grinste ihm aus seinem rauen Gesicht zu, dann bog er an einer Abzweigung ab und brach aus dem Blütenblätterteppich aus. „Das Leben kehrt schon noch in dich zurück, wenn du erst eine Weile bei deinen Schurken gesessen hast.“
Maro sah ihm nicht nach. Er spürte die Blicke der Blumenmädchen auf sich und drehte sich zu ihnen um. Sie lächelten ihn an, aber er schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern. Krauses Haar trugen sie, und die Sonne hatte schon die Haut ihrer Gesichter verbrannt. Mit der Göttin würde das nie geschehen.
Schon von weitem schallte die Musik zu ihm herüber. Vom Marktplatz her leuchteten ihm Girlanden entgegen, die zwischen den leeren Ständen gespannt worden waren. Lampions aus gefärbtem Papyrus warfen ihr Licht auf den Platz wie bunte Sterne. Wo das Sonnenlicht durch die Bäume brach, leuchtete selbst der Sumpf wie Bronze. Am Ende der Blütenspur standen Alan und Zered und winkten ihm zu. Die beiden hatten es also auch geschafft.
„Ich dachte schon, die Göttin hätte ihre Gewohnheit geändert und diesmal Sieben mitgenommen!“, rief Alan ihm zu.
Vielleicht wäre es nicht das Schlechteste gewesen.
Zered, der feiste Junge mit dem Bartflaum, begrüßte Maro mit Handschlag und nahm ihn mit zu der Tafel in der Mitte des Platzes. Blaue Blütenkelche umkränzten die Suppentöpfe, Teller mit Mangotorte und Bretter voller gerösteter Affenschenkel.
„Aber sechs hat sie...“, begann Maro.
Zered reichte ihm einen Teller und häufte ihm Bananenmuß und Sahnefruchtbeutel darauf. „...und sieben nicht! Da sind kandierte Früchte drin, musst du probiert haben!“ Für sich selbst nahm Zered die doppelte Portion, obwohl sich noch die Ränder von Tortenstücken auf seinem Teller sammelten.
Wieder grummelte es in Maros Magen.
Seine Portion konnte Zered auch noch gleich haben...
Alan stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Die Zwillinge sind auch durchgekommen.“
Einige Plätze neben ihm erkannte er die Beiden mit den schulterlangen Haarschöpfen, die sie kämmen konnten, wie sie wollten, und doch immer wie das Spiegelbild des anderen aussahen. Alan öffnete den Mund wieder, doch Maro schnitt ihm das Wort ab.
„Wie war das, als du sie gesehen hast? Die Göttin.“
Sollte die Prüfung bestanden haben, wer wollte. Alles nach dem Moment, in dem die Göttin entschieden hatte, konnte ihm gestohlen bleiben.
Alan wurde ernst. Er beugte sich zu Maro und sprach erst, als er sich versichert hatte, dass Zered sich mit seinem Bananenmuß beschäftigte.
„Was meinst du, wieso ich selbst fast so spät bei dem Fest war wie du? Eine neue Hose habe ich von zu Hause holen müssen. Ich erzähl es dir. Ich weiß, dass du nicht herumschwatzt...“ Er verzog das Gesicht, als ob ihm ein Schmerz hineinführe. „Weil ich mir in die Hosen gepisst habe.“
„In die...“ Maro runzelte die Stirn.
„Das war zwischen Leben und Tod, Mann. Sie hat Wigald neben mir geholt. Er ist zusammengesunken, als hätte ihm jemand die Luft rausgelassen. Einen ziemlich langen Moment habe ich gedacht, mir lässt sie auch die Luft raus.“
Kopfschüttelnd drehte sich Maro weg. Wie überflüssig, Angst vor diesem Tod zu haben.
„Das meine ich nicht. Du hast sie doch gesehen...“
„Oh ja. Ein Schreckgespenst in Frauengestalt.“
Ein heißer Fluss brauste durch Maros Brust, und als er sich fasste, sah er seine Faust in Alans Kragen gekrallt. Der Junge starrte ihn aus weit geöffneten Augen an.
„Alles klar da drüben?“, fragte Zered, Affenschenkel in beiden Händen.
Alan hob abwehrend die Arme. „War ein bisschen viel, oder?“
Schwer atmend lockerte Maro den Griff.
Nicht den winzigsten Schimmer hatte Alan.
„Ja, etwas viel“, sagte er leise.
Zered rutschte auf der Bank ein Stück nach vorn und legte die Arme auf der Bank ab. „Tob dich lieber woanders aus. Wir sind heute die Könige!“ Sein Blick ging in Richtung der Mädchen, die Blumen in den Haare geflochten trugen und zur Tafel herüberschielten. „Die spekulieren doch auf uns!“
Wie ein König fühlte er sich nicht. Könige mussten nicht mit diesem Zerren und Ziehen im Herzen kämpfen wie er es tat. Wahrscheinlich jedenfalls.
„Na los“, sagte Alan und erhob sich.
Maro schob einen Mundwinkel hoch. „Wusste ich doch, dass du da der erste bist, der aufspringt.“ Aber seine Gedanken hingen anderswo.
Während Alan sich einen Weg zu den Mädchen kämpfte, durch Tanzpaare und Köchinnen mit neuen Fleischplatten, deutete Zered auf Maros gefüllten Teller.
„Du solltest zumindest die Beutel versuchen.“
„Ich bin schon satt.“
Satt gesehen hatte er sich vielleicht, wenn das ging. Wenn überhaupt. Eigentlich... Nein, er würde sein Leben geben, um sie noch einmal zu sehen.
Wann immer er die Musik, die Farben und die süßen Gerüche des Fests ausblendete und in sich horchte, fasste er nur in Leere hinein.
„Schon satt, ja? Geschickt stellst du das an, wo du doch noch keinen Bissen genommen hast“, sagte Zered. Maro nickte nur.
Alan kam mit zwei Mädchen wieder, und Maro ließ sich zu einem Tanz überreden. Er erkannte das Mädchen, das die Blüten auf den Stegen verstreut hatte und nun selbst einige in die Haare geflochten trug. Sie lächelte schüchtern und zog ihn auf den Tanzplatz um das große Feuer. Aber er tanzte weniger, als dass er sich umherziehen ließ, und das Lied der Mandolinenspieler klang in seinen Ohren schief und falsch. Alan tanzte an ihm vorüber und führte eine Schönheit mit hochgesteckten, feuerroten Haaren. Vielleicht hätte er so etwas wie Neid empfinden sollen. Aber wenn er Alans Tanzpartnerin und dann seine ansah, erinnerten ihn beide gleichermaßen mit ihrer Hautfarbe an den Sumpf.
Die Kleine mit den krausen Haaren sah ihn traurig an. „Du musst dich nicht... von mir umherschleifen lassen“, flüsterte sie und schlug die Augen nieder.
Über ihren Schultern erhob sich in der Ferne der Tempelturm. Schwarz wie mit Pech bestrichen stand er neben der Sonne. Die Treppenstufen, die von unten bis zum Gipfelpunkt führten, ließen ihn an eines der Ziggurats aus den Ruinenstädten erinnern. Und an noch etwas anderes erinnerte er. Beim Blick auf das Mädchen mit der sonnengebräunten Haut und den von der Arbeit schwieligen Fingern musste er das Gesicht vor Ekel verziehen.
Wie hatte er all die Jahre die Mädchen ansehen können und nicht bemerken können, dass sie sich so unterschieden von dem, was das Schöne war – was die Göttin in sich hatte?
Alan hatte es noch nicht bemerkt. Er drehte sich noch immer auf der Tanzfläche mit der Rothaarigen zu einem neuen Festlied, das die Musikanten angestimmt hatten.
„Gut, das zu wissen“, sagte Maro und löste die Finger, die seine Hände umschlangen.
Augenblicklich bahnte er sich seinen Weg durch die Menge, den Tempel vor Augen. Wenn das Mädchen ihm noch etwas nachrief, ging es unter im Gewirr der Stimmen und dem Klang der Fideln um ihn. Er tauchte unter den Girlanden hindurch und schlüpfte durch einen Lücke zwischen zwei Ständen, um wieder auf die blütenbedeckten Stege zu kommen. Längst hatten viele eilige Füße die rote Decke fast gänzlich in den Sumpf gefegt, aber das Dröhnen des Festes begleitete ihn auf seinem Weg.
Er musste zurück. Auch, wenn er vielleicht nichts finden mochte. Schließlich wusste er nicht einmal genau, was er suchte.
Noch eine Biegung trennte ihn vom Eingang des Tempels, da trat aus dem Dämmerlicht eine Gestalt.
„Schon genug?“, fragte die Stimme Varns, und durch die Lederrüstung zeichneten sich die sehnigen Glieder des Maesters ab.
„Hatte ich schon, bevor ich auf dem Fest aufgetaucht bin.“
„Dann führt dein Weg dich jetzt...“
Maro fühlte sich ertappt. Als könnte all der Zauber zerstört werden, wenn er sein Ziel verriet. Aber vor ihm stand ein Maester, an dem jede Lüge ein Verrat war.
„Der Tempel“, sagte Maro. „Dorthin will ich.“
„Das trifft sich, denn in den Tempel wollte auch ich mit dir.“
Er fixierte den Alten eine Sekunde lang, dann setzte er sich in Bewegung. Die Schritte des Maesters ließen hinter ihm das Holz knarren.
Darauf hätte er verzichten können. Noch eine Lektion?
Der Tempel lag stumm und finster da, wie zuvor. Ein leichtes Kribbeln lief ihm Maro über die Hände.
Irgendetwas musste geschehen, wenn er zurückkehrte. Irgendetwas.
Er trat in den Innenraum.
Von den Wänden starrten die Schädelfratzen zu ihm, und in der Luft hing noch ein Hauch des Yata-Dufts. Nicht mehr genug, um die Halluzinationen auszulösen oder dem Körper mit Lähmungen gefährlich zu werden. Er fluchte innerlich. Die Meditationskissen lagen an ihren Plätzen, und in der Bronzeschale auf dem Altar häufte sich die dunkle Asche. Die Präsenz des Maesters lag ihm wie eine Gewitterfront im Nacken.
Wäre er allein gewesen... Er hätte alle Kissen umgedreht, die Schale ausgeschüttet und den Altar umgeworfen. Irgendwo. Irgendetwas! Aber so war es nur der Raum, in dem sie jahrelang die Formeln geübt, auf Tierhaut gezeichnet und nachgesprochen hatten.
„Die Treppe gegenüber“, sagte Varn.
„Der Duellplatz?“
Maro sah sich noch einmal zu allen Seiten um, dann erklomm er die Stufen und trat wieder ins Freie. Die Plattform, die sich über den Sumpf hob, mochte an die zwanzig Schritt messen, nach außen begrenzt durch Reihen von steinernen Speeren. „Wollt Ihr mich fordern, Maester?“
Varn kam die Treppe hinauf und stellte sich ihm gegenüber. „Nicht ganz. Aber es kann sein, dass du auf dumme Gedanken kommst. Du wärst nicht der erste junge Nekromant.“
„Sobald ich auf dumme Gedanken komme, gebe ich Bescheid.“
Varn reagierte nicht auf ihn, sondern löste von seinem Gürtel eine schmale Lederscheide. Mit einem Schwung warf er sie Maro zu. Das geschwärzte Leder lag kalt in seiner Hand. Der Griff der Waffe darin trug Verzierungen aus Obsidianstein, die sich um das Metall wanden wie eine Schlange.
Der Dolch der Initiierten. Er hatte es gewusst. Eine gezackte Klinge kam zum Vorschein, und das bleiche Material ließ keinen Zweifel. Knochen.
Er hielt sich den Dolch vor das Gesicht.
„Das soll mich von dummen Gedanken abhalten?“
„Auch ich habe damals nur Spott gehabt für die Wege der Alten. Aber es gab etwas, das mir die Augen geöffnet hat.“
Maester Varn öffnete eine behandschuhte Faust und streckte sie in Richtung des Dschungels. Hinter der Plattform lagen nur die tausend Inseln des Moors.
Plötzlich ging ein warmer Wind über die Tempelstätte. Aber er wehte in die Richtung, in die der Maester mit dem Arm wies. Als käme der Wind aus dem Innern des Tempels.
Aus den Tiefen des Dschungels drangen die Laute und Gerüche zu ihm. Das Surren von Stechmücken umgab ihn, so laut, als umschwirrten Schwärme von Insekten ihn. Der Geruch des Moors nach Verfall und der Süße von Kadavern hüllte ihn ein, und zwischen den Palmenstämmen der Dschungelwand keckerten und gurrten und grunzten die Affen, die Warane, und was sich noch im Unterholz verstecken mochte. Der Dschungel verschluckte die letzten Mandolinenklänge und Freudenrufe vom Fest, das die Menschen feierten.
Varns Augen stierten in seine, und an den Schläfen pulsten die Adern. Maros Schweiß nässte ihm die Weste. Eine unsichtbare Macht füllte das ganze Tempelareal und drückte von allen Seiten gegen ihn. Die Wege der Alten, die nicht nur Schlamm und Knochen beleben konnten?
„Du hast die Macht des Lebens und des Todes in dir, und dein Dolch gestattet dir, sie zu nutzen. Aber nur dafür.“
Dafür?
Maro wollte sich Ohren und Nase verschließen vor den Dämpfen, die ihn kaum atmen ließen, und den Rufen und Schreien, die in seinen Ohren hämmerten. Aber Varn sah zu, und wenn es eines gab, das der alte Maester nicht duldete, dann war es Schwäche.
Da schlug der warme Wind um, wechselte die Richtung, und ein kalter Zug kam hinzu, der Maro frösteln ließ. Etwas, das sich nicht greifen ließ, fuhr wie ein Messer in den Brodem aus Sumpfgestank und schrillen Tierstimmen. Die Luft verlor jeglichen Geruch. Maro rang nach Atem. Er atmete, aber nichts füllte seine Lungen. Die Affen und Warane in der Ferne verstummten, als hätte sich eine Decke über sie gebreitet. Seine Luftröhre verkrampfte sich, und er ging auf die Knie. Nicht ein Laut mehr verriet den Dschungel um ihn. Das Dickicht der Palmen stand noch immer da, und noch immer segelten die grünen Farbtupfer der Papageien umher. Doch dann fielen ihm die Augen zu, und nicht ein einziges Geräusch verriet ihm, dass es noch eine Welt hinter der Schwärze vor seinen Lidern gab.
Ohne Ankündigung endete der Spuk.
Luft drang in seine Lungen, der Knochendolch klirrte auf den Obsidianstein.
Varn kam langsam auf ihn zu. In der Ferne des Dschungels hinter ihm rauschten die Laute der Tiere ineinander. So weit entfernt, dass Maro sie nicht mehr auseinanderhalten konnte.
„Verstehst du es?“, fragte Varn. In Maros Brust regte sich nur eine kleine Flamme. Aber sie loderte hoch.
Der Maester fing den Fausthieb auf sein Gesicht mit dem Unterarm ab.
„Verstehen? Ihr habt es Euch doch anders überlegt und wolltet mich umbringen, das habe ich verstanden.“
Maro drückte den Arm in einer zwecklosen Anstrengung gegen den des Älteren.
„Schade. Hättest du die Augen geöffnet, hättest du es bemerkt.“
Maro ließ die Anstrengung sein und atmete wieder gleichmäßig, aber immer noch krallte er seine Blicke in die Varns.
„Dass Ihr Macht über die Tiere und die Winde habt?“
„Die habe ich nicht. Nur über Leben und Tod, wie du. Über das Gleichgewicht. Ein Übermaß an Leben ist laut und leidig, es betäubt dir die Sinne. Ein Übermaß an Tod macht die Erde öde und freudlos. Kein Ort, an dem du noch leben willst oder kannst.“
„Ohne Euer Zutun hätte es kein Übermaß gegeben“, murmelte Maro. Er steckte den Dolch wieder zurück in die Scheide, da packte Varn sein Handgelenk.
„Ja, richtig. Dazu können wir unsere Kräfte nutzen. Doch wir sind Hüter des Gleichgewichts. Evras Diener. Unsere Kräfte sollen nur dazu dienen, die Welt aufrecht auf dem schmalen Grat zu halten, der sie zwischen Leben und Tod hält.“
„Also muss ich nur das vermeiden, was Ihr eben getan habt.“
Varn ließ ihn los und lachte schallend. Wieder stieg die Wut in Maro auf.
Konnte der Maester ihn nicht hassen und verachten für seine Worte?
Er steckte sich die Scheide in den Gürtel und stand auf.
„Ein guter Anfang. Deshalb habe ich es dir gezeigt. Du wirst es nicht mehr vergessen.“
„Ich werde mir alle Mühe geben“, presste Maro zwischen den Zähnen hervor. Er stolperte gegen einen der Pfeiler, die den Tempeleingang stützten.
Nur weg. Kein Gleichgewicht konnte ihm sagen, was er mit seiner Kraft anstellen durfte.
Varn regte sich keinen Zentimeter.
„Du wirst noch lernen, was es mit diesen Geheimnissen auf sich hat. Wie alle anderen erwartet auch dich die erste Order heute Abend.“
Sollten sie ihre Order geben. Wertvollen Papyrus verschwenden.
Maro rannte die Treppen hinab und durch den Tempel. Varns Blicke brannten ihm auf dem Hinterkopf. Wie ein Raubvogel mit schwarzem Gefieder verfolgte der Maester ihn.
Er machte einen Umweg über die äußeren Stege, um das Fest möglichst weit zu umgehen, und an den Kreuzungen drehte er sich um, hielt Ausschau nach der schwarzen Lederrüstung. Dann eilte er weiter.
Vor den Barrackenquartieren saßen nur einige Jüngere, die ein Spiel mit Kieseln spielten. Als er vorüberkam, rückten sie unwillkürlich beiseite. Das fehlte ihm noch, dass die Leute in Ehrfurcht versteinerten, wenn er vorüberlief. Nur jetzt gerade kam es ihm recht. Jeder musste den mit Kalk getünchten Schädel sehen, den er an der Schulter trug. Zeichen, dass er die erste Schwelle zur Meisterschaft des Todes und des Lebens überschritten hatte.
Auf den Gängen drückten sich die Jungen an die Wände, um ihn durchzulassen.
In seiner Stube warf er die Tür zu und sich selbst auf die Matratze unter dem Fenster. Zwei von den Betten würden neu besetzt werden. Mit Jungen, die die Göttin noch nicht zu sich genommen hatte.
Seine Eingeweide wanden sich wie bei hohem Seegang. Verflucht.
Das Antlitz kehrte zurück. Er ließ sich gegen das Mauerwerk fallen und presste die Handballen gegen die geschlossenen Augen. Es gab einen Weg, nur wussten weder der Maester davon, noch die anderen Akolythen. Noch die Alten mit ihren Wegen, die er nicht verstand. Ganz gewiss gab es einen Weg.
Als er die Hände herunternahm, klebten Tränen daran.
Er ließ sich auf die Seite sinken und warf sich die Decke über. Bis zum Abend würde sich die Stimmung auf dem Fest nicht senken, und selbst dann würde es nur Zered sein, der in seine Stube kam.
Seine Gedanken liefen wild durcheinander wie im Fieber. Ihr Gesicht erschien vor seinem, und plötzlich waren es ihre Hände, die über seine Wangen strichen, nicht mehr seine.
Er tauchte in eine tiefe Dunkelheit, und für einige Stunden fand er Ruhe.
Dann legten sich Arme auf seine Schultern, Arme aus Elfenbein, und er schreckte hoch. Aus der Dunkelheit wurde die Stube in den Barracken der Lehrlinge, und aus den Armen aus Elfenbein wurden die von Zered.
„Du warst auf einmal weg, Maro.“
Er schob Zered beiseite und setzte sich auf. In seinem Kopf wirbelten die Bilder durcheinander, und Schweiß klebte ihm die Haut an die Weste.
„Mir ist nicht gut.“
„Dann ruh dich noch kurz aus – aber draußen warten die... Leute mit den Ordern.“
Maro schmunzelte bei der Pause, die Zered machte, bevor er das Wort Leute fand. Wenn Leute das waren, was auf dem Marktplatz hüpfte und trank und aß, dann waren die Überbringer der Ordern fraglos etwas anderes.
„Geh schon vor. Draußen ist sowieso jeder auf sich allein gestellt“, sagte Maro.
Zered sah sich einmal in Richtung Tür um, dann nickte er und legte sich die Faust auf die Brust. „Evra mit dir.“
„Und dir“, antwortete Maro.
Als das breite Kreuz seines Zimmermitbewohners in der Tür verschwunden war, streckte er sich wieder auf der Matratze aus.
Die Ordern würden die jungen Nekromanten für die Nacht im Dschungel verstreuen. Aber was auch immer die Order besagen würde, die für ihn ausgesprochen worden war... Er hatte seine eigene, und die war von keinem Gleichgewicht der Welt oder dessen Vertretern formuliert worden. Durch das Fenster beobachtete er, wie die ersten Schatten im Zwielicht in den Dschungel huschten, manche angeleuchtet von den Fackeln in ihren Händen. Hatte nicht einer von ihnen verstanden, was die Göttin war? Nicht einer in den ganzen Generationen, die nach dem schwarzen Traum in die Freiheit getreten waren?
Er packte die Dolchscheide und verließ den Raum. Um so besser, wenn er der Einzige war und sein würde.
Vor den Baracken stand noch ein Junge mit einer Fackel. In ihrem Licht stand Zered, der eine Papyrusrolle studierte.
Er drückte sich in den Eingang des Hauses und lauschte. Nach einer Ewigkeit entfernten sich Schritte von ihm.
Er linste um die Ecke – Zereds Fackel wanderte in Richtung der östlichen Dschungel mit den tausend Inseln.
Blieb noch eine einzige Gestalt, die gebückt vor Eingangsstufen wartete, die Hände wie zum Gebet erhoben.
Nicht, dass Maro nicht genügend Tote erblickt hatte. Aber dieser hier war der Überbringer seiner Order. Kein Unbekannter, wie all die anderen, die er mit seiner Macht in den zahllosen Übungen umhergelenkt hatte. Er schluckte und ging näher. Der Tote verhielt in seiner Haltung wie eine Statue. Eine Statue, der der Schädel fehlte. Der hing auf Maros Schulter.
„Ist das die letzte Order, die du mir bringst, Vater?“, fragte er in die Nacht.
Er legte die Hand auf die Bronzestäbe, die die Schriftrolle hielten, und der Untote lockerte den Griff.
Einen winzigen Teil in ihm drängte es, zumindest den Befehl anzusehen, den zu missachten er im Begriff war. Aber schon ließ er das wertvolle Papyrus fallen. Es platschte in den Sumpf, dunkle Blasen stiegen auf und verschluckten es. Mit einem Glucksen verschwand es unter der Oberfläche.
Der Untote wankte davon, zog die vermodernden Reste eines Mantels hinter sich her, zusammen mit dem Geruch des Todes. Der Weg, den jeder Vater unter den Nekromanten einst gehen würde. Der Weg, auf dem er dem Sohn die letzte Order brachte.
Maro lief im Schatten des wandelnden Leichnams. So mochten ihn Leute für einen weiteren der Toten halten, oder erst gar nicht erspähen. Auch, wenn er die Order seines Vaters fortgeworfen hatte, so gingen sie zumindest diesen letzten Weg zusammen.
Auf dem Festplatz hingen die Girlanden schief und jemand ging umher und löschte das Licht in den Lampions. Zumindest von dort würde ihn niemand sehen.
Er folgte dem Weg des Leichnams durch die laue Nacht. Erst am Tempel würde er sich trennen, wenn der Untote den Weg zurück zu seinem Meister nahm.
Aus den Fensterhöhlungen des Hauses der Evra drang, kaum sichtbar, ein goldener Lichtschein. Nicht mehr als die Flamme eines Herdfeuers, aber das genügte. Würden sie ihm seinen Besuch wieder verderben?
Der Untote wankte weiter, fegte mit dem verfaulten Leder seiner Schuhe achtlos den Blumenteppich des Steges in den Sumpf. Er hob seinen toten Körper auf die Tempelstufen und schlurfte auf das Licht zu.
Maro duckte sich hinter ein Büschel Schilf, das neben dem Steg aufragte. Wenn sein Vater diesen Weg einschlug... konnte es nur Varn sein, der im Tempel saß. Er schloss die Augen und lauschte. Stimmen. Ein Gemurmel aus vielen Stimmen. Aber auf die Distanz schmolzen die Geräusche zusammen. Er musste näher heran. Die Haupttreppe aber würde ihn direkt den Blicken derjenigen ausliefern, die im Tempel saßen. Blieb nur die Reihe aus Fensterlöchern an der Seite. Doch um an die heranzukommen, würde er über Sumpf wandeln müssen. Durch die Luft gehen, wie es den Hexern aus den westlichen Wüsten nachgesagt wurde...
Dann durchzuckte ihn ein Gedanke. Er tastete nach dem Dolch und fand das kalte Metall mit den Fingern an seiner Taille. Gut. Noch einmal sah er sich um. Er war der einzige Schatten auf den Stegen, und die Leute auf dem Festplatz würden beschäftigt genug sein.
Endlich nutzten ihm die alten Lehren, die Jahre in der Bibliothek über den vergilbten Schriften der Totenbeschwörern von einst.
Den Dolch erhoben, starrte er in die Finsternis, als die der Sumpf sich vor ihm ausbreitete. Sein Geist löste sich. Er huschte über die schwarze Masse, tief hinein, und suchte. Auren, die sich leicht von der Magie des Lebens beeinflussen lassen würden. Auren, die einst Lebendiges umgeben hatten, umhüllten sie nun auch nur noch tote Materie. Viele winzige Lichter blitzten in seinem Blickfeld auf wie Glühwürmchen.
Genug.
Mit einem Mal ballte er die Faust. Gab von seiner eigenen Aura Leben ab, um es den toten Dingen zu verleihen. Einen Moment schwindelte er, dann rückten die Auren unter der Sumpfoberfläche zusammen. Die dunkle Decke brodelte wie siedendes Wasser. Konnten die Menschen im Tempel es hören? Aus dem Sumpf hob sich ein weißes Gerüst, zusammengefügt aus Tausenden von Knochensplittern. Zusammengefügt von seiner Macht. Sein Herz machte einen Sprung. Die weiße Brücke hob sich so hoch, dass sie fast nahtlos an den Steg anschloss. Er prüfte mit der Fußspitze – die Brücke hielt stand, hart wie Obsidianstein.
Unter seinen Füßen knirschten kleine Knöchelchen, und ein Mal zertrat er einen Schädel, der einer Echse gehört haben konnte. Aber der Steg hielt. Schritt um Schritt setzte er, lauschte in die Halle hinein. Endlich kam er an der Außenwand des Tempels an und stützte sich dagegen. Nur einen Schritt über ihm hing die Fensteröffnung.
„...sind so alt wie die Märchen über die Pygmäenprinzen in den Urwäldern“, drang eine Stimme zu ihm hinaus. Varn? Ja.
„Und deshalb genau so unwahr, meint Ihr das?“
Das dunkle Organ von Orestar, der Maester des Klingenkampfes.
„Als würde das hier zur Debatte stehen“, mischte sich eine weitere Stimme dazu. Das anschließende Husten gehörte zu Merek, dem gebrechlichen Maester der Knochenkunst.
„Auf die Legenden der Vorzeit jedenfalls können wir unser Handeln nicht stützen“, sagte Varn und lachte.
„Ihr wartet, bis die Legenden lebendig werden, bis sie erwachen und sehen und riechen und töten“, sagte Orestar. Ihre Stimme trug den scharfen Klang, der an ihre zwei Knochenklingen denken ließ, die sie führte und mit denen sie allein ein halbes Dutzend Akolythen entwaffnen und zu Boden stoßen konnte.
„Wenn alles, was das träumende Orakel prophezeiht, zum Leben erwachen würde, wäre die Welt schon zum wiederholten Male in Flammen und Untergang gestürzt.“ Varn klang gereizt. Offenbar gelang Orestar das, woran er selbst gescheitert war.
„Es ist nicht so, dass es“, ein Husten unterbrach die Worte Mereks, „keine augenfälligen Anzeichen dafür gäbe, dass es Orestar-“
„Ja“, unterbrach die Frau ihn, „die Berichte der Bauern aus der Nordmark des westlichen Kontinents. Nicht nur ein Einzelner hat von den geflügelten Männern über dem Abendhimmel erzählt. Die Sichtungen ziehen sich bis an die Grenze der Westmark. Wenn das nur Märchen sind, Varn, dann haben sie den Märchen meiner Kindheit voraus, dass sie äußerst greifbar sind.“
„Geflügelte Gespenster nennt Ihr greifbar – wie wäre es dann, wenn Ihr eines von Ihnen nach Kurast brächtet?“
„Genug“, ächzte die Stimme von Merek, und eine Pause trat ein.
Maro rutschte die Wand herunter in eine bequemere Position. Wenn die Maester dort drinnen über das Gleichgewicht debattierten, hätte er besser daran getan, seine Kräfte nicht auf eine Knochenbrücke zu verwenden. Doch bei den nächsten Worten stand sein Herz still.
Es war Merek, der weitersprach.
„Die Sichtungen fügen sich im Zusammenhang mit dem Spruch des Orakels durchaus zu etwas zusammen, das bedenkenswert ist. Die Geschwister der Hölle... wir wissen alle, wovon ich spreche.“
Die Geschwister, von denen Varn gescherzt hatte, wie jemand sie in seine Hütte rufen konnte. Die Brüder und Schwestern von Evra.
Varn sprach mit gedämpfter Stimme weiter. „...und die Gebeine der Erde werden sich auftun und gebären, was weder in Hölle noch Himmel hätte geboren werden dürfen. Ihr meint tatsächlich...“
„Ich würde dafür nicht mit beiden Beinen in den Sumpf steigen“, sagte Orestar, „aber erinnert es nicht zu sehr an das, was vor Jahren geschehen ist? Die Übel, die aus dem Schoß der Erde steigen. So sehr, wie es nach einem Märchen klingt.“
Ja. Blitze fuhren durch seinen Körper und elektrisierten ihn. Ja. Wenn die Geschwister der Hölle einen Weg fanden, die Welt zu betreten… Wieso nicht auch Evra?
Sein Stiefel rutschte ab und brach einen Knochen aus der bleichen Brücke. Das Gebein platschte hörbar in den Sumpf und spritzte ihm Schlamm ins Gesicht.
Die Stimmen im Tempel verstummten. Maro hielt den Atem an.
„Da ist etwas“, vernahm er Varn.
Maro richtete sich auf.
Hätte der Maester ihn nicht für eine Riesenkröte halten können? Irgendetwas, das seine Aufmerksamkeit nicht wert war?
Er löste in Gedanken den Lebenszauber. Unter ihm sanken die Knochen schon wieder ein, bröckelten in ihre Einzelteile. Mit drei Sätzen war er wieder auf dem Steg, und hinter ihm ächzte das Knochengebilde.
Im Licht des Tempeleingangs zeichnete sich ein Schatten ab. Nicht der schlanke der Klingenmeisterin, und nicht der gebeugte des Knochenkunstzauberers.
Maro rannte. Varn. Schon wieder.
Er fegte in seinem Lauf die letzten Blüten von den Stegen. Varns Schatten regte sich nicht. Aber selbst in der Dunkelheit sah der alte Magier wie ein Adler.
Maro kürzte über den Festplatz ab. Jetzt war es auch egal, wer ihn sah. Seine Stiefel verhedderten sich in einer Girlande und zerrissen die Schnur. Er fegte zwischen den Leuten hindurch, die die Stände herrichteten. An der Ecke der Tafel lag ein Bündel. Was auch immer darin sein mochte – er streckte den Arm aus und riss das Paket an der Schleife mit sich.
„Die sind für die Götter!“, rief ihm eine schrille Frauenstimme nach. „Du siehst nicht gerade aus wie einer, Kerl!“
Er stürmte zurück in die Barracken, warf in seiner Stube den Riegel vor die Tür. Der Atem pfiff ihm aus Nase und Mund.
Die Nordmark. Vor seinen Augen stand das Bild der Landkarten, über die sie sich oft hatten beugen müssen. Über das Meer, durch die Wüsten, und dann in das Marschland. Ein Schiff brauchte er – der Hafen von Kurast. Einige dutzend Meilen über Dschungelpfade und die tausend Inseln von Kejistan.
Er lachte.
Und wären es zweitausend Inseln gewesen, drei Wüsten und vier Meere. Seine Gedanken überschlugen sich. Das Land, in dem die Götter und Teufel auf der Erde wandelten, würde das einzige sein, in das er ging.
Er öffnete das Bündel, und auf den Boden purzelte ein Affenschenkel. Einige weitere lagen noch im Bündel, zusammen mit noch mehr Speisen, die in Tücher gewickelt waren. Affenschenkel, zumal kalt und mindestens einen halben Tag alt, würden ihm keinen Genuss bescheren. Aber sie genügten, um einige Nächte durch den Dschungel zu kommen.
Instinktiv zog er die Kiste unter dem Bett hervor, die den Akolythen als Aufbewahrungsort für persönliche Dinge diente. Er ließ den Verschluss aufschnappen und hob den Deckel. Wieder lachte er. Gähnende Leere. Natürlich, als ob er jemals etwas hineingetan hätte.
Da pochten Schläge auf das Holz der Zimmertür. Varn? Oder die Frau, die die Götter beschenken wollte?
Er schloss die leere Truhe wieder und ging zum Fenster. Unter ihm rauschte einer der Arme des Themys dahin. Kaum zwei Schritt. Das mochte ihm zumindest den Schweiß abwaschen, den er in der Nacht des schwarzen Traums geschwitzt hatte.
Das geknotete Bündel zwischen den Zähnen, legte er ein Bein auf das Fenstersims. Ein weiterer Schlag ließ die Tür erzittern, die Bretter knirschten. Höchste Zeit.
„Die Mädchen haben dich gesehen, Halunke! Husch, aufgemacht, dann vergesse ich vielleicht, dass du die Götter bestohlen hast!“ Immerhin nicht Varn.
Er zog das andere Bein nach, und unter ihm tat sich die fast senkrecht verlaufende Uferböschung auf.
Für einen Augenblick zog sich ihm das Herz zusammen. Nie wieder die harte Matratze und nie wieder die Abende mit Zered, Alan, Coren... doch Coren, den hatte die Göttin ohnehin gefordert. Nie wieder die Tage im Tempel vor den Bergen aus Büchern. Doch das, was ihn wirklich im Tempel gehalten hatte, das würde er wiedersehen.
Eines gab es noch, das es wert war, ihn auf der Reise zu begleiten. Er schwang sich zurück ins Zimmer und griff unter sein Kopfkissen. Seine Finger schlossen sich um das raue Leder des Kompendiums. Zwei Schläge gegen die Tür. „Hat deine Mutter einen Feigling geboren? Sperr die Tür auf, und ich erspare ihr die Schande, zu sehen, wie ich dich an den Ohren zu ihr ziehe!“
Er durchblätterte die Seiten, die Staub in den Raum wirbelten. Bei Jiolan, der dunkle Heilige fand er die gepresste Yata-Blüte. Ein Schattenriss auf dem Papier. Selbst hatte er sie im Dschungel gepflückt und aufbewahrt, bis er ihre Blätter an Varn gegeben hatte, damit der mit ihnen das Feuer für den schwarzen Traum entfachen konnte. Aber die Blüte gehörte ihm, und sie war seine Erinnerung.
Er klappte das Buch zu und kletterte wieder ins Fenster. Sein Essensbündel warf er in Richtung des anderen Ufers – es landete auf dem Abhang und verfing sich in den Ästen eines Baumstamms. Der Almanach polterte daneben ins Gras.
Vor der Tür murmelte jetzt noch eine zweite Stimme. Maro rückte an den Rand des Fensters. Noch einen Stoß, dann gab es kein Zurück mehr und nur noch Vorwärts.
„Ihr könnt meiner Mutter nichts mehr ersparen“, rief er in den Raum, „seit langen Jahren ist sie tot.“
Dann stieß er sich ab, für einen Moment schwerelos. Bis er ins Wasser tauchte und der warme Strom über ihm zusammenschlug. Die Strömung zerrte an ihm, und er musste kräftige Schwimmzüge machen. Schließlich fanden seine Hände das andere Ufer. Mühsam zog er sich hoch, Kleidung und Haar triefend vor Wasser. An Wurzeln, die aus der Erde ragten, hangelte er sich den Hang hinauf, klemmte sich das Kompendium unter den einen Arm und schulterte das Bündel. Vor ihm lag die Straße, ein sandig gelber Pfad, der unter den Kronen von Palmen in einer endlosen Allee zum Hafen führte. Wer auch immer ihm folgen wollte, würde erschöpft sein von den Festlichkeiten des Tages, er hingegen hatte von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang geruht. Er schüttelte das Wasser aus seinen Haaren und kippte es aus den Stiefeln, dann marschierte er los. Es gab nur diesen einen Weg.
Bald verschluckte ihn das Unterholz und er folgte nur noch dem hellen Streifen Straße, von dem die Karten behaupteten, dass er ihn an sein Ziel führte.

Doch wie sehr hatte er Kejistans Dschungel unterschätzt.
Von den Vorräten zehrte er bis zum nächsten Morgen. Von den süßen Sahnefrüchten hatte er nichts übrig gelassen, doch die Affenschenkel hätten ihn noch Tage lang versorgen können. Als er sich zur Ruhe niederlegte, zupften sich lange Finger aus dem Gesträuch das Bündel heran. Maro drehte sich um, aber vom Dieb blieb nur noch ein Rascheln von Blättern. Wenn es einer der Makaken gewesen war, begriff er zumindest nicht die Ironie, dass er die gerösteten Gliedmaßen seiner Artgenossen gestohlen hatte und ihnen nun wiederbrachte.
Trotz dieser Befriedigung musste Maro hungrig einschlafen.
Am nächsten Tag trank er brackiges Wasser aus dem Fluss, von dem er die Hälfte wieder erbrach, und die Hälfte der kandierten Früchte dazu. Von dem Beerengestrüpp, von dem er aß, musste er ständig mit Fußtritten die Echsen vertreiben, die ihm seine Speise neideten und mit ebenso gierigem Blick auf ihn starrten wie auf die Beeren.
Bis zum nächsten Abend trugen seine Arme mehr als ein Dutzend Beulen von Stechmückenstichen. Zumindest im Schlaf konnte er nicht dauernd um sich schlagen, um die Insekten zu vertreiben.
Den nächsten Teil des Marschs setzte er mit Fieber fort, und oft trugen ihn seine Füße abseits des Weges, bis die müden Augen erkannten, dass er drohte, in den Themys zu stürzen. Um ihn schmolzen die Geräusche des Dschungels zum Brodeln eines Kessels zusammen. Varns Magie benötigte er dazu gar nicht. Mit einem bitteren Lächeln gedachte er des Nekromanten. Die meiste Zeit aber hingen seine Augen und sein Geist starr an dem Streifen Straße. Wie an einem Tau zwang er sich daran entlang. Bis er Nächte und Tage nicht mehr unterscheiden konnte und sein Gesicht geschwollen und taub war – ob von den Beeren, die er aß, von den Stechmückenstichen, oder von den Dschungelseuchen, die wie Stürme durch die Wälder zogen; bedeutungslos.
Irgendwann wankten seine Beine ab von der Straße, er prallte gegen den gerippten Stamm eines Palmbaums und rutschte daran herab und stand nicht wieder auf.
Durch den milchigen Schleier vor seinen Augen drang kaum noch Licht, der Dschungel wurde ein einziges Theater aus Schatten. Wenn er genau hinsah, verformten sich die Schatten zu einer Frau, die hinter sich einen Schleier zog. Evra. Sie wartete auf ihn. Schaffte er den Weg zu ihr nicht, dann würde sie zu ihm kommen, gewiss. Sie schritt durch den Dschungel, über den Fluss schwebte sie hinüber und durch Palmstämme sickerte sie hindurch. Unsterblich. Unbesiegbar. Unaufhaltsam. Das Elfenbein ihrer Haut schimmerte vor ihm, und sie beugte sich nieder.
Da zerbrach das Bild. Ein Ruck ging durch ihn, als sei sein Körper aus einem Wachschlaf erwacht.
„Heh! Ein unüblicher Rastplatz, oder nicht?“, fragte jemand.
Die wabernden Umrisse eines Planwagens zeichneten sich vor ihm ab. Zwei Bullen schnauften und glotzten ihn an, und auf dem Kutschbock saß ein Mann in weißen Gewändern. Kein Nekromant, ganz gewiss.
„Ich spreche mit Euch. Hier liegen zu bleiben, wird Eurer Gesundheit nicht zuträglich sein, im Übrigen ähnelt Ihr im Gesicht einem aufgeblasenen Kugelfisch.“
Irgendwoher fuhr die Kraft in ihn, aufstehen zu können. Hitzewellen des Fiebers schüttelten ihn, doch er wankte in Richtung des Wagens. Erst auf dem Trittbrett brach er zusammen.
„Seid Ihr... ein Gott?“, fragte Maro. Obwohl das Land, in dem die Götter und Teufel wandeln sollten, noch Hunderte von Meilen von ihm entfernt lang.
„Sehr freundlich von Euch. Die meisten nennen mich eher einen Dämon. Wenn es ein guter Tag ist.“
Ein Hustenkrampf warf Maro hin und her. Als wollte etwas aus ihm herausbrechen. Unter Schmerzen richtete er den Kopf auf und versuchte, in den weißen Gewändern ein Gesicht zu erkennen. Aber alles flimmerte.
„Ihr seid ein Magier...?“
„Wohl kaum. Obwohl ich nicht leugne, dass dem Gold eine gewisse Magie innewohnt... Ich bin ein fahrender Händler.“
Maro formte nur ein Wort. „Wohin?“
„Oh, in den Westen. Die Gerüchte auf den Basaren sagen, dass dort Schilde und Schwerter in Bälde guten Absatz finden werden. Aber zu Euch... Ihr macht es nicht mehr lange, wenn ich das recht überschaue.“
Mit bebenden Händen erklomm Maro den Kutschbock. Der Westen... In seinen Gedanken flackerte etwas auf. Die Nordmark. Ja.
„Ich komme mit“, lallte er. Der Mann rückte beiseite und zog ein Taschentuch hervor, das er sich vor die Nase presste.
„Sehr eilig sind die jungen Leute, sogar noch kurz vor dem Ende... Hört, ich transportiere auch Medikamente, heilende Wasser aus den Beständen der Magierärzte der Wüstenlande. Die Frage ist nur: Was könnt Ihr mir geben?“
„Nehmt mich mit Euch“, sagte Maro und zog sich noch ein Stück weiter. „Ich schütze Euch.“
„Ihr? Denkt nicht, dass ich ohne einige Lohnklingen als Begleitschutz hier angereist wäre. Vier gute Männer mit Lanzenspitzen so scharf wie der Verstand.“ Der Händler seufzte. „Was soll ich sagen, der Dschungel hat sie von mir gefordert. Und Ihr, mit Verlaub, selbst wenn Euch die Heilwasser wiederherstellen...“
Der Blick des Mannes tastete über Maro. Als wüsste er nicht selbst, wie schmal er schon von Natur aus war. Dazu noch die Krankheit – wahrhaftig einem lebenden Toten musste er ähneln. Aber er hatte einen Trumpf.
„Nekromant“, sagte er, und schob das Kompendium auf den Sitz neben dem Mann.
„Ihr seid...“
Die Gesichtsfarbe des Händlers änderte sich schlagartig. Maro streckte seine Hand in Richtung des Flussbetts, und seinen Geist dazu. Die Auren verschwammen ineinander, aber eine packte er sich heraus. Das letzte an fiebrigem Leben, das in ihm steckte, den letzten Willen und den letzten Glauben gab er fort und nährte die Aura. Sie schwoll an zu der eines Lebendigen, überragte fast die des Händlers. Was auch immer seine Kraft belebt hatte, dem Mann auf dem Wagen öffnete sich der Mund und schloss sich nicht wieder.
„Ihr Götter!“, rief er aus. Einen langen Herzschlag lang starrte er Maro an, dann streckte er die Hand aus. Schmerzhaft legte sich der Griff um seine schwieligen Finger.
Stöhnend hievte der Mann ihn auf den Kutschbock neben sich.
„Bin ich... dabei?“, fragte Maro.
„Hoh, mehr als das! Lasst mich rasch die Wasser und Salben holen.“
Der Reisende schickte noch einen Ruck durch das Zaumzeug, und die Tiere setzten sich wieder in Bewegung. Das Taschentuch noch immer vor dem Gesicht, kletterte Maros neuer Gefährte in die Öffnung der Plane hinter sich.
Maro sank auf dem Kutschbock zusammen. Aber der Wagen schaukelte unter ihm. Sie bewegten sich. Vorwärts, in die eine Richtung, die nur möglich war.
„Ich bin Maro“, sagte er, und spuckte den Schleim fort, der mit den Worten zusammen hochgekommen war.
„Erfreut, Nekromant“, kam es hohl aus dem Wageninneren. „Nennt mich Gheed.“
Maro wiederholte den Namen für sich. Gheed. Aber wie alle Namen war auch dieser bedeutungslos. Evra. Der einzige, den zu behalten es notwendig war.
Palmwedel kratzten über die Wagenplane hinweg, so laut, dass es in Maros Kopf dröhnte. Am Ende der Allee vor ihm drang Licht durch das Urwalddickicht. Sonnenlicht, Mondlicht. Wer wusste es schon - und wen interessierte es.
Sie bewegten sich. Mit jeder Stunde würde die Entfernung weiter dahinschmelzen. Er lächelte. Evra.
 
Zuletzt bearbeitet:
III Himmel in Flammen

Am beschwerlichsten war nicht der Weg durch die Dschungel gewesen. Die heilenden Salben hatten ihm bald die Trübheit aus dem Blick genommen und die Gewichte, die an seinen Gliedern zerrten. Auch die Schiffsfahrt in den westlichen Kontinent überstand er, ohne mehr als zwei Mal sein Frühstück über die Reling zu brechen. In der Wüste schließlich drückte die Hitze, doch lange nicht so schlimm wie in der Feuchtigkeit eines Dschungels. Gheed verwies auf seine tief gebräunte Haut und scherzte, dass man auch Maro für einen Sohn der Wüste halten würde, wenn sie erst die Nordmark erreicht hatten.
Maro spürte es schon, als sie die Grenze zur Steppe überschritten. Am beschwerlichsten würde dieser letzte Teil der Reise werden. Als der Wagen endlich nicht mehr über Sand, sondern über Grasland rollte, brachen Temperaturen an, wie der Dschungel sie nicht einmal im Winter hervorbringen konnte. „Herbst“, sagte Gheed, und den Winter des Westens wollte Maro schon nicht mehr kennenlernen.
Da das Gerücht ging, die Herrinnen des Passes zur Nordmark hin seien von einigen Galgenstricken aus ihrem Kloster an der Grenze vertrieben worden, wichen sie auf Waldwege und Trampfelpfade aus. Nicht nur ein Mal lauerten ihnen Wegelagerer auf, angelockt vom Rumpeln des Wagens. Maro hatte die Suche nach Auren aufgegeben, die mächtig genug waren, um sie und den Wagen zu schützen, wenn er sie belebte. So hatte er sich selbst eine Hülle konstruiert, der er Leben einhauchen konnte... Bei deren Anblick schlugen die meisten Briganden sich wieder in die Büsche. Die, die es nicht taten, düngten das Unterholz mit ihren zerdrückten Leichen.
Die Höfe, an denen sie vorüberkamen, waren zu Aschehaufen verbrannt, aus denen selten noch Holzbalken ragten. Manch andere Gehöfte waren zerrissen wie von einem Wirbelstum. Auch dort hausten zwischen den Trümmern nicht mehr die alten Besitzer. So hielt Gheed die Ochsen sofort an, als am Abend des fünften Tages in der grünen Mark Licht aus den Fenstern eines strohgedeckten Hauses drang. Welche Kräfte auch auf den anderen Höfen gewütet haben mochten, bis hierher waren sie nicht gelangt.
„Seht an, die Hölle hat sich noch nicht alles Leben in diesen Landen einverleibt“, sagte Gheed und deutete auf das Haus mit einem dürren Finger, der zu Beginn der Reise noch doppelt so dick gewesen war. Neben der Behausung drehten sich die Flügel einer Windmühle und das Mühlrad. „Auch das Lager, von dem uns dieser Wanderer erzählt hat, mag hier in der Nähe sein.“
„Der ideale Umschlagplatz für Eure Waren. Kommt Ihr Euch nicht wie ein Geier vor? Manchmal?“
Eine ungreifbare Macht fiel über das Land her, und die Menschen konnten jede Klinge brauchen, die sie in die Hände bekamen. Aber nicht zuletzt: Jemand in diesem Kriegerlager konnte etwas darüber wissen, welche Dämonenkräfte hier umgingen.
„Dagegen helfen ein paar Schlucke Wein, und einige Fässer aus den Wüstenstädten haben wir noch geladen.“
Maro zog die Gugel seines Regenmantels über. Die Tropfen trommelten auf den Stoff und hallten in seinen Ohren wider.
„Ihr wollt, dass ich mich nach diesem Lager erkundige.“
„Einer von uns sollte beim Wagen bleiben. Das Gesindel hier ist hartnäckig.“
„Zwei bleiben.“
Geschützt unter der Plane des Wagens kniete der Golem. Eine mannshohe Gestalt mit dem Körper eines Ringers, dessen Muskeln Maro selbst aus Erde geformt hatte. Mit dem Loch in seinem Gesicht, das der Mund war, machte er mahlende Bewegungen, und die Zweige, die hier und da aus seinem Körper ragten, zitterten im Wind.
„Nimm dies hier mit, wenn du deinen Gefährten schon bei mir lässt.“
Gheed reichte ihm aus dem Lager im Innern des Wagens eine Konstruktion aus einem Bogen und einem Holzblock. Armbrust hatten die Wachsöldner in den Wüstenstädten diese Waffe genannt.
„Der Pfeil landet in meinem eigenen Fuß, wenn ich diese Mechanik bediene, das sehe ich kommen.“
„Armbrüste werden mit Bolzen geladen, nicht mit Pfeilen... Nun, wie du willst.“ Der Händler legte die Waffe zurück in den Wagen. „Hat deine Kreatur einen Namen, bei dem ich sie rufen kann?“
„Es ist nur Erde.“
„Selten habe ich Erde gesehen, die erwachsene Männer packt und umherschleudert.“
„Dafür habt Ihr andere Dinge gesehen, die wiederum ich nicht verstehe. Bei einer Armbrust fängt es an. Wenn Ihr einen Namen für den Golem braucht, nennt ihn Oram.“
„Oram... Das ist Eurer, auf dem Papier rückwärts gelesen.“
Was sollte bloße Erde auch für einen Namen tragen, wenn nicht den des Beschwörers, dessen Macht sie beisammen hielt?
Er duckte sich und stürmte in den Regen vor. Wenigstens peitschte der nicht wie in Maros Heimat die Fäulnis aus dem sumpfigen Boden heraus und verbreitete Verwesungsgestank. Stattdessen verbreitete sich der Geruch des geschlagenen Korns der Felder in der ganzen Luft.
Am Haus des Bauern angekommen, pochte Maro an die Tür und wartete. Seine Hand ruhte auf der Dolchscheide am Gürtel. Niemand hatte gesagt, dass nicht bluttrinkende Dämonen hier Wohnstatt genommen hatten.
Ein Schatten trat ins Licht, das aus dem nahen Fenster im Erdgeschoss drang. „Hierher, Junge!“
Maro folgte dem Ruf und sah in das bärtige Gesicht eines Mannes, dem das Haar mehr grau als schwarz war. „Wir nehmen keine Flüchtlinge auf, und Knechte habe ich genug.“
„Flüchtlinge?“
„Von den anderen Höfen. Du kommst nicht daher?“
„Ich komme mit einem fahrenden Händler in die Mark.“
„Bestell deinem Herren, dass wir nichts kaufen. Wir haben gute Ernte eingefahren und genug Vorräte um den Winter zu überstehen – und das, was hier in den Ebenen umgeht, das überstehen wir auch.“
Hinter dem Mann klirrte Geschirr und Kinderstimmen nuschelten.
Eine ganze Familie in diesem verwünschten Landstrich.
„Euch wollen wir keine Waren aufdrängen. Wir suchen ein Lager von Kriegern, das hier vor einigen Tagen aufgeschlagen worden sein soll.“
„Krieger? Ha!“ Mit einem breiten Grinsen drehte der Mann sich um und winkte jemanden heran. „Arnim, der Junge hier sucht die Nonnen!“
Maro öffnete den Mund, um zu widersprechen, da trat an die Stelle des Alten schon ein junger Kerl mit wirrem Haar und einer Hühnerkeule in der Hand.
„Das Lager der Jägerinnen?“, fragte er und riss mit den Zähnen ein Stück des Huhns ab.
„Es soll hier in der Nähe sein, wie man mir sagte.“
„Ist es tatsächlich, ich bin daran vorbeigekommen. Nicht einmal einen Tag die Straße weiter runter. Aber, ich weiß nicht, was man dir gesagt hat. Krieger findest du da nicht.“
Dem nächsten Wanderer würde er nicht mehr so leichtgläubig begegnen...
„Wer schlägt dann ein Lager in dieser Gegend auf?“
„Nun ja, jemand hat die Schwesternschaft, der das Kloster an der Grenze zur Steppe gehört, von eben dort vertrieben.“
Nonnen? Was für ein Spiel hatte der Wanderer mit ihm gespielt?
„Und jetzt“, fuhr der Junge mit vollem Mund fort, „müssen die teuren Weiber in ihren Kutten im gleichen Dreck schlafen wie die wilden Tiere.“
„Dann bist du sicher, dass es nur dieses eine Lager gibt?“
„Ziemlich, zumindest in diesem Teil der Mark. Das Ding ist ein riesiges Palisadenungeheuer, daran läufst du nicht vorbei. Schon beeindruckend, dass die Damen es geschafft haben, sich eine Festung aus Baumstämmen zu bauen.“
Maro nickte. Er wendete sich schon ab, da zuckte in ihm eine Erinnerung hoch wie ein Blitzstrahl.
„Du weißt nicht zufällig, aus welchem Grund sie das Kloster verlassen haben?“
Der Junge lehnte sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett und kaute weiter an seinem Hühnchen.
„Da hat jeder Hof seine eigenen Annahmen. Die Leute hier nehmen an, dass Steppenräuber das Kloster gestürmt haben. Um diese Jahreszeit reisen nicht genügend Kaufleute durch die Wüsten, also schlechte Beute für die Räuber. Vielleicht haben sie sich also ein anderes Ziel gesucht.“
Räuber... Etwas in Maro sträubte sich bei dem Gedanken. Vielleicht nur die Hoffnung. Die Hoffnung, dass es etwas Größeres als Räuber gewesen sein konnten.
„Was nimmst du8/i] an?“, fragte er.
„Tja, ich bin vor einigen Nächten mit zwei Tagelöhnern umhergezogen, und spät abends rüttelte mich der eine wach... Der Himmel hat gebrannt, weißt du. Als hätte jemand den Wald angezündet und das Feuer hätte sich nach oben gefressen. Ich hab mich umgedreht und weitergeschlafen. Aber wenn ich so daran denke – schon seltsam. Das ist in der Nacht gewesen, als die Schwestern aus dem Kloster raus mussten.“
Die Augen des Jungen starrten in eine unbestimmte Ferne, da erklang die Stimme des Bauern hinter ihm. „Dein Kohl wird kalt, und in Kupfer bekommst du den Teil deines Lohns jedenfalls nicht!“
Mit einem Schulterzucken wandte sich der Knecht ab. „Das wärs. Viel Glück auf deiner Reise.“
Auch Maro drehte sich um und kämpfte sich durch den Regenguss zu Gheeds Wagen zurück. Ein brennender Himmel? Wie passten die Geflügelten dazu, die Varn nicht wahrhaben wollte?

Die Armbrust auf dem Schoß, erwartete Gheed ihn auf dem Kutschbock.
„Haben sich ein paar Halunken gezeigt?“, fragte Maro.
„Du bist der Einzige bisher.“ Der Händler half ihm hoch und trieb die Ochsen wieder an. Die Hufe gruben sich in den aufgeschwemmten Boden der Straße. „Das ist doch der richtige Weg?“
„Wenn der Junge nicht gelogen hat. Einen halben Tag brauchen wir noch.“
„Hätte er einen Grund gehabt, uns zu belügen?“
„Sicher nicht. Aber er sagte etwas davon, dass wir in dem Lager keine Krieger finden würden... sondern nur die Nonnen des nahen Klosters.“
„Oho, nur weil die Schwestern des verborgenen Auges sich aus ihrem Kloster haben vertreiben lassen, heißt das nicht, dass sie wehrlos sind.“
„Ihr kennt sie?“
Gheed schüttelte den Kopf und legte die Armbrust wieder zurück in den Laderaum.
„Gehört habe ich von ihnen. Sie brennen sich eine Narbe auf die Stirn, das ‚verborgene Auge’, und auf hundert Fuß schießen sie einem Bären in die Pupille.“
„Also sind sie... keine Nonnen?“
„Waldläufer und Scharfschützen." Gheed lachte. "Aber du warst nahe dran. Ich hoffe, dass wir ins Lager kommen, ohne ein oder zwei Augen einzubüßen.“
„Das Risiko müsst Ihr wohl eingehen.“
Im Innern des Wagens lag mehr Reichtum, als jeder Mann und jede Frau seines Heimatdorfs je zu besitzen träumen würde. Säcke voller Gewürze verströmten betäubenden Duft, in Fässern schwappte Wüstenwein, das alkoholhaltige Getränk der Stadtwachen Lut Gholeins, Klingen und Panzer aus allen Teilen der Welt klirrten aneinander. Das alles würde sich in wenigen Tagen in Gold verwandelt haben, wie es bisher in jeder ihrer Stationen mit den geladenen Waren geschehen war.
„Was mich darauf bringt“, begann Gheed, „du hast noch kein Wort darüber verloren, weswegen du den Weg übers Meer und durch die Wüsten auf dich genommen hast.“
„Genügen Euch als Bezahlung für die Reise nicht mehr meine Dienste als Leibwächter?“
Nicht einmal Zered, Alan, die jungen Nekromanten, hatten verstanden, was ihn trieb. Ein Händler, den es im Leben nur nach dem Vermehren seines Goldes gelüstete, würde es noch weniger nachvollziehen können.
Er legte sich das Kompendium auf die Knie, das die einzige Erinnerung trug, die einen Wert besaß.
„Nur das Interesse eines alten Mannes, der gern Geschichten vom Leben hört“, sagte Gheed und blickte wieder geradeaus auf die Straße.
In den nächsten Stunden ließ der Regen nach, und Gheed hängte seinen Mantel zum Trocknen über eine der Ecken des Wagens, Maro nahm die andere. Dann kletterte er in den Wagen hinein und setzte sich dem Golem gegenüber. Mit den Fingern schlug er ein Kreuz vor dem Gesicht aus Erde. „Kehre zurück“, sagte er. Zugleich zog er seine Lebenskraft aus dem Lehmkörper langsam zurück. Der Riese erhob sich und stapfte zur hinteren Öffnung des Wagens, stieg hinaus.
„Was treibst du da hinten?“, fragte Gheed. „Du schickst Oram fort?“
Der Golem platschte in den Straßenmatsch und stapfte von der Straße in den nahen Wald. In einer Stunde würde alle Kraft wieder bei ihm sein, die er in seine Schöpfung gesteckt hatte. Maro kletterte zurück zu dem Händler.
„Erinnert Euch, wie Ihr den Mund nicht mehr zubekamt, als Ihr ihn zum ersten Mal sehen musstet. Wir wollen doch einen guten Eindruck bei den Schwestern machen.“
„Den machen wir sicherlich nicht, wenn du dieses Ding nicht von deiner Schulter nimmst.“
Maro sah erst Gheed an, dann den Schädel seines Vaters, der seine Rüstung am Oberarm zierte. Er biss die Zähne aufeinander.
„Hütet Euch, Händler“, zischte er.
„Gut, gut...“ Der Mann hob die Hände und neigte den Kopf.
Nein. Die letzte Order hatte er ausgeschlagen, aber dieses Andenken würde ihn begleiten. Er mochte seine Heimat verlassen haben, um ein Ziel zu verfolgen, das keiner der Totenbeschwörer begreifen würde. Aber doch war er einer von ihnen. Ein Nekromant.

Am Abend brachen die Wolken auf und gaben einen Himmel frei, an dem schon der Mond stand. Sonne hatten sie an diesem Tag nicht gesehen.
Vor dem Wagen tat sich eine Weggabelung auf, von der der Knecht kein Wort verloren hatte. Erst, als Gheed einen Münzwurf vorschlug, flackerte ein schwaches Licht hinter den Baumreihen. Die Ochsen führten sie vom Weg hinunter und um die Bäume herum.
Palisaden, wie es der junge Mann gesagt hatte. Fünf Schritt hoch ragten die angespitzten Stämme, stachen Stücke aus dem Halbrund des Mondes. Fackellicht erhellte die Ecken des Lagers und spiegelte sich wider auf dem Wasser des Flusses, der vor dem Tor dahinrauschte. Über das Wasser spannte sich eine Brücke aus geteilten, zusammengebundenen Stämmen.
„Sicher sieht das nicht aus“, murmelte Gheed.
„Für Euch ist es das auch nicht“, schallte ein Ruf von den Zinnen. Maro kniff die Augen zusammen und blickte nach oben. Aber wenn dort jemand stand, dann verschmolz er mit dem Nachthimmel. „Was ist Euer Begehr? Vier Pfeilspitzen sind auf Euch gerichtet, und vier Sekunden habt Ihr, Euch zu erklären. Zeigt Eure Hände.“
Maro tat als Erster von ihnen, wie befohlen.
Als bräuchte er seine Hände, um die Kräfte zu rufen, die Leben wie Tod bringen konnten.
Auch Gheed hob die Hände mit gespreizten Fingern nach oben.
„Haltet Eure Pfeile nur gut fest. Wir sind keine Dämonen, oder seht Ihr Flügel und Hörner an uns?“
„Die Dämonen dieser Ebenen sind nicht an diese Gestalt gebunden. Also rasch, was sucht Ihr hier?“
„Hartnäckig...“, murmelte Gheed, und sein Blick huschte zu Maro. „Wir sind gekommen, Euch im Kampf gegen welche Dämonen auch immer zu unterstützen!“
„Wie wollt Ihr das anstellen? Dünn wie ein Gerippe seid Ihr. Würden wir Euch ein Schwert in die Hand drücken, würdet Ihr es überhaupt heben können?“
„Ich bringe meine eigenen Schwerter mit, und ich biete sie Euch an – für einige Stücke Gold.“
„Ein Händler? Was habt Ihr noch geladen?“
Zu den Stimmen gesellte sich eine dritte hinzu. Der Wind verschluckte ihre Worte, doch kurz darauf öffnete sich das Tor. Eine Reihe aus Stämmen wurde nach unten gelassen und öffnete den Weg ins Lager. In der Mitte des Areals loderte ein Feuer, und beim bloßen Anblick durchlief Maro ein wohliger Schauer. Feuer, das ihn in den Nachtstunden wärmte, hatte er seit Tagen missen müssen.
„Scheint, als wären wir drin“, sagte Gheed.
Maro ließ die Hände sinken. Auf die Gefahr hin, dass ihm vier Pfeilspitzen die Stirn spalten würden.
„Treibt Eure Tiere an“, befahl die dritte Stimme, „wir wollen Euch im Lager haben, bevor jemand anders das offene Tor nutzt.“
Der Wagen rumpelte über die Brücke und passierte den Eingang. Dahinter lehnte Kriegerin mit zurückgebundenen Haaren an einem Wachturm. Die Nase hing ihr so schief im Gesicht, als hätte ein Hammerstoß sie verschoben.
„Jemand?“, fragte Gheed.
Die Kriegerin machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Wilde Tiere, Landstreicher mit zuviel Selbstvertrauen und Dolchen im Gürtel... Ihr solltet Ihnen längst begegnet sein auf dem Weg in diesen Teil des Landes.“
„Zweifellos, ja. Deshalb, so dachte ich mir, wäre hier sicher Bedarf an meinem Angebot.“
Hinter dem Wagen knarzten die Stämme, als sie wieder vor das Tor gewuchtet wurden. Damit wäre auch der Rückweg verschlossen, wenn diese Kriegerinnen sich dafür entschieden, für Gheeds Waren nicht zu zahlen. Maro verschränkte die Arme vor der Brust. Die Blicke der Frau neben ihm kreuzten seine einen halben Herzschlag lang.
Das Feuer warf sein Licht auf eine Anzahl von Zelten, die sich ohne Ordnung darum sammelten. Die Zeltwände flatterten unter den Böen, die durch das Lager fuhren.
Was auch immer der junge Knecht angenommen hatte, in dieser Bastion trug jedes Mädchen und jede Frau einen Bogen über den Rücken gespannt.
Die mit der gebrochenen Nase leitete Gheeds Wagen um die Zelte herum und zu einem freien Hang an der nördlichen Palisade. Die Räder rumpelten über Steine, und Äste zerbrachen unter ihnen. Aus den Zelten strömten die Kriegerinnen zu dem Wagen. Auf ihrer Stirn trugen nur die wenigsten ein Zeichen, und vor allem nicht eingebrannt, wie Gheed erzählt hatte, sondern mit dunkler Farbe aufgetragen.
Als der Wagen hielt, hatten sich bereits Dutzende darum geschart, und Gheed eilte sofort vor die Menge.
„Geduld, Geduld! Und selbst wenn jede ein Krummschwert aus neredischem Stahl will, so werden die Klingen doch reichen.“
Maro sprang vom Kutschbock hinunter und schob sich durch das Gewimmel von Körpern. Erst in einigen Schritten Distanz hielt er an. Ein Andrang wie bei den Trödlern, wenn sie bewegliche Holztiere anboten und die Kinder sie umringten.
„Ihr seid nicht sein Sohn, nicht wahr?“, fragte jemand neben ihm. Eine Kutte, dunkel wie die Nacht, verdeckte ein Gesicht voller Falten und Flecken des Alters.
„Nein. So schlimm haben es die Götter mit mir nicht gemeint.“
„Und doch seid Ihr mit ihm in dieses verfluchte Land gereist?“
„Es ist nicht verfluchter als das meine.“
„Dann habt Ihr nicht von dem Verderben gehört, das hier sein Spiel treibt.“
„Woher wollt Ihr wissen, dass es in meinem Land nicht ähnlich ist?“
Die alte Frau schlurfte um ihn herum, und ihre Schritte schlurften auf dem Gras. Er drehte sich zu ihr um. Sie nahm die Kapuze ab, und graues Haar fiel bis zu den Schultern herab – auf ihrer Stirn zeigte sich das Symbol des Auges, eingeprägt mit Feuer. Die Alte legte eine Hand auf den Schädel, den er an der Schulter trug.
„Ich kenne Euer Land sehr gut, Nekromant.“ Ein Kribbeln lief ihm den Arm hinab. Dass selbst in dieser Ferne jemand von seiner Kaste wusste. „Lasst mich Euch in mein Zelt einladen. Ihr habt nicht den günstigsten Zeitpunkt für Eure Reise gewählt.“
Die Kriegerin, die befohlen hatte, das Tor zu öffnen, hielt sich ebenfalls abseits der Gruppe um Gheeds Wagen. Ihr Blick lastete auf ihm.
„Gut, gehen wir.“
Sie passierten das Lagerfeuer, auf das Mädchen Scheite schichteten. Die Alte führte Maro zu einem Zelt, das über die anderen ragte, und schlug den Eingang beiseite.
„Ohnehin könnte der Regen jederzeit wieder einsetzen. Ein feuchtes Land habt Ihr“, murmelte er und trat ein. Felldecken verbargen das Gras unter ihren Füßen, und eine angenehme Wärme strahlte von der Mitte des Zeltes aus.
Die Alte setzte sich auf eine Holzkiste vor einem Regal mit Töpfen und Gläsern, in denen Pflanzen und Tiere in Flüssigkeit schwammen.
„Nicht feuchter als Eures“, sagte sie.
„Ihr wart schon einmal dort?“
Maro sah sich um und zog sich schließlich einen Hocker heran.
„Gelesen habe ich davon.“
„Auch von den Nekromanten?“
„Sicher“, sagte sie und kicherte. „Genug, um zu wissen, dass dies hier kein Ort für einen der Euren ist. Nicht jetzt.“
„Ihr habt selbst gesagt, dass es ein... Verderben gibt, und die Leute ringsum erzählen sich Geschichten von Briganden in großer Zahl.“
„Tun sie das?“, fragte die Alte und hob eine Braue. Die Runzeln wanderten in ihrem Gesicht umher. „Sie machen sich ihre eigenen Geschichten, die sie glauben können. Das haben sie schon immer getan.“
„Vielleicht. Aber nicht alle. Einer erzählte mir davon, dass der Himmel brannte, vor wenigen Nächten.“
Die alte Frau sank ein Stück nach vorne und nickte.
„Natürlich hat der Himmel nicht gebrannt. Aber er ist ein Spiegel für die Flammen geworden, die auf der Erde gewütet haben...“
„Auch sollen geflügelte Wesen gesehen worden sein. Was ist, hängt das zusammen?“
Diesmal schüttelte die Alte ihren Kopf und lächelte traurig.
„Geflügelte haben uns nicht aus unserem Kloster vertrieben.“
Sondern? Maros Herz pochte gegen seine Brust, seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. „Wer dann? Keine Räuber?“
Die Alte lehnte sich weit zurück, als drücke eine unsichtbare Macht sie nach hinten.
„Es heißt, ihr Nekromanten könntet in den Auren lesen, Leben und Tod erkennen, und auch – Spuren Eurer eigenen Magie.“ Plötzlich flatterte die Zeltwand hinter ihr und Schritte platschten auf der feuchten Erde davon. „Nicht einmal vor meinem Zelt haben sie Respekt. Wer auch immer gelauscht hat, in wenigen Minuten wird das gesamte Lager wissen, was Ihr seid.“
„Ich kann mir schlimmeres Leid vorstellen. Aber Ihr habt Recht, wir können in die Welt der Geister hineinblicken, wenn wir die Augen schließen.“
„Dann habt Ihr nichts gesehen, als Ihr am Kloster vorübergekommen seid?“
Wahrlich, es genügte nicht, Bücher über die Magie zu lesen.
„Das zweite Gesicht ist eine Gabe, die unseren Verstand strapaziert. Normalerweise rufe ich es nicht herbei, um damit die Schönheit einer Landschaft zu betrachten. Bitte sagt mir, was Ihr wisst.“
„Nun, die Kräfte, die jetzt in unserem Kloster herrschen, sind die der Nekromantie. Die Flammen am Himmel stammten von einem Brand in unseren Höfen. Doch die Eroberer, sie trugen kein Fleisch mehr auf den Knochen. Versteht Ihr, wieso es ein schlechter Zeitpunkt ist, uns zu besuchen?“
Maros Gedanken überschlugen sich. Er runzelte die Stirn. Skelettkrieger? Ohne einen Herren konnten diese hirnlosen Diener keinen Schritt tun. Aber seit Jahren hatte kein Nekromant mehr die Dschungel verlassen. Einzig Kräfte, die jenseits von Tod, Leben und der Erde selbst standen, konnten hier ihr Zeichen hinterlassen haben.
„Nein“, sagte er langsam, „ich verstehe nicht. Ihr steht einer Macht gegenüber, die Ihr nicht begreift. Könnt Ihr nicht jede Hilfe gebrauchen, die sich anbietet?“
Das erste Mal senkte sich etwas in die Züge der Alten, das er als Abscheu verstand. Die ganze Zeit hatte es unter der Oberfläche gelegen.
„Die Hilfe eines Nekromanten? Im Lager hier werdet Ihr kein Vertrauen finden. Selbst in diesem Moment hält sich jemand auf unserem alten Friedhof auf und entweiht die Toten, indem er sie aus der Erde ruft. Niemand kann sagen, ob es einer ist, der sich, wie Ihr, mit Schädeln schmückt, oder, ob er etwas... noch Dunkleres ist.“
Und niemand konnte sagen, ob es nicht Maro war. Aber er war nicht gekommen, um Freundschaften zu schließen.
„Was also wollt Ihr von mir?“
„Der Händler wird nicht ewig im Lager bleiben. Steigt zurück in seinen Wagen und verlasst dieses Land auf dem schnellsten Wege.“
„Es mag Euer Lager sein, aber es ist nicht Euer Land.“
„Doch sind wir noch immer die Wächter der Grenze. Und auch zu Eurem eigenen Besten solltet Ihr meinem Rat folgen.“
Maro stand so abrupt auf, dass der Schemel umstürzte.
„Was mein eigenes Bestes ist, kann ich sehr wohl selbst entscheiden. Wenn Ihr mich aufhalten wollt, schafft etwas anderes her als Worte.“
Auch die Alte erhob sich, und ihre Augen glühten mit einem Mal wie brennender Bernstein. Ein Schwall aus Wärme ergoss sich in den Zeltraum, als fegte ein Wüstenwind herein.
„Ihr fordert einen Ausgang, der nicht in Eurem Sinne ist, Nekromant.“
„Dann bin ich bereit, ihn hinzunehmen.“
Eine Sekunde lang noch stierten die Bernsteinaugen in seine, dann zog die alte Frau sich die Kapuze wieder über den Kopf, und Schatten fielen über ihre Lider.
Maro wandte sich ab und schlug die Plane am Zelteingang beiseite.
„Ihr habt mir nicht einmal Euren Namen genannt, junger Zauberer.“
„Es genügt Euch doch, zu wissen, dass ich ein Nekromant bin. Oder habe ich etwas missverstanden?“
Er trat zurück in den Duft des Regens und in die Kälte der Nacht.
Es wäre auch zu leicht gewesen, wenn er Verbündete statt Feinden gewonnen hätte.
Die Kriegerinnen um das Feuer richteten ihre Blicke auf ihn. Zwei spuckten vor ihm aus, als er an ihnen vorüberging. Erst unter denen, die abseits des Geschehens standen, Brennholz mit Planen bedeckten und Gheeds Wagen umliefen, fand er eine, die ihm den Weg zum Friedhof beschrieb. Er nickte und bedankte sich. Bis zum Morgen würde die Nachricht die Runde gemacht haben und niemand würde ihm mehr irgendeinen Weg beschreiben.
Die letzten Kriegerinnen entfernten sich von Gheeds Wagen, und Maro kletterte von hinten in den Laderaum. Auf dem Boden saß der Händler, der Münzen von Haufen zu Haufen schob.
„Silber zu Silber und Gold zu Gold.“
„Dass Ihr Euch wie ein Geier vorkommen müsst, habe ich Euch schon einmal gesagt, oder?“
„Diese Vögel haben einen viel zu schlechten Ruf.“ Gheed teilte mit der Handkante den Haufen aus goldenen Münzen und schob eine Hälfte zu Maro hinüber. „Ich übrigens auch. Das hier soll deine Bezahlung sein, du hast lange genug warten müssen.“
Maro schöpfte eine handvoll der Münzen und ließ sie wieder zurück auf den Haufen rauschen. „Damit ich etwas habe, dass ich bei Euch ausgeben kann?“
„Du kannst versuchen, dein Gold den Schwestern anzubieten. Aber besonders beliebt scheinst du nicht zu sein...“
„Also habe ich keine Wahl, seht Ihr.“
„Das ist noch nicht alles gewesen.“ Mit einer Hand langte Gheed nach einer der Kisten voller Waffen und zog sie heran. „Ich weiß zwar nicht, an welchen Ort du gehen willst oder was du suchst, aber das Messer da an deiner Seite schneidet nur totes Fleisch. Du wirst etwas brauchen, dessen Klinge länger ist als die Finger deiner Hand. Such dir etwas aus.“
Ein Geschenk des geizigen Händlers? Maro rutschte an die Kiste heran, in der sich Schwerter Schneide an Schneide stapelten.
„Es gibt keinen Haken?“
„Traust du mir so wenig?“
Ja, tatsächlich, und noch weit weniger, dachte er.
„Ihr habt vorhin neredischen Stahl erwähnt. Kann ich eine solche Waffe haben?“
„Das willst du nicht, Junge.“ Gheed tastete sich über die Klingengriffe in der Kiste und zog schließlich ein Schwert heraus, das nur eine Schneide besaß und dafür gut einen Fuß länger als ein gewöhnliches Langschwert war.
„Die Waffe sieht gut aus.“
„Interessantes Kriterium. Bei Frauen mag das Aussehen deine Wahl rechtmäßig beeinflussen, aber hier... Sieh, es geht das Gerücht, dass neredischer Stahl besonders robust ist. Sonst könnten die Schmiede nicht eine solch lange Klinge riskieren.“
Maro nickte. „Klingt vernünftig.“
„Die Realität ist die: Die Neredier benutzen den gleichen Stahl wie alle anderen Schmiede. Ihre Klingen brechen im Kampf. Weil sie zu lang sind.“
„Und niemand hat das bisher entdeckt?“
„Oh, mit Sicherheit. Aber diese Entdeckung ist keine billige. In den meisten Fällen wird sie die Entdecker den Sieg im Kampf und das Leben gekostet haben.“
Maros Miene verdüsterte sich. „Ihr verkauft den Schwestern Klingen, die ihnen irgendwann zwischen den Händen zerbrechen werden?“
Der Händler gab einen düsteren Blick zurück und machte sich daran, die Münzhaufen in Säckchen einzusortieren. „Hör her, Maro. Wir sind einen Monat lang miteinander gereist, und das ist länger, als es bisher jemand anders in meiner Gesellschaft ausgehalten hat. Du hältst mich für einen Betrüger und Ausbeuter, und du hast damit vielleicht recht. Aber weißt du, was Armut ist?“
Maro schwieg. Armut? Dazu hätte er wissen müssen, was Besitz war. Doch ein Dach und genug zu Essen hatte er immer gehabt.
„Ich will es dir sagen, Maro. Du isst das, was die Leute in Seidengewändern in die Gassen geworfen und auf das die Hunde gepisst haben. Du trinkst Wasser aus fremden Kübeln, alle zwei Tage erwischen sie dich und geben dir mit der Rute zu fressen.“ Gheed krempelte seinen Ärmel bis zur Schulter hoch, und unter dem Gewand kamen Narben zum Vorschein, die von Tigerpranken hätten sein können. „Wenn der Monsun kommt, schläfst du in hochgeschwemmten Abwässern, und zur Zeit der Herbststürme schläfst du überhaupt nicht, weil der Sand, der von den Dünen herangetrieben wird, dir die Haut wie mit Sandpapier abreibt.“ Das erste Mal glühten die Augen des Händlers. So, wie sie nicht einmal glühten, wenn Münzen in seinen Fingern klirrten. „Deine Schwester trinkt Salzwasser aus dem Hafen und wacht nicht mehr auf, dein Bruder will Medizin von den Ärzten für dich stehlen, und Tage später ist es sein Skelett, an dem die Lehrlinge den Aufbau des Menschen studieren. Und du, du lernst zu töten und zu stehlen und zu betrügen, und eines Tages hast du genug beisammen, dass du dich auf den Basar neben die Leute in den Seidengewändern hocken und mit ihnen um viele, viele Goldstücke feilschen kannst. Meine Kinder werden diese Wirklichkeit nicht kennenlernen. Wenn ich genug Säcke voll Gold habe, dass ich nie wieder auf Handelsreise muss, dann nehme ich mir eine Haremsdame, und es wird ein Märchen sein. Ein Märchen, Maro.“ Die Waffen klirrten aufeinander. Gheed grub tief in der Kiste, und seine Hände trugen blutige Kratzer, als er einen Krummsäbel über den Kopf hob. „Das hier ist eine gute Klinge. Sie ist ideal für dich, versuch sie. Weniger Reichweite als ein Langschwert, und du wirst damit eher hauen als stechen. Aber wenn du die Schneide am Körper deines Gegners hast, ist es nur ein Ruck zur Seite und du hast ihm die Bauchdecke geöffnet.“
Maro nahm die Waffe entgegen. Ein Zittern durchlief ihn, die Bilder aus Gheeds Geschichte hallten in ihm wider. Er musste die zweite Hand dazunehmen, um die krumme Klinge halten zu können.
„Ja“, sagte er. "Verstehe."
„Ein großes Falchion, von meiner Zeit als Söldner. Irgendwann hast du genug Kraft in den Armen, um das Schwert einhändig zu führen. Jetzt mach, dass du aus meinem Wagen kommst, unser Vertrag ist heute abgelaufen.“
Gheed reichte ihm eine lederne Scheide zu der Waffe und verschränkte dann die Arme.
Mit dem Schwert und einem Beutel voller Gold im Arm rutschte Maro hinten aus dem Wagen hinaus.
„Danke“, sagte Maro. In Gheeds Blick las er nichts mehr. Vielleicht sah er in die Vergangenheit, oder in die Zukunft.
Er schnallte sich die Scheide am Lederriemen über die Schulter und zurrte ihn fest.
Noch vor dem Morgen würde er zum Friedhof aufbrechen.
Ein Schritt weiter, weiter auf Evra zu.
Feiner Regen kitzelte ihn im Gesicht. Er krempelte sich die Ärmel bis zum Ellbogen hoch und suchte sich eine Stelle mit gut durchweichter Erde in der Nähe der Palisade. Dann gab er einen Teil seiner Lebenskraft ab und grub seine Hände in die Erde, die unter seinem Griff schmatzte. Er formte einen Fuß, ein Bein, eine Hand, einen Arm – einen Körper.
 
Zuletzt bearbeitet:
IV Reise mit dem Dämon

Vega ziepte ihr an den Haaren und fädelte eine neue Holzperle auf.
„Geht es nicht auch ohne diese Dinger im Haar?“, fragte Jilis.
„Alle schmücken sich, um unserer Herrin die Gunst zu erweisen. Was sollen die anderen denken? Tyreé - was soll die denken?“
Jilis sah sich im Zelt nach einem Ausweg um. Die von den vielen Kerzen stickige Luft quälte sich durch ihre Atemwege.
„Tyreé denkt nur darüber nach, wie sie mir mindestens die Nase, bestenfalls den Kiefer brechen kann.“
„Heute Abend sollte sie das nicht. Beim Weihefeuer sind die Schwestern Eins vor der Herrin des verborgenen Auges.“
Perlen klapperten neben ihrem Ohr, und Vega knotete zwei Strähnen zusammen. Was das an Zeit rauben würde, die Haare wieder zu lösen.
„Eins werden, das funktioniert am Besten mit bunten Perlen im Haar?“
„Versuch, nicht soviel darüber nachzudenken. Es ist eine besondere Nacht, und die erfordert besonderen Schmuck.“
„Den habe ich längst.“ Sie drehte den Kopf zur Seite, um den Schnitt an ihrem Hals ins Blickfeld zu bekommen. Die Wunde war zu Narbengewebe erstarrt und zog sich jetzt als weißer Streifen von der Schulter bis fast zu ihrer Wange hinauf. „Ist das nicht seltsam, dass ich das Zeichen der Herrin verliehen bekomme für die Anzahl der Feinde, die ich niedergestreckt habe – und dann muss ich mir die Haare bunt machen, um den Lohn entgegenzunehmen?“
Vega griff in das Holzkästchen und hielt Jilis eine Hand voll Perlen unter die Nase.
„Schau, du darfst wählen. Welche Farbe?“
„Verstehe, die Gefangene kann sich die Art ihrer Folter selbst aussuchen.“
Vega lachte, dass die Perlen Jilis über den Schoß regneten. Sie lachte mit. Aber in ihren Gedanken fehlte das Lachen von Falke. Sie schloss die Hand um die Schachfigur in ihrer Tasche.
„Vega“, sagte sie, „ich will hier raus. Meine Hände haben Schwielen von den Stämmen, die ich bearbeitet habe. Jetzt sitze ich in dieser Festung gefangen, die ich selbst mitgeholfen habe zu bauen. Das dient dem Verborgenen Auge nicht, hier herumzulungern.“
„Aber jeden Tag schickt Kaschya neue Späherinnen los. Ich bin sicher, dass sie dich aus dem Lager lässt, sobald sie mehr weiß.“
„Mehr weiß?“ Jilis schlug auf die Kiste neben sich, und das Kästchen mit den Perlen sprang hoch. „Sie weiß, dass Untote in unseren Hallen hausen und, dass jemand die Gräber auf dem Friedhof entweiht – und vielleicht noch mehr, das noch nicht bis zu uns gedrungen ist. Was will sie noch wissen?“
Wieder ziepten ihr Vegas Finger an den Haaren, und neue Perlen rutschten auf ihre Strähnen. Bald würde ihr Kopf vor Holzschmuck so schwer sein, dass sie sich im Stehen den Nacken verspannte.
„Bis über das Moor hinaus ist doch noch keine Späherin gekommen. Wir wissen nicht, was dahinter–“
„Also senden wir jeden Morgen eine weitere aus, damit die Schwesternschaft langsam zerrinnt?“
Vega legte ihr die Hände auf die Schultern und rüttelte an ihr.
„Du hast sicher einen besseren Vorschlag, dann trag ihn Akara vor. Du siehst sie doch gleich, wenn sie dir das Auge auf die Stirn zeichnet.“
„Ja, ich habe einen besseren Vorschlag. Genug mit dem Spähen, und ich schnalle mir morgen den Bogen über und vertreibe von unserem Friedhof, was bei den Höllen auch immer sich dort niedergelassen hat.“
Sie stand auf und stellte sich Vega gegenüber. Die Perlen der letzten, noch nicht verknoteten Strähne regneten auf den Boden hinunter.
„Das wirst du nicht“, sagte Vega und folgte mit dem Blick den Perlen, die über die Felle am Boden kullerten.
„Doch. Und ich werde aus dem Ding herauspressen, das dort haust, was mit unserem Kloster geschehen ist.“
Vega drückte die Fingerspitzen gegeneinander.
„Eine andere Schwester könnte das tun.“
Mit einem Seufzen legte Jilis ihr eine Hand auf die Schulter.
„Ich weiß, wie ungern du den Bogen in die Hand nimmst, und wie ungern du es siehst, wenn ich es tue.“
Vega schluckte und legte die letzten Holzperlen zurück in das Kästchen.
„Trotzdem wirst du gehen?“
„Einer muss. Außer mir wird es keiner tun.“ Ein Gewicht legte sich ihr auf das Herz und drückte es zusammen. „Wir haben zu lange nicht gejagt. Viele werden es verlernt haben, aber ich kann es noch.“
„Wenn du das glaubst.“
Vega sah sie nicht an.
„Ich muss jetzt hinaus. Danke. Für die Perlen.“
Sie hielt kurz an einem der metallenen Spiegel am Zeltausgang an. Die Holzperlen glitzerten wie in Farbe getauchte Sterne. Nur Vega wusste, wieviele Anteile der Beerensäfte es brauchte, um sie so strahlen zu lassen.
Dann strich sie die Zeltwand beiseite und trat zu den anderen.
Das Feuer brannte hoch wie zwei Männer, und rund herum stapelten sich Hölzer zum Nachlegen. Um die Flammen herum bildeten die, die sich am Unglückstag bewährt hatten, einen Kreis. Nicht einmal zehn Gesichter, und nur Tyrees erkannte sie in der Dunkelheit.
Als sie hinzukam, wichen zwei Schwestern zur Seite und machten ihr Platz. Eine Bewegung ging durch den ganzen Kreis, bis alle wieder den gleichen Abstand zueinander hatten.
Akaras Gestalt war vor der Helligkeit des Feuers ein schwarzer, wabernder Fleck. Die Flammen knisterten und schickten Funken über sie hinweg.
Jilis' Inneres erzitterte. Mit Falke hätte sie hier stehen sollen. Keines von den untoten Monstren hätte sie erwischt, wenn sie nicht auf der Wachstube geblieben wäre. Sie hätten gemeinsam den Weg hinunter in die Bibliothek gemacht, hätten Marika retten können, vielleicht sogar Kerill. Falke und Jilis, die Raubvögel. Sie hätten gemeinsam vor diesem Feuer gestanden und die erste Segnung empfangen.
Um sie herum erscholl der Gesang, aus dem größeren Kreis, der den kleinen der Gesegneten umgab. Stimmen, klar wie ein Morgen auf den endlosen Steppen, die keinen Nebel kannten. Unzählige Male erprobt in den Chorgesängen der Kathedrale.
Jilis schlug den Blick nieder, bis das Lied verklungen war.
Akaras Schatten löste sich vom Feuer und ging die Reihen ab, in der Hand das Töpfchen, in dem die Farbe sich befinden musste. Sie tauchte zwei Finger in das Gefäß und zeichnete auf die Stirnen der Schwestern Lider, Iris und Pupille mit schwarzer Farbe. Ihr Mund sprach die Segensformel, im ewig gleichen Rhythmus.
Die Finger drückten sich auf Jilis Stirn, und in Gedanken verfolgte sie die Bewegungen. Das verborgene Auge. Wasser konnte die Farbe nicht mehr abwaschen. Blut konnte es, sagten manche.
„Die Herrin des Auges blickt auf dich, und durch sie blickst du nun auf die Welt.“
Der Wind strich ihr kühl über die noch feuchte Farbe. Akara vollzog das Ritual an den Übrigen, und die Stille löste sich. Die Schwestern lächelten wieder, blickten einander an. Jilis blickte ins Feuer, bis schwarze Flecke vor ihren Augen tanzten.
Die erste Segnung änderte nichts. War nicht jede von ihnen bereit, das Leben für die Schwesternschaft zu geben?
„Komm in mein Zelt, Jilis.“ Akaras Gewand flatterte neben ihr. „Wir haben etwas zu bereden.“
Und das, wo sie am Morgen hatte aufbrechen wollen...
„Sehr wohl“, sagte sie.

An Akaras Zelt haftete ein Geruch, wie sie ihn nicht kannte. Nicht greifbar, nicht benennbar, nicht einmal hervorstechend – aber fremd.
Die Oberin winkte sie herein und lächelte, dass die Falten in ihrem Gesicht sich wie ein Gebirgsmassiv verschoben.
„Du wirst das Zeichen des Auges mit Stolz tragen, das hoffe ich.“
„Seid sicher.“ Jilis tastete nach ihrer Stirn. An ihren Fingerspitzen blieb keine Farbe haften. Dann würde sie ab jetzt ewig erkennbar sein als Kriegerin im Dienste der Herrin des Auges.
„Früher ist das Auge ein Zeichen dafür gewesen, dass wir unermüdlich über die Grenzpfade der Mark wachen.“
„Jetzt ist es das nicht mehr?“
„Oh doch“, sagte Akara und stellte den Tonkrug mit der Farbe zurück in ein Bretterregal, „doch in diesen Tagen hat das, was wir außerhalb der Grenzen halten sollen, diese längst überschritten.“
Jilis ballte die Fäuste.
„Dieses Übel ist über eine andere Grenze gekommen. Nur mit Schwertern und Bögen können wir es zurückschicken! Akara–“
Eine Handbewegung der Oberin unterbrach sie.
„Du denkst, dass ich von den Flammen und der schwarzen Magie spreche, die unser Kloster genommen haben. Aber heute Nacht ist jemand in unser Lager gekommen. Er hat davon gesprochen, dass er uns helfen will. Noch vor dem Morgen wird er aufbrechen, vermute ich.“
Jilis lächelte wie irr. Konnte es sein, dass sie...
„Du wirst mit ihm gehen, Jilis.“
„Ja, Oberin“, sagte sie.
Nun musste sie nicht mehr das ganze Gewicht der Verantwortung tragen. Einen Befehl der Oberin würde selbst Vega akzeptieren müssen.
Sollte der Reisende sein, wer er wollte. Wenn er ihr einen Aufbruch rechtfertigte, kam er nur gelegen.
„Es wird vielleicht nicht ganz so sein, wie du denkst. Der, mit dem du reisen musst, ist kein Mensch wie wir.“
„Ein Dämon aus der Unterwelt, nehme ich an?“
Sie lächelte noch immer. Akara überging ihre Worte.
„Er stammt aus den Dschungeln von Kejistan. Ein Nekromant.“
Ihr Herz setzte aus, und ihre Lippen formten ein Wort.
Was?
Vor sich sah sie Knochenarme sich aus dem Boden hervorgraben, und über ihnen die Arme eines Mannes, der sie wie Marionetten führte. Mit diesem Mann würde sie reisen müssen.
„Akara, das ist... unmöglich!“
Wer sagte ihr, dass nicht er den Schrecken über dem Kloster entfesselt hatte?
„Findest du? Er wird nicht auf dich warten, deshalb sei morgen früh zeitig am Tor, lange bevor die Sonne steigt.“
„Aber es ist ein Nekromant, Akara! Er ist mit denen im Bund, die uns alles genommen haben! Weiß Kaschya davon?“
Akara schüttelte den Kopf und tippte sich zwischen die Augen.
„Ragte ihm dann nicht schon ein Pfeilschaft hier heraus?“
„Dann sorge ich dafür, dass wir uns bald einen hübschen Schaft in seinem Schädel betrachten können! Drei Höllen!“
Ihre Hand zitterte um den Dolchgriff, die Ältere umschloss sanft ihre Finger.
„Ich hege die selben Befürchtungen und Zweifel wie du. Deshalb habe ich dich ausgewählt. Geh mit ihm, und wache über jeden seiner Schritte mit den Augen eines Adlers.“
Sie schob Akaras Hand beiseite.
„Und wenn er die Toten zu sich ruft und auf mich hetzt?“
„Dann gib ihm deinen Schaft zwischen die Augen.“
In Jilis Bauch kochte der Zorn.
„Wenigstens das.“
„Aber wenn du es ohne Blutvergießen anstellen kannst, wenn du ihn nur verdächtige Dinge tun siehst, dann gib mir Bescheid.“
Jilis presste die Fäuste aneinander.
„Ich beuge mich Eurem Befehl, Akara.“
Eine Bestimmung der Oberin abzulehnen, dazu noch in der Nacht der Segnung... Akara, wie geschickt sie den Moment gewählt hatte.
„Das erwarte ich. Es geht um Sicherheit und Schutz der Schwesternschaft.“
Und wer schützte sie davor, dass sie im Schlaf von Knochenhänden erwürgt wurde?
„Habt Ihr noch einen Rat?“
Oder noch einen wahnsinnigen Befehl?
„Bereite dich vor, Jilis. Wir wissen nicht, was für eine Reise der Nekromant antreten wird. Aber er wird vorhaben, den Friedhof zu besuchen.“
„Da hätte ich nichts anderes erwartet. So viele Leichen auf einem Haufen, an denen er sich vergehen kann.“
„Ein Händler hat sich in unserem Lager niedergelassen. Wenn du dich ausrüsten willst, stellen wir dir das nötige Gold.“
Jilis zog das Messer und einen Pfeil aus ihrem Köcher.
„Ich trage die Waffen der Schwesternschaft. Wenn ich einen Feind niederstrecken muss, dann mit dem Bogen, den mir meine Geburt bestimmt hat.“
In Akaras Gesicht trat ein Lächeln.
„Du ehrst unseren Gemeinschaft, Jilis. Keine außer dir hätte ich geschickt.“
„Ihr hört von mir, Akara.“
Sie schlug die Zeltplane beiseite.
Eine zweifelhafte Anerkennung war das.
Noch Viele der Schwestern umstanden das Feuer und schwatzten. Jilis suchte sich einen Platz direkt an der Feuerstelle, abseits der anderen. Einige wenige Regentropfen fielen und knisterten in den Flammen.
Akara war die Letzte, die noch Kenntnis der vollen Lehre des verborgenen Auges besaß. Dennoch... dadurch kam Ihr nicht das Recht zu, sie auf eine Höllenfahrt mit Dienern des Feindes zu schicken.
„Jilis?“, fragte ein Schemen neben ihr. Vega trat aus der Dunkelheit, die Arme vor der Brust um ein weißes Tuch verschränkt. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Mitgebracht? Woher? Bist du in der Zwischenzeit in den Bergen gewesen, Falken schießen?“
„Nein“, sagte Vega und knuffte sie in die Seite. „Da du doch aufbrechen willst... bin ich bei diesem Händler gewesen. Sieh dir das an.“
Jilis empfing das mit Tuch umwickelte Ding, ohne den Blick von den Flammen zu nehmen.
„Wiegt schwer. Du weißt doch nicht einmal, was Akara zu meinem Vorschlag gesagt hat. Oder ob ich ihn überhaupt gemacht habe.“
„Ich weiß aber, dass du gesagt hast, du würdest morgen früh gehen. Egal, was Akara gesagt hätte...“
„Leider ist sie mir zuvorgekommen und hat einen anderen Plan.“
Sie riss das Tuch herunter und warf es in die Flammen. Es legte sich auf die Holzscheite und wurde von den Rändern her pechschwarz.
Jilis hielt ein einseitig geschliffenes Schwert. Die Klinge war viel zu lang, und die Ornamente des Griffs schabten an den Schwielen ihrer Hände.
Vega blickte sie erwartungsvoll an.
Mit beiden Händen führte Jilis die Waffe, ging zwei Schritte, bis sie frei stand. Dann jagte sie die Waffe in zwei Aufwärtshieben hoch, wirbelte mit Rückhandschlägen einen Kreis aus silbernem Glanz um sich und ließ die Klinge in rascher Folge in Richtung des Lagerfeuers zucken, dass die Funken zur Seite stoben.
Sie ging zurück zu Vega und hielt das Schwert senkrecht vor sich.
„Und?“
„Keine Balance.“ Jilis ließ die Spitze vor sich in den feuchten Erdboden gleiten. „Die Klinge trudelt wie eine besoffene Ente.“
„Oh“, sagte Vega und legte die Hand an den Schwertgriff. „Es ist nicht gut?“
Jilis seufzte. „Ich kann nicht noch mehr mit mir herumschleppen. Akara will, dass ich mit einem Nekromanten reise... der vermutlich nicht mit mir reisen will. Ich muss schnell sein können.“ Sie strich sich durch die Haare und blieb an den Perlen hängen. „Die hier brauche ich auch nicht mehr.“
„Ich kann sie dir-“
Jilis zog ihr Jagdmesser, tastete nach den Knoten im Haar und durchtrennte sie, einen nach dem anderen. Die Perlen fielen zusammen mit einigen Haarsträhnen auf die Erde nieder. Endlich wieder frei.
„Es ist ein ganz schlechter Zeitpunkt, Vega. Ein ganz schlechter.“
„Verstehe“, sagte Vega so leise, dass ihre Stimme fast vom Prasseln des Regens auf dem Feuer übertönt wurde. „Du weißt, was du tust. Wie immer, oder?“
„Manchmal weiß ich nicht, was ich tue. Aber irgendwie sitzen am Ende immer alle Knochen noch an der richtigen Stelle.“
Sie breitete die Arme aus und umschloss die Jüngere. Kleine Schwester. Die den Kampf fürchtete.
Dann würde sie für zwei kämpfen.
„Diesmal hoffentlich auch.“
„Ich gebe acht. Mein Wort.“

Bis zur Ruhestunde sprachen sie nicht mehr. Aber als Jilis sich in ihrem Zelt wieder erhob, lange vor dem Morgengrauen, da fand sie ein verschnürtes Päckchen neben der schlafenden Vega. Als sie es anfasste, wärmte es ihr die Hände, und ein Duft von gebratenem Fleisch stieg heraus.
Sie klemmte es sich unter den Arm und stieg so langsam aus dem Zelt, wie es möglich war, Köcher und Bogen auf dem Rücken, Messer im Gürtel.
„Mein Wort“, flüsterte sie und kämpfte sich dann durch den Regen, über den Hof mit dem erloschenen Feuer.
 
Zuletzt bearbeitet:
V Teufelssöhne

Maro schüttelte sich den Schlaf aus den Gliedern und tippte dem Golem auf die Stirn. „Komm“, sagte er. Stumm und starr wie ein Felshaufen saß Oram da, aber mit dem Befehl richtete er sich auf. Die leeren Augenhöhlen richteten sich auf Maro, und die irdene Gestalt trottete um den Wagen des Händlers herum.
Das Schwert über den Rücken geschnallt, durchquerte Maro das Lager.
Hoffentlich sparten sich die Jägerinnen ihre Todesdrohungen bei Gästen, die ihr Lager verließen, und hoben sie sich auf für solche, die es betreten wollten.
Aber keiner der Schatten auf den hölzernen Zinnen regte sich, und selbst das Tor war geöffnet. Vor der Brücke blieb er stehen und sah sich um. Eine List? Würden sie Feuer geben, wenn er noch einen Schritt tat? Er befahl in Gedanken den Golem in seinen Rücken. So nah, dass die hünenhafte Figur ihn gänzlich vor Pfeilen schützen würde.
Die Brücke knarzte unter dem Schritt des Erdriesen – und hinter ihm knarrten die Stämme des Tors, das wieder verschlossen wurde. Bemerkt hatten sie ihn also.
Noch einige Schritte ging er im Schutz seines lebendigen Walls, dann befahl er den Golem zur Seite.
Die Dunkelheit machte es schwer, die Straße von den Wiesen zu trennen. Maro orientierte sich an den Meilensteinen, die den Weg säumten, oft von der Witterung bis zur Hälfte zerlegt.
Als er den dritten erreichte, zeigte sich schon ein glänzendes Band am Horizont. Aber das Licht genügte nicht, den Stein aus den Schatten des Waldes zu zerren, und auch nicht die dunkle Form, die darauf kauerte.
Maro legte die Hand an den Dolch. Er überlegte kurz und legte sie lieber auf den Griff des Schwertes, das auf seinem Rücken hing.
„Gebt Euch zu erkennen“, rief er. Die Wipfel der Weiden hingen so über den Pfad, dass er dunkel wie eine Höhle erschien.
Du stehst in dieser Schuld, dich zu erkennen zu geben. Du bist der Fremde“, antwortete eine Frauenstimme.
Eine der Dryaden, die Bäume bewohnten und Eindringlingen in ihrem Forst die Sinne verwirrten?
Maro ging weiter auf die Stimme zu, auf den Schatten am Meilenstein.
„Wenn du das weißt, dann musst du mich bereits kennen.“
Oder jedes einzelne Lebewesen, dass dieses Land bewohnt, dachte er. Einem der Naturgeister wäre das zuzutrauen.
Der Schatten am Meilenstein bewegte sich, formte sich zum Umriss eines Menschen. Maro ging noch näher. So langsam, dass Oram ohne Mühe mithalten konnte, stets nur einen Schritt neben ihm war.
„Kunststück. Unser Lager ist klein, und wenn jemand über die Kontinente zu uns reist, ist die Neuigkeit in einer halben Nacht in jedes Ohr gelangt.“
Ein Mädchen saß breitbeinig auf dem zerrütteten Meilenstein. Die Haare hingen ihr wie Flammen in Strähnen ungleicher Länge in die Stirn, und das Gesicht mochte kaum mehr Sommer als er gesehen haben. Auf ihrer Stirn prangte das dritte Auge, von dem Gheed gesprochen hatte, und das Mädchen trug die selben Lederrüstungen mit Nieten wie die Jägerinnen.
Hatten sie ihn nur entkommen lassen, um ihn hier umzubringen?
„Was wollt ihr noch von mir? Ich habe euer Lager verlassen und werde euch nicht länger behelligen.“
Das Mädchen spuckte aus und erhob sich von dem Stein, um ihm gegenüberzutreten.
„Aber mit dem Lager hast du noch nicht unser Land verlassen.“
„Das habe ich auch nicht vor. Aber genauso wenig habe ich vor, euch im Weg zu sein. Ich gehe meinen, ihr euren.“
Der Blick des Mädchens flammte auf und sie stieß ihn vor die Brust. Maro taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht, tastete mit den Füßen vergeblich nach Halt in dem schlammigen Boden. Eine Hand, so breit wie sein Brustkorb, stoppte seinen Fall und richtete ihn wieder auf. Oram.
„Was für einen Weg ihr geht, das habe ich gesehen! Meine Freundin ist von einer Kreatur wie dieser in die nächste Welt geschickt worden!“
„Ein Golem?“, fragte er.
„Was für Namen diese Bestien auch tragen mögen. Belebt von Magie wie deiner. Nicht aus Erde, sondern Knochen. Kriegerskelette!“
Wie die alte Frau mit dem Brandmal es gesagt hatte.
„Aber kein Wesen, das wir beleben, handelt eigenmächtig. Es braucht immer einen Meister...“
„Ho“, machte die Jägerin und verschränkte die Arme, „welch Schicksalsfügung, dass ich hier einen vor mir habe. Ihr schändet die Toten und ruft sie aus den Gräbern, oder ist es anders?“
Maro biss die Zähne zusammen. Die aus Erde geformten Muskeln des Golems zitterten. Zurück, zurück.
„Es ist der Kreislauf, die Waagschale des Gleichgewichts. Unsere Magie ist nicht nur eine des Todes.“
„Hervorragend! Daneben auch eine noch eine des Verderbens und des Leids! Was habe ich in einer Nacht an Zerstörung gesehen...“
„Eine einzige Nacht ist nicht alle Nächte.“
„Was ist das für ein Blödsinn?“
„Du hast nur das eine Mal erlebt, nur die eine Seite kennengelernt.“
„Dann tu mir den Gefallen und erspare mir die anderen.“
Maro machte einen Schritt auf sie zu. Ihre Stiefelspitzen berührten sich beinahe.
„Ich bin nicht hier, um dir in einer Jahrmarktsposse zu zeigen, was ich aus Erde und Himmel herausrufen kann. Lass mich passieren.“
Diesmal wich die Kriegerin zurück, schnaubte und setzte sich wieder auf ihren Meilenstein.
„Tja, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. Der Teufel weiß, ob du nicht zum Friedhof reist und noch mehr Tote ausbuddelst.“
Langsam atmete Maro ein und aus. Wie lange würde es noch dauern, bis sie den Bogen von ihrem Rücken nahm und die Hand in den Köcher zuckte? Kämpfen würde er, wenn sie es forderte.
„Also töte mich. Versuche es.“
Sie blies die Luft hörbar aus und lehnte sich mit den Ellbogen auf ihre Oberschenkel.
„Schön wär das, wenn es so einfach ginge. Dein Kumpel aus Matsch hätte ohnehin im Nu seine Finger um mich und würde mir den Magen aus dem Hals herauspressen. Aber ich bin nicht zu dieser drei Mal verfluchten Zeit aufgestanden, um zu kämpfen.“ Die Kriegerin blickte zu Boden, dann fügte sie hinzu: „Noch nicht.“
„Gut, dann kann ich wohl weiterreisen.“
Ohne Umschweife ging er an dem Meilenstein vorüber, Oram neben ihm einherstapfend. Welch seltsame Begegnung am Morgen. Dass man ihm auflauerte, um ihn und seine Kaste zu beschimpfen.
„Ja, kannst du“, sagte die Kriegerin. Als er sich umdrehte, war der Meilenstein leer, kein Schatten mehr auf ihm. Der Straßenschlamm ächzte auf, die Frauengestalt lief neben ihm, ohne ihn anzusehen. Er überragte sie um keine Fingerbreite. Größer als die Mädchen, die in seinem Dorf die Tische deckten und Töpferwaren verkauften.
„Weshalb läufst du mir dann nach? Willst du mir dabei helfen, die Toten zu schänden?“
Plötzlich trat ein ernster Zug in ihr Gesicht.
„Ich bin das Auge der Schwesternschaft, dummer Junge.“
„Und ich hätte dich für ihre Faust gehalten.“
Sie lachte auf und barg ihre Hände in den Hosentaschen.
„Nichts dagegen. Aber der Befehl der Oberin sagt etwas anderes. Ich soll einen dunklen Magier auf seiner Reise bewachen.“
„Oh, eine Leibgarde. Sehr umsichtig, aber–“
Abrupt blieb sie stehen verkrampfte die Hände zu Klauen.
„Keine Hoffnungen“, zischte sie, und ihm raste ein Schauer den Nacken hinunter. „Ich sehe deine Schritte, und wenn ich einen falschen sehe, dann wird es, bei den drei Höllen, dein letzter gewesen sein.“
„Was erwartest du von mir? Dass ich nichts Besseres zu tun habe, als wie ein Poltergeist durch Eure Wälder und Wiesen zu ziehen und Unheil zu stiften?“
Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter.
„Der erste deiner Art wärst du nicht, der das versucht. Und sag, es ist doch eigenartig, dass in hundert Jahren ein Nekromant sich genau dann zeigt, wenn hier die Gräber plötzlich so seicht geworden sind, dass die Toten herausklettern.“
Wenn die Geschichten stimmten, und nicht nur den wirren Gedanken einer Gemeinschaft entstammten, die in einer Nacht des Entsetzens und der Verheerung aus ihrem Heim vertrieben worden waren... Es bedurfte nicht des Dufts der schwarzen Yata, um Dinge zu sehen, die es nicht gab.
„Mir ist es zunächst eigenartig genug, dass die Toten überhaupt über die Erde wandern. Ich will herausfinden, wieso sie das tun. Genau wie du.“
Wenn auch aus einem anderen Grund als du, dachte er.
„Das behauptest du zumindest.“
„Mehr kann ich im Augenblick schwer tun. Was erwartest du?“
„Dass mir dein Freund aus Erde nicht den Schädel eindrückt, sobald ich meinen Schlafsack ausgerollt und die Augen zu habe.“
„Du willst wirklich mit mir reisen“, murmelte Maro. Eine größere List hätte er sich selbst nicht einfallen lassen können.
„Was ich will ist unwichtig. Die Schwestern des verborgenen Auges verlangen es.“
„Also wirst du deine Pfeile nicht auf mich richten, wenn sich uns jemand entgegenstellt...?“
„...sondern auf den Jemand? Kommt ganz darauf an. Bilde dir nicht zu viel ein.“
Sie trug ein spöttisches Lächeln.
Keine Wahl.
Durch die Äste flimmerten die ersten Flecken Morgensonne hindurch und strichen über sie hinweg.
„Maro“, sagte Maro irgendwann.
„Jilis“, sagte die Kriegerin und starrte voraus in den Wald, und lange sagten sie nichts mehr.
Die Kälte kroch aus der feuchten Erde und wich der Wärme des Tages. Verstohlen sah Maro seine Begleiterin von der Seite an. Ob sie es bemerkte oder nicht – sie ging ungerührt neben ihm her, prüfte manchmal den Sitz eines schmucklosen Jagdmessers in ihrem Gürtel oder zog die Nase hoch und spuckte aus.
Eine weitere Klinge an seiner Seite konnte er gebrauchen, das ließ sich nicht leugnen. Auch, wenn das Mädchen keine Klinge trug außer dem schmalen Messer. Aber in ihren Schritten las er die Behendigkeit eines Raubtiers, einer Tigerin oder einer Perlennatter. Mit dem Messer allein würde sie ihm und seinem Schwert schon weit überlegen sein.
Bis zu einem gewissen Punkt würden sich ihre Ziele tatsächlich decken. Bis sie herausfanden, wer sich hinter den Truppen der Untoten verbarg... Dann musste er die Kriegerin abschütteln, auf die eine oder andere Art. Wenn sie es nicht vorher mit ihm tat – auf die eine Art.
Das Kompendium wippte in seinem Rucksack bei jedem Schritt an seinem Rücken. Er fühlte, wie die Seiten an der gepressten Yatablüte rieben, wie sie die Blüte eines Tages in ferner Zeit zerrieben haben würden. Bis dahin würde er die Blüte schon nicht mehr brauchen.
Plötzlich drängte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Nein, bis jetzt gab es keinen Grund, die Hilfe der Kriegerin abzulehnen.
„Du starrst mich an und dann lächelst du wie ein Irrer“, sagte sie mit einem Mal. „Ich würde dich für einen Lustmolch halten, wenn ich dich nicht schon für etwas weit Schlimmeres halten würde.“
Bis zum Mittag ließen sie die Wälder hinter sich. Die Sonne kroch wieder hinter düstere Wolken und gab vor ihnen ein graues Land frei. Maro rastete nur, um seinen Wasserschlauch erneut zu füllen. Hatte er sich am Anfang noch gefragt, wieso die Kriegerinnen der Schwesternschaft keine Pferde besaßen – das Land hatte ihm die Frage beantwortet. Alle paar Meter in den durchweichten Böden einzusinken, war schon für einen Menschen hinderlich, wie viel dann erst für ein Pferd.
Jilis wartete in einer wilden Steinformation, bis er sein Wasser geschöpft hatte.
Sie diente einer Gemeinschaft. So, wie er es einst getan hatte. Die Nekromanten, die von Evra nichts verstanden, sie zu einem Namen machten, den sie in ihre Bücher schrieben und vergaßen. Einen winzigen Augenblick keimte in ihm die Frage auf, was wäre, wenn er nichts fände. Wenn die geflügelten Dämonen Orestars nur ein Hirngespinst der Bauern gewesen waren, und die wandelnden Skelette nur eine Ausgeburt der überreizten Geister der Schwestern. Wenn keine Höllenwesen im Kloster hausten, sondern nur eine Bande Unruhestifter...
Zurückkehren konnte er nicht.
„Heh“, sagte Jilis plötzlich neben ihm, „ich dachte schon, die Riesenwelse hätten dich verschlungen.“
„Nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung.“
„Ja, zu schade. Hast du diese Spuren gesehen?“
Maro schüttelte einige Wassertropfen von seinem Schlauch und folgte Jilis Fingerzeig. Vor dem Horizont zeichnete sich ein grauer Schemen ab. Vier Mühlenflügel, die er schon am Vortag gesehen hatte, aus nächster Nähe. Diesmal standen sie still.
Jilis stieß ihn an. „Nicht am Himmel. Wo schaust du hin?“
Sie wies in das Gras neben ihnen. Mit Mühe erkannte Maro, dass einige Halme herabgedrückt waren.
„Das könnten auch meine Spuren sein.“
„Ganz sicher. Wenn du dich in ein Wesen mit zwei Zehen und gekrümmten Klauen daran verwandeln kannst. Nicht, dass ich dir das nicht zutrauen würde.“
Maro bückte sich neben der Spur und strich mit den Händen über die Halme. Zerdrücktes Gras, mehr war das nicht.
„Zwei Zehen, gekrümmte Klauen, das liest du aus dieser Wiese heraus? Wer beherrscht hier finstere Mächte?“
„Da muss ich mich nur kurz umdrehen, und ich weiß die Antwort.“
Sie drehte sich zu Oram um und winkte dem hirnlosen Geschöpf zu. Maro befahl den Erdriesen an seine Seite, und sofort wankte der los.
Die zerdrückten Gräser setzten sich auf der anderen Seite des Flusses fort. Schwer erkennbar, denn auch das Regenwasser zog die Halme nach unten.
„Hinterher?“, fragte er.
„Ich gehe dahin, wohin du gehst. Wenn du dort deine wahren Absichten enthüllst, ist mir das nur recht.“
Er seufzte. Eine kreuzdumme Frage war das gewesen.
Der Golem trat über den schmalen Flusslauf mit einem einzigen Schritt hinweg und formte über der Mitte des Gewässers seine Hände zu einer Schale. Maro setzte seinen Fuß hinein und sprang von dort auf die andere Seite des Flusses.
Die Augenhöhlen des Golems richteten sich auf die Kriegerin, Maro nickte ihr zu.
„Los.“
„Lächerlich“, sagte Jilis und spazierte einige Schritte zurück, die Hände in den Hosentaschen. Wie der Blitz wandte sie sich um und schoss geduckt auf den Fluss zu, stieß sich am Ufer ab und sprang. Mit einer Rolle kam sie auf der anderen Seite wieder auf die Beine und blickte zu ihm hoch. „Wir können weiter.“
Sie folgten den Abdrücken im Gras, und aus dem einen Klauenpaar wurden viele, die nebeneinander ihre Spur in die Wiesen gedrückt hatten.
Als sie noch knappe fünfzig Schritt vom Haus entfernt waren, hielt Maro an. Die Fensterläden standen weit geöffnet, und aus dem Schornstein quoll Rauch. Kein Anzeichen, dass sich etwas verändert hatte, und die Windmühle mochte aus einem Grund still stehen, den jeder Bauer verstand. Nur er nicht.
„Hinten herum“, sagte Jilis.
Da waren noch die Spuren, die sich jetzt verteilten. Die Kriegerin folgte einem Strang, der um das Haus herum und selbst an der Scheune vorüber führte, nahe an die Mühle heran. Maro hielt sich nahe am Wasser, den Golem immer in seinem Rücken.
Schon aus der Ferne sah er es. Die Flügel der Windmühle waren gebrochen, das Pergament hing in Fetzen von den Holzgestellen hinunter. Jilis wartete auf ihn.
„Hat sich zum letzten Mal gedreht.“
„Als ich gestern hier vorübergekommen bin, haben sie sich noch bewegt.“
Er schauderte, und es war nicht des Windes wegen, der ihm durch die Kleider fuhr.
„Wahrscheinlich hatte sie da auch noch niemand zerschmettert. Zerstörung folgt dir. Nicht, dass ich überrascht wäre.“
Sie schlichen um die Mühle herum, in Richtung der Scheune. Entdecken würde sie ohnehin jeder, der nicht blind war und einen über zwei Schritt großen Riesen aus Erde nicht übersah. Aber zumindest das Geräusch ihrer Schritte mochte der Wind schlucken, der über die Wiesen ging.
Das Scheunentor war zu einer Seite auf die Erde herabgerissen und öffnete den Weg hinein. Der Geruch von Dung und Tierleibern drang zu ihnen heraus. Aber nicht ein einziger Laut. Nur der Wind, der im Stroh raschelte. Durch die Wolken fiel nicht genügend Sonnenlicht, um die Scheune zu erleuchten.
Maro wechselte einen Blick mit Jilis, dann trat er ein. Mit jedem Schritt wuchs ein Geräusch an. Erst ein Rauschen, dann ein Summen. Fliegen. Er hielt in der Mitte des Raums an. Die Augen einer Kuh starrten zu ihm. Der Tierkörper lag auf die Erde hingestreckt, das Muster aus schwarzer und weißer Maserung am Hals durchbrochen von einem roten Fleck. Die Wirbelsäule schimmerte durch das Fleisch hindurch.
„Bei den Höllen“, sagte Jilis hinter ihm, und die Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
„Siehst du noch Spuren?“
Mit verzogener Miene schüttelte sie den Kopf. „Ich sehe verstümmelte Tierkadaver, das muss dir reichen.“ Sie schlug nach den Fliegen, die sich um die toten Tiere sammelten, bedeckte den Mund mit ihrer Hand.
Aus dem geöffneten Bauch der Kuh ringelten sich die Därme, und direkt daneben lag ein Lamm in seinem eigenen Blut, den Kopf so weit zurückgebogen, dass die Ohren ans Rückgrat stießen.
Knapp ein Dutzend Tiere, die mit ihrem Blut das Stroh und ihr Fell färbten. Alle mit durchgebissener, zerrissener Kehle.
Maro hob den Kopf eines Schweins an und starrte ihm in die Augen. Lange genug hatte er Leichen ausgenommen, präpariert, einbalsamiert. Die Jägerin hinter ihm wankte aus der Scheune heraus, wo auch Oram wartete.
Mit einem Zucken des Geistes wechselte Maro die Sicht, blickte ins Reich der Geister. Dumpfe Kühle umwehte ihn, und der Schädel des Schweines strahlte vor ihm im Licht der Astralwelt. Er verglich das Strahlen mit dem, das er selbst abgab. Die wabernden Lichtfäden fehlten, mehr nicht. Vor noch einem Tag musste das Schwein quicklebendig gewesen sein. Aber das hätte er sich auch denken können. Doch am Rande des Feldes seiner Wahrnehmung, hinter zwei Wänden aus Holz, brannten weitere Auren. Sie waberten. Lebendig.
Er kehrte zurück in die andere Wirklichkeit, und der Duft von süßer Verwesung hüllte ihn ein.
Jilis lehnte am Scheunentor, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt.
„Eure auferstandenen Skelette waren das nicht“, sagte Maro, „die würden nicht das Blut von Kühen und Hennen trinken.“
Unsere auferstandenen Skelette?“ Jilis Gesichtsfarbe ähnelte der des Himmels. Nur langsam floss wieder Farbe hinein. „Es gibt hier Wölfe in der Gegend, die Wälder wimmeln davon.“
Diesmal lächelte er.
„Wölfe mit zwei Krallen statt Pfoten?“
„Was weiß ich.“
„Wir werden sie gleich finden. Im Wohnhaus ist etwas, dem noch nicht die Kehle herausgerissen wurde.“ Er wies auf die Rauchschwaden über dem Schornstein. „Die Wölfe scheinen sich gerade eine Kohlsuppe zu erwärmen.“
„Halt den Mund“, zischte Jilis.
Maro löste den Dolch aus seinem Gürtel. Er schlich voran, auf das Bauernhaus zu. Was sich auch darin verbarg, es würde mehr Interesse daran haben, auch ihm die Kehle aufzureißen als mit ihm zu reden. In seinen Gedanken malte sich das Bild eines der Riesenaffen, die Panzerplatten auf dem Rücken trugen und deren Augen in der Dunkelheit rot wie Kohle glommen. Zwar hätte eine solche Bestie es nie über die Kontinente geschafft, doch dieses Land kannte größere Schrecken.
Die Tür war aus den Angeln gerissen worden. Er erstieg die Treppe und trat ein. Von allen Seiten strich der Wind durch Fenster, durch die Hintertür, und zwei der Läden klapperten gegen die hölzerne Wand.
Die Tischdecke hing nur noch an einer Ecke auf dem Esstisch, und auf dem Boden verteilten sich Scherben von Tellern, Milchkrügen, und die Dielen waren dunkel von aufgesogener Flüssigkeit. Die Säure der Milch hing in der Luft, aber darüber legte sich noch ein anderer Geruch. Eine Suppe kochte hier niemand. Er briet Fleisch.
Aus dem Kamin hingen die Fetzen eines Mantels, längst schwarz vom Feuer. Auch der Körper, den der Mantel umhüllte, war schwarz wie Kohle.
Jilis Schritte tappten hinter ihm die Treppe hinauf.
„Sieh es dir nicht an“, sagte er.
„Sehr fürsorglich von dir, aber ich habe mehr al–“ Sie drehte sich der Wand zu und knurrte wie ein Tier. „Verflucht...“
Auch Maro schluckte. Er hatte viele Körper brennen sehen. Aber die waren im Tode den Flammen übergeben worden, um die Reise der Seele zu erleichtern. Ob diese hier überhaupt bereits das Leben ausgehaucht hatten, bevor sie ins Feuer geworfen waren worden...
Zwei Türen führten aus dem Esszimmer hinaus, und eine Treppe in den nächsten Stock.
Maro gab den Befehl an Oram, die Treppe draußen zu bewachen.
„Wo soll hier noch etwas Lebendiges sein?“, fragte Jilis.
Genau, die Auren. Längst musste das Etwas, das sich im Haus verbarg, sie bemerkt haben. Er lauschte in die Stille hinein. Nur das Feuer knisterte.
Jilis verschwand in einer der Türen und beugte sich über eine Stelle am Boden, an der der Teppich zurückgezogen war.
„Lass uns nach den Vorräten sehen, einige mitnehmen und dann verschwinden“, sagte die Kriegerin. Sie griff nach irgendetwas auf dem Boden.
Maro rief das zweite Gesicht herbei. Die Welt aus weißen Schleiern umspülte ihn, gab seinen Blick frei. Er begriff. Die Luke zu der Vorratskammer. Jilis Finger schlossen sich um den Griff. Unter ihr flackerten die Auren wie ein Meer aus weißem Feuer. Maro zerrte sich zurück aus der Geisterwelt. Farbe floss wieder in die Umgebung. Zu spät.
„Nein!“, brüllte er. Sein Ruf wurde erstickt. Jilis öffnete die Luke, und Flügelschläge füllten die Luft. Sehnige Arme, rot wie wundes Fleisch, rissen ihr die Luke aus der Hand, brachen sie aus den Scharnieren und zerschmetterten sie an der Wand.
Ein Körper schoss aus dem Vorratskeller, blieb vor ihr in der Luft stehen. Zwei lederne Flügel auf seinem Rücken peitschten durch die Luft. Kein Mensch. Fingerlange Zähne standen in dem aufgerissenen Mund, dünn und spitz wie Nadeln. Dicht darunter presste sich Jilis Faust um den Hals des Ungetüms. Sie zog das Wesen aus der Luft, in einem Schwung um sich herum, dann rammte sie es in die Holzdielen, dass Bretterstücke und Nägel in die Luft spritzten.
Maro machte einen Schritt zurück. Solche Stärke.
Das Ungeheuer zuckte und seine Flügel scharrten über den Boden. In einer Krallenhand blitzte die Spitze eines Speers. Sie zischte in Richtung des Nackens der Kriegerin. Jilis duckte sich zur Seite weg und zog die Waffe weiter in die Wucht des Angriffs hinein, rammte sie der Kreatur ins Gesicht. Nadeldünne Zähne splitterten zur Seite und die Speerspitze drang durch Fleisch und die Bodendielen gleichermaßen hindurch. Gegurgelte Laute quälten sich aus der Kehle des Feindes. Eine Sprache von jenseits dieser Welt. Mit beiden Händen trieb Jilis den Speer tiefer, und als der Rote sich immer noch wand, drückte sie den Rest des Schafts mit einem Fußtritt durch ihn hindurch.
Die Flügel erlahmten, aber die Luft rauschte noch immer von Flügelschlägen.
„Noch mindestens sechs! Da unten!“, rief Maro ihr zu und deutete auf die geöffnete Luke. Schon griffen zwei Klauenpaare über den Rand der Luke hinaus und zogen rotglänzende Körper hoch.
Selbst voll aufgerichtet reichten die haarlosen Wesen ihnen nur bis zur Brust – aber als hätte das etwas über ihre Stärke ausgesagt.
Zwei Speere sirrten durch die Luft, gezielt auf Jilis. Sie entkam mit einem Hechtsprung zurück ins Esszimmer, die Wurfwaffen bohrten sich in den Boden hinter ihr und in den Brustkorb des Gefallenen.
„Das sind fünf zu viel für einen fairen Kampf. Hol deine verdammte Zauberei heraus, oder die werden uns ausnehmen wie Kaninchen!“
Maro löste sich aus der Starre, die ihn gepackt hatte, und zog Gheeds Säbel aus der Scheide auf dem Rücken. Schwerer, als er ihn in Erinnerung gehabt hatte.
„Ich weiß nicht, was du dir vorstellst, was ich für eine Magie herbeirufen soll.“
Im Raum mit der Luke zum Vorratskeller sammelten sich die Geflügelten. Es würde keiner der Übungskämpfe werden, bei denen die Gegner nur auf die Klinge des anderen zielten und ihm nach einem Sturz wieder hochhalfen.
Jilis schnaubte. Zwei der Dämonen brachen aus der Formation aus und stürzten sich durch die Tür hindurch auf sie, die Speere erhoben.
Mit einem Kniestoß warf sie den Esstisch um und sich selbst dahinter in Deckung. Ihre Hand packte Maro an der Schulter und zerrte ihn zu Boden. Ein Speer zischte dort entlang, wo er noch eben gestanden hatte, und bohrte sich in die Tür eines Geschirrschränkchens. Die zweite Speerspitze drang durch die Tischplatte, hielt eine Handbreit vor Maros Gesicht an. Kalter Schweiß brach ihm aus den Poren.
Jilis sprang wieder auf die Beine und schmetterte den Tisch mit einem Fußtritt in Richtung der Dämonen. Einer hing weit über dem schweren Geschoss in der Luft, den anderen sah Maro nicht. Die Tischplatte stieß mit einer Wucht in die Wand, dass aus den Fugen der Decke Staub herabrieselte. Ein schrilles Quieken verriet den Dämon, der zwischen Wand und Tisch geraten war.
„Raus hier!“, rief Maro.
„Raus? Dann fliegen sie uns davon und durchlöchern uns vom Himmel aus.“
Recht hatte sie.
Sie zeigte auf die Treppe, die nach oben führte. Für die fliegenden Kreaturen würde es kein Leichtes werden, ihnen im Flug durch den engen Gang zu folgen.
Augen, gelb wie Schwefel, starrten in seine. Der Dämon raste auf ihn zu, die Flügel zur vollen Spannweite ausgebreitet. Jilis Schritte eilten schon die Treppe hinauf.
Maro rollte sich zur Seite. Ein Schmerz gleißte auf seinem Rücken. Das Grinsen seines Gegners weitete sich, Blut klebte an der Speerspitze.
Als er sich hochstemmte, schoss der Schmerz erneut über sein Rückgrat. Sein Geist griff in die Astralwelt, streckte sich nach der Aura von Oram aus – aber da waren die brennenden Feuerzungen, die der Dämon abstrahlte. Ohne einen Befehl würde der Golem nutzlos sein, ein Haufen Erde, der zufällig die Gestalt eines Menschen hatte.
Der Geflügelte wirbelte den Speer über dem Kopf und keckerte wie ein Tier. Er griff erneut an. Ein Stoß ging über Maros Schulter hinweg, er wich zur Seite und umgriff seinen Säbel. Die Waffe wurde ein Blitz, der schräg über die Brust des Dämons raste. Maro setzte nach und drückte das fliegende Ungetüm mit der Schwertklinge in Richtung Boden. Die Flügel schlugen wild, peitschten um ihn und kratzten mit den winzigen Klauen daran über sein Gesicht. Schmerz war Nichts. Er zog den Geist eine Winzigkeit aus der Wirklichkeit zurück, bis das Leid des Körpers verblasste. Die Klauen huschten weiter über sein Gesicht und den Hals, doch ihre Berührung verblich zu einem Windhauch. In den Zügen des Dämons zeigte sich Entsetzen, seine Augen suchten die seiner teuflischen Brüder. Vier Augenpaare blickten aus dem Dunkel des Nebenzimmers zu ihnen, die Flügel schlugen ruhig.
Maro legte sein ganzes Gewicht auf die Klinge und drückte den Dämon zu Boden. Sein Rücken prallte auf die Holzdielen, und Maro setzte mit einem Stoß in die Brust nach. Die Schwertspitze stieß auf Widerstand, er drückte sie tiefer. Etwas zersplitterte, und der Dämonenkörper erschlaffte. Maro setzte einen Fuß auf den Toten und zog sein Schwert heraus.
„Worauf wartest du noch?“, kam Jilis Stimme von oben.
Er antwortete nicht. In die fünf verbleibenden Feinde kam Bewegung, sie segelten in den Raum. Sofort wandte Maro sich um, schlug einen Haken um den umgestürzten Tisch herum. Ein Speer zielte auf seine Brust, er warf sich auf die Knie und bog den Körper nach hinten. Die Spitze der Waffe strich durch sein Haar.
Am Treppengeländer zog er sich wieder hoch und rannte die Treppe nach oben. Holzsplitter steckten in seinen Hosenbeinen. Der Schmerz würde kommen, später. Hinter ihm quiekte eine der Kreaturen. Er drehte sich um, während seine Füße weiter die Stufen hochhasteten. Einer der haarlosen Schädel hing keinen vollen Schritt entfernt hinter ihm, und beide Hände des Wesens holten mit dem Speer zu einem Stoß aus.
Maro trieb sich an, schneller zu laufen. Es ging nicht. Der Speer zischte voran – ihm entgegen ein Pfeil, der sich in den angespannten Oberarm bohrte. Der Dämon kreischte auf, ein zweiter Pfeil durchschlug ihm eines der Schwefelaugen und ein dritter durchbrach seine Stirn. Die Flügel hinter sich herziehend, polterte der Kadaver die Treppe hinunter.
Maro machte die letzten Schritte. Licht brach in die Dachkammer von den Fenstern her, aber vor ihm ragte ein gewaltiger Schatten auf.
„Weg da!“, brüllte Jilis, und Maro wich zur Seite. Die Kriegerin stemmte sich mit dem Rücken gegen einen der Balken, die das Dach trugen, die Füße drückte sie gegen die Rückseite einer Kommode. Das Möbelstück wankte, das Holz ächzte. Jilis ließ den Schrank noch einmal zu sich wippen. Maro verstand. Er stemmte sich mit der Schulter gegen die Kommodenwand. Jilis nickte ihm grimmig zu und rammte ihre Stiefel noch einmal nach vorn.
Einer der roten Schädel erschien im Treppenaufgang, da kippte die Kommode nach vorn. Maro stolperte in ein Spinnennetz hinein und wischte sich die klebrigen Fäden aus dem Gesicht. Mit Wucht ging die Kommode auf die Öffnung des Treppenaufgangs nieder, der Aufprall erschütterte den gesamten Dachboden. Der Dämonenkörper wurde begraben in einer Wolke von Staub und Holzsplittern.
„Ja!“, rief Jilis und ballte eine Faust. Der Staub tanzte im trüben Licht, das auf sie fiel, wie ein Sandsturm.
„Noch drei“, sagte Maro.
„Du hast noch einen bekommen?“ Jilis bückte sich über eine Kiste aus dunklem Holz hinweg zu ihrem Bogen. „Stimmt trotzdem nicht. Da draußen sind noch zwei, vielleicht drei, und sie zielen ihre Pfeile fast so gut wie meine Schwestern.“
In den Dachbalken und über die Wand dem Fenster gegenüber verteilt steckten die pechschwarzen Schäfte von knapp zehn Pfeilen.
Noch mehr Feinde.
Jilis setzte sich auf die Kiste und betrachtete ihn misstrauisch. „Dein verdammter Rücken... Ist da ein Pflug drübergezogen worden?“
„Ist es so schlimm?“
„Ich habe schon Männer bei kleineren Wunden in die Knie sinken sehen. Viel kleinere Wunden, bei viel größeren Männern.“
Plötzlich lag etwas Anerkennendes in ihrem Blick. Wenn sie gewusst hätte, welche Macht sich dahinter verbarg. Der Schmerz würde kommen. Unausweichlich.
„Im Moment kann ich mich noch aufrecht halten.“
„Dann schaff deinen Erdkumpanen her. Wenn die Biester durchbrechen, will ich hier nicht allein stehen.“
Maros Herz schlug wieder langsamer. Vielleicht konnte er jetzt scharf genug sehen, vielleicht bis vor das Haus.
„Ich brauche Ruhe.“
Jilis lachte.
„Dafür bist du hier am richtigen Platz.“ Sie erhob sich von der Kiste und zog ihr Messer. Geduckt ging sie unter dem Fenster hindurch und zu der umgestürzten Kommode. „Also gut, ich geb dir so viel, wie ich kann.“
Da Möbelstück wackelte, als besäße es ein Eigenleben, und das Holz im Innern knirschte. Wegbewegen können würden die Dämonen das Hindernis nicht, aber mit ihren Klauen mochten sie sich schlicht hindurchschlitzen.
An Jilis Oberarmen breiteten sich zwei Blutflecke auf dem Leder aus. Auch sie war nicht mehr so frisch, wie sie sich den Anschein gab. Zwei Pfeile lagen auf dem Dachboden. Unzerbrochen. Sie musste sich die Geschosse durch den Arm hindurchgeschoben und herausgezogen haben. Ihm schauderte.
Er setzte sich auf einen Stuhl mit zerrissenem Sitzkissen und konzentrierte sich. Die Welt sank in ein wild wogendes Meer aus Weiß und Silber. Eine Aura mit hoch brennender Lebensflamme, die sich gegen drei weitere unter ihr stemmte. Sie berührten sich beinahe durch das schwach leuchtende Holz der Kommode hindurch. Er hatte weniger Zeit, als er gedacht hatte. Rasch schlüpfte er aus dem Haus. Die riesenhafte Gestalt, deren Aura auch die seine war, hielt ihre Wacht vor der Tür. Er näherte sich und flüsterte: „Komm. Hilf. Hilf ihr.“
Seine Gedanken drangen in den irdenen Sklaven und setzten ihn in Bewegung.
In der Ferne auf der Heide leuchteten zwei weitere Auren. Die Bogenschützen, von denen Jilis gesprochen hatte. Ihre Auren leuchteten nicht wie die der anderen Flügelmänner, sie leuchteten überhaupt nicht wie etwas, das Leben in sich trug. Sondern wie Baum, wie Stein, wie Gras. Er war weit weg, und dennoch...
Eine Erschütterung schüttelte seinen Körper aus Fleisch und Knochen. Er sprang zurück, die Astralwelt verwischte zu einer einzigen leuchtenden Welle um ihn.
Der Schmerz katapultierte ihn zurück in seinen Körper. Ein glühendes Band lief ihm den Rücken hinunter. Sofort zog er seinen Geist ein Stück zurück, bis der Schmerz erlosch. Farbe floss in die kleine Dachstube. Rote Farbe. Die Wand der Kommode splitterte, und zwei der Dämonen schossen heraus. Ein Speer fuhr diagonal über Jilis Gesicht und zog eine blutige Spur hinter sich her. Die Kriegerin taumelte zurück und fluchte.
Maro sprang von seinem Stuhl auf und rannte dazu. Mit der stumpfen Seite der Klinge fing er einen Hieb ab, der auf die Brust der Jägerin gezielt war.
„Wo bleibt die Verstärkung?“, keuchte Jilis, die Hand vor das Gesicht gepresst. Vom Haaransatz her sickerte Blut. Sie hackte mit ihrem Messer ungezielt in die Luft, die Dämonen stoben mit Flügelschlägen zur Seite.
„Sollte längst bei uns sein.“
Maro hob das Schwert gegen die Angreifer, die um sie kreisten. Lange konnte er den Schmerzen nicht mehr fernbleiben, oder sein Geist würde sich vom Körper trennen. Die Kämpferin neben ihm hielt sich gebückt wie eine alte Frau. Der erste Kampf, in dem es nicht nur um Rangabzeichen und die Streitereien von Jungen ging, und er war dem Tod weit näher als je zuvor, selbst als in der Nacht der Initiation.
Plötzlich hielten die Dämonen inne, kniffen ihre Augen ohne Brauen zusammen als lauschten sie. Der dritte zog sich durch das Loch in der Kommode auf den Dachboden und breitete die Flügel aus. Nur erhob er sich nicht in die Luft. Ein Riss lief von oben bis unten durch das Holz der Kommode. Dann brach es. Eine Hälfte der Kommode raste in einen Haufen Unrat, zerschmetterte einen mannshohen Spiegel und warf Kerzenleuchter durch den Raum, die andere Hälfte rammte sich in die Außenwand und riss ein Loch hinein. Die Kommodenhälfte stürzte hindurch, und durch die Öffnung fiel Sonnenlicht auf Arme und Beine aus Erde. Eine Faust hielt die Beine des dritten Geflügelten gepackt, der mit Flügeln und Armen um sich schlug. Die zweite Faust schloss sich um Gesicht und Brust des Dämons, und dessen Gefährten starrten auf die Szene. Das Krachen der Kommode, die zehn Schritt unter ihnen zerbarst, übertönte das Knacken, mit dem die Hand aus Erde das Leben in dem Dämonenkörper zerquetschte. Oram öffnete die Faust, und ein Bündel aus Fleisch und vorstehenden Knochen rutschte die Treppe hinab.
Sein Ruf war nicht unerhört geblieben.
Maro setzte zu einem Schwerthieb gegen den Fliegenden vor sich an.
Plötzlich stolperte der Golem seitwärts, stieß gegen die niedrige Decke. Pfeile sprossen ihm aus der Hüfte, und jede Sekunde bohrte sich ein weiterer hinein und raubte ihm das Gleichgewicht.
„Halt die Flieger ab!“, sagte Jilis. Sie warf das Messer fort und zog ihren Bogen, trat neben das Fenster. Die verbleibenden Dämonen setzten zum Sturzflug an. Maro hackte nach einem mit dem Säbel und schlitzte ihm ein Stück des Flügels ab. Der Verwundete flog eine enge Wende und strampelte in der Luft. Das Ungleichgewicht seiner Flugglieder zerrte ihn in die Reichweite des Golems. Der Riese breitete die Arme aus und schlug die Handflächen zusammen. Knochen knirschten, und die Reste des fliegenden Kriegers platschten in den Staub des Dachbodens. Jilis ließ den zweiten Pfeil von der Sehne und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, das ihr in die Augen lief. Der letzte Geflügelte holte mit dem Waffenarm aus. Maro sprang dazwischen und blockierte den Angriff mit der ganzen Breite seiner Klinge.
„Geschafft“, sagte Jilis und drehte sich um, ließ den Bogen fallen. Sie setzte dem Dämon ein Hieb vor das Kinn, dass der sich fast überschlug und um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Oram erhob sich langsam aus seiner Ecke. Keine Pfeile mehr, die ihn aufhielten.
Maro trieb dem Rothäutigen den Schwertgriff in den Bauch und brachte ihn näher zu den Erdpranken des Golems. Die Kreatur kreischte auf und wandte den Kopf zu den Seiten. Jilis zog an Maro vorüber, drehte sich auf den Zehen einmal um die eigene Achse und schleuderte den Dämon mit einem Tritt hinüber zu Oram. Das Bündel aus Flügeln trudelte durch die Luft, aber plötzlich spannten sich die Flughäute wieder und der Riese griff ins Leere.
Jilis sank auf ein Knie hinunter.
„Er entkommt!“
Der Dämon hielt auf das Loch in der Wand zu und schlug eifrig mit den Flügeln.
Nein, entkommen würde er nicht.
Maro sandte einen Befehl an Oram, und der Gigant setzte mit zwei Schritten in Bewegung. Der Dämon tauchte ins Sonnenlicht, und der Golem ihm hinterher. Wie ein Kind, das einen Ball zu fangen versucht, warf er sich voran, riss Balken und Splitter aus dem Loch in der Wand und stürzte hinaus.
Maro hielt die Luft an. Ein dumpfer Aufschlag, dann folgte Stille.
Ein Ächzen brach aus ihm, als er sich auf eine der Gerümpelkisten niederließ. Er lebte noch. Das Mädchen, das vor ihm auf dem Boden kniete, auch.
„Hat er ihn?“, keuchte sie.
„Vielleicht.“
„Das reicht mir nicht.“
Zitternd richtete sie sich auf und ging hinüber zu ihrem Bogen neben dem Fenster. Jeden Augenblick würde sie zusammenbrechen, wie es mit jedem anderen menschlichen Wesen schon längst geschehen wäre.
Maro griff in die Astralwelt und zog Körper und Geist wieder zusammen. Vorsichtig. Schon bei der ersten Berührung stöhnte er auf. Der Schmerz lief seinen Rücken wie Feuer herab, und in seinen Beinen brannten die Holzsplitter. Mit einem Ruck ließ er Geist und Körper eins werden. Die Wunden glühten auf und rissen ihn an den Rand einer Ohnmacht.
Jilis hielt den Bogen in Händen und kauerte an der Wand.
„Ja, wegen diesen Momenten wünsche ich mir manchmal, dass Kämpfe gar nicht erst aufhören.“ Sie lachte heiser. „Verdammte Höllenbestien.“
„Aus der Hölle kommen sie, denkst du?“
„Ich weiß, das ist zu einfach gedacht.“
Eine Wärme in ihm überstrahlte den Schmerz kurz. Zu einfach gedacht, vielleicht. Aber von der Erde konnten diese Wesen nicht stammen. Etwas Unsagbares hatte sie berührt, vielleicht geschaffen. Etwas, das nicht in diese Welt gehörte, aber doch hier war. Etwas, das er finden musste.
„Zumindest sind es keine Toten“, sagte er.
„Was meinst du?“
„Das ist doch deine Idee gewesen, dass ein Nekromant durch das Land zieht und es mit seinen toten Armeen verwüstet.“
Jilis schnaubte. Den Arm um den Oberkörper geschlungen, schwankte sie zu ihm herüber.
„Dann habt ihr einen Pakt mit den niederen Reichen noch dazu geschlossen. Wo diese Viecher herkommen.“
Maro krümmte sich unter seinen Verletzungen, aber kurz hielt er sich aufrecht.
„Es ist am Einfachsten, das zu glauben, nicht wahr?“
Der Blick der Kriegerin wanderte durch den Dachboden, als suche sie etwas. Dann sah sie nach unten.
„Schnauze.“
Sie verstauten ihre Waffen wieder, und Maro schnitt Stücke von einer Mullbinde ab. Sie wuschen die Wunden mit Wasser aus einigen Kübeln aus und verbanden sie. Im Moment, in dem sich der Stoff über den Schnitt in seinem Rücken legte, brannte die Wunde noch einmal, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Mit dem Rest des Wassers löschte Jilis das Feuer im Kamin, den Blick abgewandt von den Leichen.
Maro stieg über die Dämonenkörper und den zerschmetterten Esstisch hinweg in die Lagerluke. Das Fleisch hatten die Eindringlinge nicht verschmäht. Der Duft nach tierischem Fett füllte noch die Kammer, aber an den Haken hingen nur noch handballengroße Überreste, übersät mit den Spuren der Nadelzähne. Die Bestien mussten tatsächlich nur in das Haus eingedrungen sein, um sich den Wanst vollzuschlagen und den Hof zu verwüsten.
Maro wickelte einen Leib Brot, einen Topf gelbes Gelee und ein Käsestück in ein Handtuch und steckte es ein.
Jilis erwartete ihn hinter dem Haus, wo sie dem Golem die Pfeile aus der Seite zog. Der Riese ließ die Behandlung regungslos über sich ergehen.
„Wenn das bei uns auch so leicht ginge“, murmelte sie. Durch die Binden an ihren Armen sickerte das Rot hindurch.
Unter den Pranken des Golems sammelten sich im Gras die Überreste des letzten Geflügelten.
Selbst, wenn sie eines der Wesen lebendig bekommen hätten, in der quiekenden Sprache hätte es ihnen nichts verraten können.
Jilis zog den letzten Pfeil aus dem Erdkörper und wischte sich die Hände ab.
„Ich gehe nachsehen, ob ich meinen Köcher bei den beiden Bogenschützen etwas auffüllen kann.“
Maro nickte, und die Kriegerin entfernte sich über die Ebene, über die der Wind hinwegpeitschte. Ja, die beiden fremden Auren in der Ferne... Zu fern mochten sie gewesen sein und ihn in die Irre geführt haben.
Er strich die Pfeillöcher in Orams Leib zu und schulterte seinen Proviantsack. „Wir sind möglicherweise schon nahe dran...“, sagte er und sah hoch zu dem Golem. Was für eine Dummheit. Mit belebter Erde zu reden. Und immer, wenn er sein Werk ansah, dachte er an den Namen, den der Händler ihm abgerungen hatte. Oram.
Schon einige Minuten war Jilis im hohen Gras der Heide verschwunden. Maro ging auf und ab, spähte zu der alten Mühle hinüber. Seltsam, dass die Dämonen über die Wiesen gewandert und dort ihre Spuren hinterlassen hatten, statt den Weg in der Luft zurückzulegen.
Die Wunden glühten noch wie ein schwelendes Feuer in seinem Fleisch. Kurz dem Schmerz entkommen.
Er wechselte zur Astralsicht und studierte das Haus. Keine Auren mehr, die das Licht des Lebens in sich trugen. Aber hinter ihm. Jilis Lebensflamme brannte hoch, aber wie geschüttelt von einem Sturm. Als habe der Sturm aus der normalen Welt auch auf die zweite übergegriffen. Aber die zwei Auren neben der der Kriegerin brannten gleichmäßig. Gleichmäßig. Wie schon, als er sie das letzte Mal betrachtet hatte. Wie lebloses Material, aber nichts hatte sich verändert. Die Astralsicht trog nicht, niemals. Etwas dort war nicht, wie es sein sollte. Er riss sein Schwert aus der Scheide und rannte los, dem Wind entgegen.
 
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VI Blutgeboren

Jilis krallte sich die Fingernägel in die Arme. Der Wind strich ihr über die Wangen und machte ihr die Tränen auf der Haut kalt wie Eis. Wieder zu spät. Sie sah Marika in den Klingen des Skelettmanns baumeln wie eine Gehängte. Dann wich das Bild und vor ihr tat sich wieder die Heide auf, mit dem bleichen Körper ihrer Schwester darin. Der tödliche Pfeil, ihr Pfeil, ragte Marika aus der Stirn wie eine schwarze Blume. Zu spät. Hätte sie einen Augenblick gezögert, länger aus dem Fenster gespäht... vielleicht hätte sie die beiden erkannt. Kerill lag über Marikas Beine hingestreckt.
Hinter ihr raschelte das Gras, das pechschwarze Leder des Nekromanten trat neben sie.
„Was...?“, fragte er. Seine Stimme wurde vom Wind davongetragen. Aber sie hörte laut genug. Noch ein Wort, Verfluchter. Noch ein Wort. Ihre Arme und Fäuste bebten. „Das sind nicht die Dämonen“, sagte er.
Jilis blieb still auf ihrem Platz im feuchten Gras sitzen. Der Wind trieb die hohen Halme gegen ihre Schultern und Knie. „Nein“, sagte sie leise, dann sprang sie auf und stellte sich dem Nekromanten gegenüber, dass ihre Stirnen sich beinahe berührten. „Nein, das sind nicht die Dämonen. Danke deinen schwarzen Göttern, sie haben dir Augen geschenkt!“
Er ging an ihr vorüber, seine weißen Haare streiften über ihr Gesicht und hinterließen einen Duft von fremdartigem Balsam. Konnte er sie nicht angehen, beschimpfen, auf dass sie ihm ihren Zorn entgegenwerfen konnte?
„Na los, sag etwas!“, befahl sie, aber ihre Worte brachen weg in ein Schluchzen.
„Du hast sie gekannt?“
Der Nekromant beugte sich über die beiden, Jilis zog ihn an der Schulter zurück.
„Weg da.“
Er wischte ihre Arme fort und sah sie durchdringend an.
„Hast du also.“
„Ich habe sie... getötet.“
Der Nekromant schüttelte den Kopf.
„Nein. Das hat jemand anders vor dir getan. Ihre Auren hatten schon vorhin kein Leben mehr in sich.“
„Ich habe gesehen, wie sie gestorben sind, du Narr.“ Ihr Atem beruhigte sich. „Die Untoten, im Kloster.“
„Jetzt sind sie selbst zu diesen Untoten geworden.“
Jilis starrte auf die bleiche Haut der beiden. Wie mit Asche überzogen.
„Ändert das etwas?“
„Es sind nicht die Untoten, die ich kenne.“
„Oh, ich verstehe. Du ziehst dir die Leichen auf andere Weise aus der Erde?“
„Untote sind nichts als Hüllen, in denen der Splitter des Geistes eines Zauberers steckt.“
„Splitter?“, fragte Jilis. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging um die Gefallenen herum. „Ich sehe keine.“
„Du wirst auch keinen sehen, wenn du Oram anschaust. Doch der trägt einen Splitter in sich.“
Sie blieb vor dem Erdmonstrum stehen. Bis zur Brust ging sie ihm. Plötzlich flutete der Zorn in sie. Sie rammte der Kreatur die Faust in den Bauch, wieder und wieder. Das Material gab ihrer Faust nach. Fast, als würde sie in den Erdboden dreschen. Teilnahmslos blickte der Golem über sie hinweg. Sie wischte sich die Erdkruste von den Knöcheln.
„Und? Die Schwestern brauchen so einen Splitter nicht?“
Der Nekromant hatte einen Mundwinkel gehoben und sah sie an.
„Diese hier offensichtlich nicht mehr. Aber wenn ihr Herz nicht mehr schlägt und sie dennoch aufstehen, laufen... auf uns mit ihren Bögen schießen wollen, dann bräuchten sie ihn. Aber ich habe nichts in ihren Auren gelesen.“
„Dann hast du vielleicht nicht genau genug gelesen. Das ist wie mit den Gedichten der Altvorderen, die du hundert Mal lesen und doch keinen Sinn herausnehmen kannst.“
Der Nekromant lachte ein sanftes Lachen. Auch ihr wich der Knoten aus dem Hals.
„Möglich. Oder die beiden sind von einer anderen Kraft mit Leben jenseits des Todes ausgestattet worden. Von einer Kraft, die ich nicht verstehe.“
Sein Blick ging in die Ferne, verlor sich irgendwo zwischen den Reihen der Weiden am Waldrand. In diesem Moment zuckte etwas in ihrem Inneren auf. Der Junge war ein Totenbeschwörer, aber er suchte etwas, das nicht dem Wissen seiner Kaste entstammte und das keiner seiner Brüder verstehen würde. Jilis schüttelte sich. Sie würde es genau so wenig verstehen. Wirre Gedanken.
„So oder so, ich will ein Grab für die beiden.“
„Was, wenn ich einfach weiterreise?“
Sie biss die Zähne aufeinander. Egal, was er suchte, es machte ihn nicht besser.
„Wir suchen einige Trümmer aus dem Haus zusammen, für einen Scheiterhaufen... gut?“
„Riskieren wir damit nicht einen Waldbrand?“
„Es ist hier nur kälter als dort, wo du herkommst. Aber der Boden ist hier genau so vollgesogen mit Wasser wie ein Schwamm.“
Der Nekromant nickte. Sein Helfer aus Erde beugte sich nach den beiden Leichnamen und lud sie sich auf die Schulter. Jilis wollte einen Arm ausstrecken, um ihn aufzuhalten, aber dann ließ sie es sein. Es waren nur noch die Körper der beiden. Ihre Geister waren lange fort.

Eine halbe Stunde später brannte nahe dem Fluss ein Feuer, genährt von den Überresten von Möbeln und den aus dem Dachboden gerissenen Brettern.
Jilis atmete den scharfen Geruch des Rauchs ein. Die zwei menschlichen Silhouetten auf dem Turm wurden undeutlicher, ihre Konturen verwischten hinter den Feuerschleiern. Was war es, das sich aus den Tiefen erhoben hatte? Nicht genug, die Schwestern zu vernichten – es verdrehte sie, machte sie zu gräulichen Puppen, die ihm dienen mussten.
„Können wir weiter?“, fragte der Nekromant. Zusammen mit seinem Golem stand er unter den zerfetzten Windmühlenflügeln.
„Wir werden den Weg heute nicht mehr schaffen. Im Herbst ist der Nebel im Hochwald dicht, und wenn die Sonne erst untergegangen ist, laufen wir im besten Fall unseren eigenen Fußspuren nach.“
Gerade der Pfad zum alten Friedhof würde von gefallenen Blättern bedeckt und leicht zu verlieren sein.
Jilis starrte weiter in die Flammen. „Eine Sache ist da noch“, sagte sie. „Wenn die beiden keinen dieser Splitter in sich hatten... Dann kann sie auch kein fremder Geist eines Hexers oder was auch immer gelenkt haben, oder?“
Sie erschrak, als der Junge in seiner schwarzen Kluft neben sie trat. Der Geist eines Hexers, wie deiner.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Das heißt dann, dass sie sich selbst entschlossen haben, uns anzugreifen.“
Sie schluckte.
„Das heißt gar nichts.“ Der Nekromant schüttelte den Kopf, und seine Augen trugen wieder den durchdringenden Blick. Konnte er ihr in die Seele blicken?
Er wandte sich vom Feuer ab. „Sie hätten überhaupt nicht fähig sein sollen, irgendjemanden anzugreifen. Diese Macht hier... Sie beugt sich nicht den Gesetzen meiner Magie.“
„Aber woher kommt sie dann?“
Das Feuer hielt Jilis noch gebannt. Ihre Schwestern brannten. Die Luft stank von ihrem brennenden Fleisch. Aber ihre Beine wollten sie nicht forttragen.
„Wir finden es umso schneller heraus, je früher wir aufbrechen.“
Sie schloss die Augen und riss sich endlich los.
Sie kehrten zurück auf die Straße, und Jilis betrachtete alle paar Schritte den Himmel. Diese fliegenden Teufel... Als sie mit Vega Iyademas Ende mitangesehen hatte, auch da waren diese geflügelten Schatten gewesen. Solche Geschöpfe konnte keine Laune der Natur geschaffen haben. Nur diese höllische Kraft, die die Klostergärten mit Flammen verheert und die Toten herbeigerufen hatte.
Jilis führte sie an, als sie die Straße verließen. Die Bäume des Hochwalds spannten sich bis weit in die Ebene hinein, aber sie schlugen den Weg zu den Bergen ein. Noch bevor die Sonne den Himmel verlassen hatte, wich das sumpfige Gras unter ihren Füßen festem Stein, und sie fanden einen Rastplatz unter einem Felsüberhang.
Bei Einbruch der Nacht hatten sie ihr Lager eingerichtet und schwiegen einander an. Der Nekromant saß gekrümmt von seinen Verletzungen auf dem Schlafsack, und auch Jilis' Wunden bohrten sich mit Schmerzen in ihr Fleisch.
Am Morgen saßen sie wieder genau so da, und der Nebel kroch vom Wald her über den Berghang.
„Es ist die Kälte, jetzt im Herbst. Die Luft wird nachts so kalt, dass der Nebel selbst noch über den Wald hinauskommt.“
Der Nekromant strich sich Käse auf einen Brotkanten und erhob sich ächzend von seinem Lager.
„Also zieht er sich mittags zurück, wenn es wärmer ist?“
„Falls du vorhast, so lange zu warten...“
„Nein. Wir müssen ohnehin ins Herz des Waldes.“
„Herz? Ein schönes Bild für einen Friedhof.“
Jilis rückte etwas näher an das Feuer, das zwischen ihnen brannte. Mit dem Nebel kam die Kälte. Eine feuchte Kälte, die sich auf die Haut legte wie Wadenwickel bei einem Fieberkranken.
„Es ist ein Ort, an dem sich die Toten versammeln. So, wie sich auf einem Fest die Lebenden versammeln.“
„So denkt ihr in deiner Heimat?“, fragte sie. „Außerdem... werden es nicht mehr viele Tote dort im Waldfriedhof sein. Zu viele von ihnen sind schon über die Grenze des Waldes hinausgewandert.“
„Genügt mir schon, wenn der noch dort ist, der sie gerufen hat.“
Jilis nickte, und nur noch das Knistern des Feuers durchbrach die Stille. Nichts mehr zu sagen. Eigentlich hatten sie sich überhaupt nie etwas zu sagen gehabt.
Sie brachen das Lager ab und näherten sich der Nebelbank, die zu ihnen heraufbrandete. Jilis' Geist spannte sich wieder an, kämpfte die Schmerzen nieder und lauschte mit allen Sinnen in den Wald. Endlich ließ sie die Muße der Wanderung hinter sich.
Der Nebel schloss sich um sie. Verflucht dicht. Nach einem Dutzend Schritte tauchten die Stämme in eine Wand aus weißen Schleiern. Zwar mieden selbst die Tiere für gewöhnlich den Wald, aber in diesen Zeiten konnten sich auch andere Geschöpfe im Schutz der Nebel verbergen.
„Das ist die richtige Richtung?“, fragte der Nekromant.
Jilis führte sie mehr aus der Erinnerung. Das Laub lag so hoch, dass der Waldboden eine überall ebene Fläche bot, unter der ein Fußpfad liegen mochte oder auch nicht. Aber in Jilis Erinnerung hatte sich der Weg von den Begräbnisprozessionen eingebrannt, von denen mehr als die Hälfte auch in dichtem Nebel begangen worden waren.
„Du hast keine Wahl, als dich darauf zu verlassen.“
„Es ist nur eine Frage gewesen.“
„Und ich habe nur Antwort gegeben.“
Sie bewegten sich wie eingeschlossen in einer Glocke, die den Nebel abhielt. Vogelrufe und das Rascheln von Blättern drangen zu ihnen herein, aber nur selten flatterte ein Rabe über ihre Köpfe.
Hatten die Baumreihen sich am Eingang des Waldes noch zu einem Bild in ihrem Innern geformt, das immer auf das ihrer Erinnerung gepasst hatte, so verformte sich die Umgebung jetzt immer mehr. Die Birkenstämme standen zu eng beieinander, dann zu weit von einander entfernt, dann nahmen sie völlig andere Formationen an. Der Wald hatte sich verändert. Wie Wälder es taten, mit den Jahren. Ja.
„Wir dürfen uns nicht trennen“, sagte der Nekromant. Es war, als schluckte der Nebel seine Stimme, dämpfte sie. Die weißen Schleier zogen sich enger um sie, sie war sicher. Volle zehn Schritt konnte sie schon lange nicht mehr geradeaus blicken.
„Gestern morgen noch hättest du nichts dagegen gehabt, wenn wir uns wieder getrennt hätten.“
„Ja, am gestrigen Morgen hatten wir auch keine Nebelsuppe um uns herum, wenn ich mich recht erinnere.“
„Eure Magie hat den Nebel wohl von euren Dschungelmooren vertrieben?“
Angst?
„Wir kennen sehr wohl Nebel... Aber keinen, der so nahe herankriecht, dass man denken könnte, er wolle einen verschlingen.“
Jilis lächelte spöttisch. Verschlingen. Aber in ihrer Brust zog sich etwas zusammen. Nicht mehr lange, und der Nebel würde ihre Stiefelspitzen bedecken. Vielleicht waren sie bis jetzt nur im Kreis gelaufen, vielleicht tappten sie am Rande des Waldes herum und waren nur einige Minuten Marsch von den Berghängen entfernt. Oder aber Stunden. Der Nebel verschluckte auch ihr Zeitgefühl.
Sie setzte einen Schritt voran, doch ihr Fuß fand keinen Halt. Ihr Stiefel sank in den Nebel ein wie in Wasser. Kein Boden mehr. Sie bog den Oberkörper nach hinten, suchte nach Gleichgewicht. Etwas streifte ihren Arm, die Hand des Nekromanten griff ins Leere. Sie stürzte. Eine Klippe?
Der Nebel öffnete sich vor ihr und gab einen Abhang frei. Ihre Schulter schmetterte gegen einen gebrochenen Ast, sie überschlug sich auf der Böschung und Blätter wirbelten um sie. Steine ritzten sie und droschen auf ihren Körper ein. Sie streckte die Arme aus, suchte nach einem Halt, rutschte von feuchten Felsen und Baumrinden mit den Fingern ab. Harter Stein schlug ihr gegen die Schläfe. Die Welt entglitt ihr, Taubheit flutete in ihre Glieder. Jeder Aufprall wurde weich wie auf Watte, ihr Verstand schmolz. Verdammter Weg, verdammter Nekromant. Verdammte Zeiten. Vor ihren Augen schlossen sich Vorhänge aus Dunkelheit.

Als sie erwachte, beugte sich ein Vogelschnabel über sie. Das Nebelmeer umgab sie, und Blätter und zerbrochene Zweige bedeckten ihren Körper. Die Schmerzen drangen ihr in jeden Knochen, gesellten sich zu den anderen, die sie schon plagten.
„Dass dein Weg dich doch noch zu mir führt“, sagte der Vogelschnabel.
Jilis Sicht klärte sich langsam. Der Schnabel mündete in eine Kapuze, unter der sich der Schatten eines Gesichts verbarg. Die Gestalt richtete sich auf und bot Jilis eine Hand an.
„Wo ist er?“, fragte sie.
„Wen suchst du?“ Nur der Mund der Fremden bewegte sich. Der Schnabel war nur die Spitze einer Maske, die die ganze obere Gesichtshälfte bedeckte. Die Maskierte zog ihre Hand zurück. „Ah, ich verstehe. Du reist mit einem anderen.“
Jilis setzte sich auf, kämpfte sich in eine aufrechte Position. Eine Vogelmaske? In die Hände welcher Hexe war sie geraten? Und wohin hatte sich der verdammte Nekromant geflüchtet?
„Was soll das...“, sagte sie und schüttelte den Kopf.
„Erinner dich. Lange ist es nicht her, da haben wir zusammen die Wälder bejagt.“
Sie richtete sich vollends auf. Offensichtliche Waffen trug die Frau nicht bei sich, aber der Mantel konnte einige Verstecke bieten.
„Seltsam. Keiner von den Menschen, mit denen ich je gejagt habe, hat eine Maske nötig gehabt.“
„Oh, Jilis“, sagte die andere. Jilis lief es eisig den Rücken herunter. Es war nicht nur, dass die Fremde ihren Namen kannte. Wie sie ihn aussprach. Wie sie alles aussprach. Erst jetzt fiel es ihr auf.
„Ja?“, fragte sie leise. Die dunklen Augenpaare starrten sie durch die Löcher der Maske an.
„Denkst du, ich liebe diese Larve? Denkst du, ich hätte sie je freiwillig aufgesetzt?“
„Ich bin Euch noch nie begegnet, und über Fremde denke ich gewöhnlich zunächst einmal überhaupt nichts.“
Aber die Stimme...
Die Fremde schlug ihre Kapuze zurück und legte eine Hand an die Maske.
Du, Jilis, trägst die Schuld daran, dass ich dieses Ding tragen muss.“
Ruckartig riss sie die Rabenmaske herunter.
Wie Jilis es geahnt hatte.
Sie schloss die Augen.
„Weißt du noch, was du mir gesagt hast, als du gegangen bist?“, fragte Falke. Wulstige Brandnarben entstellten ihr Gesicht, zogen sich wie geschwollene Adern über die Wangen. Ihr Mantel enthüllte eine blutrote Lederrüstung mit Nieten.
Und ihre Haut trug das gleiche Grau wie die von Marika und Kerill.
„Falke... Du bist am Leben“, stotterte sie. Sie streckte eine Hand aus, um ihre Freundin zu berühren. Etwas daran war falsch, furchtbar falsch.
Falke sah sie traurig an.
Zehn Minuten, das hast du gesagt. Ich habe gewartet. Als ich erwachte, standen sie um mich herum und ich sagte ihnen, dass du kommen würdest. Sie alle zerstören. Das würdest du. Zusammen hätten wir es getan. Aber du hast die Zeiten vergessen, nicht wahr?“
Eine Last zog an Jilis Gliedern, schwerer als die zahllosen Wunden. Falkes Augen glänzten.
„Ich... habe nichts vergessen.“
„Dennoch bist du nicht zurückgekehrt. Ich habe gewartet... Aber dein Gefährte ist jetzt ein anderer, ist es nicht so?“
Langsam strömte die Kraft in sie zurück, allen Schmerzen zum Trotz.
„Gefährte – was soll das?“
Falke setzte ihre Maske wieder auf und wies mit der Hand in den Nebel voraus.
„Ja, du hast Recht. Hier ist es bedeutungslos.“ In der Richtung, in die sie zeigte, wogte der Nebel zur Seite, gab eine Gasse frei. „Wer auch immer er ist, er wird den Weg nicht finden.“
Hexerei? Allein, dass Falke nicht mit den anderen unter der Erde lag.
„Du musst mir erklären, was geschehen ist! ...mit dir.“
Falke ging mit leichtem Schritt, wie bei einem Spaziergang, den nebelfreien Weg entlang. Jilis folgte ihr.
Sie waren keine Feinde, auch durch keinen Fluch der Untoten.
„Das hier meinst du.“ Noch einmal hob Falke ihren Arm, diesmal hob sich der Nebel neben ihnen. Als tauchten sie durch eine Wolkendecke hindurch, zeigten sich die Birkenstämme für einen Moment. Dann ließ Falke den Arm wieder sinken, und die Mauer aus weißem Schleier bedeckte den Wald von Neuem. „Es ist ein Geschenk. Als ich ihnen gesagt habe, dass du kommen würdest, da habe ich gelacht. Als du dann nicht kamst, haben sie gelacht, und ich geweint. Aber ihre Königin hat mich getröstet und mir diese Kraft gegeben. Ein Kelch voll mit ihrem Blut... Es hat mich neu geboren.“
Die Worte stachen Jilis wie mit Messern ins Herz. Sie beschleunigte ihren Schritt und schloss zu Falke auf.
„Ich wäre gekommen, Falke! Aber du warst – du hattest einen Pfeil in der Schläfe, du warst tot! Nimm die Maske ab, die brauchst du nicht.“
„Oh, ich war tot?“, fragte Falke. Ein Hauch von Belustigung hing über der Trauer in ihrer Stimme. „Dafür fühle ich das Leben sehr heiß in mir. Mehr denn je. Ich sollte dir vielleicht sogar danken.“
„Was auch immer mit dir ist, du solltest tot sein.“
„Das wünschst du dir also“, sagte Falke und seufzte.
„Nein, aber...“ Jilis knurrte. Falke drehte ihr die Worte im Mund herum, wie es ihr beliebte! „Ich wünsche mir nur, dass du mir erzählst, was geschehen ist! Diese Königin-“
„Aradeia. Es ist seltsam, dass die Menschen noch nie von ihr gehört haben. Sie ist sehr großzügig mit ihrer Macht.“
Eine Königin auf einem Friedhof... Die Königin der Nekromanten, so musste es sein.
„Was hat sie dir gegeben?“
„Die Fähigkeit, das Lebende und das Tote zu beherrschen. Es ist beeindruckend.“
Falke betrachtete ihre Hand von allen Seiten, als könne sie nicht glauben, dass es ihre Hand war.
Das Lebende und das Tote – so hätte auch der verdammte Nekromant reden können.
„Komm mit“, sagte Jilis plötzlich. „Wir gehen zurück zu den anderen. Wir finden heraus, was es mit deiner Fähigkeit auf sich hat. Kaschya hat ein Lager errichten lassen, wo sich alle überlebenden Jägerinnen versammelt haben. Dorthin können wir gehen.“
Falke war kein hirnloses Wesen geworden, sie konnte sich entscheiden. Ohne einen Splitter von irgendeinem Zauberer in ihrem Geist.
„Jägerinnen, so nennt Ihr Euch jetzt also wieder.“
„Diese Königin hat uns dazu gemacht! Wie sollen wir Schwestern sein, ohne ein Kloster?“
„Es ist vielleicht Zeit geworden, den alten Bau zurückzulassen.“
Das Blut hämmerte Jilis in den Schläfen. Nicht einmal Falke durfte so reden.
„Auch du hast einen Eid geschworen!“
„Wem gegenüber? Iyadema? Das letzte, was ich von ihr gesehen habe, ist ein zu Asche verbrannter Kadaver gewesen. Akara? Wenn sie noch lebt, dann wird ihre eigene Rachelust sie verzehren.“
„Rachelust?“
Von allen der Schwesternschaft war die alte Heilerin diejenige, die sich am wenigsten dem Gedanken nach Vergeltung hingab.
Falke lachte und schlug ihren Ärmel zurück. Sie gestikulierte nach vorn und fegte den Nebel beiseite. Er stieg hoch in die Blätter der Bäume und hing wie eine Kuppel über ihnen. Vor ihnen teilten sich die Nebelfronten.
„Jilis... Wir können auf der selben Seite kämpfen.“
„Ich will mit dir zusammen kämpfen. Aber nicht auf der Seite dieser verfluchten Königin! Sie hat etwas mit dir gemacht, dass du nicht mehr... du bist.“
Aus den Nebeln schälten sich niedrige Steinmauern, aus denen die Stäbe eines gusseisernen Zauns ragten. Rost färbte das Metall, und aus dem Mäuerchen waren ganze Brocken herausgesprungen. Der Nebel hob sich weiter und offenbarte die Statuen zweier Engel auf den Säulen des Torbogens. Einem war der Kopf hinuntergerissen worden, dem anderen die Züge des Gesichts weggebrochen.
Der Friedhof. Das war nicht gerecht.
„Nein“, sagte Jilis, und ihre Stimme gab nach, „geh nicht zurück. Deiner Königin mag dieser Friedhof gehören, aber das ist alles... Nur Tod! Falke, bitte!“
Jilis hielt einen Ärmel des Gewands ihrer Freundin fest.
Immer schneller zog sich der Nebel zurück, offenbarte Reihen von überwucherten Grabmälern und Mausoleen mit moosbewachsenen Dächern.
Falke machte sich los und trat auf das Tor zu.
„Ein Name aus der Vergangenheit. Falke. Hör auf, mich damit zu rufen. Falken sind Jäger. Die Vögel, die die Nähe der Toten suchen, sind Raben. Du wirst Aradeia hier nicht finden.“ Sie riss den Mantel zurück und warf ihn über die Zinken des Zauns. Wie Rost schimmerte ihre Rüstung, und die Vogelmaske nahm ihr jede Ähnlichkeit mit einem Menschen. „Die Herrin dieser Stätte ist Blutrabe.“
Wie ein Schlag in den Magen, mit einem eisernen Kolben. Kein Nekromant hatte die Toten aus der Erde geholt... Falke. Die Feinde, gegen die sie im Kloster gekämpft hatte, mochten noch von einem anderen Herren geschaffen worden sein. Doch die, die jetzt durch die Lande zogen...
„Das bist du nicht!“, rief sie. „Du bist kein Rabe!“
„Zu spät, Jilis.“
Falke zog einen Flügel des Tores auf. Der andere hing mit verbeulten Eisenstreben und zerquetschtem Scharnier vornüber, als hätte ein Riese ihn niedergedrückt.
„Geh nicht! Verdammt!“
Ihre Freundin spazierte die verwitterten Pfade entlang, trieb den Nebel vor sich her wie ein Tier.
„Schweig endlich“, sagte Falke. Die Ruhe in ihrer Stimme erschütterte Jilis bis ins Mark. „Ich habe auf dich gewartet, Jilis. Vergiss das nicht. Du bist nicht gekommen.“ Die Kriegerin pflückte die Blüte einer weißen Blume und ließ die Blätter eines um das andere hinter sich auf den Boden fallen.
Der Nebel gab die Sicht auf die Eiche in der Mitte des Friedhofs frei. Jilis hielt den Atem an. Blätter trug der Baum nicht mehr. Die Späherinnen – das also war mit ihnen geschehen. In den Ästen hingen ihre Körper, gespießt wie auf Speere. Unter ihren schlaffen Körpern war das Gras dunkel von Blut gefärbt.
„Das ist gegen alles, wofür wir gekämpft haben“, sagte Jilis. Alle Kraft sickerte ihr aus den Gliedern.
„Wir haben nie gekämpft, wenn ich mich recht erinnere. Die Schwestern vor unserer Zeit, die vielleicht. Aber es ist unwichtig, wofür wir kämpfen.“
Jilis schüttelte den Kopf. Unmöglich. Ihre Hand betastete die Spielfigur in ihrer Tasche. Ein düsterer Gedanke schlich sich in ihr Bewusstsein.
„Wie in einem Schachspiel, Falke?“
Sie zog die schwarze Königin heraus und warf sie Falke vor die Füße.
„Du bist schnell. Das warst du immer.“ Wieder umwölkte sich der Blick ihrer Freundin. Der Spielstein rollte über die Fugen des Weges und hielt an Falkes Stiefelspitze an. „Die dort oben haben sich Aradeia in den Weg gestellt.“ Sie deutete auf die Jägerinnen, die gepfählt auf den Ästen hingen. Einige noch die Hände um den Bogen gekrampft. „Ich will nicht gegen dich kämpfen, Jilis. Ich will dich nicht töten müssen.“
Ein winziger Funke Hoffnung. Jilis lächelte.
„Weil du es nicht kannst.“
Aber falls Falke eine Regung zeigte, verbarg die Maske sie vollständig.
„Ich will mit dir wieder gemeinsam den Bogen spannen, wie bei den endlosen Jagden im Herbst. Wir haben zusammen mehr Schweine geschossen als all die anderen Jägertrupps, und wir waren nur zu zweit, alle anderen zu dritt.“ Diesmal ballte sich Falkes Hand zur Faust, und ihr Blick ging nach unten. Auf die Schachfigur. Vielleicht. „Aber ich kann dich nur noch einmal bitten. Komm mit mir, die Königin Aradeia ist so gnädig zu ihren Anhängern wie sie gnadenlos zu ihren Feinden ist. Bitte komm. Sonst muss dieser Bogen, wenn ich ihn das nächste Mal spanne, seinen Pfeil auf dich richten.“
Über ihrem Rücken hing der Bogen, den Jilis ihr im Tode wiedergegeben hatte. Mit roter Farbe lackiert, wirkte er wie eine gebogene, mit Blut bedeckte Klinge.
Jilis neigte den Kopf. Wenn es keinen anderen Weg gab...
„Ich bin die Bessere von uns beiden. Willst du das riskieren?“
„Du hast artig die Ziele auf dem Schützenhof getroffen. Aber das hier ist keine Übung mehr, und es gibt keine Wettkampfregeln.“
Falke breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken, dass der Schnabel ihrer Maske in die Nebel vor dem Himmel zeigte. Ihr Mund bewegte sich, als flüstere sie unhörbare Worte.
Das Jagdmesser gezogen, duckte sich Jilis in Kampfhaltung. So sehr sie sich wünschte, dass es anders wäre, Falke hatte Recht. Keine Übung mehr. Kein Sieg durch Aufgabe. Nicht hier. Nicht, wenn all die Worte mehr als leere Hüllen gewesen waren. Sie schlich hinter eines der hohen Grabmäler. Falke ließ die Arme wieder sinken und blickte nach vorn.
„Verstecken kannst du dich nicht. Auf diesem Acker hier habe ich mehr als zwei Augen, die dich suchen, und mehr als zwei Arme, die dich packen können.“
Ein scharrendes Geräusch drang aus der Erde. Neben ihr, unter ihr, überall. Zu dem Geruch von feuchter Luft und Erde mischte sich ein dritter. Süßlich. Verwesendes Fleisch.
Etwas riss den Erdboden der Gräber auf und schaufelte ihn in Brocken beiseite. Gräser und Blumen rollten mit den Erdklumpen fort. Eine Hand griff an den Rand des Lochs, dann noch eine. Das Fleisch der Finger trug eine Farbe wie Sand, und Löcher klafften darin, als hätten sich Maden hindurchgefressen.
„Sind die Toten deine neuen Schachfiguren?“, rief Jilis. Ihr Versteck nützte ihr ohnehin nichts mehr.
„Nicht nur die Toten. Was bist du Jilis? Ein Bauer, ein Läufer – eine Königin? Du wirst es mir zeigen müssen.“
Aus dem Grab neben ihr zog sich eine Männergestalt. Lumpen hingen ihr vom gesamten Körper hinunter. Lumpen – oder Hautfetzen. Der Mund in dem Gesicht, von dem Wangen und Augen längst weggefault waren, öffnete sich zu einem gurgelnden Laut.
Das also waren jetzt die Verbündeten Falkes. Fremde wie dieser, aber ebenso würden ihre Schwestern dabei sein. Aus einem Grab neben ihr stieg eine Gestalt, mager bis auf die Knochen, der das Haar wie die Zweige einer Trauerweide über das Gesicht hingen.
Ein kalter Griff schloss sich um ihre Kehle, und Erdkrumen bröckelten auf ihre Rüstung hinunter. Die Finger drückten ihr die Luft ab, sie röchelte wie eine Ertrinkende. Gegen diese hier zumindest würde sie keine Gnade zeigen müssen. Sie packte eine der Hände am Gelenk und riss sie zur Seite, dass die Knochen krachten. An der anderen Hand zog sie den Arm des Angreifers über die Schulter und schleuderte ihn über sich hinweg. Der Kadaver stürzte mit dem Rückgrat und einem hässlichen Knacken auf einen der Grabsteine.
Von der Seite griffen die Knochenfinger der Frau nach ihrer Schulter. Die Haare verdeckten das Gesicht. Zum Glück. Jilis drehte sich zur Seite weg und holte mit dem Messer aus. Die gezahnte Klinge streifte die Kniekehle ihrer Gegnerin und zog einen Schweif aus Knochensplittern hinter sich her. Heulend wie ein Tier stürzte die Untote. Ein durchtrenntes Kniegelenk. Alle dunkle Magie bewahrte diese Feinde nicht vor solch einfachen Techniken. Jilis grinste.
Da bog sich der Leib der Toten nach hinten, und Knochenfinger schlugen sich Jilis in die Wange. Der Geschmack von Eisen auf der Zunge. Sie schrie auf, ließ ihr Messer fallen und krallte ihre Finger in die der Frau, zog sie langsam von sich fort. Ihre Muskeln bebten vor Anstrengung, und die Wunden an den Schultern gossen ihr den Schmerz wie kochendes Öl in die Arme. Die Haare fielen ihrer Gegnerin aus dem Gesicht, und Jilis starrte in eine Knochenfratze, in der sich Würmer durch Nasenbein und Zahnreihen ringelten.
Jilis stieß die Skelettarme von sich und griff nach ihrem Messer. Die Hände zuckten wieder vor, zielten auf ihre Schläfen. Sie duckte sich weg, aber etwas ziepte an ihren Haaren. Diesmal stieß sie ihr Messer in den Ellenbogenknochen und hebelte den des Unterarms los. Wie ein erschlagenes Insekt fiel das knöcherne Gliedmaß zu Boden. Die zweite Hand raste heran, Jilis ergriff sie mit der eigenen und stemmte sich dagegen.
„Hab dich, Gerippengesicht“, flüsterte sie. Sie setzte einen Tritt auf die Brust der Gegnerin, schmetterte sie zu Boden. Die Fingerknochen bohrten sich in ihren Handrücken, als wollten sie durch ihr Fleisch hindurchbrechen. Mit zusammengebissenen Zähnen sprang Jilis in die Luft, zog die Beine an und ging mit den Knien auf den Schädel der Toten nieder. Schmerzen fuhren ihr durch die Beine wie Metallsplitter, aber der Schädel zersprang unter ihr.
Sie richtete sich wieder auf. Hinter den blattlosen Sträuchern, die die Wege umschlossen, schwankten mehr der Toten heran. Erdfarbene Gestalten, spindeldürr.
„Rühr dich nicht.“
Falkes Stimme erklang hinter ihrem Rücken. Etwas kaltes, spitzes, drückte ihr gegen den Hals. Der Pfeil, der sie töten würde. Sie ließ die Anspannung in ihren Muskeln fallen.
„Glaubst du, du bist jetzt unverletzlich? Weil du dich nicht mehr an die Regeln halten musst?“
Falke lachte ein Lachen, dass sich unter die schlurfenden Schritte der näherrückenden Untoten mischte.
„Beileibe nicht. Aber unverletzlich muss ich nicht sein, wenn ich die Waffe an deiner Kehle habe.“
Jilis schob sich an die Pfeilspitze heran, so langsam es ging. Das Metall drückte sich ihr in die Haut. Weiter, weiter, aber durchstieß sie nicht. Sie drückte den Pfeil zurück. Um die Breite eines Haars. Aber es ging. Falke konnte den Bogen noch nicht bis zur Gänze gespannt haben. Ihre Hand hätte nicht zugelassen, dass Jilis den Pfeil zurückdrückte.
„Das nützt dir nur etwas, wenn du den Mut hast-“
„Das ist doch keine Frage des Muts. Es gibt hier keine Frage, die sich an mich richtet. Nur an dich. Du kannst es beenden, Jilis. Den ganzen Spuk. Komm mit mir. Noch einmal frage ich nicht.“
Die Toten machten einige Schritt vor ihr Halt, Arme und Kopf baumelten herab wie die von Puppen ohne einen Puppenspieler. Sie warteten. Jilis würde nicht mehr warten. Ihre Gelegenheit. Jetzt.
Sie zog den Hals zurück. Haaresbreite um Haaresbreite. Falke würde den Bogen nicht rasch genug spannen und den Pfeil entlassen können. Selbst, wenn sie wollte.
„Wenn ich mit dir kommen würde, wäre ich keine Jägerin des verborgenen Auges mehr.“
„Was liegt dir daran? Ein leerer Begriff, nichts weiter.“
„In den Wüsten sollen sie sich Geschichten erzählen. Wenn ihre letzten Atemzüge nahe sind, fährt der Geist eines Wolfs in die Jägerinnen des Auges. Für einen einzigen Augenblick sind sie unsterblich und wild wie der Wolf selbst.“
„Ich weiß, sie erzählen sich gerne Geschichten über uns. Und, was ist Wahres daran?“
Jilis spannte alle Muskeln in ihrem Leib. Verwandelte sich in eine einzige Woge aus Kraft. Sie warf sich herum, die Pfeilspitze riss ihr den Hals auf. Der Pfeil wurde zurückgezogen. Ein halber Wimpernschlag blieb ihr. In der Drehung hob sie den Arm mit dem Messer. Falkes Finger entließen den Pfeil. Metall schlug auf Metall, eine unsagbare Kraft ließ die Knochen ihrer Arme vibrieren. Der Aufprall entriss ihr den Dolch. Zusammen mit dem Pfeil torkelte er durch die Luft.
Jilis preschte vor und schmetterte Falke einen Kniestoß gegen das Kinn.
„Vielleicht gar nichts. Aber dann wirst du dir das hier selbst erklären müssen.“
Falke torkelte nach hinten, ächzte. Ihre Hand riss in einer einzigen Bewegung das eigene Messer aus der Scheide und ließ es vorwärts fauchen. Jilis stieß die Waffenhand mit einem Ellenbogenhieb nach unten und warf sich durch Falkes Deckung hindurch. Die beste Chance, die sie bekommen würde. Die einzige. Sie holte mit der Rechten aus, nahm den Schwung ihres Ansturms dazu und schleuderte die Faust auf Falkes Maske.
Taubheit floss durch ihren Arm, das Holz knirschte.
Einen endlosen Herzschlag lang regte sich nichts. Falke keuchte. An drei feinen Rissen entlang brach das Rabengesicht. Der Schnabel fiel in die Blätterschicht auf dem Friedhofsweg, die Maskenhälften mit den Augenlöchern folgten.
„Du glaubst wirklich an all den Unsinn, den sie uns erzählt haben“, sagte Falke. Sie hielt sich den Kopf. Spürte sie auch noch in ihrem neuen, falschen Leben etwas wie Schmerz? Zumindest ihr Geist schien noch wach.
„Das hat uns immer getrennt.“
Falke schlug die Handflächen gegeneinander, und augenblicklich erwachten die Untoten um sie aus der Starre.
„Wahrlich. Eine Tochter des Auges bist du vor allem anderen. Schade, sehr schade. Es tut mir Leid.“
Der Schwinger eines der Auferstandenen raste auf sie zu. Mit einem Seitwärtsschritt trat sie vom Weg hinunter auf die Gräber, und die Faust raste an ihrer Wange vorbei. Ein Luftzug strich daran vorüber. Sie setzte einen Fuß auf die Gedenktafel an einem Grabmal und sprang auf das Monument selbst hinauf. Der Untote setzte ihr nach, die Arme ausgestreckt. Sie hielt sich an den Armen der Engelsstatue neben ihr fest und winkelte ein Bein an, streckte es durch und schlug dem Angreifer die Ferse in den Nacken. Seine Schädeldecke zerbarst an der Kante des Grabmals. Jilis schwang sich an der Engelsfigur vorüber und sprang über eine der Hecken auf die andere Seite des Weges.
„Es tut dir Leid? Das kannst du noch fühlen in deinem verwesten Herzen?“
Sie rollte sich ab und wirbelte die Blätter um sich hoch.
Gegen die Toten half ihr Bogen soviel wie ein hölzernes Übungsschwert gegen eine Schuppenpanzerrüstung. Von der Eiche bis zu den Krypten, überall war die Erde auf den Gräbern aufgeworfen. Wo sich keine verrotteten Hände in die Freiheit tasteten, da standen die Körper bereits aufgerichtet. Hundert Feinde, und endlose Ersatztruppen.
Jilis rannte zu der Eiche und presste sich gegen die von Falke abgewandte Seite. Tödlicher noch als die Umarmung der Leichname würde ihr Pfeil sein. Aus der Wunde an ihrem Hals sickerte das Blut in einem Rinnsal. Ein Kratzer, verglichen mit der Narbe auf der anderen Seite.
„Du hältst mich für eine von diesen Kreaturen, die ihren Verstand längst eingebüßt haben, ja?“, schallte Falkes Stimme über den Friedhof. Etwas geschah mit dem Nebel, der den Friedhof umhüllte. Mindestens zehn Schritt hatte er über ihr gehangen, jetzt sank er hinab. Falkes Magie... Blutrabes Magie.
“Nein!”, rief sie über die Schulter hinweg. „Du hast dich doch mit dem Blut dieser Königin betrunken. Du könntest deinen Püppchen mit einem einzigen Gedanken befehlen, wieder zurück in ihre Särge zu klettern, nicht wahr? Sie tragen in sich keine Bosheit.“
Du tust es. Blutrabe. In ihren Mundwinkel rann etwas, das salzig schmeckte.
Der Nebel verhüllte schon die Äste des Baumes und ihre grausige Last, dann senkte er sich auf die Gräber nieder. Kein Schritt Sicht blieb Jilis. Würden die Toten sie sehen können? Immerhin brauchten sie auch ihre Augen nicht mehr, um ihre Beute zu finden. Sie tastete sich vorwärts, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Der Friedhof schwieg. Nur Schritte, die über den Stein schabten. Wenn sie nur die Richtung hätte ausmachen können, und die Nähe!
Sie beugte die Knie, kauerte sich in Kampfhaltung und drehte sich auf der Stelle. Aus allen Richtungen hallten die Schritte. Sie stieß mit dem Rücken gegen eine harte Oberfläche, fuhr mit erhobener Hand herum. Vor ihr hoben sich die wettergegerbten Säulen einer Krypta. War sie erst darin, konnten ihre Feinde sie nicht mehr umzingeln...
Eine Totenfratze durchbrach den Nebel und öffnete einen Mund voll verfaulter Zähne, an denen die Reste von dunklem Zahnfleisch hingen. Jilis lehnte sich nach hinten, die Hände griffen über sie hinweg. Mit einem Haken drosch sie den Angreifer zurück in den Nebel und schüttelte die Hand aus. Knochen gegen Knochen, lange würden ihre Fäuste und Knie ihr das nicht mehr verzeihen.
Skelettfinger schlossen sich von hinten um ihren Oberarm, und vor ihr schüttete der Nebel eine weitere Lumpengestalt aus. Jilis drehte sich und zog ihren Peiniger nach vorn, rammte die beiden Kadaver ineinander. Sie machte einen Schritt auf die Treppe der Krypta.
„Jilis!“, rief Falke von irgendwoher. Mit einem Mal brach der Nebel auf, gab einen Tunnel frei, wie schon im Wald. Der Tunnel grub sich in die weißen Dunstschleier und zeigte ihr einen Weg, der über Grabsteinreihen und blattlose Büsche führte. Die Schritte der Untoten auf dem Stein verstummten.
Am Ende des Nebeltunnels kam die rote Rüstung in Sicht, über ihr die Äste des Baums mit den gefallenen Jägerinnen. Falke griff mit einer Hand an ihrem Körper vorbei, mit der anderen über die Schulter hinweg. Jilis kannte die Bewegung. Hundert Male gesehen. Sie würde den Bogen ein zweites Mal hervornehmen. Aber sie war schneller gewesen als Falke. Immer. Aus dem Reflex heraus griff sie nach dem Bogen und einem Pfeil. Ihre Hände arbeiteten, ihre Augen beobachteten. Der Nebel schien die Zeit einzuhüllen, sie zu verzerren. Falke spannte ihren Bogen. Die Bewegungen eine exakte Kopie von denen, die Jilis ausführte. Aber verzögert. Um einen Herzschlag verzögert. Sie spannte den Bogen, die Sehne straffte sich. Ja, sie würde schneller sein.
Dann traf Falkes Pfeil sie. Bohrte sich in ihren Lederpanzer auf der Brust und warf sie zurück. Ihr eigener Pfeil sirrte von der Sehne in den nebligen Himmel über ihr. Unmöglich. Sie war schneller gewesen. Bis zu dem Moment, als die Wirklichkeit zerbrochen war und Falkes Pfeil viel zu früh den Tunnel auf sie zu durchquert hatte. Kein Schmerz. Aber sie sank auf die Knie, ihr Körper gab nach. Der Nebel, der um sie wallte, schlich sich in ihren Geist. Während die Welt verschwamm, fiel ihr Blick auf den Pfeil. Ein Stück des Metallkeils ragte aus der Rüstung heraus. Die Spitze konnte kaum eine Fingerbreite tief eingedrungen sein.
Kein tödlicher Schuss. Deswegen hatte Falke den Pfeil früher von der Sehne lassen können. Sie hatte die Wucht nicht gebracht, die Jilis das Geschoss bis ins Herz getrieben hätte. Sie lachte.
„Ich habe es dir gesagt, du wirst mich nicht töten.“
Fieberschauer rannen durch ihre Adern. Mit langsamen Schritten kam Falke den Weg heran. Der Nebel um sie hob sich, entblößte ihre auferstandene Armee. Nur der Nebel um Jilis Sinne nahm zu.
„Es mag wahr sein, dass das Gift der grünen Yata nicht tötet“, sagte Falke. Jilis fluchte innerlich. Gift. Sie stemmte ihren Willen in die Muskeln, aber die blieben starr. Nein, das Gift tötete nicht. Aber es lähmte. „Doch mein nächster Schuss wird töten, Jilis. Ich wollte mit dir wieder gemeinsam ausziehen. Die Ebenen ohne Ende, und zwei Jäger.“
Für einen kurzen Augenblick sah sie beiseite, dann spannte sie den Bogen. Jilis wollte etwas sagen, aber das Gift kroch ihr in den Kiefer.
Sie sah Falke in die Augen, als die den Pfeil losließ.
 
Zuletzt bearbeitet:
VII An der Schwelle

Macht über das Leben, Macht über den Tod. Macht über so ein simples Phänomen der Natur wie Nebel. Er hätte früher darauf kommen können.
Die Blätter der Schräge hinter Maro wirbelten durch die Luft, Erde spritzte wie eine Meereswelle hoch. Der Golem fing sich auf einem Knie ab und hielt neben ihm an.
In der wilden Blätterdecke hatten Schritte ihre Zeichen hinterlassen. Aber dies war eine Spur, der eine Jägerin folgen sollte. Für ihn gab es andere Spuren. Den Kopf in die Hände gestützt, schickte er seinen Blick in die zweite Welt. Der Nebel wurde blass, dünn wie ein Seidenschleier, der nicht länger das Leben hinter sich verbarg. Eine Lebensflamme. Eine, die er kannte. Die einzige, die ihn den letzten Tag begleitet hatte. Blass leuchteten einige weitere daneben. Wenn sie den Bewohnern des Waldes gehörten, dann trugen diese bemerkenswert wenig Leben in sich. So wenig, dass sie sich nicht mehr regen sollten.
Maro hastete den Pfad entlang, neben ihm ließen Orams Schritte den Waldboden erzittern. Vor ihnen stieg der Friedhof aus dem Nebel auf. Der Golem drosch das Tor beiseite und gab Maro den Weg frei.
Die feuchte Luft war durchdrungen von dem Gestank des Unlebens. Niemand hatte hier ein Stück seiner Seele gegeben, um den Toten das Leben wiederzugeben. Die schwachen Aurenlichter waren die von wahrhaftig Leblosen, die zu keiner Bewegung mehr fähig sein sollten. Eine Magie, die Evra nie zugelassen hätte. Aber er würde herausfinden, wer es dann zugelassen hatte. Das Falchion gezogen, rannte er den Friedhofspfad entlang. Bis der Nebel sich vor ihm teilte.

*

Blutrabe spannte den Bogen. Wenn ihr Herz noch geschlagen hätte, vielleicht wäre es jetzt zerbrochen. Zwei Jäger. Nie wieder. Dumme Jilis, dass sie nicht verstehen konnte.
Sie sah zur Seite, als sie den Pfeil losließ. Die Sehne summte. Mit glasigen Augen starrte Jilis sie an.
Dann brach die Erde auf.
Stein und Sand flogen zur Seite, als bräche ein Vulkan aus. Aus dem Erdreich schoss eine graue Wand. Splitter von Knochen knirschten aneinander, verwoben zu einem einzigen Wall aus Gebein. Ihr Pfeil prallte ab und sprang zur Seite. Magie. Nichts anderes konnte es sein.
Durch den Nebel trat ein junger Mann in geschwärzter Lederrüstung, in den Händen einen Säbel.
„Wer bist du?“, fragte Blutrabe. „Scher dich weg, niemand hat nach dir gerufen!“
Sie griff nach der Kälte ihres Herzens und befahl den Nebel. Er zog sich zurück von den Gräbern, öffnete die künstliche Kuppel über dem Friedhof. Überall gab er ihre Diener frei, die Verwesenden mit den dürren Körpern. „Oder sehnst du dich danach, zu sterben?“
Hinter dem Magier trat ein Riese aus dem Nebel. Erdfarbene Haut und Muskeln an den Armen, groß wie Wagenräder.
Der Mann schien kurz zu überlegen. „Nein“, sagte er dann, „ich bin nur hier, um mit Euch zu reden.“
Die Wand aus Knochen zerbröckelte vor Jilis. Wieder starrten ihre fiebrigen Augen Blutrabe an, ihre Glieder zitterten.
„Es gibt nichts zu reden! Geht und lebt, oder bleibt hier und sterbt!“
Ein einziger Gedanke, und die Untoten setzten sich in Bewegung, scharten sich vor ihr zu einer losen Formation.
„Wenn es nicht anders geht.“
Der Zauberer kreuzte die Arme vor der Brust. Etwas geschah. Etwas hallte in ihrem Herzen wider. Der Mann gehörte nicht zu den Jägerinnen, und doch... mit einem Mal begriff sie.
Wo ist er?
Das hatte Jilis zu allererst gefragt. Ihr Gefährte.
Blutrabes totes Herz tat einen Schlag. Er durfte nicht leben. Nicht er. Sie reckte die Hand nach vorn. „Zerreißt ihn!“
Im selben Augenblick brach die Erde erneut auf. Aus den Gräbern, aus der sie noch niemanden gerufen hatte, stiegen sie jetzt. Knochenhände reckten sich hinaus und zogen ihre Körper in die Freiheit, bar jeden Fleisches. Nur kahle Schädel und Gerippe.
Ihre Armee raste voran, aber die lebenden Skelette griffen nach Armen und Beinen ihrer Diener und hielten sie auf. Zwei durchbrachen die Reihen des Zauberers und stürzten sich auf ihn. Die Arme des Riesen schossen vor und packten einen um die Brust, um ihn dann wie eine Frucht zu zerquetschen. Den anderen streckte der Säbel des Manns zu Boden.
Natürlich, einer der Nekromanten aus den Dschungeln Kejistans. Nur einem solchen konnten die Toten wahrhaftig gehorchen. Aber vor ihr würde er fallen. Aradeias Macht machte sie ihm überlegen. Und Jilis...
Die Heere prallten aufeinander, rissen sich die Knochen aus dem Leib und brachen sich die Schädel in Stücke, kugelten umschlungen im Ringen über Grabstätten und rissen die Steine aus der Erde. Die Schlacht der Toten tobte mit einer Wildheit, die der von Lebenden in nichts nachstand. Ein Skelettkrieger drückte neben ihr einen Gegner in die Friedhofserde. Blutrabe nahm seinen Schädel zwischen die Hände und brach ihn auf ihrem Knie. Die Knochen verloren den Zusammenhalt und klapperten auf den Boden. Der Nekromant zuckte, als hätte jemand ihm einen Streich versetzt. Wie Aradeia gesagt hatte. Gewöhnliche Beschwörer mussten ein Band spinnen zwischen sich und den Wesen, die sie belebten. Ihr blieb das erspart. Doch ihre Diener fielen schneller unter den gegnerischen Hieben. Alle paar Sekunden erlosch am Rande ihres Bewusstseins eine winzige Flamme.
Jilis kniete noch immer vor der Krypta, mit erstarrtem Blick. Das Gift musste sie längst in starren Schlaf versetzt und die Muskeln erhärtet haben. Dennoch... Diese Augen suchten sie. Es durfte nicht sein. Es war vorbei.
Sie sandte zwei ihrer Krieger herbei, die sich zu Jilis hin bewegten. Die Frontlinien brachen zusammen, aber sie würde nicht verlieren. Nicht so.
Auch in den Nekromanten und seinen Kämpfer aus Erde kam Bewegung. Sie hasteten vorüber an den streitenden Toten, auf Jilis zu. Blutrabe biss die Zähne zusammen. Ihre Diener schlurften nicht schnell genug. Die Hand des Erdriesen schlug einen zur Seite, dass er bis zur Eiche geschleudert wurde. Den zweiten walzte er mit seiner Masse nieder, zerquetschte das Gerippe unter seinen Füßen.
Sie fühlte den Blick des Nekromanten auf sich.
„Du wirst hier sterben, Fremder, weit ab von deiner Heimat!“
Das Jagdmesser gezogen, huschte sie auf ihn zu. Nur die Pranken des Riesen im Blick behalten.
„Ich habe keine Heimat mehr“, sagte der Nekromant. Seine Gestalt verschwand hinter dem gewaltigen Wächter. Gegen den würde ihr Gift nichts ausrichten. Aber nur einen winzigen Streich mit der Klinge gegen den Nekromanten, und all die Skelette und der Gigant würden zerfallen zu der toten Masse, die sie waren.
„Wie schade für dich!“
Ein Fausthieb peitschte vor ihr Sand und Erde in einer Fontäne hoch. Der zweite Schlag kam von der Seite. Sie warf sich nieder, um ihm zu entgehen und rollte sich zwischen den baumstammdicken Beinen hindurch. Der Nekromant kam in Sicht, breitbeinig und das Schwert in den Händen.
Der Schatten des Erdkriegers wölbte sich. Seine verschränkten Hände rasten auf sie zu, tödlicher als jeder Steinschlag. Sie rollte sich zur Seite. Das Auftreffen der Fäuste neben ihr bohrte sich in ihr Trommelfell – ein Stoß, als würde ein Berg zerbersten. In ihren Ohren summte es. Sie stieß sich wieder hoch, nahm die Erdfinger als Treppe und sprang von den geballten Fäusten ab. Tief hatte sie den Dolch in das Gift getaucht. Die Verteidigung des Nekromanten war durchschaubar. Nicht mehr als ein Bauer, der seine Heugabel vor sich hielt, um sich vor einem Bären zu schützen.
Blutrabe schoss an ihm vorüber, die Zähne ihres Dolchs rissen Hautfetzen aus seinem Arm. Treffer. Sie rollte sich ab und stand neben der Wand der Krypta, dicht neben sich die kniende Jilis. Der Nekromant zuckte und griff sich an den Arm, den das Blut wie eine Decke zu überziehen begann.
Blutrabe lachte. Seine Kraft würde nachlassen, und ebenso die seiner Kreaturen.
„Zeit, abzutreten“, sagte sie. „Mit dieser Dosis Gift wäre selbst ein ausgewachsener Ochse nicht fertig geworden, du brauchst dich nicht zu schämen.“
Er funkelte sie an, wirbelte das Schwert in ihre Richtung. Erstaunlich schnell. Sie sprang beiseite, die Klinge klirrte gegen das Portal der Krypta.
Von vorn schoss die geöffnete Hand des Erdriesen auf sie zu. Direkt in die Falle war sie ihm gegangen. Mit der Wucht eines fallenden Baumes schlug die Pranke auf sie und drückte sie gegen die Säule des Kryptaeingangs. Instinktiv rang sie nach Luft – bis sie sich erinnerte. Luft brauchte sie so wenig mehr wie Mahlzeiten oder Schlaf. Sie stemmte sich gegen den Griff des Biests. Das Gift ließ sich Zeit, dem Nekromanten seine Kraft zu stehlen.
„Aber ich stehe noch, wie du siehst.“
Sie wand sich weiter unter der Riesenhand. Der verfluchte Kerl hatte Recht. Und um sie herum sammelten sich die Skelettdiener des Nekromanten und zerschmetterten die letzten ihrer Diener.
„Sekunden hast du noch, Sohn einer dämonischen Hure. Die grüne Yata kennt selbst mit einer so jämmerlichen Gestalt wie dir kein Erbarmen!“
Der Nekromant strich sich über den blutenden Arm und hob sein Schwert auf.
„Ich brauche das Erbarmen der Yata auch nicht. Jeder, der ihr Gift einmal im Körper gehabt hat, muss sich vor ihrem Saft und Duft nicht mehr fürchten.“
„Du hast grüne Yata überlebt?“
Blutrabe versuchte, ihr Messer fester zu packen, doch es glitt ihr nur aus den Fingern.
„Nein, schwarze. Sie macht immun gegen alle ihre geringeren Schwestern.“
„Lügner.“
Die schwarze Yata überleben? Die Helden aus den Legenden der Altvorderen vielleicht, von deren Taten in der Wüste Wandteppiche gewebt wurden. Aber ein dahergelaufener Jüngling? Das war lächerlich.
Und dennoch: Das Gift blieb wirkungslos.
Der Nekromant zuckte mit den Schultern.
„Wie du meinst. Vielleicht sollte ich dich eine Lügnerin nennen. Was hast du ihr erzählt, dass sie dir bis hierhin gefolgt ist?“
Seine Schwertspitze wies auf Jilis. Blutrabes Herz schmerzte ihr in der Brust. Ein totes Organ, das in ihr verweste, und das ihr dennoch Pein zufügen konnte.
„Ich hätte sie nie angelogen! Sie ist meine Schwester.“
„Ihr nennt Euch doch alle so, nicht wahr?“
„Das ist... etwas anderes“, zischte Blutrabe. Niemandes Schwester war sie mehr. Aber Jilis...
„Deine Schwestern halten wenig von dem, was du hier tust.“
„Ho. Ist das der Moment, in dem ich überrascht sein soll?“
„Nein, es ist der, in dem du mich überraschen sollst. Wer hat dich in diesen Zustand versetzt?“
Sie sah an sich hinunter. Keinen Deut war die Hand des Riesen bisher zurückgewichen.
„In welchen Zustand? Den, der mich hier hängen lässt? Ein Nekromant, habe ich mir sagen lassen. Einer, der zu feige ist, sein eigenes Schwert zu benutzen, sondern sich auf seine Lakaien verlässt.“
„Du verstehst mich sehr gut. Wer dir ein Leben gegeben hat, das du nicht haben solltest.“
„Ach, ich vergaß, du bist ja gekommen, um zu reden.“
Seufzend stützte der Nekromant sich auf sein Schwert.
„Ich will weder dein Leben, noch das deiner Herrin. Sie ist keine von den östlichen Kontinenten, nicht wahr? Sie hat Befehl über die Dämonen mit den Vogelklauen.“
„Noch über weit mehr als nur die.“
Ein sonderbares Leuchten trat in die Augen des Jungen. Er nickte und steckte sein Schwert weg. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber die Finger Erdriesen zogen sich ein Stück zurück.
„Sie ist nicht aus dieser Welt“, stellte er fest.
„Sonst hätte jemand ihre Macht schon vorher bemerkt.“
Erneut nickte er, und sein Diener zog seine Hand zurück. Blutrabe sank auf die Treppe der Krypta hinunter.
Nur ein Junge, den es nach Macht gierte. Dennoch auch Jilis Gefährte. Er durfte nicht leben, niemals.
„Ich will mit ihr reden.“
„Du redest wohl sehr gern...“
„Bring mich zu ihr.“
„Ich verlasse meinen Posten, um ihr einen dahergelaufenen Zauberer zu bringen, der wild mit seiner Magie um sich wirft – das wird nicht nur für mich selbst ein schlechtes Ende nehmen.“
„Dann frag sie.“
Eine Idee keimte in ihr. Wenn es ihr auch nicht gelang, ihn zu töten... Sollte er zur Herrin Aradeia gehen, seinen Willen haben, welcher Art er auch sein würde. Bei Jilis könnte er dann nicht mehr bleiben.
„Ob sie dich sehen will? Was für Chancen rechnest du dir aus?“
„Ich habe ein Angebot. Die Untoten, die sie erschafft – die du erschaffst – sind schwach und seelenlos... Ich kann das ändern.“
Die zerstückelten Leiber lagen über die Beete und Gräberreihen verstreut. Der junge Mann log nicht, seine Totenkrieger waren ihren weit überlegen... Nicht zu sprechen von dem verdammten Riesen. Er ragte vor ihr auf wie ein irdener Turm.
Neben Blutrabe kniete Jilis zusammengesunkener Körper. Nicht eine Armeslänge entfernt, und doch eine Unendlichkeit. Wieder regte sich das tote Ding in ihrer Brust, quälte und stach sie. Was hatte sie getan...
„Ich überbringe dein Angebot“, sagte sie leise. Leise vor Furcht, ihre Stimme könne brechen. „Aber ich stelle eine Bedingung.“
„Jede.“
Dieser Junge würde seinen Vater und seine Mutter verkaufen, um Aradeia zu sehen, das stand fest. Aber die beiden interessierten sie nicht. Sie deutete auf Jilis.
„Bring sie zurück zu ihren Schwestern. Sei schnell, denn das Gift arbeitet in ihr bereits.“
„Das ist dein Wunsch? Hast du ihr nicht selbst das Gift verabreicht?“, fragte der Nekromant, die Stirn in Falten gezogen.
„Mein Wunsch ist, dass du einen schmerzvollen Tod findest!“
„Schon gut.“
Der Riese aus Lehm und Erde beugte sich nieder und schob seine Hände wie Schaufeln unter Jilis Körper. Erstarrt lag sie da, wie eine Schmetterlingspuppe. Wenn nur jemals wieder der Schmetterling aus ihr steigen würde. Das Gift lähmte die Muskeln zuerst, bis sie hart waren wie Stein, dann sandte es den Vergifteten in den Schlaf, und währenddessen fraß es die Muskeln von innen auf. Bis nicht einmal mehr genug Muskeln übrig waren, um die Lunge zu bewegen.
„Ich weiß nicht, wie viel Zeit sie noch hat...“
„Der Weg über die Berge dürfte der kürzeste sein. Er muss genügen. Schaff mir nur den Nebel aus dem Weg.“
Blutrabe wendete den Blick von Jilis ab und fixierte die graue Decke, die den Friedhof wie einen Ort des Traums vom Rest des Waldes abtrennte. Langsam wich der Nebel zurück, als fürchtete er sich vor ihr. Sie drängte ihn so weit zurück, bis nur noch der natürliche Rest übrig blieb, und den schickte sie als Kondenswasser auf die Blätterdecke am Waldboden.
„Mehr kann ich nicht tun“, sagte sie.
„Was ist, wenn das Gift stärker als sie und schneller als ich ist? Wenn sie mir stirbt, bevor er ich das Lager erreiche?“
Wie leichthin er die Möglichkeit aussprach. Sie griff nach ihrem Messer, steckte es aber in die Scheide zurück.
„Dann stirbst du als nächster!“
Hinter dem Nekromanten sammelten sich seine Krieger, zum Friedhofstor gewandt, und auch der Erdgigant reihte sich ein.
„Und falls ich deine Bedingung erfülle, wo treffen wir uns wieder?“
Sie überlegte kurz. Ja, da gab es einen Ort. Dort würde sich diese neue Angelegenheit problemlos in Aradeias Pläne einfügen.
„Es gibt da ein Dorf, Karmhang. Von den Bergen aus über die westlichen Hänge, an deren Fuß ist es dann nur noch ein Halbtagesmarsch. In sieben Tagen. Hast du verstanden?“
„Ich werde dort sein.“
„Ich ebenfalls, aber nicht allein. Vielleicht wirst du mich suchen müssen.“
„Das werde ich.“
An dem Jungen war ein Soldat verlorengegangen... Als nächstes sollte sie ihm raten, dass er sich in einen Misthaufen stürzen müsse. Das werde ich.
„Dann verschwinde jetzt, bevor ich mich vergesse.“
Eine leere Drohung, angesichts der Übermacht, die ihr gegenüberstand. Der Nekromant wandte sich zum Gehen, und sein Heer setzte sich scheppernd in Bewegung.
„Ich hoffe, dein Gesuch bei deiner Herrin Aradeia hat Erfolg.“
„Und ich hoffe, dass du Jilis rechtzeitig zurückbringst. Bevor sie verloren ist.“
„Du hast sie gekannt, oder?“
„Wen ich kenne oder nicht, ist meine Sache. Verschwinde endlich.“ Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. „Warte.“ Sie ging über das Schlachtfeld, beugte sich über zerschundene Körper und abgehauene Gliedmaßen. Irgendwo, ein schwarzes Schimmern... Sie fand es in den Rippen eines gefallenen Skeletts. Die winzige Schachfigur aus Jilis Tasche. Die schwarze Königin. Blutrabe hob sie auf und reichte sie dem Nekromanten.
„Das hier. Gib es ihr, wenn sie erwacht. Egal, was sie sagt.“
„Also spielt ihr dieses Spiel auf diesem Kontinent auch.“
„Geh.“
Der Nekromant nickte ihr zu und trat aus den Friedhofstoren, seinen Truppen hinterher. Der Riese trug Jilis Körper einem ungewissen Schicksal entgegen.
Blutrab blieb zurück auf den Stufen der Krypta, umgeben von Gefallenen und einer grausamen Stille. Selbst, wenn Jilis das Gift mit der Hilfe von Akaras Mitteln überstand, blieb noch immer der Pfeil in ihrer Brust. Keiner würde vergessen, wer ihn geschossen hatte, am wenigsten Jilis selbst.
Was für eine schreckliche Dummheit sie begangen hatte...
Sie schlug die Faust gegen den Stein der Krypta, bis der Schmerz sich dumpf in ihr Bewusstsein Bahn brach. Nur eine blasse Erinnerung an das, was sie früher Schmerz genannt hatte. Jetzt wollte sie ihn, wollte Tränen, aber beides kannte ihr Körper nicht mehr. Eine Hülle mit dunkler Leere im Inneren, das war sie.
Sie erhob sich und rief sich aus den wenigen intakten Gräbern eine Garde aus einem halben Dutzend heran. Ein langer Weg bis zum Kloster lag vor ihr. Noch war nicht alles verloren. Nicht alles.

*

Die Krieger um ihn zerbrachen. Alle zehn Schritte, die Maro durch den Wald tat, entwich der Lebensfunken aus einem weiteren der Skelette und ließ es zu einem ungeordneten Haufen Knochen zusammenbrechen. Eine Schwere beherrschte seinen Geist und drückte ihn nieder, als ob das Gift seine Wirkung doch noch entfaltet hätte. Zumindest darin hatte Varn Recht. Die Toten zu beleben, forderte von allen Magien, die die Nekromanten beherrschten, die meiste Kraft. Aber selbst seinen letzten Funken würde er geben auf diesem Pfad, der ihn an sein Ziel führen musste. Was für ein Wesen Aradeia auch sein mochte. Wenn sie einen Weg in diese Welt gefunden hatte, in die sie nicht gehörte, dann konnte auch er einen Weg finden in das Reich der Götter und der Dämonen. Das Antlitz Evras stand vor ihm. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss.
Als er sie wieder öffnete, war dort nur das Antlitz des Mädchens in Orams Händen, die eine Schale bildeten. Gestern noch war sie ihm nachgelaufen, und nun schleppte er sie hinter sich her. Doch sollte die Hexe des Friedhofs fordern, was sie wollte.
Am Waldrand unter den letzten Baumkronen brachen auch die letzten Skelettkrieger zusammen. Zwei Nadelstiche in seine Gedanken, die ihm die Arme und Beine müde machten. Aus Orams Rücken bröckelte die Erde händevoll. Maro konzentrierte seinen Geist. Der Golem musste die Reise überstehen. Sich Jilis selbst auf die Arme laden, hätte nicht mehr Erfolg gehabt, als den ganzen Golem zu schultern. Die Toten hatten von seiner Kraft gefressen wie hungrige Tiere.
Über den Bergspitzen verdeckten finstere Wolken die Sonne. Ein Regenguss würde den Aufstieg nicht eben leichter machen. Besonders, da er den Weg nicht wusste. Er wusste nur, dass der Weg um den Gebirgszug herum in jedem Fall zu viel Zeit kosten würde. Mehr Zeit, als Jilis geben konnte. Der Körper lag in den Händen des Golems ausgestreckt da, die Augen endlich geschlossen. Doch das bedeutete nur, dass das Gift die zweite Abwehr des Körpers gebrochen hatte. Die Muskeln lagen wieder entspannt da, der Saft der Yata hatte sich in den Adern verteilt und konnte bald damit beginnen, die Muskeln zu zersetzen.
Über den Weg durch die Berge bestand zumindest die Möglichkeit, dass er es früh genug ins Lager schaffte.
Oram schritt voran und erklomm den ersten Hang. Maro folgte ihm dichtauf und riss aus seinem Reiseumhang Stücke ab, die er sich um Hände und Finger wickelte. Berge hatte er bisher nur gesehen, nie bestiegen. Aber die scharfen Kanten der Felsen würden ihm die bloßen Hände mit Leichtigkeit zerschneiden.
Ihm fehlte die Kraft und die Unverletztlichkeit, die sein Golem besaß. Selbst am ersten Hang häuften sich die Plateaus, zu denen es keinen Weg zu Fuß mehr hinauf gab. Wann immer es möglich war, ließ er den Golem vorangehen und sich zu den Überhängen strecken. Dann erklomm Maro den Rücken des Riesen und zog sich auf die nächste Ebene, ersparte seinen Händen so die spitzen Steine der Wände. Bald rasselten ihm die Atemzüge dennoch, obwohl er die schwierigsten Kletterpassagen schon umlief.
Er stützte sich auf die Oberschenkel und sah nach oben. Die Gipfel reichten nur fast bis an die Wolken heran. Doch so hoch hinauf musste er ohnehin nicht. Nur einen Pfad nehmen, der den Weg über die Ebenen abkürzte, ihn nicht erst an dem überfallenen Bauernhaus vorbeiführte, sondern direkt zurück zum Lager der Jägerinnen. Ein Schweißtropfen brannte ihm im Auge. Er schüttelte sich und wischte sich die Stirn ab. Kein Zögern, kein Zagen. Er musste weiter.
Die Hänge wurden steiler und spannten sich höher bis zur nächsten Felsterrasse. So hoch, dass Oram ihm den Aufstieg nicht mehr erleichtern konnte. Jilis schwankte in der Pranke des Golems, während er sich mit der anderen hinaufzog und mit den Beinen nachschob. Einige Male stockte ihm der Atem, wenn der braune Haarschopf nach unten baumelte und die Finger des Kolosses um sie zitterten. Aber dann erinnerte er sich, dass er selbst noch genau den selben Weg vor sich hatte – und dass viel eher er es sein würde, der hinabstürzte.
Gegen Nachmittag hatte der Himmel sich zugezogen wie eine Phalanx aus Schildträgern, und die ersten Tropfen fielen. Sie durchnässten die improvisierten Handschuhe Maros, die nun eher als Bandagen dienten – Risse klafften in seinen Handflächen und färbten den dunklen Stoff mit Blut noch dunkler. Noch immer ging es höher hinauf, und wenn sich neue Wunden an Maros Händen und Armen auftaten, dann spürte er es unter der gnädigen Taubheit nicht. Nur, wenn die Regentropfen seine Wunden trafen, brannte der Schmerz hoch und heiß wie kochendes Öl. Den Golem behinderten die Tropfen kaum, er kletterte in ewig gleichem Tempo über Felsspalten und splitterüberzogene Hänge. Erst, wenn der Regen schlimmer würde, konnte Oram in Schwierigkeiten kommen. Und ein Blick auf die pechschwarzen Wolken zeigte Maro, dass es schlimmer kommen würde.
Dennoch legte er eine Rast unter einer schräg aufragenden Felsnadel ein, um wieder Atem zu schöpfen. Der Golem kauerte sich dazu und legte die Jägerin ab. Ihre Finger zuckten, bildeten Krallen und griffen in die leere Luft. Die Muskeln wehrten sich. Maro legte Jilis eine Hand auf die Stirn. Heiß von Fieber. Fieber konnte gegen die Yata nichts ausrichten, so hoch es auch steigen mochte. Aber es konnte zumindest die Wirkung des Giftes verzögern. Wenn es nicht so hoch stieg, dass es selbst das Leben der Jägerin bedrohte...
„Verdammter...“, murmelte sie, und ihre Gesichtszüge zuckten wild.
„Verdammter Nekromant. Das wolltest du sagen“, sagte er. Oram starrte ihn mit seinem leeren Gesicht an, in das der Regen schon Kerben gewaschen hatte.
Verdammt waren sie beide, schon lange. Er hätte sie töten können, den ganzen Weg über. Dann wäre ihm die Bedingung der Hexe erspart geblieben.
Draußen zuckte ein Blitz über den Himmel. Der Donner erschütterte die Felsen, folgte viel zu rasch. So sehr sein Körper nach einer Rast verlangte – der von Jilis verlangte danach, dass sie weiterzogen.
Er tauschte seine Bandagen aus und zurrte sie fest, Oram nahm die Bewusstlose auf den Arm.
Von den Bergspitzen her blies ein schwüler Wind wie der Atem eines Titanen. Das Herz des Gewitters lag erst noch vor ihm.
Die Kraft seines Geistes genügte nicht, die Schmerzen zu vertreiben, wenn er in den rauen Stein griff und sich höher zog. Er biss die Zähne zusammen und ertrug, was da kam. Keines Nekromanten würdig. Er drehte sich um. Einer Jägerin vielleicht.
Hinter ihm sanken der Wald und die Ebenen in die Ferne. Ein Labyrinth aus Felsspitzen und Gesteinsschollen war das Einzige, das er sah. Seine ganze Welt.
Die Hänge flachten wieder ab, und wie zu Beginn zog sich Maro mit Hilfe seines Gefährten auf die nächsten Ebenen. Es waren die letzten Schritte, die er bergauf gehen musste, dann wölbte sich der Bergkamm zur anderen Seite wieder hinab. Als Oram sich hinter ihm auf die Hochfläche zog, begann der Regen.
Die Tropfen platschten nicht mehr einzeln auf den Fels, sondern in rauschenden Strömen. Maro rannte. Durch die Dunkelheit seiner Kapuze sirrte das Licht eines Blitzes, und der Donner folgte augenblicklich.
Er jagte die Hänge hinunter, sprang kleinere Distanzen einfach hinab und bei größeren ließ er sich mitten im Klettern fallen. Der Stein schlug ihm mit dumpfen Hieben gegen die Fußsohlen. Längst stand er mit den Zehen im Wasser, das sich in seinen Stiefeln ansammelte.
Atemlos drehte er sich um. Diesmal war er es, der auf den Golem warten musste. Verfluchte Erde, die im Regen verging! Die Löcher von Augen und Mund waren längst von Schlamm ausgefüllt, der ganze Kopf zu einem schiefen Buckel zusammengeschmolzen. Und die Beine waren längst zur halben Größe geschrumpft und zogen Spuren aus Matsch hinter sich her. Wie ein Krüppel zog er sich immer weiter und büßte mit jedem Schritt mehr von seiner Form ein. Auch Maro wankte unter dem Gewicht des Wassers, mit dem sich seine Kleider vollsogen. Minuten, mehr gab er dem Golem nicht mehr.
Nicht nur ein Mal rutschte er mit Stiefeln oder Händen vom glitschigen Gestein ab und stürzte mehrere Schritt tief. Seine Knie dröhnten vor Schmerz bei jedem Auftreten, und seine Handschuhe flatterten in alle Richtungen davon, getränkt von Wasser und Blut. Hinter den steilsten Hängen wartete er lange auf den Golem.
Ein Erdhaufen näherte sich, reichte ihm kaum noch bis zur Brust. Beine fehlten völlig, Oram zog sich mit einem Arm voran wie ein Sumpfungetüm.
Zeit abzutreten, wie die Hexe gesagt hatte. Maro legte einen Finger auf die zerlaufende Erde und forderte die Lebenskraft zurück, die er gespendet hatte. Eine winzige Flut aus Energie sprang in ihn. Das letzte Quäntchen Kraft, das ihn bis vor die Tore des Lagers bringen mochte. Wenn er nicht Schritte davor zusammenbrechen und auf durchweichten Wiesen verenden würde.
Die Gestalt des Golems zerlief zu einem Tümpel, nur den Körper der Jägerin hob Maro aus der Brühe heraus. Sie wog schwer, eben so mit Erdspritzern bedeckt wie er und ihre Kleidung eben so voll Regenwasser gesogen wie seine.
Der Abhang mündete bald in die Wiesen, und kurz darauf traf er auf die Straße, an der ihm am gestrigen Tag Jilis aufgelauert hatte. Bei jedem Schritt fürchtete er erneut, dass seine Arme unter dem Gewicht brechen würden.
Er war in das Land gekommen, um die Göttin zu treffen, um, wenn es nötig war, auf dem Weg zu sterben. Wenn er nun starb, dann wegen einer gewöhnlichen Sterblichen, die er auf den Armen trug.
Er wankte wie ein Betrunkener, das Gefühl wich ihm aus den Beinen und Armen. Den Speerschnitt auf dem Rücken weichte der Regen neu auf und peinigte Maro mit Qualen wie von Peitschenhieben.
Die Kleidung klebte an ihm wie eine zweite Haut und der Regen hämmerte in seinen Ohren und stürzte als glitzernde Wand vor seinen Augen hin. Die einzigen Beweise, dass er noch nicht in das Reich der Toten eingetreten war. Der Rest an Energie, den er von Oram erhalten hatte, war längst weggewaschen in der Regenflut.
Irgendwann gaben seine Beine auf. Wie auf einen Befehl hin klappten ihm die Glieder ein. Es war so lächerlich. Mit dem Kinn schlug er im Schlamm auf und lachte. Rinnsäle flossen an seinen Wangen vorüber, Jilis rollte aus seinen Armen und blieb vor ihm im Matsch liegen, das Gesicht hinter nassen Haarsträhnen verborgen.
Selbst einer, der zwischen Leben und Tod wandelte, konnte nur eine gewisse Zeit auf der Schwelle balancieren. Er hatte lange genug balanciert, jetzt war er gestürzt. Dunkelheit schob sich ihm vor die Augen und vor den Geist.
Durch die Schwärze drangen Stimmen aus einer anderen Welt.
„...nicht erwartet, dass er zurückkehren würde.“
„Aber mit einer toten Schwester, zumindest das habt Ihr sicher erwartet.“
Es konnten Geister sein, die sich in sein Bewusstsein schlichen. Aber er antwortete. Rollte die Worte aus seinen Kiefern mit endloser Mühe.
„Nicht tot. Grüne Yata.“
„Ihr habt sie vergiftet? Ein guter Streich, um sich ihrer zu entledigen.“
„Nein“, sagte er. Jedes weitere Wort wäre ihm noch im Halse zerbrochen.
„Dennoch, eine Dreistigkeit sondergleichen, das sei Euch gelassen.“
In ihm lachte eine helle Stimme auf. Ja, das stimmte. Dreistigkeit hatte ihn so weit gebracht. Keinen Respekt vor seinen ehrwürdigen Lehrern, vor der Schwesternschaft des verborgenen Auges. Das würden sie auf seinen Grabstein schreiben. Ein dreister Nichtsnutz.
Die Stimmen verstummten. Einen Grabstein würde es womöglich nicht geben. Sie würden warten, bis die Straße ihn verschluckt hatte, bis das Gewitter ihn einfach aus ihrer Welt spülte.
Eine andere Stimme kehrte zurück, irgendwann.
„Das wird dich einige von deinen teuren Münzen kosten“, sagte sie zu ihm. Etwas zog ihn aus dem Schlamm, hob ihn in die Luft. Die Engel der nächsten Welt jedenfalls forderten kein Gold ein für ihre Dienste. „Weißt du, wie viel ein Seidengewand mit eingesponnenen Silberfäden kostet, und weißt du, wie vorsichtig man es reinigen muss – nachdem man damit eine Moorleiche geschleppt hat?“
Weder die Schmerzen des Körpers noch die des Geistes ließen nach, aber er lächelte.
„Nein, weiß ich nicht. Erzählt mir davon.“

Er erwachte in einer stumpfen Welt. Ein Schleier vor seinen Augen hielt das Licht von Öllampen auf, und eine Wand aus Watte vor seinen Ohren dämmte die Geräusche. Jemand trat neben ihm auf, zwischen den Säcken und Kisten. Gheeds beladener Wagen. Kein Zweifel, er war wach. Auch die Schmerzen seines Körpers erschienen weit entfernt, als hülfe ein anderer ihm, sie zu tragen.
„Wo ist sie?“, fragte er. Er tastete mit der Zunge den Gaumen entlang. Kein Gefühl. Auch nicht in seinen Händen, die in dicken weißen Verbänden steckten. Jemand lachte.
„Jeder andere hätte gefragt, wo er selbst sich gerade befindet. Du scheinst sie ja ins Herz geschlossen zu haben.“
Maro richtete sich auf. Jede Bewegung war wie gegen einen Wasserfall. Aber keine Fieberhitze brannte in ihm. Es war nur die Schwäche seines Körpers, nachdem er den letzten Rest an Kraft von ihm gefordert hatte. Er krallte eine Hand in das Hosenbein des Händlers.
„Ich habe eine Frage gestellt.“
„Oh, ja. Ist mir nicht entgangen. Ich habe nur gesehen, wie die Frauen sie in das Zelt der Alten getragen haben.“
Eine andere als Akara würde in diesem Lager auch nicht die Mittel und Kenntnisse besitzen, gegen das Gift der grünen Yata anzutreten. Aber selbst die alte Frau...
Der Händler machte einen Schritt beiseite und schüttelte Maros Hand ab. „Wie wäre es zuerst mit ein paar Gedanken um dich selbst? Dem Folterknecht, der dich in die Hände bekommen haben muss, kann ich nur meinen Respekt für seine Künste zollen.“
Maro zog sich an den Streben, die die Dachplane hielten, hinauf. Durch den Wagenausgang drang ein Schimmer von Morgensonne zu ihnen herein. Nicht viele Stunden konnte er geruht haben.
„Tja, er hat mich nicht bekommen. Wie Ihr seht, kann ich stehen.“
„Wenn ich dir nicht einige der Wundertränke aus der Wüste eingeflößt hätte, könntest du womöglich nicht einmal mehr liegen. Es sind die Säfte, die dich auf deinen Beinen halten. Kann gut sein, dass du sie wieder auspisst und dann zurück in deinen Schlaf fällst.“
„Ob mich Krücken, Dämonenkräfte oder Wundertränke auf den Beinen halten, das macht keinen besonders großen Unterschied.“
Die Tränke. Jilis konnte jeden Windhauch brauchen, der an ihrem Schicksal rüttelte. Maro fingerte in seinem Geldbeutel nach Münzen. Seine bandagierte Hand fasste zuerst nur ins Leere, dann fand sie einige Goldstücke auf dem Grund.
„Du wunderst dich vielleicht, dass nicht mehr alles darin ist... Ich habe mir meinen Lohn für deine Rettung schon genommen.“
Ersticken konnte er an dem Lohn, was es Maro anbetraf.
„Gebt mir dafür von den Tränken und Tinkturen. Alles, was Ihr entbehren könnt.“
Er streckte Gheed eine zitternde Hand entgegen, in der Goldstücke aufeinander klapperten.
„Mh... Lass mich raten, du wirst dir die Wässer nicht selbst einflößen.“
„Jilis“, sagte Maro. Er starrte den Händler so durchdringend an, wie er konnte. Die Schleier vor seinen Augen färbten die Gewänder in ein milchiges Grau – oder sie waren tatsächlich so von Schmutz bedeckt, wie Gheed es gefürchtet hatte.
„So, so...“ Der Händler wandte sich einer Kiste zu, in der Glaszylinder glitzerten. „Es wäre leichter, wenn ich wüsste, was dem Mädchen fehlt. Und du hast nicht zufällig an einem der Elixiere genippt, die ewige und bedingungslose Liebe bewirken?“
„Macht so ruhig weiter, dann werdet Ihr mehr als nur eine dieser Mixturen benötigen, um Euch wieder zusammenzusetzen.“ Er zögerte, dann sagte er: „Es ist grüne Yata gewesen, die sie niedergestreckt hat.“
Gheed kicherte in die Kiste hinein. Der Humor des Wüstenmanns verdiente ein rasches Grab.
Einige Minuten später stand Maro mit zwei Phiolen in den verbundenen Händen da.
„Die Flüssigkeit in dem kleineren Röhrchen macht das Blut dicker. Es wird das Gift nicht so schnell transportieren können. Durch einen Fluss lässt es sich leichter schwimmen als durch einen Sumpf.“ Gheed zeigte auf das zweite Behältnis. „Dies hier ist aus dem Saft von Kakteen gebraut. In hohen Dosen ist es gefährlich, weil es den Körper genau so befällt wie eine Grippe. Aber das hier ist verdünnt. Es fordert den Körper lediglich dazu auf, seine Abwehr zu stärken, weil er einen Angriff wittert. Es treibt das Fieber hoch.“
„Ihr wisst viel von der Heilung. Akara stopft den Verwundeten womöglich ihre eingelegten Kröten in den Mund.“
„Wenn es hilft...“
„Ja“, sagte Maro, und lachte trüb, „wenn.“
Er zog sich voran durch den frühen Morgen. Streifen von Sonnenlicht drangen auf seine Haut und die dreckverkrustete Rüstung. Er spürte nichts von der Wärme.
In Akaras Zelt brannte noch das Licht von Öllampen. In den Schatten des Zelteingangs standen zwei Jägerinnen, die Arme verschränkt. Würden sie ihn aufhalten? Ungerührt trat er auf den Eingang zu, blickte starr geradeaus.
„Du kannst dort nicht hinein“, sagte eine der Jägerinnen, und von beiden Seiten rückten sie an. Er sammelte alle Stärke, die sich noch in seinem Körper befand, und stieß die beiden Frauen mit den Unterarmen beiseite. Der Aufprall erinnerte ihn an die Sprünge von den Felswänden. Die Zeltwächter taumelten zurück, und er schritt rasch zwischen ihnen hindurch.
Auf ein Lammfell gebettet, lag Jilis dort. Nur in Unterkleidung, ohne die Rüstung. Obwohl der Morgen kühl war – soweit er das unter der Taubheit, die Gheeds Arzneien ihm herbeigeführt hatten, feststellen konnte.
Eine Gestalt in Kutte erhob sich neben dem Lager und machte Handbewegungen, als wolle sie einen Streuner fortscheuchen.
„Kusch, Dämon!“, sagte Akara. „Der Mörder kehrt zum Opfer seines Verbrechens zurück, so?“
„Ihr wisst genau, dass ich das nicht getan habe.“
Als hätte sie ihn nicht vernommen, fuhr sie fort.
„Und er bringt mehr von dem Gift, das er ihr eingeflößt hat.“ Ihre runzligen Finger schnippten gegen eine der Phiolen in seinen Händen. „Wachen! Wo seid ihr?“
Jemand packte ihn hart unter den Armen, und die Welt drehte sich für einen Moment.
„Verzeiht, Akara“, sagte die Jägerin, die ihm den Weg verstellt hatte. „Wir werden ihn–“
„Das ist kein Gift!“, sagte Maro. „Im Gegenteil, diese Tränke sollen ihr das Gift aus den Adern spülen.“
Er wurde rückwärts gezerrt, aber Akara hob die Hand. Stille. Sie hinkte näher. Erst da erspähte Maro eine weitere Gestalt am Lager von Jilis. Eine junge Frau mit Sommersprossen im Gesicht, die ihn weder mit Verachtung noch Bosheit anblickten. Nur Trauer las er in ihren Augen.
Akara packte ihn an der Schulter, ihre Fingernägel drückten sich in die Wunde auf seinem Rücken. Er stöhnte.
„Ich weiß nicht, mit welch fremdländischem Blendwerk du zu uns kommst, aber wir behandeln unsere Verwundeten seit Ewigkeiten mit den Extrakten der Früchte, die in unserem Land wachsen.“
„Dann sind die Ewigkeiten jetzt vorbei!“
Der Hohn in Akaras Blick verwandelte sich in Zorn.
„Du willst das bestimmen – Schlange aus dem Osten?“
„Ich will nur, dass Jilis nicht stirbt.“
„Wenn unsere Herrin sie zu sich ruft, dann sind wir dagegen machtlos. Wer glaubst du, zu sein, dich ihr entgegenzustellen?“
Einem die Worte im Munde zu verdrehen und Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gab, das mussten die Schwestern schon in der Wiege lernen... Maro wand sich im Griff der Wächter.
„Was wisst Ihr darüber, wie das Gift in ihren Körper gekommen ist? Ich habe gegen die Hexe gekämpft, die Jilis das angetan hat.“
Der Ausdruck ihres Gesichts wechselte wieder, die Falten legten sich. Sie hatte ihn unter Kontrolle.
„Dein Wissen wird hier nicht verlangt, Nekromant. Du stürmst in meine Hütte wie ein Halunke und verlangst Verständigkeit. Dass ich dich nicht habe abstechen lassen wie einen tollwütigen Hund, das ist dir nicht genug...“
Ein Hund, was für ein passender Vergleich. Wie ein Hund lief er seiner Herrin nach und kläffte um sich. Wenn ihr Schicksal nur nicht mit seinem verwoben gewesen wäre.
„Vergesst mich! Nehmt die Tränke, wenn noch etwas von Jilis zu retten ist.“
„Sie hat erst einen Arm verloren.“ Ihm wich das Blut aus dem Gesicht. Ein Arm verloren? Akara wendete sich ab. „Damit muss man rechnen, wenn das Gift vor Beginn der Behandlung schon so weit vorangekrochen ist.“
Selbst ein Akolyth unter den Nekromanten hätte das verhindern können, und er hätte nicht einmal das zweite Gesicht benutzen müssen.
„Es ist falsch“, sagte er leise. Nicht nur Eure Taten. Ihr seid falsch.
Die Wachen zerrten ihn nach draußen. Seine Arme und Beine trugen nicht mehr genügend Kraft, um sich zu widersetzen. Der Zelteingang wurde zugezogen und die Jägerinnen stießen ihn fort. Er stolperte durch den Schlamm und blieb vor der Asche des Lagerfeuers stehen.
Mit einem Arm begann es, beim Herzen würde es enden. Wie ein folternder Dämon fraß das Gift der Yata sich von den Fingerspitzen und Zehen aus zur Körpermitte. Das Herz war seine letzte Speise.
Mit dieser verfluchten Zauberin, deren Horizont an den Heringen ihres Zeltes endete, war Jilis' Ende bereits beschlossen. Und damit das Ende seines Traums.
Er fasste den Griff seines Schwertes. Als letzte aller Möglichkeiten...
„Maro?“, fragte jemand hinter ihm.
Die Morgensonne blendete ihn, er schirmte die Augen mit der Hand ab und ließ den Schwertgriff los. Die Konturen einer der Jägerinnen zeichnete sich ab. Das Gesicht mit den Sommersprossen, von Jilis Lager. Ein schmales Mädchen, viel schmaler als ihre Schwestern, kam auf ihn zu. Noch etwas anderes an ihr passte nicht zu den anderen. Sie kannte seinen Namen.
„Du willst ihr helfen“, sagte sie sehr langsam, als müsse sie jedes Wort sorgfältig wählen, und drückte die Fingerspitzen aneinander. „Ich glaube dir.“
 
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VIII Die Legende

Ein unendliches Gewicht ruhte auf ihrer Brust und fesselte sie an das Lager. Eine falsche Bewegung, und ihre Rippen würden zerbrechen. Jeder Atemzug ein Kampf um das Leben. Aber sie nahm den Geruch des ranzigen Kerzenfetts wahr und die Schatten, die sich hinter den Zeltwänden bewegten. Und die schmale Gestalt, die neben ihr kniete.
Alles überlagert von den letzten Bildern, die sie gesehen hatte, bevor die Ohnmacht sie fortgerissen hatte. Der Pfeil, der ihr in die Brust hätte fahren sollen, und die Wand aus Gebeinen, die sich vor ihr aufgetürmt hatte, um das Geschoss aufzufangen. Der verrückte Hundesohn. Was auch geschehen sein mochte, ohne ihn würde sie nicht hier liegen, sondern auf dem Gottesacker, ohne ein eigenes Grab zu besitzen.
Vega ergriff ihren Arm und legte sich die Hand auf die Schulter. Jilis wartete auf die Empfindung der Berührung. Nichts.
„Das kannst du ewig versuchen“ , sagte sie vorsichtig. Atemzug nach Atemzug, nicht zu rasch. „Das Ding ist wie ein Stock, den man mir an die Seite genäht hat.“
„Er kann es wieder in Ordnung bringen... ich bin mir sicher.“
„Er?“
„Maro. Du hast seinen Namen im Schlaf gesprochen.“
„Ich hoffe, er ist mir zusammen mit einer Ladung Erbrochenem über die Lippen gekommen.“ Sie lachte heiser, es pochte in ihrer Brust. „Akara hatte wohl zu viel zu tun, um sich um mich zu kümmern?“ Mit dem Arm, den sie noch spürte, zog sie die Felldecke bis an den Hals hinauf. Was für ein Gedanke, dass jemand den Nekromanten an ihren Körper gelassen hatte.
„Du wärst gestorben“, flüsterte Vega und drückte ihre taube Hand.
„Früher oder später holt der Meister Tod jeden. Umgekommen im Auftrag der Herrin, was für ein Ende soll besser sein?“
„Eines, das noch auf sich warten lässt! Ich will nicht, dass du stirbst.“
Jilis drehte den Kopf zur Seite, sank in das Kopfkissen ein.
„Ich auch nicht, eigentlich.“
„Maro hatte Medizin für dich. Akara hat ihn weggeschickt, also habe ich sie dir gegeben.“
Sie setzte sich auf, soweit es ging, stützte sich auf einem Ellenbogen ab und starrte Vega an.
„Was hast du dir gedacht? Er hätte flüssiges Quecksilber oder Schlangengift in seine Krüge gefüllt haben können!“
„Nein“, sagte Vega und legte Jilis Arm zurück unter die Decke. „Das hätte er nicht. Er ist kein böser Mensch. Er hat dich den ganzen Weg hergetragen, wo auch immer du gefallen sein magst.“
Natürlich hatte Vega Recht. Quecksilber und Schlangengift, das war Meilen entfernt von dem, was der Nekromant je getan hätte.
Jilis fühlte über die Finger ihres toten Arms. Kalt und taub. Ein Stock, den ihr jemand unter die Decke gelegt hatte. Es schauderte sie, als sie die Konturen nachspürte.
„Der Friedhof“, begann sie und erzählte von der Reise, die sie mit dem Nekromanten zusammen unternommen hatte. Von den vielen geflügelten Teufeln und dem einen Teufel, der einmal ihre Freundin gewesen war.
Falke war noch immer lebendig gewesen, unter einem grässlichen Schutzwall, den sie um sich gespannt hatte und den sie Blutrabe genannt hatte. Aber der Krieg hatte selbst das zweite Leben eingefordert, das sie erhalten hatte. Hatte gefordert, dass Falke ging, oder Jilis selbst.
Sie hat dir das angetan“, sagte Vega, und ihre Stimme zitterte. „Auch, wenn ich ihr nicht geglaubt habe: Akara sagte, Maro hätte dir...“
„Ein Schwachkopf ist er, und ohne Glauben oder Ehrfurcht, aber jemanden vergiften, dazu... fehlt ihm etwas. Du hast es selbst gesagt.“
Vor ihren Augen stieg wieder die Wand aus Knochen aus dem Boden, die den tödlichen Pfeil abfing und weit fortschleuderte. Was sollte sie damit nur anfangen? Ein unberechenbarer Hundesohn. Vielleicht würde er sie doch am nächsten Tag noch erdolchen, weil ihm die Laune danach stand.
„Nur Falke... Alles, was von ihr geblieben ist, ist dieses Gift. Ein letztes Geschenk“, sagte Jilis. „Wie weit ist es schon?“
Vega öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da schlug jemand die Zeltplane zurück. Akaras Umhang flatterte im Wind, der draußen durch die Nacht ging. Ein Windhauch zog auch an Jilis vorüber und stellte ihr die Haare an den Armen auf. Wieviel hatte die alte Frau mitgehört?
„Du brauchst nicht zu fürchten“, sagte Akara. „Der Fluss des Giftes ist gestoppt, dein Körper hat es bekämpft und besiegt. Drei Tage und Nächte lang hat der Kampf gedauert, aber du hast gewonnen.“
„Kämpfe gewinnen, ohne bei Bewusstsein zu sein, daran müsste ich mich gewöhnen.“
„Danke der Herrin, sie hat gütig auf dich geblickt und dich noch nicht gehen lassen.“
„Auf meinen linken Arm hat sie nicht sehr gütig geblickt.“
Jilis hob den Arm am Handgelenk an und ließ ihn zurück auf das Lager fallen. Fast hätte sie gelacht. Und danach geweint.
„Dir ist alle Hilfe zu Teil geworden, die einer Schwester des verborgenen Auges zusteht.“
Akara drehte einige der Einmachgläser in ihrem Schrank. Vega sah hinter sich, ob die Oberin sie beobachtete, dann schüttelte sie den Kopf und schenkte Jilis ein trauriges Lächeln.
„Ich zweifle nicht an Eurer Hingabe“, sagte Jilis. „Aber mein Arm verfault mir am Körper. Es ist nicht angenehm, das zu wissen, verdammt.“
Bis zur Schulter spürte sie die Berührung ihrer Finger noch, alles darunter am Arm war taub, tot.
„Er wird nicht verfaulen. Er ist nicht tot. Das Gift der grünen Yata-Blume zerstört nur die Muskeln, und es lähmt die Nerven, damit der Vergiftete von den Schmerzen nicht erwacht. Wie ein intelligentes Lebewesen.“
„Also kann ich diesen jämmerlichen Rest als das Stück Aas sehen, von dem kein Tier mehr fressen will.“
„Wenn du möchtest, nehme ich ihn dir ab.“
Akara stützte sich auf einen Tisch und sah sie an.
Jilis steckte den Arm unter die Decke. Das erbarmungswürde Ding war nicht einmal halb so dick wie ihr gesunder Arm.
„Er ist wie die Narbe an meinem Hals. Falls er meinem Körper nicht schadet... dann soll er eine Erinnerung bleiben.“
Ein Schluchzen stieg in ihr hoch, sie drehte sich rasch weg und gab vor, zu husten.
„Eine Erinnerung an was? Du hast noch immer nicht erzählt, wie es geschehen ist.“
Und doch hatte das die Oberin nicht davon abgehalten, Gerüchte im Lager zu streuen.
„Aber du wirst Gelegenheit bekommen“, sagte Akara, „denn am Nachmittag wollen wir uns mit Kaschya bereden, wie wir weiter vorgehen.“
Jilis bewegte die Schultern. Die Verbände um ihre übrigen Wunden hielten sie gebunden wie eine Gefangene. Aber sie würde es zu der Besprechung schaffen müssen. Aradeia, jetzt endlich hatte ihre Feindin einen Namen.
„Verlasst Euch auf mich“, sagte Jilis.
Akara nickte ihr zu.
„Aber schon vor dem Nachmittag gibt es noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte. Vega...“
Ihre knochendünnen Finger legten sich auf den Arm der Jägerin, die daraufhin schnell nickte und aufstand. „Jilis... du schaffst es“, sagte sie und drückte ihr noch einmal ihre Hand, bevor sie aus dem Zelt verschwand.
Schaffen? Was nur? Eine gesonderte Ausbildung erforderte es nicht, wie eine Halbtote im Krankenbett zu liegen. Und die Muskeln ihres Arms nachwachsen zu lassen, das zu schaffen, dazu fehlten ihr die Wunderkräfte.
Stille kam in das Zelt.
„Ich will meinen Arm wieder“, sagte Jilis schlicht. Falke hatte ihn ihr nicht genommen. Sondern der verdammte Geist dieser Zeiten, der die Menschen trennte und sie hungrig auf das Blut der anderen machte.
Sie bebte vor Zorn. Jetzt, da Vega fort war, musste sie sich nicht mehr beherrschen. „Mit einer Hand kann ich den Bogen unseres Ordens nicht mehr spannen!“
„Ich dachte, das wäre der Grund, weswegen du ihn behalten willst – damit du dich an die Zeiten erinnerst, als du es noch konntest.“
„Drei Höllen!“ Sie schlug mit der Faust auf das kleine Tischchen bei ihrem Lager, dass die Flüssigkeit aus den Gläsern darauf herausschwappte. „Ich bin jetzt weniger als ein Haufen Rattenschiss in diesem Lager!“
Die Oberin setzte sich ihr gegenüber und sah in ihre Augen, sah hindurch durch ihren Zorn.
„Wären wir nicht so rasch bei der Hand gewesen, du hättest mehr verloren. Viele von uns ruft die Herrin erst durch den Tod aus der Schlacht zurück. Deine Stunde des Rückzugs ist gekommen, aber sie gewährt dir ein Weiterleben. Wir sind keine Barbaren, Jilis, die es als endgültiges Lebensziel ansehen, in einem namenlosen Krieg zu fallen.“
Wir? Dann war sie vielleicht eine Barbarin. Und das Leben hatte sie nicht den Kräutern und Tees zu verdanken, die auf dem Tischchen neben ihr standen. Vega hatte ihr die Heilmittel gebracht, die sie gebraucht hatte. Der, von dem sie stammten... Es schmerzte, das zuzugeben.
„Schön“, zischte sie aus zusammengebissenen Zähnen. „Weswegen wollt Ihr mich sprechen?“
„Des Nekromanten wegen.“
„Ich dachte, das hätte Zeit bis zur Besprechung.“
„Es geht nicht um deinen Bericht. Ich will dich nur warnen.“
Jilis zog sich die Decke zurecht.
„Die beste Warnung habe ich im Kloster erhalten, Akara. Wandelnde Tote, Kämpfer ohne Gnade...“
Und Falke, die von dieser grausigen Macht aus dem Totenreich zurückgeholt worden war.
„Das meine ich nicht. Wir alle haben die Schrecken gesehen, die uns unser Heim genommen haben.“
Sie stutzte.
„Aber du hast noch mehr gesehen?“
„Es geht hier um dich, nicht um mich.“ Akara verschränkte die Arme, und ihre Augen verschwanden im Schatten ihrer Kapuze. „Du musst dich vor dieser Magie hüten, Jilis. Sie ist mehr als nur das, was dir die Augen zeigen. Mehr als die Wüstenmagie, die Flammenkugeln aus leerer Luft erschafft oder Blitze an einem wolkenlosen Tag herbeiruft. Die Magie der Nekromanten, Jilis, kann sehr verlockend sein.“
Für einen Augenblick schwieg Jilis, dann lachte sie los.
„In der Tat kann ich mir kaum etwas Verlockenderes vorstellen, als eine Leibgarde aus stinkenden Leichnamen zu besitzen.“
Wie eine Statue stand Akara dort, das Gesicht noch immer im Schatten verborgen.
„Du magst meinen Worten kein Gewicht beimessen, aber vergessen solltest du sie nicht.“
„Wieso erzählt Ihr mir das? Vega hätte an diesem Geheimnis ruhig teilhaben können.“
„Vega ist es nicht, die mit einem Nekromanten umherreist.“
„Aber ich? Mein Weg ins Kommandozelt am Nachmittag wird mir Reise genug sein, mit diesem...“ Sie überlegte kurz. Kaum eine Fingerbreit ihres Leibs, über den keine Bandage gebunden war. „...Wrack.“
„Es ist lediglich eine Warnung, Jilis.“
„Gut, ich bin gewarnt.“ Was sollte das? Zweifelte Akara an ihr? „Jetzt lasst mich noch etwas ruhen, damit ich heute Nachmittag nicht vor dem Zelt zusammenbreche.“
Akara verharrte in ihrer Position. Etwas zu lange. Schließlich wendete sie sich ab.
„Das wird das Beste sein, ja. Trink von dem Tee, bevor du schläfst.“
Die Brühe, aus der Dampf nach oben stieg, mochte ja Kindern die Träume erleichtern, aber einen verkrüppelten Arm konnte sie nicht heilen. Dennoch nippte sie von dem Becher, bevor sie sich zur Seite drehte.
Was für einen Weg konnte sie jetzt noch gehen, und welchen Kampf kämpfen?
Die Decke des Zelts hing so dicht über ihr. Verstellte den Blick auf den Himmel. Eine Kraft aus ihrem Innern zog an ihr, machte ihr den Körper schwer, und das Zelt verschwamm vor ihren Augen.

Um die späte Mittagszeit weckte Vega sie. Viel hatte der Schlaf nicht genutzt. Noch immer fürchtete sie, jeden Augenblick auseinanderzufallen. Aber die Verbände hielten sie zusammen, spannten sich bei jedem Schritt und drückten ihr die Haut zusammen. Vega half ihr in dünne Lederkleider, die dennoch auf die Bandagen drückten, und legte ihr einen Fellmantel um.
„Nicht umfallen“, sagte die Jüngere und stützte sie auf dem Weg nach draußen. Wie da, als sie aus dem Kloster hatten fliehen müssen. Konnte das nicht so weitergehen? Sie schlug sich Wunden und kam an der Grenze des Todes zu den Schwestern zurück. Erholte sich, zog wieder los.
Nein, wahrscheinlich konnte es nicht so weitergehen.
Der linke Ärmel des Mantels baumelte neben ihr und wurde vom Wind umhergetrieben.
Die zwei Wachen vor dem Kommandozelt würden es sehen, Kaschya, Tyreé, die anderen Anwärterinnen.
Die Luft im Zelt war stickig, und Laternen beschienen die Gesichter der Anwesenden. Kaschya stand als einzige, stützte sich auf ihren Bogen. Von Tyreé fing Jilis einen spöttischen Blick auf. Aber den hätte sie ohnehin von ihr enthalten. Die anderen Jägerinnen sahen beiseite oder starrten auf ihre Trinkkrüge.
Vega half Jilis auf einen der Stühle. Als sie saß, schwankte die Welt weniger. Niemand sprach, als wäre das alte Bewusstsein mit neuer Klarheit zurückgekehrt: Sie waren Vertriebene, hatten Heimat und viele derer, die mit ihnen gekämpft hatten, verloren.
Mit Vega an ihrer Seite schloss Jilis die Augen.
Akaras Stimme hallte, als wären das Zelt eine marmorne Halle, als wären sie noch in den vertrauten Mauern. Als wäre nichts von alldem geschehen.
„Ich danke Euch allen, dass Ihr gekommen seid. Die Tage werden kürzer, die Liste der Gefallenen länger. Wir werden heute eine Entscheidung treffen müssen.“ Die Oberin nahm auf dem größten der Stühle Platz, in dessen Lehne das verborgene Auge selbst hineingeschnitzt worden war. „Lasst uns keine Zeit verschwenden.“
Auch Kaschya nahm endlich Platz und legte den Bogen über ihre Knie. „Ja.“ Ihr Blick fiel auf Jilis. „Jilis, berichte uns, was du erfahren hast. Seid Ihr bis zum Alten Friedhof gelangt?“
Akara hob eine Hand, als wolle sie die Stimme des Hauptmanns auffangen. „Erzähle uns vor allem, was du über den Nekromanten erfahren hast.“
Die Offiziersanwärterinnen sahen sich abwechselnd gegenseitig, dann die beiden Anführer an. An diesem Tag schwang etwas in der Luft zwischen ihnen.
Jilis richtete sich auf und nickte den Anwesenden zu. „Ich werde alles so berichten, wie ich es gesehen habe.“ Und das tat sie, zum zweiten Mal an diesem Tag. Als sie über die geflügelten Teufel erzählte, nickte Akara bedächtig, und bei der Erzählung über Blutrabe saß Tyreé mit geöffnetem Mund da.
„…davon, wie ich in das Bett in Akaras Zelt gekommen bin, wisst Ihr mehr als ich.“
Das andächtige Schweigen brach, und die Stimmen schwollen an zu einem Brodem. Eine Schwester, die den Orden verraten hatte? Höllengeschmeiß mit Flügeln und Vogelkrallen, in diesen Ländereien?
Jilis lehnte sich zurück und lächelte Vega an. Jetzt konnten sie sich das Maul zerreißen.
„Genug“, sagte Akara, und wieder hallte ihre Stimme. Es konnte nur die Magie sein, die sie aus der Wüste mitgebracht hatte. „Es ist bedauerlich, was geschehen ist. Aber aus den Dämonenwesen, die du in dem Hof angetroffen hast, können wir nur einen einzigen Schluss ziehen. Irdische Kräfte sind es nicht, die hier gewirkt haben. Nicht einmal die eines… Nekromanten.“
„Woher wollt Ihr das wissen?“, fragte Kaschya. Ihre Stimme donnerte auch ohne Zauberei mächtiger durch den Raum als Akaras. „Der Junge hat einen Riesen aus Lehm im Schlepptau gehabt, als er das Lager verlassen hat. Dämonenbeschwörungen sind von dort aus kein so großer Schritt mehr.“
Akara schmunzelte unter ihrer Kapuze.
„Ich bin noch keinen Schritt näher daran, jemanden zu entlasten. Aber die Dämonen sind nicht sein Werk, das kann ich verbürgen, und auch keiner seines Kults kann dafür die Verantwortung tragen. Doch das heißt nur, dass wir es mit einer Macht zu tun haben, die aus den Tiefen der Erde stammt. Wie oft wir in den letzten Wochen das Wort Dämon schon gebraucht haben – dieses Mal müssen wir es in seiner vollen Bedeutung verwenden. Ein Wesen aus den unteren Reichen, das mit sich seine Gefährten und seine Höllenzauberei in unsere Welt gebracht hat.“
Alle Augen richteten sich auf Akara, und sekundenlang sprach niemand ein Wort. Kaschya schnaubte. „Was also tun? Falls Ihr Recht habt, Akara, wissen wir dennoch noch immer nicht, was dieses Biest für ein Ziel verfolgt. Erst recht nicht, wie wir gegen es vorgehen können. Pfeile speist es womöglich zum Mittag, Schwerter zum Abend.“
„Langsam.“ Akara wies mit der Handfläche auf den Boden. „Wir werden eine Lösung finden, doch lasst uns zunächst hören, was Jilis noch zu erzählen weiß. Wie ich sagte: Was den Nekromanten betrifft, hat sich nichts geändert.“
Jilis schreckte hoch. Ach ja, der lästige Bericht, für den sie überhaupt erst losgeschickt worden war… Sie räusperte sich.
„Großes gibt es nicht. Ich bin nicht die Jungfrau geworden, die er in einem Ritual seiner dunklen Götter zum Preis geopfert hat, und ich musste die Lagerstätte nicht mit lebendem Gebein teilen.“
Von den Offiziersanwärterinnen lächelten einige, selbst Tyreé hob die Mundwinkel.
„Es ist ernst“, sagte Akara, und ihre Stimme schwoll viel weiter an, als es bis jetzt geschehen war.
„Ich weiß nicht, was ich noch sagen kann… Er ist ein undurchschaubarer Hund, aber wir haben die Teufel gemeinsam zurückgetrieben.“
„Du meinst, du hast ihm in der Schlacht beigestanden – sehr nobel von dir, aber an ihm ist diese Tat wohl verschwendet.“
Natürlich, sie hatte ihm beigestanden. Sie hätte ihm nur folgen müssen, die ganze Zeit, hätte kein Wort mit ihm sprechen müssen, und beim Auftauchen der Teufel fliehen können. Dennoch.
Sie fasste sich an die Schläfen. Das letzte Bild, das sie wahrgenommen hatte. Die Knochenwand, die sich vor ihr erhob und Falkes Pfeil abfing.
„Auch ich habe nicht alles miterlebt. Die Götter wissen, was er getan hat, nachdem ich das Bewusstsein auf dem Friedhof verloren habe.“
Erst jetzt keimte in ihr ein Gedanke. Was wäre, wenn er Falke nicht getötet hatte?
„Es ist auch nicht wichtig, Kind“, sagte Akara. „Falkes Fall ist traurig, doch davon, dass unser Feind die Toten wieder leben macht, wissen wir bereits.“
„Vielleicht ist es doch wichtig. Ist er im Lager? Können wir ihn nicht rufen lassen?“
Kaum hatte sie die letzte Silbe gesprochen, da schnitt Akaras Stimme durch den Raum.
„Ein Nekromant in dieser Runde? Welcher Geist reitet dich?“
Die Kälte der Worte ließ Jilis körperlich frösteln. Die, die hier sprach, war nicht die schwache Gelehrte, die sie mit Vega aus ihrer Bibliothek gerettet hatte.
„Er könnte etwas wissen, das uns hilft“, meldete sich Kaschya. „Dann wäre es eine Torheit, diese Möglichkeit ungenutzt zu lassen.“
„Dies ist eine Versammlung der Schwesternschaft, nicht die ihrer Schinder. Was hätte unsere Gemeinschaft noch für einen Sinn, wenn wir ihre Grenzen zerbrechen lassen? Die Herrin stehe uns bei, dass so ein Frevel nur in unseren Worten, nicht in unseren Taten geschieht.“
Hoch aufgerichtet stand Akara da, die Haare umwehten ihr Gesicht wie in einem Sturm. Magie, die wild und unkontrollierbar aus ihr brach.
Kaschya nahm einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf.
„Frevel wäre es, wenn wir die Chance vorüberziehen lassen, die sich uns bietet. Wir sind nicht in der Position, uns den Weg mit unseren Idealen zu verstellen. Lasst ihn holen. Tyreé, Marquia.“
Die Angesprochenen erhoben sich.
„Er wird bei diesem Händler sein“, sagte Jilis.
Akaras Blick bohrte sich in ihren wie glühendes Eisen. Sie hatte die Idee aufgebracht, den Samen in Kaschya erst gesät.
Den peinigenden Blick musste sie ertragen, bis Tyreé und Marquia zurückkehrten. Der Nekromant ging an Tyreés Arm, die Verbände um seinen Schädel und die Hände standen in völligem Kontrast zu den pechschwarzen Kleidern. Sie bemerkte, dass sie die Luft anhielt. Wie ein alter Mann kam er zu ihnen gehumpelt – genau so, wie sie als alte, verkrüppelte Frau das Zelt betreten hatte. Der Kampf, den er geschlagen hatte, war nicht weniger tödlich gewesen als ihrer.
Mit dem Auge, das nicht unter einer Bandage verdeckt war, fixierte er sie und nickte ihr zu.
Akaras Blick ruhte noch immer auf ihr, aber sie nickte zurück.
„Es gibt wohl einen Grund, wieso ich aus dem Bett gezerrt werde?“, fragte er.
„Die Schwesternschaft bedarf deines Rates. Jilis hat uns bereits von eurer Reise erzählt, doch das Ende hat sie nicht mehr in wachem Zustand erlebt.“, sagte Kaschya.
„Du hast Blutrabe getötet...“, sagte Jilis. Bevor sie fortfahren konnte, schüttelte er schon den Kopf, die bleichen Haare schwangen strähnig um seine Stirn.
„Die Hexe auf dem Friedhof? Sie freut sich ihres Unlebens noch etwas länger.“
Jilis blieb der Mund offen stehen.
„Sie lebt?“
Sofort fuhr Akara ihr ins Wort. „Ein Nekromant tötet den anderen nicht, nicht wahr? Ein geheimer Bund verbindet euch.“
„Sie hat um ihr Leben gefleht, deshalb habe ich es ihr gegeben. Ein Nekromant ist sie so wenig wie ihr es seid. Ihre Kraft ist nur geliehen.“
Um ihr Leben gefleht... Falke? Wahrlich, der Fluch des Untodes hatte sie verändert. Aber wenn auch nur ein Funken der Falke übrig war, die sie gekannt hatte, dann steckte etwas anderes dahinter. Der Junge, der die Verletzungen so eifrig gesammelt hatte wie sie; gab es einen Grund für ihn, eine Geschichte zu erfinden?
„Blutrabe“, begann Kaschya, „ist jetzt nur noch eine von vielen Dienerinnen dieser Königin, wie sie sie genannt hat. Weißt du noch mehr, Nekromant? Du hast vor Tagen behauptet, du würdest auf unserer Seite stehen. Wenn du es wirklich tust, kannst du es jetzt beweisen.“
Der Nekromant regte sich nicht. Kämpfte vielleicht mit den Schmerzen, wie sie es selbst kannte.
„Den Namen der Königin kann ich Euch nennen. Blutrabe hat sie Aradeia genannt.“
Kaschya wandte sich an Akara.
„Ein Name, den Ihr kennt?“
„Leider nicht. Er klingt fast zu gewöhnlich.“ Die Oberin faltete die Hände in ihrem Schoß, ließ eine Pause entstehen. „Und der Titel der Königin ist lange nicht mehr gebräuchlich in der Mark. Jeder könnte sich so nennen.“
„Dann ist das alles“, fragte Kaschya an den Nekromanten gewandt, „was du von Blutrabe erfahren hast?“
Er ruckte zur Seite, als schüttele ihn ein Krampf, und Tyreé packte seinen Arm und hielt ihn fest.
„Sie hat außerdem noch einen Namen genannt, den Ihr kennen dürftet. Karmhang, es soll ein Dorf sein, das an den westlichen Bergen liegt.“
Die Muskeln in Akaras Gesicht spannten sich, im Licht der Laternen ähnelte sie einem Raubvogel.
„Karmhang. Was hat sie noch darüber gesagt, sprich weiter – oder ich lasse dich aus dem Zelt werfen.“
Jilis musste schmunzeln. Diese Drohung hätte Akara im Fall des Nekromanten eher als Belohnung benutzen sollen.
„Nur, dass Aradeias Diener sich dort bald zeigen werden. Aber so wird es mit allen Dörfern geschehen, sehr bald, vermute ich.“
„Nein, das vermute ich nicht“, sagte Akara und starrte auf die Felle zu ihren Füßen. „Bringt ihn weg, wir wissen alles, was wir brauchen.“
Marquia und Tyreé warteten auf den Befehl Kaschyas, und als die nickte, führten sie den Nekromanten weg. Jilis hob zwei Finger zum Abschied, der Nekromant nickte. Kurzer Auftritt für einen so verrückten Bastard wie ihn.
„Wir hätten es erwarten können, dass ihre Pläne so aussehen“, fuhr Akara fort. „Sie werden versuchen, die Einzige unter uns zum Schweigen zu bringen, die über die Dämonen mehr weiß als nur dunkle Gerüchte.“
Jilis grub in ihrem Gedächtnis. Bevor sie etwas erreicht hatte, ergriff Kaschya das Wort.
Wissen würde ich das nicht nennen. Zethys hat den Orden selbst verlassen, weil sie meinte, dass die Begegnung ihre Sinne verwirrt hat.“
„Sie hat mitangesehen, wie ihre gesamte Truppe ausgelöscht wurde. Grund genug, den Verstand einzubüßen.“
„Welchen Grund wir auch finden mögen... Ihr gebrochener Geist wird uns wenig helfen.“
„Selbst, wenn sie uns nicht helfen kann. Wir sind es ihr schuldig, sie vor den Klauen der Dämonen zu retten, die sie damals verfehlt haben. Sie hat den Schwestern lange Jahre gedient. Außerdem scheinen zumindest die Dämonen eine Gefahr in ihr zu sehen.“
Zethys, die der Hölle ins Angesicht gesehen hatte... Nicht nur eine Legende machte unter den Jägerinnen die Runde. Also hatte Falke nicht schon genug an den Schwestern, die sie auf dem Friedhof gepfählt hatte – jetzt wollte sie eine Legende stürzen.
„Zu schade, dass der Nekromant die Untote nicht vernichtet hat“, sagte Kaschya.
Jilis sprach, bevor sie dachte.
„Dann gehe ich zu Zethys.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Es ist auch mein Verschulden, dass Blutrabe entkommen ist. Da ist es nur recht, wenn ich dafür sorge, dass niemand dafür büßen muss.“
„Niemand verlangt so etwas von dir, Jilis“, sagte Kaschya nach einer Pause.
Und wenn ich es selbst verlange?
Akara schüttelte den Kopf und verbarg ihre Haare wieder unter der Kapuze.
„Dafür müssen wir nicht dich schicken. Wir sind Wenige, aber es gibt doch genug unter uns, die diese Aufgabe übernehmen können.“
Das erste Mal an diesem Tag, dass ihre Anführer beide der gleichen Meinung waren. Ausgerechnet jetzt.
„Auch ich kann sie übernehmen“, sagte Jilis. Die Aufmerksamkeit des gesamten Zelts hing an ihr, als sei sie ein exotisches Tier, ein Säbelzahnkeiler aus den Wäldern. „Ich habe noch zwei gesunde Beine, und ich werde schnell genug sein, dass ich den Bogen erst gar nicht spannen muss.“
Bitte.
Aus dem Kreis der Anwärterinnen erhob sich Tyreé.
Ich kann gehen.“
Hilfesuchend sah Jilis im Raum umher. Nicht Tyreé. Auch mit einem Arm noch würde sie der Schwester die Nase ein zweites Mal brechen können, würden sie um den Auftrag kämpfen.
„Du wirst noch so oft gehen können“, sagte Jilis. „Was nütze ich der Verteidigung hier im Lager… mit einem Arm? Blutrabe ist fortgescheucht worden, es gibt keine Bedrohung mehr auf den Landstraßen.“ Sie ballte eine Faust. „Ich kann es schaffen.“
Das letzte Mal kann ich etwas schaffen.
Tyreé zögerte, senkte den Kopf und setzte sich wieder. Sie hatte verstanden. Irgendetwas.
„Gut“, sagte sie leise.
Würde auch Akara verstehen? Kaschya?
„Die Dämonen könnten dich sehr wohl erwarten“, sagte der Hauptmann.
„Ich könnte sterben? Das meint Ihr? Jede Stunde im Dienst des Auges kann die letzte sein, das wisst Ihr so gut wie ich. Es ist nicht anders als sonst. Der Feind hat mir einen Arm abgeschlagen, wir haben ihm einen Arm abgeschlagen – Blutrabe herrscht nicht mehr über den Friedhof und die Toten dort. Es sind die gleichen Chancen wie sonst.“
Nämlich eins zu tausend.
Verdammt, sie winselte wie ein Hund, winselte um die Gnade dieser letzten Aufgabe.
Gemächlich erhob sich Akara von ihrem hölzernen Thron und trat vor Jilis hin. Etwas lag in diesen Augen, die die Magie der Wüste golden wie die Dünen gemacht hatte. Es gefiel ihr nicht.
„Steh auf, Jilis.“ Sie erwartete alles. Bis hin zum Todesstoß vor der ganzen Versammlung. Vega half ihr, sich aufzurichten, ihre Gelenke knackten. „Seht sie Euch an, Schwestern. Von uns allen hat vielleicht nur sie das Recht, sich eine wahre Tochter des Auges zu nennen. Wenn eine der unseren vor Zethys treten soll, dann sie.“
Wie zur Beschwörung hob die Oberin die Arme. Ihre Worte fachten den Herzschlag in Jilis Brust an. Doch hinter den Augen leuchtete eine Magie, strahlte über all das Alter und die Runzeln in ihrem Gesicht hinweg. Eine fürchterliche Magie, die ihr den Herzschlag gefrieren lassen wollte.
Was hatte Falke gesagt… Rachelust, die die alte Zauberin verzehren sollte?
„Ja, dann sie“, sagte Vega mit dünner Stimme, die kaum bis in die Ecken des Zelts dringen mochte. Aber sie sagte es. Obwohl sie nichts von dem verstand.
Jilis drückte sie an sich. Die Gesichter der Anwärterinnen zeigten keine Regung, bis Kaschya nickte. Dann nickten auch sie. Die Tränen kitzelten Jilis an den Wangen.

Als sie aus dem Zelt traten, brach Jilis zusammen. Vega packte sie mit einem eisernen Griff, den sie ihr nicht zugetraut hätte, und hielt sie aufrecht. Wie ein Sack hing sie der Jüngeren als Gewicht über der Schulter.
„Bring mich zum Wagen von diesem Händler, der zu einem geilen Bock wird, wenn er Gold wittert.“
„Dein Beutel ist in unserem Zelt, ich müsste ihn erst holen…“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn noch reicher machen will. Er interessiert mich so sehr wie seine Notdurft.“
Vega nickte ihr zu und schleppte sie voran. Jilis lächelte. Die einzige Schwester, vor der sie sich nicht verantworten musste.
In der Kühle des Abends zog sich das Fleisch an ihren Wunden wieder zusammen und zerrte mit Schmerzen an ihr. Aber nicht nur ihr würde es so gehen.
„Längst geschlossen, die Damen“, rief der Händler nach draußen und winkte ihnen vom Heck des Wagens aus zu, über das sich die Plane nicht völlig spannte. Unter seinen Augen hingen dunkle Ringe, und der bittere Geruch von Medizin stieg nach draußen. Genau wie in Akaras Zelt.
Jilis stützte sich auf die Ladefläche und blickte in das schummrige Licht im Innern.
„Was wollt Ihr? Ich habe genug damit zu tun, dass mein fahrender Laden zu einem Krankenlager geworden ist.“
Auf einer Schicht aus Teppichen wälzte sich eine Gestalt in dunklem Leder.
„Du hast Blutrabe besiegt“, begann Jilis und beugte sich an dem Händler vorbei. Der Nekromant richtete sich zitternd auf, zuckte mit den Schultern, dass es beiläufig aussehen sollte. Aber er sank rasch wieder zurück. „Wer wird der nächste sein?“
Der Nekromant hob eine Hand, an der die Fingerspitzen aus dem Verband hinausragten. „Das kommt darauf an, was mir auf dem Weg nach Karmhang begegnet.“
„Karmhang? Du hast gelauscht, nachdem du wieder aus dem Zelt warst.“
„So interessant seid ihr lange nicht.“
Kraft floss ihr in einem Schub zurück in den Körper.
Du willst nach Karmhang? Was willst du dort anrichten?“
Ein heiseres Lachen füllte den Innenraum des Wagens.
„Tote wird es genug geben, wenn Aradeia und Blutrabe dort aufgetaucht sind. Wo die Toten sind, sind die Nekromanten. So ist es doch, oder nicht? Du weißt das besser als ich.“
Sie bemerkte, dass es ihr eigenes Lachen war, das sich anschloss.
„Verdammter Kerl. Ich bringe dich noch um.“
Seine Hand tastete sich hin zu dem Krummsäbel in der Scheide dicht bei ihm.
„Nicht, wenn ich schneller bin.“
„Krankenlager habe ich gesagt, aber eigentlich habe ich ein Ärztehaus für Geistesschwachsinn gemeint...“, sagte der Händler und rieb sich über das Gesicht.
Es dauerte noch eine Minute, bis sie verstummten.
„Du hast noch zwei Tage“, sagte Jilis. „Dann musst du wieder laufen können. Tragen werde ich dich nicht.“
Mit einem Arm nicht.
Der Nekromant stützte sich auf seine Schwertscheide und richtete sich halb auf, keuchte. Sein Blick ging an ihr vorbei, zur Palisade des Lagers. Wahrscheinlich dort hindurch.
„Das sehen wir dann. Wer es nötig hat, getragen zu werden.“
 
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IX Der Arm eines Gottes

Im Thronsaal stand ihre Königin. Blutrabe den Rücken zugekehrt, lehnte sie an der Brüstung des Balkons. Unter ihr lag die zweite Welt, die Welt unter der Erde. Heiße Winde trieben Asche umher wie Wüstensand, und von den Flüssen aus kochendem Gestein erhoben sich Rauchsäulen. Eine Welt der Vulkane, in der kein Leben bestehen konnte. Nicht das Leben, das sich über der Erde aufhielt.
„Zum richtigen Zeitpunkt bist du zurückgekehrt, denn die Höllen feiern meinen Triumph. Die Erde zittert, die Vulkane speien ihren Segen aus.“
Ihr Harnisch klirrte, als sie auf dem Thron aus Gebein Platz nahm und die Beine übereinander legte.
„Noch größer wird dein Triumph sein, wenn er erst angekommen ist.“
Blutrabe atmete die aschedurchsetzte Luft ein. Ihrem Körper, der auch keinen Atem brauchte, konnte es nicht schaden. Asche, wie ein fremdes Gewürz.
Aradeias Fingernägel trommelten auf den Schädeln der Armlehne.
„Ja, es ist Zeit geworden, dass die Macht meiner Schwester sich mir nun doch noch eröffnet. In ihrem ganzen Maß.“
Mich habt Ihr mit einem winzigen Bruchteil dieser Macht geschaffen, wie all Eure Diener...
Blutrabe trat vor den Thron, hinter dem die Stürme wüteten. Eine Woge aus winzigen Flämmchen streute sich auf den blanken Boden, der Marmor sein mochte.
„Ich werde den Nekromanten vor Euren Thron bringen. Wartet nur hier.“
Aradeia strich über die Schädelreihen, auf die ihr feuerrotes Haar fiel.
„Gewiss wird es interessant werden. Mein liebster Bruder wird mit Wohlgefallen darauf blicken. Auch auf dich, Blutrabe.“
Blutrabe lächelte wieder. Der Herr der Höllen mochte blicken auf wen er wollte, und wie er wollte.
Der Nekromant würde seinen Pakt haben, seine Audienz. Und Jilis nie wiedersehen.
Ein Donnern erschütterte den Saal, Feuer spiegelte sich auf dem Marmor. Eine Vulkaneruption in der Ferne heulte in den Himmel aus Fels und Stein hinauf.
Die Flüsse aus geschmolzenem Gestein schwollen an und rasten dahin.
Es gab noch Hoffnung.
„Dennoch“, sprach Aradeia, „kann ich dir diesen nächsten Sieg nicht ganz allein lassen. Auch andere sehnen sich danach, Ruhm in den Schlachten zu erwerben, die die Oberwelt von uns fordert.“
Die Königin vertraute nicht auf ihre Kraft... Gleichwohl. Den Ruhm konnte ein anderer haben.
Erneut schüttelte ein Beben den marmornen Grund des Saals. Es dauerte, bis Blutrabe erkannte, dass nicht der Boden selbst bebte, sondern, dass jemand ihn erbeben ließ.

*

Maro zog die stützenden Lederstücke an Knien und Ellbogen fest. Wenn ein Schwächeanfall ihn packte, würden auch sie nicht mehr helfen können, aber zumindest den Marsch würden sie erleichtern. Auch das Stehen fiel leichter, als hielte jemand ihn aufrecht.
Die schwereren Verletzungen musste Jilis davongetragen haben. Während der Ratsversammlung – oder was der Name der Jägerinnen dafür war – hatte sie wie ein bezwungenes Tier auf ihrem Stuhl gehangen. Aber zumindest am Leben war sie noch, und das genügte. Die Hexe würde sich selbst überzeugen können.
Der Ochse neben ihm kaute an einem Büschel Gras, und sein Fell stank nach einem Gemisch aus Schweiß und dem ewigen Regen dieses Landes.
Eine Gestalt schälte sich aus der Dämmerung und näherte sich ihm mit vorsichtigen Schritten.
„Würde nicht jeden zweiten Tag der Regen in diesem Land die Erde aufweichen, müssten wir nicht zu Fuß gehen“, sagte er.
Die Jägerin ließ sich auf einen Stein fallen, ächzte leise.
„Also gewinne ich die Wette. Du willst getragen werden. Leider kennt die Nordmark kaum Pferde, und für dich hat sie sicher keines übrig.“
„Ich hätte mir auch keines mehr leisten können.“
Er trat näher an sie heran. Auch sie trug keine offensichtlichen Bandagen mehr, doch ihre steifen Bewegungen verrieten, dass ihr etwas die Gelenke stützte.
„Mein Beutel ist ebenfalls leer“, sagte sie. „Wir werden kein Gold mehr brauchen, vermute ich.“
„Ich habe noch nicht vor, von dieser Welt zu gehen.“
„Ich genau so wenig. Aber Blutrabe wird schnell sein... Ohne Kampf werden wir unser Ziel nicht erreichen.“
Sie hielt sich den Arm, den sie nie wieder würde benutzen können. Ein schmales Ding, mager wie ein Stock, das allenfalls einen Feind verwirren mochte.
Unser Ziel?“, fragte Maro. „Wohin du willst, ist nicht meine Angelegenheit.“
„Es geht für uns beide zu Ende, du Dummkopf. Wo ist dein Freund aus Erde – hast du ihn aus Rücksicht daheimgelassen?“
Oder, weil deine Kraft nicht ausreicht, ihn zu rufen?
Maro schnaubte.
„Nur, weil du deinen Arm verloren hast, bedeutet das nicht, dass wir verloren sind.“
Wie ein Raubtier bleckte sie die Zähne.
Für einen Augenblick glaubte er, dass es nicht an den Aussichten lag. Vielleicht wollte sie nicht zurückkehren.
„Wenn mich diese Teufel bekommen, fährst du mit in den Abgrund“, sagte sie.
Er lächelte. In den Abgrund fahren, das würde er auch so, wenn die Hexe ihr Wort hielt.
„Wenn es so kommt. Bist du für die Höllenfahrt ausgerüstet?“
„Längst.“ Sie schnallte sich aus dem Gepäck von ihrem Rücken einen kurzen Bogen – nein, das Gerät, das Gheed Armbrust nannte. „Das hier lässt sich auch mit einem Arm bedienen. Fünf Bolzen sind in dem Behältnis hier drin.“ Sie tippte an eine metallene Schachtel, die an der Seite des Griffs angebracht war, dann deutete sie auf einen Hebel. „Ein Ruck mit dem Daumen hier, und der nächste Bolzen springt nach oben. Wenn ich vorher schon einen einspanne, macht das sechs, die ich habe, bevor ich mein Messer benutzen muss. Klingt gut, meine ich.“
Dennoch ragte ihr das Holz ihres Langbogens über die Schulter. Eine Waffe, die sie nicht mehr würde gebrauchen können.
„Wozu dient dann der Bogen?“
Momente lang starrte sie ihn an, dann schnallte sie die Armbrust wieder auf und erhob sich.
„Und wozu dient dir der Schädel an deiner Schulter? Ich habe noch nicht gesehen, wie du ihn auf einen unserer Feinde geschleudert hast. Aber vielleicht hast du durch diese mächtige Waffe ja Blutrabe überwunden.“
Sie ging einige Schritte voran, auf das geöffnete Tor des Lagers zu.
„Alles, was ich getan und überwunden habe, hängt mit dem Schädel zusammen.“
„Vielleicht verstehst du es dann.“
Diesmal musste er an den Wachmannschaften nicht vorüberschleichen. Obwohl sie noch so begierig wie zuvor sein mochten, ihm den Schädel zu durchbohren.
„Vielleicht“, sagte er, und überquerte mit Jilis den Fluss vor dem Lager. Hinter ihnen schloss sich das Tor.

Sie hielten sich auf den befestigten Wegen, soweit es möglich war. Voran kamen sie, aber nicht schnell genug. Als sie am Haus der Dämonen ankamen, hatten sie schon ein Dutzend Mal halten müssen, weil einem von ihnen die Verbände oder Lederschoner von der schweißnassen Haut abgeglitten waren. Sie waren zerstörte, künstliche Wesen, die sich die Glieder zusammenbanden, damit sie nicht auseinanderfielen.
Obwohl sie die Erschwernisse eines Marschs durch das sumpfige Grasland vermieden, waren sie bald lange hinter ihrer Zeit zurück. Ein seltsames Schicksal sandte sie beide erneut zusammen aus, aber es weigerte sich, ihnen auch die Fähigkeit zu verleihen, ihr Ziel rechtzeitig zu erreichen.
Zumindest eine kurze Strecke würden sie über die Ausläufer der Berge abkürzen müssen. Mit Schaudern sah Maro auf die hohen Gipfel, die er schon bei seinem letzten Weg über das Gestein gefürchtet hatte.
Sie rasteten nur, wenn ihre Körper völlig erlahmten, und einer von ihnen hielt stets Nachtwache. Auch nach seinem Abkommen mit Blutrabe konnten noch versprengte Teufel das Land verpesten, die ihn nicht als einen möglichen Bündnispartner erkannten – ganz zu schweigen von Jilis, die von keinem Wesen, das sich in der Wildnis herumtrieb, als Partner erkannt werden würde.
Der Weg die Bergklippen hinauf war leichter, dieses Mal. Die Himmel sandten ihnen keinen Regen, ihr Weg führte nicht über einen so hohen Gebirgskamm, und die Hände schützten sie sich mit Rindslederhandschuhen. Mit einem Seil, dessen Schlinge sie um Vorsprünge schlangen und an dem sie sich dann hinaufhangelten, erleichterten sie sich den Weg über die Steilwände. Dennoch brannten Maros Handflächen nach jedem Aufstieg wie von Feuer. Einen halben Tag durchwanderten sie den Felsen auf gleichbleibender Höhe und erholten sich. Die Tiere hielten sich vor ihnen versteckt und machten die Reise einsam. Nur dunkle Vogelschwärme zogen über sie hinweg, in Richtung Osten, wo kein Winter drohte und kein dunkles Zeitalter.
„Krähen“, sagte Jilis, „diese Viecher merken genau, wenn ein Land dabei ist, zu verrecken. Sie fliegen von einem Kadaver zum nächsten.“
„Krähen? Oder Raben.“
Jilis zog sich einen niedrigen Vorsprung hinauf und sah den Vögeln nach.
„Blutraben“, sagte sie leise. Sie bot ihm ihre Hand an und zog ihn zu sich hinauf. „Du hast sie wirklich nicht getötet... dem ist doch so? Du hättest dort, im Kommandozelt, auch lügen können, um der Strafe für den Mord an einer Schwester zu entgehen.“
„Nach dem, was ich gehört habe, sieht niemand von deinen Leuten sie mehr als eine Schwester.“
Die Jägerin sah noch immer den Vögeln nach, dann zuckte in ihrem Gesicht etwas und sie drehte sich um.
„Das ist wahr. Um das zu erreichen, hat offenbar genügt, was ich ihnen erzählt habe. Dabei ist es mein Kampf gewesen. Ich hätte mein Maul halten sollen...“
Jilis Kampf allein war es nicht lange gewesen. Aber vielleicht verstand er auch nicht alles. Er suchte in seiner Tasche nach der Figur aus schwarzem Holz – sie war noch da.
„Ich soll dir noch etwas geben.“
„Oh? Möglicherweise einen Schwerthieb ins Genick, von deinen Lehrmeistern aus Kejistan?“
„Von Blutrabe“, sagte er. Die Figur glänzte in seinen Fingern wie ein Opal.
Jilis Augen weiteten sich, sie streckte ihre Hand aus.
„Das hast du vom Boden gepflückt.“
„Sie hat es mir gegeben. Damit ich es dir gebe.“
„Blutrabe...?“
Vorsichtig, als könne die Figur eine schützende Magie enthalten, hob Jilis sie aus seiner Hand.
„Ja“, sagte er.
„Nein“, sagte sie sofort und deutete ein Kopfschütteln an. Die Figur rollte durch ihre Finger, bis sie die Hand darum schloss. „Sie hatte einen Namen, bevor... das geschah. Falke.“
„Aber gegen Falke kämpfen wir nicht mehr, nicht wahr?“
„Niemals würde ich gegen sie kämpfen.“
„Also kämpfen wir gegen das, was übrig ist.“
Jilis senkte die Augenbrauen. Sie drückte die Faust um die Figur zusammen, als ob sie sie zerquetschen wolle. Dann stützte sie sich gegen die steinerne Wand und verbarg das Gesicht in der Hand.
„Ich gehe vor“, sagte Maro. Er ging um die nächste Biegung und ließ sie allein.
Der Krieg, den die Königin Aradeia dem Land aufzwang, forderte einen größeren Preis von den Menschen, als er gedacht hätte. Vielleicht forderte jeder Krieg seinen Preis. Einen, der nicht in den Geschichtsbüchern geschrieben stand. Er selbst kam aus der Fremde, aber die Fronten des Krieges verschlangen ihn. Keine der Seiten war seine, aber er würde schließlich zu einer von ihnen hingetragen werden. Den leichten Weg in der Mitte – den gab es nicht.
Vor ihm tat sich ein Abgrund auf, der bis hinunter ins Tal zu den Tannenspitzen reichte. Eine Hängebrücke spannte sich auf die andere Seite, auf einen Ausläufer, der sich von Norden her herüberzog. Der musste es sein, an dessen Fuß Karmhang auf sie wartete.
Ein leichter Wind schaukelte die Brücke, und die Bohlen knarzten, als Maro seinen ersten Schritt daraufsetzte. Ein Vogelschwarm kreiste über ihm, eine Wolke aus schwarzen Punkten. Er stützte sich auf das Seil, das das Geländer der Brücke bildete, und beobachtete den Flug. Der Schwarm teilte sich, die Hauptgruppe zog zurück nach Westen, einige wenige Vögel zogen weiter gen Osten in seine Richtung. In den Dschungeln blieben die Vögel jeden Sommer und jeden Winter, schließlich blieb auch das Wetter, und Frost mussten sie nicht fürchten.
Die kleine Gruppe näherte sich. Sie würde dicht an ihm vorüberziehen. Immer näher rückten die Körper, waren vielleicht auf fünfzig Schritt heran und wuchsen mit der Nähe, wuchsen auf die doppelte Größe eines gewöhnlichen Vogels.
Es traf ihn wie ein Blitzschlag. Diese würden nicht an ihm vorüberziehen. Blutrote Schwingen falteten sich zum Sturzflug zusammen. Vier der Dämonen mit den Nadelzähnen. Auf der Brücke würde er leichte Beute sein. Er hangelte sich in Richtung Felsen, blieb mit der Schuhspitze zwischen zwei Bohlen hängen und stolperte vorwärts. Die Hände in die Seile gestemmt, hielt er sich aufrecht. Handbreiten vor ihm stieß ein Speer ins Holz und spaltete es, dass die Bruchstücke nach unten wegklappten und eine schmale Lücke freigaben – die grünen Wipfel des Abgrunds schimmerten hindurch. Maro setzte zum Sprung an und landete auf der anderen Seite. Wie blutgetränkte Kometen rasten die Dämonen auf ihn zu. Er duckte sich, einer stürzte über ihn hinüber, ein zweiter rammte sich mit den Vogelklauen in die Bretter der Brücke dicht hinter ihm. Die Konstruktion schaukelte zu den Seiten, Maro taumelte. Verdammt, es war das gleiche Spiel wie in dem Bauernhaus. Er flüchtete vor einer Übermacht.
Der letzte Dämon stoppte seinen Sturzflug und breitete die Flügel aus, segelte in einem scharfen Bogen auf die Brücke und auf Maro zu. Eine Faust umklammerte einen Speer, die andere eine Axt. Maro zog im Lauf die Klinge aus seiner Scheide und sprang dem Teufel entgegen. Sein Säbel fuhr nieder, der ewig grinsende Gegner wich mit einer Drehung zur Seite weg. Maro griff um, zog das Schwert in einem Bogen nach oben. Das Axtblatt donnerte gegen die Schneide und hielt sie auf, der Stoß vibrierte in seinem Handgelenk. Das Nadelzahnmaul des Gegners hing dicht vor ihm, und ein Atem aus Fäulnis und Aschegeruch schlug ihm entgegen. Maro stemmte sich gegen die Axt, die seine Waffe niederhielt – die Speerspitze zischte heran. Keine Parade.
Dann erstarrten Gesichtszüge und Bewegung des Dämons, als habe eine göttliche Macht ihn zur Statue bestimmt. Sein Mund öffnete sich, und die Zahnreihen offenbarten die silberne Spitze eines Bolzens, die durch die Zunge ragte. Die Kreatur fiel rücklings. Am Ende der Brücke stand die Gestalt der Jägerin, die Armbrust nach vorn gereckt.
Maro setzte einen Fuß auf die Brust des Gefallenen und rannte weiter. Noch zehn Schritt bis zu Jilis. Hinter ihm fauchten die Geflügelten. Jilis hielt die Armbrust direkt auf ihn gerichtet. Für einen Moment, winziger als der Glanz eines Gedankens... Der nächste Bolzen zielt auf meinen Hals. Dann zischte ein silberner Blitz an seinem Ohr vorüber und hinter ihm kreischten die Dämonen.
„Der hätte mir in die Brust fahren können!“, rief er, während er weiterhetzte.
„Ja, der Bolzen - oder die Klauen von einem dieser Viecher.“
Fünf Schritt. Jilis stand starr wie Stein, nur die Hand, die die Armbrust hielt, bewegte sich. Zielte auf Feinde, die er nicht sah. Ihr anderer Arm baumelte neben ihr herum, vom Wind ebenso umhergeworfen wie ihr Haar.
Ein Dämonenkörper schlug neben ihm auf, schleifte über die Bretter und überschlug sich. Eine Streitaxt, breit wie Maros Brust, fuhr in Höhe seiner Fersen auf ihn zu. Drei Schritt. Er warf sich nach vorn zu einem Hechtsprung, das Axtblatt stieß noch gegen seine Stiefelspitzen. Mit der Schulter kam er zuerst auf, prallte auf den Felsen und rutschte zu den Füßen von Jilis. Steinsplitter stießen ihm mit sengendem Schmerz in die Haut. Immerhin nicht die Seite, auf der er den Schädel trug.
Der Dämon hinter ihm kam wieder hoch, einen Bolzen in der Schulter und einen im Bauch.
„Fluch über dieses Gerät“, sagte Jilis, „ich drücke einen Knopf und es lässt einen Bolzen los, der kaum die Haut von diesen Biestern durchdringt.“
Maro stemmte sich hoch und richtete das Schwert auf die anrückenden Dämonen.
„Es braucht nur einen Arm, sieh das als den Vorteil.“
„Wenn mein anderer nicht damit beschäftigt wäre, sinnlos an mir herunterzuhängen...“
Der Dämon mit der Axt kam auf ihn zu und sprang, faltete die Flügel auseinander und stieß sich mit einem Schlag in die Luft. Die Sonne in seinem Rücken blendete Maro. Neben ihm schnappte die Sehne der Armbrust, der Bolzen riss den Dämonenkörper an der Schulter herum und zog ihm eine Hand von der Axt. Mit der anderen hielt er sie noch, und die Schneide zielte auf Maros Brust. Er sprang einen Schritt voraus, drehte sich und zog seine Klinge in einen Aufwärtsstreich. Das Schwert durchtrennte den hölzernen Schaft der Axt und sank in den Halsansatz des Dämons. Das Gewicht des fallenden Körpers riss Maro die Waffe aus der Hand. Eine Blutspur hinter sich, rollte der Dämon über den Fels, und das Blatt seiner Axt drehte sich auf dem Boden wie ein müder Kreisel.
„Fluch!“, zischte Jilis noch einmal, der letzte Bolzen zischte ihr von der Sehne, einem der Teufel durch den Flügel hindurch.
Maro sprang zu seiner Waffe und riss sie aus dem Hals des Erschlagenen. Der Dämon mit dem Loch im Flügel schoss zu Jilis, den Speer wie eine Lanze an der Seite ausgerichtet.
Sie warf sich ihm entgegen und stieß ihm ein Knie in den Bauch. Der Teufelskörper sackte zusammen, aber der Speer schlitzte den Rucksack auf ihrem Rücken auf. Besteck klapperte auf den Felsen, eine Phiole zerbrach, und eine Reihe von Bolzenbehältern schepperte hinterher.
Der letzte Dämon drehte in einem Bogen ab und blieb in der Luft stehen. Jilis drückte den Abzug der Armbrust, wieder und wieder, als hoffe sie, damit einen Bolzen in die Waffe hineinzubeschwören.
„Halt die Waffe fest“, sagte Maro. Kreischend zielte der Geflügelte seinen Sturzflug auf sie. Ein Bündel aus Tod und Verhängnis, das sie in die Nachwelt schicken würde.
„Gib mir einen verfluchten Grund!“ Jilis löste die Finger schon vom Griff der Armbrust.
„Ich bin dabei.“
Er hob einen der Bolzenbehälter vom Boden auf und riss den leeren von Jilis Armbrust. Der Schatten ihres Feindes raste über die Brücke heran.
„Kapiert“, sagte Jilis leise.
Maro drückte den Behälter gegen die Armbrust, dass die Kanten ihm in die Finger schnitten, und endlich rastete der Mechanismus ein. Der Hebel bog sich unter Jilis Daumen, und einer der Bolzen rutschte aus dem Behälter in den Ladebereich.
Das Geschoss sirrte los, traf den Teufelssohn ins Bein. Er überschlug sich und sank, krachte auf die Hängebrücke. Der nächste Bolzen ging ihm in den Schädel, der dritte in die Brust, und Jilis drückte weiter ab, bis der Behälter ihr nichts mehr hergab und die Kreatur sich nicht mehr rührte.
Schwer atmend löste sie den leeren Behälter von der Waffe und warf ihn fort. Stille kehrte auf den Berghang zurück, so rasch, wie sie hatte weichen müssen. Maro schob den Körper des Zusammengekrümmten über die Kante in die Schlucht. Es war vorbei.
In seinen Armen rieben die Muskeln wie Mühlsteine gegen das Fleisch, und auch Jilis lehnte mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen an einem Fels.
„Bist ein zäher Hund“, sagte Jilis.
„Hunde hüten bei euch die Häuser.“
„Wir haben sie dazu gemacht, so wie die Städte aus jungen Männern Wachleute machen. Aber es gibt noch wilde Hunde, jenseits der Wälder im Osten. Vielleicht bist du so einer.“
Die Wolke aus Vögeln, die keine waren, zog noch immer westwärts. Besser, als wenn die Bestien schon hier mit ganzer Macht über sie hergefallen wären.
„Aber egal, was du bist...“, fuhr Jilis fort, „...am nächsten Morgen bist du überhaupt nichts mehr. Du hast sie gesehen.“
Die Wolke aus Schatten entfernte sich und sank hinter den Ausläufern des Berges ins Tal. Maro nickte und zog Jilis auf die Beine.
„Späher.“
Sie sammelten Besteck und Munition wieder auf und verstauten es in einer Seitentasche von Jilis Rucksack, dann stolperten sie die Brücke entlang, stützten sich gegenseitig.
„Blutrabe wird bald wissen, dass zwei traurige Gestalten über die Bergklamm geklettert sind, um von ihrer Hand in Karmhang den Tod zu empfangen.“
„Von dir hätte ich gedacht, dass du den Tod nicht fürchtest.“
„Habe ich etwas anderes behauptet? Ich gehe in diesem Dorf unter, Maro, und ich weiß es.“
Sie hustete, und ihr Körper bebte, übertrug die Erschütterung auf seinen. Aber ihre Augen strahlten.
„Du gehst trotzdem... Weißt du, in den Dschungeln gibt es eine besondere Schlangenart, die Graunatter. Wenn ihr Körper verbraucht ist, legt sie sich zum Sterben auf schwarzen Obsidianstein, den Stein, aus dem unsere Tempel erbaut sind. Die Schlangen schwimmen durch Flüsse, durch Moore, kriechen durch die Gassen der Sumpfstädte. Alles, um sterben zu können, in unseren Tempeln. Bist du so eine Schlange, die zu ihrem Tod hinkriecht?“
Sie ließen das Schaukeln der Hängebrücke hinter sich und erreichten den letzten Ausläufer. Jilis lachte, als sie den Fuß auf festen Grund setzte.
„Etwas einfach. Vielleicht suchen die Schlangen nach etwas, das nicht in eure Köpfe hineingeht. Vielleicht sterben sie, bevor sie ihr etwas erreichen.“ Sie hielt inne, stützte sich auf einen Felsen. „Was für einen Haufen Rattenmist ich zusammenrede... Ich krieche nicht zu meinem Tod hin, nein. Aber eine von den Jägerinnen muss diesen Weg hier nehmen.“
„Wieso dann nicht eine andere Jägerin, die noch ihren Bogen halten kann?“
Fluchend stieß sie ihn von sich fort.
„Für dein Leben kannst du mir danken, du Narr. Wahrscheinlich haben sie mich geschickt, weil niemand sonst es mit dem Plagegeist aushalten kann, der zufällig die selbe Wegstrecke geht.“ Ihr Atem ging wie der eines erschöpften Tiers, und sie lief allein über den Grat weiter. „Ich habe darum selbst gebeten, dass ich hierher reisen darf.“
Maro trottete ihr in einigen Schritten Abstand nach. Ein Mädchen mit der Seele eines Raubtiers, noch weit mehr eine Kreatur der Erde als die zarten Dinger, die ihm bei seiner Initiation Festmahl und Tanz beschert hatten. Jilis Seele würde sie umbringen, zu stolz und wütend für Rücksicht auf den Körper, der sie hielt. Bogenschießen konnten sie alle lernen, aber das machte sie nicht zu Kriegern.
Nur ein Krieger verging ohne seinen Krieg wie eine welke Blumen. Jilis welkte, und sie kämpfte sogar gegen das Verwelken an.
An einem Vorsprung, an dem sie hielt, schloss er wieder zu ihr auf.
„Wenn du könntest, würdest du diese alte Frau aus dem Dorf holen und sie in das Lager bringen, damit ihre Weisheit euch gegen die Teufelskönigin hilft.“
„Du hast also doch gelauscht. Aber das macht jetzt keinen Unterschied mehr.“
Aus dem Tal vor ihr stieg dunkler Rauch, geboren von Flammenwänden, die aus Fenstern und Türen leckten. Ein Heer aus Schatten zog von Westen her gegen das Dorf. Blutrabe hatte nicht gelogen. Sie war nicht allein gekommen, und ihre Krieger mochten Maros Gesicht nicht erkennen und ihn einfach niederschlagen wie die Dorfleute.
„Sie kriegen uns mit den Speeren und Äxten“, sagte Jilis, „oder wir werden zu Asche in den Flammen. Keiner will dich hier. Wieso gehst du nicht heim, in deine stinkenden Dschungel?“
Weil ich den ganzen Weg über Meer und Wüste hierher gemacht habe, weil ich dem Weg bis zum Ende folgen werde, oder auf ihm stürzen und nie wieder aufstehen.
Ahnte sie etwas?
„Weil ich ein zäher Hund bin, vielleicht.“
Er sprang den Vorsprung hinab, Jilis rollte sich neben ihm ab und kam auf die Beine.
„Das ist ein guter Satz. Am Besten, du hältst jetzt die Klappe. Wenn ich dann einen Speer zwischen den Schulterblättern habe, denke ich an diese letzten Worte von dir.“
„Wenn du könntest...“, wiederholte Maro seine Frage, „würdest du...“
„Wenn ich meine Arme hätte, würde ich diesen Biestern ihre ausreißen, ja.“
Maro schluckte. Noch eine Stunde, und er würde den Pfad beschreiten, an dessen Ende er seine Gabe verkaufen würde. Die toten Arme stärken, die die Schwesternschaft greifen und zermalmen würden. Einen Haufen Frauen, die ihm nie ins Gesicht geblickt hatten – und Jilis.
„Stell dir vor, du könntest es.“
„Es mir vorstellen? Zu Schade nur, dass wir nicht in einer Welt leben, in der die Wirklichkeit mit unseren Wünschen übereinstimmt.“
„Erinnere dich an Oram, der tote Erde war, bis ich wollte, dass es anders wurde.“
„Kann ich mich nicht lieber an etwas Schönes erinnern, bevor ich dort unten-“ Sie hielt inne, ihre Miene wurde ernst. „Von was sprichst du?“
Sie begann zu verstehen.
Die Arme des Heeres streckten sich aus, umschlossen die äußersten Häuser wie die Klingen einer Schere. Flammenzungen schlugen auf dem Platz in der Mitte des Dorfes um sich und griffen nach strohgedeckten Dächern.
„Wenn du endlich verstanden hast, dass ein Totenbeschwörer mehr tut, als die Toten an die Luft zu rufen, dann solltest du es wissen.“
„Blutrabes Diener hatten weder lahme Arme noch Beine, obwohl sie kein Fleisch mehr daran hatten... Keine Muskeln.“
„Das ist die Nekromantie. Leben und Bewegung, wo die Natur sie nicht vorgesehen hat.“
Jilis hob ihren lahmen Arm mit dem anderen an und faltete die Finger zu einer Faust zusammen.
„Ich handele mit einem Teufel.“
„Du entscheidest. Es ist kein Handel, und wenn du mich für einen Teufel hältst... Ich habe schon schlimmere Namen ertragen.“
„Kein Handel? Keine Leihgabe, deren Zinsen mich heimsuchen werden?“
„Das wäre die Art des dicken Händlers. Ich bin sein Wächter gewesen, nicht sein Sohn.“
Der Wind trug den Rauch der Brände zu ihnen herüber. Ein würziger Geruch von Tod und Sterben. Wie gehetzte Tiere stürzten die Menschen aus den Häusern, und die Schatten fielen über sie und warfen sie nieder.
„Was bin ich dann? Dein Golem, der selbst denkt und geht, der aber den Arm zum Töten hebt, wenn du es willst?“
„Wenn ich es wollte, könnte ich gegen deinen Geist ankämpfen und ihn lenken. Aber es gibt Gesetze, auch für die Magie. Es ist leicht, Erde und Metall und Feuer zu kontrollieren. Aber alles, das einen Verstand gehabt hat, widersetzt sich. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Je nachdem, was der Wille des Wesens gewesen ist. Je nachdem, wie viel davon noch vorhanden ist.“
Sie betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
„Du bist ein Irrer. Wissen die Götter, wie viele Gesetze du schon gebrochen hast. Ich weiß ziemlich genau, dass du es fertig bringen würdest, mich mit meinen eigenen Fingern zu erwürgen.“ Am letzten Sims, das zwischen ihnen und dem Hort der Flammen lag, hielt sie an. „...wenn du es wolltest. Jetzt sag mir, was ich tun muss.“
„Gib mir deine Hand.“
„Nimm sie dir“, sagte Jilis. Sie unterdrückte ein Lachen.
Ja, die Situation hatte etwas Komisches. Bizarr und absurd. Maro griff nach der kalten, leblosen Hand. Seine Kraft hätte genügt, aus den Trümmern der Häuser einen Golem zu erschaffen. Darauf würde er wohl verzichten müssen.
Er konzentrierte sich, zog der Welt die Farben ab und griff nach ihrer Essenz. Von Karmhang her ergoss sich ein Strom aus Lichtern über ihn. Lebenslichter, die kämpften, die unter dem Ansturm anderer zerbarsten. Jilis brannte heller als jedes von ihnen, aber ihren toten Arm entlang zogen sich nur schmale Linien aus Licht, wie Algen im Meerwasser. Ihre Stimme drang gedämpft zu ihm, als müsse sie durch eine Schicht aus Stoff zu ihm.
„Wie lange wird dein Zauber halten?“
„Bis ich die Kraft, die ich dir jetzt gebe, wieder zurückfordern muss.“
Stränge aus Licht trennten sich von seinen Armen, umgriffen den Arm von Jilis und wanden sich darum, verschmolzen miteinander. Ein kühler Luftzug ging durch seine Brust. Wie in den Momenten, wenn er Oram belebte. Alles brachte einen Preis mit sich. Das Gleichgewicht, hätte Varn gesagt.
Die Hand in seiner regte sich, packte zu. Er tauchte aus der Astralwelt auf und taumelte vom Schock der Rückkehr. Jilis stützte ihn, und in ihren Augen brannte all das Feuer, das er in der anderen Welt in ihr erschaut hatte.
„Ich kann ihn bewegen“, sagte sie leise. Sie löste den Griff und hob einen faustgroßen Stein auf, drückte zu. Ihre Finger zitterten, doch im Stein taten sich haarfeine Risse auf. Sie ließ ihn fallen und betrachtete das Gliedmaß. Dünn wie der Ast eines verdorrenden Baums war es noch immer. „Was hast du getan?“
Maro lächelte. Ein dunkler Schleier huschte an seinen Augen vorüber, ein Schauer aus kaltem Schweiß trat auf seine Haut.
„Dein Arm hält in sich nun etwas mehr Kraft als der eines gewöhnlichen Mädchens, und auch mehr als der Arm eines gewöhnlichen Jungen. Er hält auch mehr Kraft als der Arm jedweden Manns, der ihn täglich beim Kriegshandwerk gebraucht.“
Jilis stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf.
„Verdammter...“
Ein Verdammter, das war er, ja. Und ein verrückter Hund. Manchmal konnte er Dinge tun, die er selbst nicht verstand und nie verstehen würde.
„Das ist alles, was ich habe hinbekommen können.“
Sie standen sich gegenüber, Jilis mit offenem Mund und einem ungläubigen Lächeln. Wie schwarzer Nebel zog der Rauch an ihnen vorüber.
„Den Arm eines Teufels...“
„In Kejistan sind Teufel und Götter eins. Ebensogut ist es der Arm eines Gottes.“
Sie nickte, und Augenblicke lang brauste nur das Gewirr aus Stimmen und Feuerknistern vom Dorf her um sie. Die Dämonen kreisten als schattige Tupfer über den Dächern, aber da war noch etwas, auf dem Marktplatz. Groß wie eine Scheune, aber mit den sich bewegenden Konturen eines lebendigen Wesens. Maro konnte es nicht genau erkennen. Aber die Gelegenheit dazu würde kommen.
„Holen wir uns ab, was dort unten auf uns wartet“, sagte Jilis dann. „Bleiben wir dicht beisammen. Wir haben gesehen, was sonst passiert – bei Blutrabes Friedhof. Kapiert? Bei mir bleiben.“
„Ja, das werde ich“, log Maro.
Blutrabe... Jetzt war es an ihr, ihren Teil der Abmachung zu beschließen. Die Königin wartete. Und Evra mit ihr.
 
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X Baphomet

Der Arm eines Gottes... Jilis ballte die Hand zur Faust. Nicht die leiseste Anstrengung, aber die Finger schlossen sich dennoch. Als sei sie ein Geist – ein Gott –, der dem Gliedmaß Befehle gab, ohne selbst damit verbunden zu sein.
„Den Kopf runter!“, brüllte jemand und warf sich von hinten auf sie, dass sie vornüber ins Gras stürzte. Die Erde war warm unter ihren Händen, und die Luft flimmerte vor Hitze. Ein Junge, dem die Locken aus dem Spitzhelm quollen, rollte sich von ihr hinunter und wies mit einem viel zu großen Handschuh in den Himmel. „Die Teufel wollten Euch holen, Schwester.“ Eine der Nadelzahnbestien drehte eben ab und steuerte wieder auf das Dorf zu.
„Das haben sie sich zur Gewohnheit gemacht“, sagte Jilis und richtete sich wieder auf.
„Wann werden die anderen Eures Ordens eintreffen?“
Hoffnung flackerte in den Augen des jungen Wächters.
„Wenn diese Häuser hier längst zu einer Schicht aus Asche geworden sind. Ich bin die einzige in einem Umkreis von zwei Tagesmärschen.“
„Das verborgene Auge gefällt sich darin, verborgen zu bleiben, aye?“, fragte ein älterer Wachsoldat, dem Rußflecken den Brustharnisch verzierten. Er lehnte gegen das erbärmliche Bollwerk, das die Wächter zwischen den letzten Häusern aufgeschichtet hatten. Eine Mauer aus Karren, darin verkeilten Wagenrändern, sogar Kinderkrippen und gebrochenen Tischen.
„Diese Höllenwesen haben uns genau so geschlagen wie Euch.“
„Geschlagen sind wir noch nicht“, rief ihr ein Alter zu, der einen Zaunpfahl mit hindurchgehämmerten Nägeln und Dolchspitzen trug. Ein Schatten erklomm die Barriere aus Unrat, hangelte sich über die Spitze aus Stuhlbeinen herüber, da ging die Waffe des Manns auf ihn nieder. Die Feuer verbargen die Gestalt nicht länger, als sie den Turm hinabrollte und zwei Waschzuber mitriss. „Hab ihm ein paar Nasenlöcher mehr gemacht!“, sagte der Alte und lachte. Blut färbte die Spitzen seiner Waffe dunkel.
Jilis beugte sich nieder. Spielte ihr die flimmernde Luft einen Streich? Sie kniff die Augen zusammen, die vom Rauch brannten. Der Erschlagene vor ihr trug die Schuppen eines Reptils, und sein Kiefer streckte sich lang wie der einer Schlange, mit Reihen aus Raubtierzähnen im Maul.
Maros Mantel tauchte neben ihr auf, und mit der flachen Seite seiner Klinge hob der Nekromant den Schädel des Ungetüms an.
„Tierköpfe haben sie alle“, sagte der Lockige.
Der mit der rußigen Rüstung drückte dem Jungen den Morgenstern des Toten in die Hand.
„Das ist die Strafe der Götter. Wer hurt und spielt, dem zerkneten sie im Tode das Gesicht und ziehen ihm Tierhäute an, und dann muss er zurück auf die Erde.“
Maro sah sie an. Die Dörfler verstanden nichts, und noch vor dem Abend würde es für sie vorüber sein. Armbrustschützen flankierten die Barrikade zu beiden Seiten und zielten auf die Gassen, durch die die Dämonen kommen mochten, wenn sie den Schutzwall umgehen wollten. Doch die Nadelzahnbestien schwebten weit über ihnen, und kein Wall – und wäre er aus Stein gewesen statt aus Schrankschubladen und Wassereimern – hielt sie auf. In Abständen sanken sie nieder, entzündeten an den Flammen der Strohdächer neue Fackeln und warfen sie in Teile des Dorfs, in denen noch kein Feuer wütete. Wie leicht hätten sie die Dorfmiliz aus den Lüften jagen und Mann für Mann zerreißen können. Wie leicht die Barrikade niederbrennen, obwohl das Holz dunkel von Wasser war, das die Männer zum Schutz vor Bränden darübergeschüttet haben mussten. Die Dämonen suchten etwas anderes.
„Sie kommen nicht nur deswegen, weil sie zuviel beim Glücksspiel gewonnen haben und die Götter ihnen das neiden“, sagte Maro, als hätte er in ihren Gedanken gelesen.
„Oh“, sagte der in der Rußrüstung, „dann kommen sie, um mit uns ein gewaltiges Fest zu feiern. Seht Euch nur die Freudenfeuer an, Herr Kleriker.“
Jilis stellte sich zwischen die beiden, an das Fenster eines Kasernenbaus, dessen steinernes Dach die Feuer abwehrte.
„Ihr verlangt nach der Schwesternschaft, aber die Größte von uns sollte sich hier im Dorf aufhalten. Wo ist Zethys, die Dämonenjägerin?“
Eine Legende wie sie hatte ihren Platz zwischen den Kriegern, die den Horden der Hölle standhielten. Aber vielleicht nicht unter dem Haufen Dorfwächter, der sich außerhalb verschanzte, während die Bestien nach Willkür im Inneren der Siedlung Frauen und Kinder holen konnten. Vielleicht war Zethys im Herzen der Schlacht.
„Dämonenjägerin?“, fragte einer der Armbrustschützen und stützte sich mit der Waffe auf dem Boden ab. „Zethys hat ihr Heim gegenüber dem Ratshaus auf dem Dorfplatz gehabt. Aber der letzte Dämon, den sie gejagt hat, war der Staub auf ihrer Fensterbank.“
Die Männer um ihn herum verfielen in Gelächter. Nichts als Narren. Nur die Toten schwiegen, die Dutzenden von Kriegern mit verbeulten Harnischen und dem rot gefärbtem Gras um sich herum. Einige von ihnen stützten mit ihren Körpern den aufgeschichteten Wall. Die Besten von ihnen. Die Besten fielen zuerst.
„Keiner von euch hat den Mumm, uns zu ihrem Haus zu führen, wette ich“, sagte Jilis.
Der Alte mit der Stabwaffe schichtete den Echsenköpfigen in eine Lücke der Barrikade.
„Ich werfe mein Leben nicht gern weg. Wenn die Feuer sie noch nicht verzehrt haben, dann die Mäuler dieser Höllengesandten.“
Auch der mit der Rußrüstung stimmte zu. „Diese da“, er zeigte auf den geschuppten Leichnam, „sind nicht alles, was durch unsere Gassen rennt. Da ist etwas, das einen Schatten von der Größe eines Tempels wirft.“
„Dass ihr selbst Schatten fürchtet, hatte ich bereits vermutet”, sagte Jilis. “Dann werden wir allein gehen.” Sie fing einen ernsten Blick von Maro auf.
Sie selbst hatte genug Grund, die Schatten zu fürchten. Jeder von ihnen konnte Blutrabe gehören. Das Gift würde ihr nicht mehr schaden, wenn sie bereits durch diese eine Dosis dagegen immun geworden war... Aber gegen den Moment, in dem sie ihre Schwester zwischen den Flammen wiedersehen würde, dagegen konnte kein Antidot sie immun machen.
Der Mann in der rußigen Rüstung richtete Holzstäbe in der Barrikade. Spaten und Harken, Feldgerät in diesem Wall aus Unrat.
„Wir können Euch leider kein Grab ausheben, unsere Schaufeln dienen zu unserem eigenen Schutz.“
“Die Mühe könntet Ihr Euch ohnehin sparen. Wir haben nicht vor, den Tod dort zu finden.“
Flammen umkränzten das Innere des Orts wie eine Krone. Ein Kirchturm wankte, brach vom Kirchdach herunter wie ein Stück trockene Brotkruste. Ein Dröhnen füllte die Gassen und brandete bis zu der hölzernen Festung der Krieger hin.
„In der Tat nicht“, sagte Maro, „ich gehe ihn an einem anderen Ort suchen. Wir werden uns nicht wiedersehen.“
Das Feuer spiegelte sich in seinen bleichen Haaren wie in Glas. Jilis spuckte einige Rußflocken aus und nickte.
„Das hätte ich auch gedacht, nachdem ich dort auf dem Friedhof zusammengesunken bin.“
„Noch einmal wird dir das nicht passieren, jetzt ist das Gift gegen dich wirkungslos. Tu, was du hier tun willst.“
Sie zog die Nase hoch.
„Du auch, zäher Hund. An deinem Leder hacken sich die Geier die Schnäbel wund.“
Das Klirren von Klingen und das Klappern von Rüstungen füllte den winzigen Stützpunkt der Krieger, der Mann mit der verrußten Rüstung brüllte Befehle. Niemand interessierte sich mehr für sie oder den Nekromanten. Er war fremd in diesem Land. Aber vielleicht war er damit nicht allein.
„Natternköpfe von Süden“, riefen die Schützen, und die Sehnen ihrer Armbrüste sangen. Am Nordende des Verteidigungswalls rutschten die Kreaturen vom niedrigen Kasernendach und rollten sich unter einem Bolzenhagel hindurch, von Süden her sprangen sie aus Hausfenstern und stürmten aus schattigen Passagen hervor.
Maro, der Nekromant, schloss die Augen und hielt seine Klinge mit der schmalen Seite vor das Gesicht, sodass die Waffe dünn wie ein silberner Faden erschien.
„Noch ein letztes Geschenk aus dem Osten.“
Die heißen Feuerwinde hielten inne, dann stießen zwei Flammenarme aus dem Dorfinneren himmelwärts. Sie wirbelten ineinander zu einer Sphärengestalt und lösten sich von den Lagerdächern, aus denen sie entsprangen waren.
Dann waren die Magiermeister aus den Wüsten nicht die einzigen, die sich die Glut zum Diener machen konnten.
„Fahre wohl“, sagte Jilis, während das Geklirr von Eisen auf Eisen sich näherte. Die Kugel aus Hitze stand am Himmel wie eine Sternschnuppe, die im Fall innegehalten hatte. Damals hatte sie diesen Zauber des Todes und des Lebens nicht verstanden, und sie tat es auch jetzt nicht. Sie brauchte es nicht.
Schweißperlen glänzten auf Maros Gesicht, als er sich ohne ein Wort abwandte und nach Norden in den Seitenstraßen verschwand, vor denen die Miliz gegen die Tiergesichter stritt.
Ein Dutzend Grüße kannte die Schwesternschaft für Ranghöhere und –niedrigere, für Gleichrangige, aber sie kannte keinen für einen Fremden, der keiner mehr war.
„Einer für Euch, Schwester“, rief der Junge mit dem Lockenkopf, während er mit dem Morgenstern den eines dunkel Geschuppten parierte. Ein weiterer kletterte über die Barrikade und hielt die geschlitzten Reptilienaugen auf Jilis gerichtet. Er kam mit den Beinen auf dem Boden auf und richtete die Spitze einer Hellebarde auf ihre Brust.
Jilis spannte ihren Arm an, bis er sich anfühlte wie ein Strang aus Stahl an ihrer Schulter. Stahl, der ihren Bewegungen gehorchte, besser als jedes Schwert.
Der Hellebardenkopf suchte nach ihrem Herzen, der Echsenmann riss das Maul auf, als wolle er es verspeisen. Jilis bog sich zur Seite weg, das Axtblatt schnitt durch die Luft neben ihrem Ohr. Sie packte die Waffe am Schaft und rammte ihrem Gegner das stumpfe Ende in den Bauch. Ein Krächzen drang aus seiner Kehle, die lange Zunge wirbelte um sein Maul herum wie ein sich windender Wurm. Sie brach den Axtkopf seitlich von der Stange und jagte dem Krieger die Schneide seiner Waffe in den Hals. Seine Augen zitterten, dann klappte der Reptilienkiefer zu. Auch diese starben wie Menschen. Schlaff ging der gepanzerte Körper zu Boden, fiel zu den anderen, deren Panzer keine geschuppte Haut, sondern Harnisch und Schild waren.
Die Echsenköpfe bildeten eine Zange von zwei Seiten, und ein Keil strömte in die Mitte. Ein Trichter, durch den Wasser in eine Flasche strömte. Und wenn die Flasche sich gefüllt hatte, war von ihnen allen nur noch Staub übrig und schwelendes Fleisch.
Zwei Echsenmänner kamen auf einen Wachmann, und von denen trug mehr als die Hälfte noch nicht einmal einen Bartflaum im Gesicht. Ein Stoß mit einer Stachelkeule ließ dem mit dem Rußpanzer die Platten seiner Rüstung wegspringen. Er fiel, die Hände zum Himmel gereckt, und er schrie gegen das Feuerknistern an, bis ein Axthieb ihm die Lippen teilte.
Die Schützen hatten ihre Waffen getauscht gegen Kurzklingen, um die der Echsen parieren zu können.
Jilis schleuderte ihre Hellebardenspitze in den vielköpfigen Ansturm, die Waffe fuhr dem Vordersten in die Brust und warf ihn in die Arme der ihm Folgenden. Sie kaufte sich Sekunden. Lud die Armbrust und richtete sie auf den Schwarm. Einer bekam einen Bolzen durch die Nüstern zu fressen, stürzte mit den Beinen voran, als sei er im Matsch ausgeglitten. Ein Speerträger schwang sich vom Barrikadengipfel und hielt die Waffe wie einen Flock, den er in sie treiben wollte. Sie wechselte die Waffenhand, spannte ihren Götterarm zu stählerner Härte, legte die Finger der Hand aneinander zu einer geraden Fläche. Mit der Bewegung eines Aufwärtshakens empfing sie den Speerkämpfer. Ihre Fingerspitzen drangen durch das Fleisch und brachen die Halswirbel, stießen im Nacken wieder aus der Haut heraus. Das Blut wärmte ihr die Hand, und die letzten Herzschläge bebten an ihr vorüber. Das Schlangengesicht hing über ihrem Arm mit stillem Blick. Dieses hier hatte nicht einmal begriffen, wie es verendet war.
Aber die Zahlen verringerten sich nicht. Zu dritt gingen die Geschuppten auf den Lockenkopf los, zertrümmerten ihm mit Kriegshämmern die Beine und dann den Brustkorb. Sie sprachen nicht, konnten vielleicht nicht sprechen. Sie kamen und töteten, und nur das Todesgebrüll der Männer erhob sich über die Dächer. Befehle gab längst niemand mehr.
Jilis zog ihre Hand aus der Kehle des Wesens und packte dessen Speer, drosch ihm einen der Angreifer in den Oberschenkel und durchdrang dann sein Auge mit einem Bolzen. Die Schuppigen schlossen sich zu einer Wand aus Schatten zusammen, umringten sie und einen der Krieger des Dorfes. Für Sekunden stritten sie Rücken an Rücken, parierten Klauenhiebe und brachen Kiefer, dann war es der Krieger, der brach. Jilis nahm sein Schild und zerschlug mit einem Vorstoß die Ringformation um sich herum. Ein Schwertstreich suchte nach ihrer Kniekehle, sie schlug mit ihrem Messer den Arm nieder, der die Klinge führte.
Die Schlacht barst in ein Inferno, dem die Flammen des brennenden Dorfes nie gleichkommen würden. Ein Krieger, der die Hand auf seinen Armstumpf hielt, taumelte in den Echsentrupp hinein und ging in einem Reigen aus niederfahrenden Klingen unter. Die Schützen legten einen Teppich aus Bolzen über die Gegner, die sich von den Dächern auf sie niederschwangen. Dunkle Klauen reckten sich nach Schäften in Schuppenhälsen, brachen sie ab und rissen dann Rüstung und Haut der Schützen in Fetzen.
Die Wächter starben in Scharen. Abseits der Menschen, die sie schützen sollten – aber statt hier ihr Leben fortzuwerfen, hätten sie ebenso gut den Weg in die Berge und fort von diesem Schlachtfeld nehmen können. Möglich, dass sie schlicht den Ort und die Zeit für ihren Tod hatten bestimmen wollen, statt einen Versuch zu machen, ihm zu entrinnen.
Nur sie, sie durfte nicht fallen.
Über den schwarzen Schädeln ragte die Bretterkonstruktion noch immer auf, obwohl eine schwelende Bresche in der höchsten Lage von Wagenrädern klaffte. Das Herz der Hölle wartete dahinter, und mit ihm auch der Schlüssel zu seinem Untergang.
Sie zog einem Biest das Messer über die Kehle, das Menschentier stürzte rücklings in ein Fenster und verschwand aus ihrer Sicht. Ein Schildstoß zielte auf ihre Nase, sie huschte geduckt darunter hindurch und durchstieß mit der Hand die Brustschuppen und Rippen des Angreifers. Den Leichnam schüttelte sie von ihrem Arm und sprang auf eine Treppe aus Kommodenschubladen, die aus dem Bollwerk ragte. Beim Aufstieg blendete sie Maros seltsamer Zauber wie eine zweite Sonne; ein Schatten schob sich davor, mit Armen, Beinen, einer dünnen Klinge. Sie beschirmte die Augen mit dem Arm. Schwarzes Blut peitschte auf das niedrige Dach neben ihr, der Echsenmann klatschte gegen die Fassade, als wäre er ein feuchtes Tuch.
Der Weißhaarige mit der Nagellatte reckte eine Faust in die Höhe und zerrte seine Waffe aus dem Kadaver.
„Nie zu alt, noch eine Jungfer zu retten.“
„Und wer rettet Euch?“, fragte Jilis. „Ihr habt Euch mit diesem Scheusal nun lebendig eingemauert.“
In dem kärglichen Schutzwall schwelten die ersten Brände und kitzelten Jilis mit ihren heißen Fingern an den Ellbogen.
Wir sind die Mauer, M’lady. Wacht von Karmhang, bis zum Untergang.“
„Ein schöner Reim.“
„Schwingt Eure Gazellenbeine von unserem Scheusal und geht, bevor diese Bastarde es einreißen. Sonst kann ich den Teufeln in den Höllen nicht ins Gesicht speien und behaupten, ich hätte an meinem letzten Tag mit meiner Hand noch für etwas gestritten, das mich überdauert.“
Eine Aschewehe schob sich zwischen sie, und Jilis taumelte den Trümmerturm rückwärts hinab.
Die Schlacht tobte weiter, ohne sie. Keine Schlacht, ein Schlachten.
Wenn dies der Kampf war, auf den sie im Kloster so lange gewartet hatte, dann war sie der ausgemachte Dummkopf, den Falke sie immer genannt hatte.
In der Marktgasse vor ihr schlugen Flammen aus den Fenstern, gesprungene Teller und Tontöpfe bedeckten den Weg mit ihren Scherben. Markisen flatterten als brennende Fetzen vor den Läden – das Banner eines Lords, dessen Zeichen das Höllenfeuer war.
Jilis lief geduckt, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen, der die Hitze der Flammen von links aus den Wohnhäusern, dann von rechts aus der Ladengasse trieb. Auch Blutrabe würde keinen Schutz vor der Hitze haben. Höchstens der Nekromant, der sich die Flammen zum Diener gemacht hatte, wie ein Tier.
Der Ratsplatz musste im Westen liegen, wo die Gässchen zusammenliefen. Aber wie weit noch? Die Welt zitterte in der heißen Luft, und aus Fensterläden strömten Flammenstöße, als verbargen sich Drachenmäuler dahinter.
Es war das Gleiche wie damals im Kloster. Sie ging durch das Feuer, um ein Leben zu retten... Nur, dass sie es dieses Mal im Namen der Schwestern tat; dass sich das Leben, das sie damals nicht hatte retten können, ebenfalls in dieser Hölle befand. Und, dass dieses Leben ihnen diese Hölle erst beschert hatte. Zehn Minuten, die alles entschieden hatten.
Die Brände auf der Straße nährten sich vom Kleid eines Mädchens und von seinem Körper, nährten sich auch vom Leib eines Schuppenträgers, dessen Arm aus einem Fenster hing. Sein Schädel war bis zu den Lippen gespalten, und das Feuer verbrannte zischend Fleisch und Hirn.
Der Schweiß rann Jilis über den Griff ihres Messers, machte ihn glitschig.
Holzsplitter, spitz wie Speere, flogen an ihr vorbei. Unter einem der Marktstände bäumte sich ein Schuppenkrieger auf, brüllte sein Gebrüll aus einer anderen Welt und wirbelte einen Morgenstern um den Kopf.
Jilis sprang vor und durchschlug das Holz, das die Balken des Stands hielt. Die Echse riss das Maul auf, da rammte sich ihr das Stützholz in Genick und zwischen die Schultern. Brennende Fetzen des Sonnendachs bedeckten sie, und sie zischte ein letztes Mal.
Die Höllendiener waren auch in der Stadt, und sie suchten das Gleiche wie Jilis. Sie begegnete zweien, die einen Karren durchstöberten und schoss ihnen in die Köpfe. Ein dritter stürmte ihr um eine Hausecke entgegen und empfing einen Messerstich in die Brust.
Es brauchte ein Wunder, damit dieses Heer Zethys noch nicht entdeckt hatte. Aber Zethys war eine Legende, und Wunder gehörten zu Legenden.
Über dem Platz in der Ortsmitte kreisten die Nadelzahnbestien, ließen sich fallen und packten zappelnde Menschenkörper aus den Straßen, die sie in die Luft zogen und dort zerrissen – aber dann kreisten sie weiter, suchten.
Dann hatten sie also noch nichts gefunden.
Jilis sprintete zu den Trümmern eines Springbrunnens in der Mitte des Platzes. Ihre Haut leuchtete in wundem Rot, brannte und trug einen Schweißfilm, dass sie sich wie ein Reptil vorkam. Sie schöpfte die letzten Tropfen aus dem Brunnen und benetzte Gesicht und Arme. Als sie aufsah, kniete ein Mann im dunklen Umhang, mit weißem Haar, neben dem zerbrochenen Fischschwanz einer Nixenstatue.
„Du hättest verschwinden sollen“, sagte Maro. Seine Wangen glänzten wie Wachs, aber kein Schweißtropfen blitzte darauf.
„Das habe ich vor. Ich will kein Bratferkel werden. Dein Zauber macht es aber auch nicht angenehmer. Oder hältst du diese Echsen für umgekehrte Wermenschen und willst ihnen ihre Gestalt mit einer zweiten Sonne austreiben?“
Sie setzte zum nächsten Wort an, aber hielt inne. In den Flammen des Rathauses stand eine Menschengestalt, dunkel vor dem Hintergrund des Feuers und wabernd in der heißen Luft. Doch eine Echsenschnauze konnte sie nicht erkennen.
„Geh jetzt, los.“
Maro wich rückwärts fort und wies mit der Spitze seiner Klinge auf ihre Brust. War es Zethys, die in den Flammen wartete?
„Was soll das?“, fragte sie.
Maro antwortete nicht, ging weiter auf das Rathaus zu, den Blick in sie gebohrt. Sie machte einen Schritt, da schnitt seine Stimme durch die Flammen.
„In die andere Richtung, dummes Mädchen. Noch einen Schritt-“
„Dummes…“
Es war, als drangen Finger in das Fleisch ihres Arms und spielten auf den Muskelsträngen wie auf einer Mandoline. Ihre Hand ballte sich zu einer Faust… Etwas wollte, dass ihre Hand sich zu einer Faust ballte. Sie stemmte sich dagegen, drückte die Finger wieder nach außen. Dann brach ihr Widerstand. Das Gefühl wich ihr aus dem Arm, und das nächste, was sie fühlte, war der Fauststoß, den sie sich selbst in die Magengrube gab. Ihre Eingeweide krümmten sich und sie sank auf den Rand des Brunnens.
Maros Zauber… Sie schnaufte gegen die Ohnmacht an und zwang sich, die Augen offen zu halten.
„Ich hab es gewusst, deine Worte sind auch nicht mehr als ein schönes Märchen gewesen. Dreckiger…“
Sie fluchte und schlug auf die Statue eines Fischmannes ein, kämpfte gegen die Ohnmacht mit Schmerzen an.
Zethys war es nicht, die dort in den Flammen stand. Der Gedanke drang mit erbarmungsloser Klarheit in sie.
„Eine Hure der Dämonen bist du!“, rief sie. Falke. Falke, die diesen Namen vergessen hatte und mit ihm alles.
Asche legte sich ihr in den Mund und sie hustete, hustete Blut und Staub. Auch Maro hatten sie jetzt, hatten ihn vielleicht die ganze Zeit gehabt. Sie schüttelte die Flecken ab, die sich ihr vor die Augen legten, und stemmte sich hoch – ihr Arm gehorchte ihr wieder.
Sie rannte zu dem Rathaus hinüber, in dessen klaffendes Dach der Uhrenturm eingebrochen war. Wie ein Vorhang schlossen sich die Feuerwalzen um die beiden Menschen, die mitten im Inferno standen.
Dann glitt ein Schatten über sie hinweg, breit wie eine Wolke. Vor ihr bohrte sich eine Wand aus Eisen in den Boden, wie ein übergroßes Turmschild der Rittersmänner aus Zakarum. Sie bedeckte das Gesicht mit den Armen. Erde und Trümmer eines Wagenrads spritzten hoch und schlugen ihr gegen die Schenkel. Ihr Blick wanderte das Schild hinauf – es verbreiterte sich nach oben hin, und ein Holzschaft, dick wie zwei Baumstämme, ragte oben heraus. Sie verstand erst, als eine Pranke sich um den Schaft schloss. Ein Speer, und das Schild war die Spitze. Ein Grollen donnerte über den Platz und peitschte die Flammen beiseite.
„Das Auge!“, bellte eine Stimme über ihr. „Du trägst das Auge.“
Der Kopf eines Ziegenbocks hing über dem Trümmerfeld, zehn Schritt hoch. Sein Körper war es, der vom Berg aus hoch wie eine Scheune erschienen war. Die Schultern ragten über die Schornsteine von einstöckigen Häusern hinaus und dort, wo bei einem gewöhnlichen Bock der Hals ansetzen musste, schloss sich bei diesem Wesen ein menschlicher Oberkörper mit zwei Armen an. Es war, als hätte ein grausamer Wille einen der legendären Zentauren dadurch entstellt, dass er ihm einen Ziegenbock zum Vater gegeben hatte.
Die Hufe zermalmten verschüttete Früchte und Markttheken. Jilis wich zurück in den Trümmerhaufen des Springbrunnens. Diese Bestie musste von allen Zicklein und Böcken dieser Welt die Mutter sein – und der Vater noch dazu.
Aber vielleicht hatte es neben seiner Riesengestalt nur das Hirn eines Zuchttiers.
„Ganz recht, du großer Narr! Zethys hast du gesucht und gefunden.“ Sie holte den Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil in die Sehne. Seltsam, wie fremd sich die Waffe anfühlte. „Aber du wirst Blutrabe nicht mehr von deinem Fund berichten können – ich bin nicht umsonst unter den Menschen zur Legende geworden.“
Der Riese fuhr sich mit der Spitze des Speers durch den Gamsbart an seinem Kinn.
„Ihr Menschen macht Legenden und Sagen aus Prinzessinnen in Seidenkleidern. Verzeih mir, wenn ich keine Furcht empfinde. Außerdem hatte ich gedacht, dass Menschen noch immer mit der Last des Alterns zu kämpfen haben. Du dagegen siehst jünger aus als noch vor Jahren.“
Ein grausamer Zug spielte um seine Schnauze. Er war es gewesen... Er, der Zethys und ihren Jägerinnen begegnet war. Jilis sah sich nach Deckung um. Aber weder die Karren, noch die schwelenden Trümmer – noch die Häuser konnten Schutz vor diesem Koloss bieten.
„Ja“, sagte er, „du solltest Runzeln und Falten im Gesicht tragen. Oder ist dies hier dein Jungbrunnen gewesen?“ Die Spitze seines Speers durchfurchte die Trümmer des Brunnens wie lockere Felderde. „Vielleicht haben auch die anderen Menschen davon getrunken und deshalb sind es vor allem Kinder gewesen, die mir unter die Hufen gekommen sind.“
Monster. Vor allen anderen Wesen, die ihr begegnet waren, war dies das scheußlichste... Weil es sprach und dachte wie ein Mensch und dabei verdorben war wie die Nadelzähne und die Echsenköpfigen. Zethys würde den Riesen vernichten, wenn sie sich nur endlich zeigte... Das Haus gegenüber den Rathaustrümmern stand unversehrt, aber die Flammen der Kaufmannsläden daneben sprangen schon auf das Dach über.
„Für jedes Leben, das du ausgelöscht hast, wird sich eine Pfeilspitze in dein Herz bohren!“, rief sie. „Zethys wird kommen und dir dein Grinsen aus dem Gesicht stoßen.“
Der Ziegenkoloss strich sich mit den Händen über die Hörner und trabte um den Brunnenplatz.
„Seltsam. Ich hatte gehört, dass euch Menschen im Alter auch die Kraft in den Armen abhanden kommt. Wird Zethys die nicht brauchen, um mir ihre Pfeile zu schenken?“
Jilis stutzte. Die Legende kannte keine Jahreszahlen... Doch die Wirklichkeit sehr wohl. So alt konnte Zethys nicht sein. Sie durfte es nicht.
„Dann werde ich es tun“, sagte sie. „An ihrer Stelle.“
„Was soll dich dazu befähigen? Der Stempel des Auges auf deiner Stirn, den du mit Zethys gemeinsam hast? Du bist sterblich, kleine Puppe.“
Aus seiner Kehle drang ein grausames Gelächter, ein Gemisch aus dem Gelächter eines Irren und dem Meckern einer Ziege.
„Und du ebenso“, zischte Jilis. Der Pfeil zitterte in ihren Fingern. Wohin sollte sie ihn lenken? Das winzige Geschoss würde schon im Fell des Dämons hängen bleiben.
„Wenn du das glaubst. Wo du doch so an den Legenden hängst, sieh es als einen Trost, dass die meisten Legenden aus Toten gemacht werden. Ich gebe dir die Gelegenheit, eine zu werden – du zehrst an meiner Zeit schon zu lange.“
Der Dämon ließ seinen Speer über dem Kopf kreisen. Über dem Wirbel aus Metall stand noch immer Maros Sonne.
Ein letztes Geschenk, das hatte er gesagt.
Im Licht dieses Geschenks würde sie noch deutlicher mitansehen können, wie der Gigant sie zerriss.
Sie zielte auf den Kopf. Der verwundbarste Punkt der meisten Kreaturen. Der Pfeil flog von der Sehne, und der Riese nahm eine Hand von seiner Waffe und wischte das Geschoss beiseite wie ein lästiges Insekt.
Versucht hatte sie es...
Eine Pranke schoss durch die Luft zu ihr und breitete die Finger aus, um sie zu umschließen.
Plötzlich fehlte Maros Sonne. Sie stand nicht mehr. Sie fiel. Ein Ball aus Feuer, der in die Flanke des Ziegenmannes stürzte. Der Dämon heulte auf und sprang zur Seite, seine Schulter riss den Giebel eines Hauses fort. Wo der Feuerball getroffen hatte, glomm das Fell hell über dunkel verbranntem Fleisch. Die Flammen tropften auf die Erde und liefen ineinander. Im nächsten Augenblick loderten sie wieder hoch, doch nicht in einer einzigen Flamme, sondern in vielen verzweigten. Sie formten eine Gestalt – Oram, den Riesen, der Maro gedient hatte.
Der Ziegendämon hob einen Huf und ließ ihn auf den Golem niedergehen – die Kreatur des Nekromanten hob beide Arme und stemmte sich gegen den Huf. Flammenschlangen wanden sich über das Horn und krochen das Bein des Giganten hinauf. Wieder heulte er auf und schlug mit dem Speer um sich, zerriss mit dem stumpfen Ende des Schafts eine Fensterfront.
Hatte sich der Diener des Totenbeschwörers von ihm losgerissen und nach seinem Verrat auf ihre Seite geschlagen? Oder...
Sie schnallte den Bogen auf den Rücken und wandte sich um. Keine Zeit für Hirngespinste. Akaras Befehl stand noch – Zethys wartete auf sie. Die Feuer tasteten sich schon über den Dachfirst des Hauses.
Sie klopfte gegen die Holztür und lauschte eine halbe Sekunde lang. Sinnlos, zu warten. In einer Stunde würde die Tür zusammen mit dem gesamten Haus, mit dem gesamten Dorf, zu Asche geworden sein. Jilis warf sich gegen das Holz und riss die Pforte aus den Angeln, die untere Hälfte brach in der Mitte entzwei.
Eine Woge aus kühler Luft strich über sie, dann wallte die Hitze an ihr vorbei in das Haus hinein. Sie verharrte. Konnte sie den Namen so einfach aussprechen? Nach der Legende rufen wie nach einem Waschweib? Nun, immerhin hatte sie sich schon selbst als die alte Jägerin ausgegeben. Sie holte Luft.
„Zethys? Seid Ihr hier?“
Auch Legenden mussten sich in der Nacht zudecken.
In der Küche fand sie eine Schale mit den Resten von Haferbrei und Fruchtgelee, im Zimmer daneben ein Bett mit zerknitterter Decke. Über all dem lag der Geruch, den sie aus den Krankenlagern kannte, in denen nicht die Wunden des Kampfes, sondern die des Alters versorgt wurden.
„Zethys“, rief sie noch einmal und nahm die Treppe ins obere Stockwerk. Auf den letzten Stufen verlangsamte sie ihre Schritte. Durch ein einziges Fenster fiel der Flammenschein von draußen herein, tanzte in den Falten eines Gesichts. Die Haut schien wie Pergament, gezeichnet von Wetter und Sonne. Auf der Stirn verzerrten Runzeln das eingebrannte Abbild des verborgenen Auges.
Jilis nahm die beiden letzten Stufen mit einem Satz und ging auf die Knie.
„Verzeiht mir, Zethys.“
Die alte Frau saß in ihrem Korbstuhl, eine Decke über den Knien. In ihrem Auge flackerte der Feuerschein und gab ihren Händen die Farbe von glühendem Vulkangestein.
Sie war alt, bei den Göttern. Bei der Herrin. Ihre letzte Schlacht mochte sie geschlagen haben, als Jilis noch in der Wiege gelegen hatte.
Zethys bewegte den Mund, als würde sie sprechen, unsagbar leise.
Jilis erhob sich langsam und kniete auf dem Teppich neben dem Stuhl nieder, das Ohr fast an den Lippen der Alten. Der Legende.
“Ich habe Euch nicht verstanden“, sagte sie. Wie ein dummes Kind, für das die Worte der Mutter die ganze Welt waren.
„Niemand versteht die Ziege, und die Ziege versteht niemanden“, flüsterte Zethys. Sie wiegte sich langsam vor und zurück.
Ziege? Den Riesen vor dem Fenster meinte sie nicht...
„Die Ziege? Ihr?“
„In diesem Zimmer gibt es nur eine alte Ziege und ein junges Mädchen.“
Der Dämon hatte mehr als nur Recht behalten. Nicht nur die Kraft der Arme, sondern auch die des Geistes begann schon, aus Zethys zu weichen. Wenn diese alte Frau tatsächlich Zethys war. Und natürlich war sie es nicht, nicht die Dämonenbezwingerin aus den Legenden.
„Aber es gibt etwas außerhalb des Zimmers“, begann sie, und in ihrem Magen fühlte es sich an, als würden sich Karpfen darin wälzen. Sie sprach mit der Legende wie mit einem Kind, musste es tun. „Könnt Ihr es sehen?“
Statt einer Antwort fiel die Alte in einen Singsang.
„Glutgeboren lustig tanze,
auf der Welten dürrer Lanze,
sieh nur deinen Feuerreigen,
alle andern müssen schweigen...“
Wieder wiegte sie sich hin und her, und die Flammen machten ihr graues Haar schimmern wie Gold.
„Zethys, Ihr erkennt zumindest mich. Seht Ihr das Auge?“
Keine Antwort, aber die Frau streckte ihre Hand aus und fuhr mit rauen Fingern über Jilis Stirn. Berührt von einer Legende... oder einer alten Frau. Zethys berührte ihre eigene Stirn und legte die Hand wieder ab. Ihre Augen starrten so trübe an die Wand wie zuvor.
„Ein junges Mädchen“, sagte sie.
Jilis schüttelte den Kopf.
„Die Welt besteht nicht nur aus diesem Zimmer. Was ist dort draußen?“
Mit einem Mal spiegelte sich Sorge und Furcht in ihrem Blick. Sie beugte sich tiefer zu Jilis hinunter.
„Der Teufel sagt, ich darf nicht sprechen, sonst schlägt er mich tot. Baphometbaphometbaphometbaphomet.“
„Das ist sein Name?“
„Nein, die alte Ziege darf nicht sprechen“, sagte Zethys hastig. „Schweige, Mädchen, auch dich schlägt er tot.“
Auf dem Brunnenplatz tobte der Zweikampf. Bis zu den Knien stand der Dämon in den Trümmern einer Häuserreihe, schob gebrochene Schornsteine vor sich her. Die Aura des Golems ließ die Luft stärker flimmern als jedes Feuer und begleitete den Körper, der sich dem Bock in die Kniekehlen warf.
„Ich bin kein Mädchen. Ich bin eine Jägerin der Schwesternschaft des verborgenen Auges. Und Ihr?“
Zethys rang die Hände über der Decke und klopfte sich auf die Oberschenkel.
„Es ist so kalt hier. Du musst frieren.“
Jilis schloss die Augen. Mit dem Verstand war ihr nicht beizukommen. Wie es bei allen Legenden war.
„Niemand friert hier, nicht einmal Ihr. Es ist heiß wie auf einer Feuerstelle. Draußen brennt es, und bald brennt das ganze Zimmer und die alte Ziege brennt...“
„Die alte Ziege wartet schon viele Stunden lang, und sie wird brennen oder frieren, es ist dasselbe, solange sie nicht mehr warten muss.“
Jilis baute sich vor ihr auf und verstellte ihr die Sicht aus dem Fenster.
„Für Akara ist es nicht dasselbe, sie will die alte Ziege an ihrem Feuer sehen. Akara. Ihr versteht?“
„Akara hat viel Sand und Staub gebracht. Akara... Akara will die alte Ziege in ihrem Feuer sehen.“
„Nein, bei den Himmeln! Nicht darin!“
„Akara. Staub. Nein. Aber das junge Mädchen ist schön, nur ein Auge zuviel hat es. Die alte Ziege hätte gern seine Haare.“
Wie stur die Menschen im Alter wurden. In Sturheit konnte Zethys sich mit der Oberin messen. Einfach auf die Schultern laden und sie durch die Flammen hinaustragen konnte sie Zethys jedenfalls leider nicht.
„Das junge Mädchen will der alten Ziege helfen...“, sagte sie, weil ihr sonst nichts einfiel.
„Dann verschwendet es seine Stunden. Es soll tanzen und lebendig sein, wie ein junges Zicklein. Es soll jetzt gehen, denn die alte Ziege liebt es sehr.“
Jilis stöhnte auf. Wäre es nicht besser gewesen, unter den Fäusten des Dämons, der sich Baphomet nannte, zerdrückt zu werden? Besser, als hier langsam dem Wahnsinn zu erliegen, den die Legende in ihrem Zimmer wie ein Spinnennetz ausgebreitet hatte...
Von der Schlacht auf dem Hof drang ein Tosen und Krachen herein, als stürme ein Unwetter über das Land.
Plötzlich blitzte eine Idee in ihr auf.
„Die alte Ziege liebt das Mädchen?“, fragte sie.
„Haare aus Seide wie das Mädchen hat sie auch einmal gehabt, und Haut glatt wie Kristall. Das Mädchen soll nicht so böse schauen, dann faltet sich die Haut zusammen und es wird älter, viel älter.“
„So...“, begann Jiis. Die Bresche für den letzten Stoß war geschlagen. „Weiß die alte Ziege, was geschieht, wenn das Feuer kommt? Seidenhaar und Kristallhaut schützen nicht davor. Das Zimmer wird brennen, die alte Ziege wird brennen. Und das junge Mädchen wird brennen – lichterloh.“
„Oh“, machte Zethys und schloss den Mund nicht mehr.
„Es wird ein schöner Haufen aus Seiden- und Kristallasche übrig bleiben, denn das Mädchen kann nicht fort – es hat sich den Arm verletzt.“ Jilis krempelte den Ärmel ihres Hemds hoch und zeigte ihren vergifteten Arm, der noch um Zentimeter dürrer war als der der Schwester. „Kann die alte Ziege ihm nicht helfen, von hier fortzukommen?“
Zethys öffnete ihre Augen. Als sähe sie die List, mit der Jilis sie bezwingen wollte. Sie erhob sich aus ihrem Sessel, die Decke rutschte ihr über die Knie. Sofort legte Jilis ihr einen Arm um die Taille, aber Zethys drückte gegen ihre Hand.
„Nein, nein“, flüsterte sie, „gehen kann die Ziege noch. Wenn das Mädchen es aber nicht mehr kann, wird sie ihm helfen.“
Sie spazierte aus Jilis Griff und zog die Schublade einer Kommode heraus, in der Papyrusrollen sich stapelte. Als Zethys die Hände hineinsteckte, purzelten die Rollen zu allen Seiten aus der Schublade. Nur um eine einzige schloss sie die Finger und zog den Siegelring ab.
„Was tut Ihr?“, fragte Jilis.
„Ihr? Ich?“ Zethys strich die Schriftrolle glatt. „Es ist niemand hier als ein junges Mädchen und eine alte Ziege. Die alte Ziege schreibt nun einen Brief an Akara.“
Jilis wollte widersprechen, da breiteten sich Symbole auf dem Papyrus aus. Reihen aus Gebilden, die mal mit Buchstaben verschmolzene Zahlen waren, mal geometrische Formen, mal verschlungene Schlangennester. Zethys setzte ihren Finger an das erste Symbol und zeichnete seine Form nach. Dort, wo ihr Finger die Oberfläche berührte, leuchteten die Linien des Zeichens. Dann ging Zethys zum nächsten über, und zum nächsten.
„Es wird eine Weile der Zeit des Mädchens stehlen. So viel hat es noch?“
Einige Minuten, nicht länger würde Zethys brauchen, bis sie am Ende des Blatts angekommen war. Was auch immer dann geschehen würde. Ein Brief an Akara jedenfalls war das nicht.
„Die alte Ziege kann soviel Zeit haben, wie sie braucht.“
In diesem Moment erschütterte etwas den Boden unter ihren Füßen, und auf den Wandregalen klapperten Tassen, stürzten auf Schreibtische und zerbrachen zu Scherben. Ein Windstoß stob durch das Fenster in das Zimmer. Wind, der nach Aas und Schwefel roch.
Ein Paar gewaltiger Nüstern erschien draußen und sog bebend die Luft ein.
„Ah“, donnerte die Stimme Baphomets, „Sogar am Geruch erkennt man bei euch Menschenwesen, wenn Ihr bald unter der Erde liegen werdet.“
Für einen Moment war das Fenster wieder frei, dann verstellte ein riesenhaftes Auge die Aussicht nach draußen.
Jilis zog das Messer. Drei oder vier Minuten, länger musste sie den Dämon nicht aufhalten.
„Deinen Geruch brauche ich erst gar nicht zu riechen, um festzustellen, dass du bald nichts anderes mehr sein wirst als ein Haufen Schlamm und Kehricht!“
„Oh? Ein Zustand, den ich dir zu verdanken haben werde, wie du meinst?“
Erneut stimmte Zethys ihren Singsang an, während sie weiter die Symbole auf dem Papyrus nachzeichnete.
„Dass dort all die Träume lagen,
keinen Krieger, es zu wagen,
Trümmer in der Wirklichkeit,
kein’ Frau, kein Manne ist bereit...“
Alles, was der Dämon damals von ihr gelassen hatte, war diese Hülle, die ihren eigenen Namen nicht mehr sprechen wollte und die Dichtsprüche aus der Kindheit wiederkäute.
„vorn der Glanz von Ewigem,
fortgespült von weiß nicht wem,
lass es nicht zu...“
Jilis sprang über die Kante des Schreibtisches auf das Fenster zu und setzte zu einem Messerhieb an.
Nein, ich lasse es nicht zu. Sorgt Euch nicht.
Die Klinge drang bis zum dritten Zacken in die Pupille ein. Ein Ruck durchfuhr das Monster, und ein Schrei röhrte über den Platz. Jilis grub ihre Finger in das obere Augenlid und zog sich hinauf. Der Schädel bog sich nach hinten und schüttelte sich. Die Hand rutschte ihr ab, aber sie bekam ein Ohr zu packen und zerrte ihr Messer weiter durch den Augapfel hindurch, bis hoch in das Weiße hinein. Eine Linie aus Blut zog sich über das halbe Auge, und flüssiges Rot strömte hinaus. Jilis zog das Messer zurück und schlug es in das Fell des Schädels, hielt sich mit den Widerhaken der Klinge im Fleisch fest. Der Körper unter ihr bog und wand sich, schüttelte sie herum wie ein winziges Ungeziefer. Es gab kein oben mehr, kein unten, nur die Richtung, in die Baphomet sich warf und ihr Magen mit ihm. Die Häuser verwischten zu einer einzigen unscharfen Gestalt, und das Feuer zu einem Fluss aus heller Farbe.
„Ich bin die Zecke in deinem Pelz, die du bis zu deinem Ende nicht loswirst!“, rief sie in das Ohr hinein und packte noch härter zu. Die Höllenfahrt endete mit einem Mal, Baphomet verharrte.
Die Pupille des unverletzten Auges zuckte in ihre Richtung, suchte sie. Ein Schatten legte sich über sie. Mit einem Hechtsprung warf sie sich an den Hörnern vorbei und rutschte den Nacken hinab. Seine gewaltige Hand griff an Baphomets Hinterkopf und tastete vergeblich nach ihr. Die zweite Hand raste ihr von den Schultern her entgegen. Jilis setzte einen Fuß auf den Handballen und stieß sich ab. Die Pranke schloss sich dicht unter ihrem Stiefel, während sie auf dem Rücken des Riesen landete. An seiner Flanke waren mehr kahle, verbrannte Stellen als unversehrte. Wo war das Geschenk von Maro? Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn es ihr noch etwas Freude gemacht hätte.
Zwanzig Schritt rannte sie, bis sie das Hinterteil des Dämons erreicht hatte. Zwischen brennenden Markisen ragte etwas auf, das ein Wappenmast hätte sein können. Doch am unteren Ende drang die Speerspitze der Riesenwaffe in den Boden – durch eine Gestalt hindurch, die aus flüssigem Feuer bestand und die Arme gegen die Waffe reckte, die sie an den Boden fesselte.
Der Rücken des Giganten erbebte, seine Hufe donnerten auf den Boden. Jilis streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Das Messer zwischen die Zähne geklemmt, lief sie zu dem Schwanz, der um sich peitschte. Wenn sie den Speer erreichen konnte... Und wenn nicht, würde sie ohnehin in den Tod stürzen. Sie quälte die letzte Kraft aus sich heraus und sprang vom Hinterteil des Bocks ab.
Die Speerstange kam näher, Jilis schlang beide Arme darum. Sie rutschte das Holz hinunter, bis ihre Füße auf der breiten Seite der Spitze Halt fanden. Der Feuermann, den die Waffe festhielt, konnte als Einziger in diesem Dorf dem Dämon trotzen. Sie rammte mit ihrem magischen Arm das Messer in den hölzernen Schaft und zerriss das Material mit der gezackten Klinge. Ein Mal, zwei Mal, und kaum eine Kerbe. Die Holzspäne flogen um sie.
„Was treibst du, kleiner Schädling?“, donnerte Baphomets Stimme, als er sich umwandte und auf sie zu trabte.
Sie stieß das Messer in das Holz, Mal um Mal. Die Fasern brachen, und der Speerschaft neigte sich zu einer Seite. Sie setzte die Hiebe auf der anderen fort.
Baphomet legte eine Hand um den Schaft, die Finger schlossen sich. Jilis führte einen letzten Streich und riss einen ganzen Brocken aus dem Holz. Baphomet zog den Speerschaft nach oben. Die Holzfasern an der Stelle, die Jilis bearbeitet hatte, brachen entzwei. Der Dämon hielt eine hölzerne Stange in die Höhe, und nur der Keil der Spitze steckte noch in der verbrannten Erde. Jilis legte die Arme um das letzte Stück Schaft und sprang. Die Speerspitze senkte sich zur Seite, herausgehebelt von Jilis Gewicht. Sie landete neben der Kreatur aus Flammen, aber nicht ein Hauch des Feuers verbrannte ihr die Haut. Als könnten die Flammen entscheiden, von wessen Fleisch sie sich nährten.
Der Golem warf die Speerspitze beiseite und bäumte sich auf. Baphomet stieß ein Brüllen aus und schwang den hölzernen Rest seiner Waffe wie eine Keule, die Stein und Holz zermalmte. Jilis warf sich in die Deckung eines Zackens des Brunnenbeckens, und der Golem stoppte den Schwung der Waffe mit seinen Händen aus Glut. Sein Gesicht verriet keine Regung, aber Baphomet fletschte seine Zähne und stöhnte. Aus dem rechten Auge rann ein Bach aus Blut in seinen Mundwinkel.
Sie hatte getan, was sie konnte. Jetzt mussten diese beiden Gewalten gegeneinander antreten.
„Du kommst nicht davon“, heulte der Dämon, während er mit dem Diener des Nekromanten rang. „Für mein Auge zahlst du, und nicht nur mit einem von deinen!“
Jilis verlor keine Zeit. Mit einem einzigen Finger konnte der Gigant sie vom Antlitz der Welt fegen.
Sie sprang auf und hielt auf das Haus von Zethys zu. Gebe die Herrin, dass sie ihren Brief vollendet hat...
Das Heulen des Dämons begleitete sie, als sie durch die zerschmetterte Tür eintrat. Ein brennender Balken polterte ihr vor die Füße. Auch ohne Zutun Baphomets würde es sehr bald sein, wie sie gesagt hatte. Die alte Ziege und das Mädchen brennen.
Im Zimmer des Obergeschosses legte Zethys die Finger auf die letzten Symbole des Briefs.
„Nebel, du hängst an den Tannen,
wo die Tropfen Tau zerrannen...“
„Eilt Euch! Baphomet will nicht länger nur Euer Blut.“
Zethys nickte leicht und vollendete das letzte Zeichen. Das Leuchten durchzitterte das gesamte Schriftstück und wurde zu einer blauen Flamme, die den Papyrus verzehrte und sich an Zethys Fingerspitzen niederließ.
„Das Mädchen wird mich jetzt verlassen“, sagte sie.
Ihre Finger zeichneten auf die hölzerne Wand ein Oval, das einen menschlichen Körper fassen konnte. Die Flammenlinien schlossen sich zusammen, und das Holz in der Mitte des Ovals verschwand. An seine Stelle trat eine glatte Oberfläche, wie die eines Spiegels. Dann aber erschien ein Bild auf der Oberfläche. Palisaden hinter einem Fluss, Zelte und ein Planwagen... Jilis stockte der Atem.
„Es kann eintreten. Akara wartet.“
Zethys faltete die Hände zusammen und lehnte sich auf das Fensterbrett. Baphomet musste sich losgerissen haben. Seine Speerstange trug er nicht mehr, aber er steuerte in vollem Galopp auf das Haus zu. Den Kopf hielt er gesenkt, sodass die Hörner geradewegs in das Obergeschoss dringen würden, und sein Auge funkelte sie an.
Das Bild des Lagers waberte. Jilis streckte eine Hand hinein, und sie verschwand mitten zwischen den Zelten.
„Akara wartet nicht nur auf mich“, sagte sie und packte Zethys an der Schulter, riss sie mit sich.
Die Spitze des gewellten Horns drang in die Fensteröffnung, schlitzte die Decke auf und schlug den Schreibtisch in zwei Stücke.
Dann verschluckte eine warme Flüssigkeit Jilis, verschluckte ihren Körper und ihre Gedanken.
 
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XI Ein gerechter Preis

Mit der Hitze der Flammen wich auch die Kontrolle, die Maro über einige von ihnen gewonnen hatte. Die Verbindung zu Oram in seiner neuen Flammengestalt riss ab. Ein Faden, der sich aus seinem Herzen löste. Entweder, weil der Golem in mehr als zwei Teile gespalten worden war, oder, weil die flüchtigen Flammen sich endlich der Beherrschung entzogen hatten.
„Jetzt ist es an Baphomet“, sagte Blutrabe und wandte ihm die Wange mit dem Narbengewebe zu.
Sie marschierten die Ebene nach Osten, umflogen von einem Geschwader der Nadelzahndämonen. Jene, die Maro noch vor Stunden nach dem Leben getrachtet hatten. Ob sie auf den Befehl ihrer Gebieterin nun von ihm abließen – oder ob stattdessen der Befehl nötig gewesen war, um sie erst gegen ihn zu hetzen?
„Sind es seine Diener, diese Schlangenköpfe, die die Stadt in einen Schutthaufen verwandeln?“
„Der Schutthaufen ist weder nötig, noch ist es ihre Anweisung, die Stadt zu vernichten.“
„Und doch werden sie nichts übrig lassen. Was ist mit Jilis?“
Das Narbengewebe verzog sich. Unmöglich, darin ein Lächeln zu sehen.
„Oh, dort sind deine Gedanken. Nun, was soll mit ihr sein? Du hast sie in den brennenden Gassen zurückgelassen.“
Er krallte sich mit den Händen in seinen Gürtel.
„Ich habe mein Heimatland zurückgelassen, meine Lehrmeister, und die, die ich Brüder genannt habe. Viel. Nicht das erste Mal.“
„Du bist ihr Gefährte gewesen...“
Oram hatte Jilis einen weit besseren Schutz geboten als es sein eigener, schmächtiger Körper mit der viel zu großen Wüstenklinge je gekonnt hätte.
„Meine einzigen Gefährten sind die, die ich mir selbst erschaffe und die ich mit meiner Energie nähre. Die Jägerinnen würden über meinem Leichnam nicht mehr Tränen vergießen als über deinem.“
Blutrabe presste ein trockenes Lachen heraus.
„Ihre Trauer würde reichen, mir ein Grab unter freiem Himmel zu geben... bei den Raben.“
„Weshalb soll es dann an mir sein, deine Freundin zu schützen? Wenn wir doch beide Rabenfraß sind. Diese Schachfigur-“
Die Nadelzähne zogen engere Kreise um sie, und Blutrabe knurrte.
„Diese Schachfigur. Du hast sie ihr gegeben?“
„Das war deine Bedingung. Die andere, dass ich ihr Leben bewahre.“
„Und du hast gut daran getan. Danke“, sagte Blutrabe, aber es klang so brüchig und hohl wie die Worte, die Akara für ihn übrig hatte. „Ich sollte dir nicht einmal danken. Du hast es getan, weil es meine Bedingung war, nicht wahr? Was würdest du noch tun, wenn es meine Bedingung wäre? Mir eine Suppe aus den Knochen deines Vaters kochen?“
Ja, würde er das?
Maro spähte in die Ferne, wo sich das Kloster hinter den Waldwipfeln verbarg. Sein Tor zur Hölle, Tor zum Himmel. Wenn die Dämonen nicht eben so hervorragende Intrigen sponnen, wie es die Menschen taten.
„Stell deine Forderungen, dann wirst du es herausfinden.“
„Du bist wirklich ein Teufel.“
„Wenn ich nicht bereit wäre, jeden Preis zu zahlen, weshalb hätte ich dann den Weg hierher machen sollen? Deine Herrin soll verlangen, was sie für nötig hält.“
„Sie wird von den Menschen dieses Landes für eine Schinderin gehalten, doch was bist du dann?“
Genug davon, dass er sich mit Dämonen vergleichen lassen musste.
„Das solltest du sie fragen, diese Menschen. Wenn sie nicht schon auf hundert Schritt erkennen, dass du eine von denen bist, die aus dem Grab gekommen sind, um ihnen den Tod zu bringen.“
Blutrabe hielt inne, und ihr geflügeltes Gefolge bildete einen Kreis um sie und Maro. Gier lag in den Augen der blutroten Kreaturen.
„Hältst du dich für besser, menschlicher? – und du bist doch der Herr der Wesen, die den Gräbern entfliehen.“
„Und du die Herrin dieser Missgeburten.“ Maro ging zu einer der Höllenbestien, so nah, dass ihr Atem an seinen Ohren vorbeistrich. „Meine Diener töten nicht. Sie hören auf mein Wort, meine Gedanken. Würden deine hier widerstehen können, wenn wir auf Menschen stießen?“
Natürlich kannte er die Antwort. Sie kämpften wie Krieger, aber sie jagten wie Tiere.
„Deine Worte klingen, als würdest du dir herbeisehnen, dass ich sie loslasse. Zufall, dass gerade jetzt ein Mensch nur eine Armeslänge entfernt ist.“
Was für eine leere Drohung.
„Sehnt deine Herrin das ebenfalls herbei?“
Denn du bist selbst nur eine Dienerin...
Über diese Wesen hatte Blutrabe nicht mehr Macht als er – nicht einen Funken.
Die Dämonen stützten die Fäuste auf den Boden, wie die Affen in den Dschungeln von Kejistan. Mehr waren sie nicht. Blutdürstende, geflügelte Affen ohne Fell. Und wenn sie jemandem gehorchen mochten, dann Aradeia.
Blutrabe senkte den Kopf und trottete weiter, auch die Geflügelten schlugen wieder mit den Flügeln und kehrten in ihre Formation zurück.
„Dass niemand diese Jäger halten kann, damit wirst du dich abfinden müssen. Hast du nicht gelernt, Blut zu sehen, in deinen Schulen der Zauberei?“
Maro leckte sich über die Lippen.
„Dort habe ich gelernt, einen Stoß Moorschlamm darauf zu geben, für wie menschlich mich die Menschen halten – oder ich mich selbst. Das ist doch deine Frage gewesen: für wie menschlich ich mich halte. Für wie menschlich hältst du dich?“
Einen winzigen Moment lang dauerte es, dann zuckten Blutrabes Augen zusammen. Als würde Glas zerspringen.
Maro überholte sie und ihre Dämonenvasallen.
Nein, ein Mensch war er seit den ersten Trimestern in den Händen der Maester schon nicht mehr. Nicht nach den Maßstäben, die die Menschen der Mark anlegen mochten.
Er sah zurück auf die untote Jägerin, die wie zufällig den Weg ging, den auch er nahm. Sie verachtete das Wesen, das sie nun war. Verachtete vielleicht den letzten Rest ihres Selbst, und klammerte sich an das Leben, das sie verkauft hatte. An Schachfiguren.
Blutrabe ließ ihm seine Position an der Spitze und folgte, während ihre Getreuen weitere Kreise zogen und auch Maro noch umschlossen. Jede Stunde brach ein anderer aus der Formation aus und setzte sich ab. Mochten die Dämonen verstanden haben, was er über sie gesagt hatte, oder auch nicht – sie zogen außer Sichtweite und kehrten erst wieder, wenn ihre Zähne rot von Blut waren, wie der Rest ihres Körpers.
Sie rasteten nur auf Maros Bitte. Wenn er aus seinen Träumen erwachte, stand Blutrabe noch eben so neben seinem Rastplatz wie zur Stunde, da er sich niedergelegt hatte. Schlaf brauchte sie so wenig wie Atem. Die blutroten Dämonen zeigten sich erst am späten Morgen wieder, und es war nicht zu ahnen, welcher Art ihre Rast war.
In der letzten Nacht verzichtete Maro auf eine Pause. Die Fackeln auf den Zinnen des Klosters erhellten die Nacht in der Ferne wie winzige Sterne. Es würden die letzten Schritte sein, die er tun musste.
An seinem Arm zerrte es wie mit Garnfäden. Jilis forderte mehr Kraft... Das Inferno von Karmhang hatte sie also überstanden. Bald würde sie die Horden überstehen müssen, die ihr von seiner Kraft gestärkt entgegentraten. Ohnehin würde er in ihren Augen längst zum Verräter geworden sein – nachdem er sie mit ihrem eigenen Arm aufgehalten hatte. Aber das machte es leichter. So viel leichter, als wenn sie ihm womöglich gefolgt wäre.
Das dumme Mädchen, das diesem Orden aus Wilden nachlief...
„Nekromant“, sagte Blutrabe, während sie ein Signal zu den Fackelträgern auf den Zinnen gab, „die Tore öffnen sich, du wirst nicht mehr umkehren können.“
Als hätte er das je vorgehabt.
Die Dämonen schwärmten aus und senkten sich von oben in die Innenhöfe. Mit Blutrabe zusammen schritt er durch das Tor, das zwei Jägerinnen für sie geöffnet hielten. Auch auf dem Hof, der sich an das Tor anschloss, waren nur jene, die halb lebend und halb tot waren. Sie saßen auf Heuwagen, steinernen Beetumzäunungen, hielten Wacht auf Terrassen und Wehrgängen, die um den Hof herumführten. Und alle starrten ihn an. Also hatte das Kloster kaum den Besitzer gewechselt, sondern nur die Besitzer verändert...
„Sind sie neidisch darauf, dass du den größten Fisch im Netz hast?“, fragte er.
„Dazu hätten sie jedenfalls keinen Grund. Es ist ein widerlicher Fisch, mit einem zu großen Maul, und ungenießbar ist er dazu auch noch.“
In ihren Worten ähnelte sie Jilis, aber nicht im Ton. Bitterkalt klang sie, und, als ob sie sich aus großer Höhe dazu herablassen müsste, mit ihm Worte zu wechseln.
Sie erreichten einen toten Garten, in dem von Bäumen und Büschen nur noch dunkle Gerippe standen. Dazwischen mischten sich Statuen eines Engels mit vier Flügeln – von denen zumeist mindestens zwei der Schwingen zerbrochen in den Beeten lagen. Über den Gesichtern der Engel lag eine Schicht dunkler Ruß. Ähnlich musste das Feuer hier gewütet haben wie in Karmhang.
Am anderen Ende des Gartens, unter einem verwitterten Torbogen, kniete eine Gestalt in roter Robe. Auf den Wehrgängen gingen einige Schatten Patrouille – nur Blutrabe fehlte. Er drehte sich um, aber nirgendwo in den Gärten mehr eine Spur.
„Selten kommen Gäste hierher, die meinen Garten bewundern wollen.“
War sie das? Aradeia, die Königin, die aus der Dunkelheit der Hölle in diese Welt gestiegen war?
Aus der Nähe erkannte er, dass sie keine Robe trug, sondern nur eine Fülle von Schleiern. Rot wie Blut, rot wie Karmesin, rot wie ein Sonnenuntergang. Eine einzige Flamme war sie, und ihr Haar leuchtete, als wäre es eine Garbe rotes Herbstlaub.
Menschen“, sagte Maro, „finden wenig Schönheit an Asche und Zerstörung.“
„Weil sie nicht genug darin suchen.“
Aradeia drückte ihre Fingerspitzen in eines der Beete, und eine pechschwarze Blätterknospe brach aus der Erde hervor, streckte sich zusammen mit dem Stengel aus der Erde. Dann öffnete sich die Blüte. Acht pechschwarze Blütenblätter, die Maro nur zu gut kannte. Eine Pflanze, die sich nicht die Mühe machte, Fressgierige durch bunte Farben abzuschrecken.
„Selbst schwarze Yata wächst nicht in einem Aschefeld.“
„Wie schade, dass du meinen Zaubergarten mit deinem Wissen zerstören musst.“ Aradeia strich über den geöffneten Blütenkelch, und von einem Moment zum anderen zerfiel die Pflanze zu Asche. Die Königin erhob sich. „Willkommen im Kloster, Nekromant. Von dem Land, in dem die schwarze Yata gedeiht, ist es ein langer Weg bis hierher.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn der Weg länger wird, dauert es lediglich länger, bis man ankommt.“
„Dass du dir über Beschwerlichkeit Gedanken machst, hätte ich auch nicht erwartet. Doch lass dir sagen, dass es für die meisten der Menschen leichter erscheint, bis zu ihrem traurigen Ende die immer gleichen Wege auf und ab zu gehen, den gleichen Brei zu essen und sich am ewig gleichen Handwerk zu verbrauchen. Du solltest mir erzählen, weshalb du die halbe Welt durchmessen hast.“
Mit einer sanften Bewegung gebot sie ihm, ihr zu folgen. Sie öffnete die Pforte zu einer Kathedrale, in der nur der schwache Schein einiger Kerzen sich ausbreitete und grob die Umrisse der Bänke und des Altars nachzeichnete.
Dich habe ich gesucht“, sagte Maro.
Aradeia ging voran und breitete die Arme über Felder von unentzündeten Kerzen, die neben dem Hauptschiff zu Dutzenden standen. Ein Teppich aus Lichtern entflammte hinter ihr.
„Einen Dämon hast du gesucht?“, fragte sie. „Dann begehrst du nur einen der üblichen Händel – deine Seele tauschst du ein gegen einen Heuschober voller Gold oder einen Rattenschwanz von Adelstiteln?“
„Nein“, rief Maro, und seine Stimme hallte durch die Kathedrale zu ihm zurück. Vergaß er die Farbe des Haars und der Schleier, wie leicht tauchte da wieder das Bild aus seinen Träumen auf... Evra. Aber wie schnell verblasste es wieder, wenn Aradeia den Mund öffnete. „Für ein so billiges Geschäft hätte ich auch einen der Affendämonen im Dschungel aufsuchen können.“
Erneut machte Aradeia eine einladende Geste und wies hinter den Altar.
„Also treibt dich doch Größeres. Sieh, das dachte ich mir. Tritt ein in das Heiligtum. Von den Sterblichen bist du der Erste, den ich dazu auswähle.“
Hinter dem Altar endete der Boden abrupt, und eine Treppe führte nach unten. Weiße Säulen stützten die Treppe und die unterirdische Decke. Für einen Sekundenbruchteil betrachtete Maro sie mit dem zweiten Gesicht – die schwache Aura des einst Lebendigen haftete daran. Knochen. Aradeia hatte das Heiligtum der Schwestern geschändet und ihr eigenes daraus geschmiedet.
Maro nahm einen der Leuchter vom Altartisch und ging voran.
„Wenn dieser Weg hinab in die Hölle führt, dann ist er der Grund, weshalb ich hier bin.“
Aradeias Lachen hallte dumpf durch den engen Treppengang.
„Einen Blick in den Abgrund zu werfen, dazu also bist du gekommen!“
„Im Gegenteil. In Abgründe habe ich genug geblickt.“
„Du bist noch interessanter, als ich vermutet hatte.“
Das Mauerwerk des Klosterfundament über und neben ihnen wich bald einer glatten, dunklen Fläche. Auf den ersten Blick sah sie aus wie erstarrte Erde, doch der Geruch fehlte.
Obsidianstein?
Die Treppe verbreiterte sich und mündete in einen unterirdischen Saal. Schwarz wie die Nacht. Nur Obsidian konnte es sein. Auf ovalen Tischen glänzten silberne Schalen mit Honigbananen, Pfirsichen und Mangos. Der gesamte Saal hätte aus einem Tempel in Kejistan stammen können.
„Die Hölle hat die gleiche Art, zu bauen, wie die Architekten in meiner Heimat.“
„Wenn du das so empfindest...“
Aradeia ließ sich auf einen seidenbezogenen Diwan neben einem der Obsidiantische nieder. Dabei stand ein Thron am anderen Ende des Saals, gefertigt aus Elfenbein... oder Menschenbein. Dahinter spannte sich das Panorama einer Landschaft, die von innen heraus zu glühen schien. Vulkane, Flüsse aus Feuer, brennendes Gestein. Ein Hauch der Hitze wehte bis in den dunklen Saal. Was hatte sie gemeint – wenn er es so empfand?
„Es ist nur eine Illusion?“, fragte er.
„Beileibe nicht.“ Aradeia griff nach einem Pfirsich und biss hinein, der Saft tropfte ihr von den Fingern. „Jedem, der hier eintritt, erscheint der Saal mit einem anderen Gesicht, und dieses Gesicht ist für ihn Wirklichkeit.“
Das war eine Magie, die jenseits von der lag, die ihm gelehrt worden war.
„Was esst Ihr da?“
Aradeia schlug die Zähne noch einmal in den Pfirsich.
„Möglicherweise willst du es nicht wissen. Wir sind auch nicht hier, um über die Genüsse unserer Vaterländer zu sprechen. Aber da du es noch vorziehst, dich in Geheimnis zu hüllen, werde ich beginnen. Du wärst nicht hier, wenn ich keine Verwendung für deine Kraft hätte.“
„Sagt mir, was ich tun muss. Was Ihr mit meiner Kraft tun werdet, das ist einerlei.“
„Hm.“ Aradeia warf den Pfirsichkern in ein tönernes Schälchen und leckte sich die Finger. „Entweder, du bist eine gerissene Schlange, oder tatsächlich so gedankenlos wie ein Kind. Doch selbst ein Kind ist neugierig.“
„Das bin ich auch, doch nicht auf Eure Pläne. Die sind Eure Angelegenheit.“
„Nun gut. Was ich von dir verlange, würde Vielen ein zu hoher Preis sein, deshalb...“
Er schüttelte statt einer Antwort nur den Kopf.
„Du trägst die Kräfte der Nekromantie mit dir, kannst Leben und Tod beherrschen. Was ich tue – und was ich durch Blutrabe tue –, das kann sich damit leider nicht messen. Wir erkaufen den Toten nur einige Stunden und Tage, in denen sie glauben dürfen, sie wären wieder lebendig... und das machen sie auch alle glauben, die ihrer ansichtig werden. Du brauchst keinen Geist, der die toten Körper füllt und sich an ihn erinnert. Weil deine eigene Lebenskraft auf sie übergeht, mit zehnfacher Stärke. Ist es so?“
Maro verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
„Ihr habt es nicht nötig, mir zu schmeicheln. Wenn Ihr wollt, reicht ein Wink, und ich zerbreche in diesen Hallen hier wie ein trockener Ast unter Euren Füßen.“
„Wenn du zugehört hättest, wüsstest du, dass es eine Narrheit wäre, dich zu zerbrechen. Sterblich bist du, aber auf deine Weise mächtiger als ein Unsterblicher. Die Macht, mit der du Blutrabe und ihre Schar vom Friedhof vertrieben hast, die brauche ich. In den Körpern der Jägerinnen, die mir jetzt dienen. Gib ihnen die Energie, mit denen du deine Kreaturen versiehst. Du gibst ihnen Kraft und Schnelligkeit, ich halte sie im Bann.“
Ein Bann. Deshalb also konnte Blutrabe noch denken und sprechen wie eine Lebende, und kämpfte doch gegen Jilis und die Schwesternschaft.
„Einverstanden. Nur behaltet Eure Pläne für Euch.“
Die Pläne konnte er nicht brauchen. Er musste nicht wissen, wem er half, was zu tun...
„Es wäre nur gerecht, wenn du davon erfährst. Denn du wirst mir erzählen müssen, was dich treibt. Aber dann sei es so. Lass es dir genügen, dass ich einen Sturm aus dem Osten, aus dem Norden und aus dem Süden erwarte, und mit ihrer Stärke allein werden meine Jägerinnen fortgefegt werden. Selbst, wenn meine Leibdiener ihnen beistehen. Diese Festung hier soll sie überdauern, die Nordmänner, die Wüstenreiter, und die Krieger der geschmolzenen Inseln. Mein Bruder verlässt sich darauf.“
Maro griff nach dem Obstkelch. Ein Hitzestoß entlud sich in den Saal hinein und er zog die Hand wieder zurück. Aradeia konnte ihre ganze Familie zu sich holen, wenn es ihr lieb war. Die ganze Welt verzehren, wenn dies das war, nach dem es sie verlangte.
„Euer Bruder ist also fähig, die Grenzen der Welten zu überschreiten. Und Ihr nicht weniger.“
„Sicherlich. Die Menschen fürchten ihn, und welchen Grund hätten sie, wenn er nicht unter ihnen wandeln könnte.“
„Sagt mir, wie.“
„Wie er...“ Aradeia stoppte und lachte. „Oh, wir kommen wieder auf den Kern deines Anliegens. Nun, den Höchsten von uns sind die Weltengrenzen nicht mehr als ein Schleier, den wir beiseite rücken müssen. Den Vorgang einem Sterblichen... selbst dir... zu erklären, wäre am Rande des Möglichen.“
Seine Hände krallten sich um seine Knie und zitterten. So lange hatte er darauf gewartet.
„Wir wandeln stets am Rande des Möglichen. Den Weg, den Ihr beschritten habt, könnte auch ein Sterblicher gehen. Aus dem Reich der Menschen hinein in das der Götter.“
„Das glaubst du?“ Sie lehnte sich zurück und strich über die Lehnen des Diwans. „Ein Gott willst du werden? Es gibt bei euch genügend Geschichten über Heilige und Schufte, die für ihre Taten in den Himmel hinaufgehoben werden oder in die Hölle hinabgezogen. Aber diese Geschichten... Sag mir nicht, dass du sie für wahr hältst.“
„Wenn sie nicht wahr sind, dann bin ich wohl der erste, der über die Menschenwelt hinausgeht.“
Er zeigte auf die zerklüftete Landschaft, in der Rauch sich kräuselte und Feuerlohen aufflackerten.
„Als Gast mag ich dich zu mir geladen haben... Doch ein Dämon oder ein Gott bist du noch lange nicht, und in meiner Macht steht es nicht, dich dazu zu machen.“
„Das will ich auch nicht! Das Spiel der Götter ist nicht meins, und weder interessiert es mich, noch will ich daran teilhaben.“ Wollte sie ihn einlullen, bis er seine Kraft von selbst hergab und vergaß, was er im Gegenzug forderte? Maro erhob sich und stützte sich auf die Balustrade, die den Saal von den Flammenfluten unter ihm trennte. Gedämpft rauschten die Flüsse aus Feuer, und ihre Wärme reichte bis hoch zu Maros Gesicht. „Nur eine Göttin will ich treffen. Deshalb bin ich hier. Du hast den Weg aus deinem Reich auf die Kontinente der Erde geschafft, und ich will einen Weg in das Reich von Evra.“
Wie leicht ihm der Name über die Lippen gegangen war. Nichts ging es Aradeia an, aber er musste ihr zumindest den Namen geben.
Plötzlich stand sie neben ihm, und ihre Schleier flatterten in den warmen Böen wild um sie, wie leibhafte Flammen.
„Ah, meine Schwester. Kein Zufall, sicher, dass du von ihr deine Kräfte erhalten hast.“
Sein Atem stockte. Deshalb die Ähnlichkeit. Doch Evra würde er nicht in dieser vulkanischen Öde finden – niemals hätte sie sich an einem solchen Ort niedergelassen.
„Zufall oder nicht. Öffnet mir ein Tor in ihre Welt. Das ist der Preis für meine Unterstützung.“
Aradeia schritt um ihn herum, die Schleier legten sich wieder, und sie nahm Platz auf dem Thron. Bleiche Menschenschädel starrten ihn an, auf der Lehne saß ein ganzes Skelett wie ein zweiter Herrscher.
„Ein Preis, der zu hoch ist, leider. So wie sie keinen Tunnel in mein Reich öffnen kann, so wenig kann ich einen in ihres schlagen.“
Ein eiskalter Blitz ging ihm durch die Glieder. Seine Reise konnte nicht umsonst gewesen sein. Unmöglich.
Auf ihrem Thron war Aradeia die Königin der Hölle, nicht mehr die Schmeichlerin, der er im Garten begegnet war. Er handelte mit einer Dämonin, oh ja.
„Es muss einen Weg geben. Ich...“ Seine Hände krallten sich ineinander. Wie ein Bittsteller stand er vor dem Thron. „Ich will nur zu Evra. An welchem Ort ich sie treffe, das ist bedeutungslos.“
„Eine Göttin treffen, so? Du musst dir Einiges davon versprechen.“
„Ist es möglich? Sagt.“
„Das kommt darauf an, wie viel Zeit du benötigen wirst.“
Maro schüttelte den Kopf. Benötigen, ein falscheres Wort hätte sie nicht wählen können. Er schwieg.
Aradeia lachte ein Lachen, das die Felsen wanken machte. Es schallte durch den Saal, mochte die Treppen der Unterwelt hinauf und bis in das Kloster hinaufreichen und von dort aus weiter in die Welt, die ganze Welt.
Als sie verstummte, hallte ihre Stimme noch fort.
„Du besitzt die Gabe, in das Geisterreich zu blicken, oder?“
Maro nickte. Seine Wangen glühten, und es war nicht von der Hitze.
„Den Geist vom Körper trennen. Ja.“
„Das ist gut. Denn nur dieser Gabe wegen kann ich dir helfen. Deinen Körper kann ich nicht in eine andere Ebene befördern. Aber deinem Geist ist diese Reise möglich.“
Also doch. Er hatte es gewusst, die ganze Zeit über. Nur, dass Aradeia sich nicht um das Einverständnis ihrer Schwester kümmerte... Seltsam war es. Aber die Bande des Blutes verbanden nicht immer untrennbar. Wer wusste schon, ob diese Schwestern überhaupt durch Blut verbunden waren, oder ob die Götter anderen Gesetzen folgten.
„Auf welche Art auch immer ich dort hingelange...“
„Ich werde dir zeigen, wie es funktioniert. Doch wenn du erst dort bist, wird dich nichts mehr an dein Wort binden, mir zu helfen. Deshalb erfülle zuerst du deinen Teil der Abmachung.“
„Dann soll es so sein.“

Er stand wieder unter dem Sternenhimmel. Für diese letzte Nacht, die er sehen würde, strahlten die Sterne. Ein Netz mit diamantenen Knoten.
Varn und Merek, Orestar... Sie würden noch hunderte von Nächten erleben, und in all ihrer Weisheit würden sie in keiner dieser Nächte auch nur mit einer Faser ihres Seins wirklich verstehen. So, wie er es tat.
Die Jägerinnen füllten den Hof als eine endlose Garde. Es würde sein wie in den Legenden, in denen die Frostdrachen sich mit ihren Klauen die Adern öffneten, um die Ahnen der Nordmänner daraus Blut und Unsterblichkeit trinken zu lassen.
Es war die erste Nacht seit langem, in der der Atem wieder als Dampf aus Mund und Nase stieg. Und in den Mauern des Klosters war er der Einzige, der überhaupt Atem schöpfen musste.
Aus der Legion traten die Jägerinnen vor ihn und reichten ihm ihren Arm. An die Reihe kam eine Verstümmelte, der eine stumpfe Waffe das Gesicht unterhalb der Nase genommen hatte. Erstarrte Fleischfetzen hingen über die in Trümmer geschlagenen Kieferknochen herunter. Ihre Augen blinzelten. Er nahm ihre Hand und knüpfte ihrer beider Auren zusammen. Gab einen Hauch von Energie ab. Gerade soviel, dass die Jägerin spüren würde, dass etwas geschehen war.
„Wie heißt sie?“, rief er. Eine Schwester mit zurückgebundenem Blondhaar verließ die Menge und rief ihm zu: „Marie.“
Nicht, dass er sich die Namen mit wachem Geist merken konnte. Aber er verwob sie in die Verbindung, die er zwischen sich und die Jägerinnen spannte. Namen hielten die astralen Stränge zusammen. Keine einzige würde ihm so in dem gewaltigen Netz, das er flocht, verloren gehen.
„Marie“, wiederholte er.
Dann kam die nächste heran und nahm den Platz der Versehrten ein. „Mach mich unbesiegbar“, sagte sie. Ein schlankes Mädchen mit Haaren bis über die Schultern und einem Gesicht, glatt wie ein geschliffener Edelstein. Ihre Schönheit hatte sie nicht verloren. Dennoch, wie weit war sie entfernt von einer Göttin. Dem Leben entrückt, blieb ihr doch trotzdem nur ein Abbild ihrer sterblichen Hülle.
„Aimee“, sagte sie und streckte ihm ihre Hand hin. Kalte Finger, kalte Haut. Er zog Feuerbänder aus ihrer Aura und schloss sie mit seiner eigenen zusammen.
„Unbesiegbar wirst du nie sein. Wenn du dich entschließt, für etwas zu kämpfen, dann wirst du besiegbar.“
Seltsam, wie er vor Monaten noch die Lehren der Maester angehört hatte. Nun stand er selbst vor solchen, die von ihm zehrten.
Die Schöne verließ ihn ohne eine Regung, und das nächste Mädchen kam heran. Ein Schnitt lief ihr von ihrer Wange bis zum Kinn, aber ein Tuch verdeckte die Wunde von dort ab.
„Iolea“, sagte sie, und er schenkte ihr seine Kraft.
Alle trugen sie in sich nur die Stärke, die ihr Leib vom Leben mit in den Tod genommen hatte. Durchtrennte Sehnen und gebrochene Knochen behinderten sie wie Lebende... Nicht mehr so mit seiner Hilfe, durch die ihre Körper zu einer Einheit wurden. Eine Einheit, die nicht mehr durch die vor dem Verfall bewahrten Funktionen weiterhin Bewegung hervorbrachte – sondern durch reinen Willen.
Die nächsten kamen, und er reinigte ihre Aura und goss sie zu einem Ganzen zusammen.
Nein, Unbesiegbarkeit konnte er ihnen nicht geben, und das würde er nicht. Sie würden so stark sein, dass sie zwei oder gar drei ihrer lebenden Schwestern überwinden konnten – aber nicht Jilis.
Als die Hälfte der Menge unter seinem Zauber stand, pochten seine Glieder. Schwäche. Er setzte sich auf die Treppe und hielt die Jägerinnen kurz mit der Hand zurück. Wenn ihn die Ohnmacht jetzt holte, dann konnte sein Band zu Jilis brechen, und er würde es nicht neu binden können.
Dann kamen sie wieder, und er nahm sie in sich auf und ging in ihnen auf. Ein Acker aus Seelen vor ihm, die miteinander und mit ihm verknüpft waren. Alle trugen sein Zeichen, und er trug ihrer aller Zeichen.
Für die Letzten der Schwestern musste er die Kraft aus sich hinauszwingen, damit sein geschwächter Körper sie hergab. Die Nacht wurde vor seinen Augen schummrig, und die Vielzahl der Namen hallte in seinem Kopf wieder. Blutrabe, sie war nicht dabei gewesen, nicht mit ihrem Namen und nicht mit ihrem Gesicht. Wenn sie um ihre Menschlichkeit fürchtete, hatte sie vielleicht gut daran getan, nicht zu erscheinen. Eine leise Stimme in seinem Innern flüsterte ihm dennoch zu, dass er diesen Namen nicht zum letzten Mal gehört haben würde. Blutrabe.
Die letzten beiden Jägerinnen traten zusammen auf ihn zu. Erst, als sie vor ihm standen, erkannte er, dass es keine waren. Hörner zierten ihre Stirn, und auf den Rücken lagen lederne Schwingen zusammengefaltet. Panzer mit bronzenen Gliedern schützten sie bis zu den Handgelenken. Hinter ihnen erschien Aradeia mit ihrem Flammenhaar.
Die beiden Dämonenmädchen griffen ihm unter die Arme und führten ihn.
Für einen Moment fürchtete er. Wusste Aradeia, dass sein Zauber nur Bestand haben würde, solange er lebte?
Sie lächelte und winkte ihn und seine Begleiterinnen in Richtung der Kathedrale.
„Du hast deinen Teil getan, Nekromant. Jetzt sollst du bekommen, was du begehrst.“
Ein Schauer der Erleichterung durchzitterte ihn.
Endlich. Und nicht mehr hatte es gekostet, als seine Lebenskraft abzugeben wie einen Silberschmuck beim Pfandhaus. Ein gerechter Preis.
Seine Schritte waren wie durch Watte hindurch. Bald würde er keine Schritte mehr tun müssen. Nie wieder.

Als sie in den Obsidiansaal zurückkehrten, gingen hinter dem Diwan Seitengänge ab. Die Dämonenmädchen führten ihn stumm. Ihre Körper kannten weder Atem, noch Hitze oder Kälte. Die Hände der Jägerinnen waren kalt gewesen wie Stein, doch die Haut der Mädchen, die ihn jetzt hielten, fühlte sich auf sonderbare Weise an, als wäre es seine eigene. Vielleicht, weil er auf dem Weg war, so zu werden wie sie.
An den Gang schloss sich eine schmale Kammer an. Glänzende Seidenkissen bedeckten den Boden, nur das Bein und die Platte eines Tischs aus schwarzem Stein ragte heraus. Der Geruch von Kräutern durchzog die Luft. Als wäre dies hier nicht eine winzige Zelle, sondern ein Platz auf einer der Sumpfwiesen von Kejistan.
Die Dämoninnen trugen ihn in eine Ecke des Raumes und betteten ihn auf die Kissen. Er ließ die Blicke über sie schweifen. Schön waren sie. Puppen aus Porzellan und Elfenbein, die Leben besaßen. Evras Töchter – oder eher die von Aradeia.
Er sank in das samtene Meer und lehnte den Kopf in die Kissen.
Aus dem Gang trat nun auch Aradeia, in ihrer Hand einen Krug in der Farbe von Honig. Durchsichtiges Gold, in dessen Innerem eine graue Flüssigkeit wogte.
„Das ist dein Schlüssel“, sagte sie und stellte den Krug auf dem Tisch neben Maro ab. „Es ist ein Sud, den nicht einmal deine Meister hätten brauen können. Wenn du von ihm trinkst, wird dein Geist mächtig werden. So sehr, dass er deinen Körper nicht mehr braucht. Wände und Abgründe werden dich nicht mehr aufhalten, und auch nicht die Grenzen der Welt. Wenn du-“
„Was ist“, unterbrach Maro sie, „wenn mein Körper stirbt?“
„Nein“, sagte Aradeia, und ihre Töchter nahmen neben Maro in den Kissen Platz. „Sterben wird er nicht, denn dafür werden Lia und Mireh sorgen. Sie werden deinem Körper geben, was er an Nahrung braucht, und sie werden ihn mit ihrem eigenen Leben verteidigen.“
Die Schwäche machte ihm die Zunge schwer, nur seine Gedanken bewegten sich noch glasklar.
„Wenn doch? Wenn ich doch sterbe? Wenn der Sturm kommt, von dem Ihr geredet habt, und er diese Unterwelt und Euch und mich mit sich nimmt?“
Eine der Dämoninnen – äußerlich glichen sie sich bis auf das Haar - streckte die Hand aus, und die Luft begann zu zittern. Sie formte sich zu einer durchsichtigen Kontur, dann kroch dunkle Farbe hinein. Ein metallener Schaft, den an der Spitze eine Klinge mit grausamen Zacken und Widerhaken krönte.
„Wir geben Acht“, sagte sie und lächelte unergründlich.
„Wenn dein Körper verloren geht... Dann kannst du nicht mehr zurück“, sagte Aradeia.
Maro nickte. Dann war diese Hülle tatsächlich nur noch interessant für die Dämonenkönigin. Er selbst würde sie nicht mehr brauchen, nie wieder. Aber das musste sie nicht wissen.
Er griff nach dem Krug auf dem Tisch. Feiner Dampf erhob sich aus dem Innern.
„Alles?“, fragte er.
„Trink es langsam. Der Schlaf wird über dich kommen, wenn du den Krug ganz geleert hast. Meine Töchter werden dir mehr davon einflößen, wenn du erst schläfst. Der Trunk erhält deinen Körper, und deinem Geist erhält er seine Freiheit."
Maro nahm den ersten Schluck. Die Flüssigkeit brannte an seinen Lippen. Auf seiner Zunge breitete sich ein Geschmack aus, der dem Geruch des Raums glich. Kräuter, Gewürze. Einige davon jenseits dieser Welt. Er blickte in die Fackellichter, die sich auf dem glatten, schwarzen Stein spiegelten.
„Habt Dank“, sagte Maro.
„Ein Handel zu unserer beider Nutzen, Nekromant.“
„Wir sehen uns in einem nächsten Leben wieder.“
„Weder du noch ich werden ein nächstes Leben haben. Dieses wird dauern.“
In der Tat. Niemals werden wir uns wiedersehen, wenn ich Glück habe.
Er nahm noch einen Schluck, diesmal einen größeren. Die Wärme des Getränks rauschte durch sein Innerstes. Er hatte die beste Versicherung, dass Aradeia ihm kein Gift einflößte – ihr lag an seinem Überleben.
Wolken legten sich vor seinen Geist, und der Raum verschleierte sich. Aradeia wandte sich um, und ihre Haare loderten im Fackelschein wie Feuer.
„Dann verlasse ich euch jetzt.“
Die beiden Mädchen lehnten neben ihm an der Wand, und auch in der Hand der Zweiten formte sich aus leerer Luft eine Waffe. Eine Klinge, dünn wie ein Faden, mit einem Parierkorb aus Gold.
Maro nahm den letzten Schluck. Wärme floss in ihn, und Wärme floss aus seinem Innersten nach außen, als würde sein Körper dem Getränk eine Antwort geben.
Hinter einem Schleier aus Diamantenglanz ließ er die beiden Dämonenmädchen zurück. Allein.
Bald würde er sie finden. Die, deren Namen er hundert Nächte lang sprechen konnte, und der ihm doch nie schal wurde.
Seine Welt verschwand, und gab eine neue frei. Was noch übrig war von dem Maro, der sich in Kleider hüllte und in den Händen einen Wüstensäbel trug, das floss fort über die Bahnen, die er gespannt hatte. Floss in Dutzendschaften von Seelenfeuern - und in das eine, mit dem er sich zuerst verbunden hatte.
 
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XII Das größte Geschenk

„Betrogen.“
Die Haare hingen der alten Frau über Augen und Nase herab, wie sie dort auf dem Krankenlager saß.
„Es hat sie betrogen.“
Jilis atmete den Geruch der Tinkturen in Akaras Schränkchen ein und musste husten. Für die Rötungen ihrer Haut hätte sie nicht in das Lazarettzelt geschafft werden müssen. Die Stellen juckten, aber das Gejammer von Zethys...
„Es hat sie nicht betrogen. Sie wird noch bald genug sehen, was ihr erspart geblieben ist.“
„Aber sie hat gewartet...“
Jilis stöhnte. Auch wegen der Übelkeit, die ihr den Magen schüttelte, hätte sie nicht in das Zelt gemusst. Die Übelkeit war auch das Einzige, das ihr als Erinnerung an die höllische Fahrt geblieben war. Ein Zucken in den Gliedern, dann war die Welt an ihr vorübergerast. Einer ihrer Pfeile musste sich so fühlen, wenn sie ihn von der Sehne ließ. Uralte Zauberei.
„Aber die Schwesternschaft wartet nicht, weiß sie das, die alte Ziege? Da gibt es noch mehr Häuser und noch mehr Mädchen in diesem Land, und die Flammen haben erst Appetit bekommen.“
Zethys summte. Eines ihrer Lieder, das sie vergessen ließ, was geschah, in der Welt um sie herum.
Seufzend senkte Jilis den Kopf. Eine wirre Frau hatte sie ins Lager gebracht. Nicht die großartige Kämpferin, von der die Legenden sprachen. Zethys, Dämonenjägerin... Sie hockte auf ihrer Pritsche und zitterte wie ein Kind.
Doch es war nicht ihre Schuld. Es war nicht ihre Schuld, dass sie eine alte Frau vorgefunden hatte. Und die Schuld der alten Frau war es auch nicht. Verfluchte Zeiten, in denen niemand die Schuld trug.
Die Zeltplane schwang auf, und die dunkle Robe Akaras wehte herein. In der Hand trug sie ein Fläschchen, das sie Jilis reichte.
„Kannst du die Salbe selbst auftragen?“
„Natürlich, ich bin noch in einem Stück.“
Jilis nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es neben sich auf die Pritsche.
„Das sehe ich wohl, aber mit deinem Arm, da dachte ich...“
Akaras Blick durchdrang sie. Der Arm, natürlich. Wollte sie nur helfen, oder ahnte sie etwas?
„Es wird schon gehen. Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich. Geht lieber zu Zethys. Ihr... es tut mir Leid.“
„Was soll dir Leid tun?“
Akara legte Zethys einen Arm um die Schultern, und das Gesicht der Legende tauchte hinter dem Vorhang aus Haaren auf.
Ein Kloß steckte ihr in der Kehle und hielt die Worte auf, die sie sagen wollte. Sie schraubte das Gläschen auf und tauchte die Fingerspitzen in die Salbe.
„Akara, es ist... ich sollte eine... Legende zu Euch bringen.“
Hoffentlich verstand die Legende nicht, was sie hier sagte... sagen wollte.
„Keine leichte Aufgabe für eine Kriegerin mit nur einem Arm, ja. Aber jetzt schau, du hast uns Zethys zurückgebracht, und du trägst deinen Bogen stolz wie eine Jungfer nach der Initiation.“
Der Bogen, ja. Sie hätte ihn benutzen können, aber schließlich hing er doch vergebens auf ihrem Rücken – und vergebens saß diese alte Frau jetzt in einem anderen Haus als vorher, klagte aber noch auf die gleiche Weise. Die Augen der alten Frau stierten zu Jilis herüber. „Wie der Fuchs die Hühner holt. Sie hat mich bestohlen. Akara.“
Jilis runzelte die Stirn. Wollte sie Akara sagen, dass Jilis sie bestohlen hatte, oder... dass Akara sie bestohlen hatte?
Aber vielleicht wollte sie auch gar nichts sagen. Nur Worte hervorbringen, um die Gedanken zu unterdrücken.
Die Oberin tätschelte ihr den Rücken, und so nebeneinander glichen sie sich sehr. Die Runzeln, die das eingebrannte Auge auf ihrer Stirn verzerrten.
„Akara“, sagte Jilis, „ich habe es nicht geschafft, das seht Ihr. Sie wird uns nicht helfen können.“
Nicht mehr als die tapferen Narren, die am Dorfrand unrühmlich zu Grunde gegangen waren.
Jilis tupfte sich die weiße Paste auf Beine und Gesicht und verrieb sie.
„Du hast die Aufgabe erfüllt, für die du dich gemeldet hast“, beharrte Akara. Ihre Stimme senkte sich. „Zethys ist die Legende. Für jeden im Lager, der sie erblicken wird.“
Die Salbe kühlte ihre Verbrennungen wie ein sanfter Lufthauch. Aber was waren Verbrennungen gegen dieses Versagen? Dass Akara das nicht begriff.
„Niemandem wird das helfen.“
„Du bist jung, Jilis, und so gut du dich auf das Spiel mit Bogen und Klinge verstehst, so wenig verstehst du von den Menschen.“
„Ich verstehe genug, um zu sehen, was...“ Sie biss sich auf die Lippen. Sie konnten nicht von Zethys sprechen, als ob sie ein Objekt war – ein Tisch, ein Schrank, eine Pritsche, die zufällig im selben Raum stand.
Akara hockte sich vor Jilis hin. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. „Ruh dich aus, Jilis. Du hast mehr getan, als jeder hätte erwarten können. Nur noch am Abend dein Bericht in der großen Runde der Jägerinnen, und dann, wirst du deine Ehre bekommen. Die ewige Ehre.“
Jilis hob die Hand vor den Mund. Die Ehre? Die höchste, für die allein sie all die Pfeile geschossen hatte und all die Zucht und Übung immer ertragen?
„Das habt Ihr vor?“, fragte sie. Ihre Gedanken kreisten wie ein Mahlstrom.
„Wenn es eine von den Jägerinnen verdient hat, das Zeichen des Auges auf ewig zu tragen, dann bist es du. Im Feindesland mit nur einem Arm: Niemand, der mir einfällt, hätte sich auf diese Prüfung überhaupt eingelassen.“
Langsam fand sie ihren Atem wieder. Nur Akara selbst, und jetzt auch Zethys, trugen im Lager das ewige Zeichen des Auges. Nicht einmal Kaschya. Und nun würde Jilis es auch tragen. Noch immer schwindelte ihr.
Sie lachte trocken.
„Ja“, murmelte sie.
Akara strich ihr von der Salbe auf ihren Arm, den sie nicht selbst einreiben konnte. Nicht hier, vor Ihr.
„Einen höheren Dienst als du wird uns in dieser Schlacht niemand mehr erweisen können.“
Jilis schloss die Augen und konzentrierte sich. Das war jenseits von allem, was sie hätte erwarten dürfen. Aber das war es nicht, das sie störte... Es pochte in ihrem Kopf. Nein, sie hätte sich freuen sollen. Zu Vega laufen und ihr davon erzählen. Aber etwas fesselte sie.
Sie nickte wieder zustimmend. Etwas fehlte. So, wie ihr der Arm gefehlt hatte.
„Heute Abend schon?“
„Bevor über den nächsten Plänen in Vergessenheit gerät, was du getan hast.“
War es dann überhaupt richtig, dass sie dafür das Brandzeichen erhielt? Wenn das Zeichen als Gedankenstütze dienen musste; wenn ohne es sie und ihre Taten wieder vergessen würden?
Verflucht, wie sehr sie sich mit Falke zusammen danach gesehnt hatte, das Auge tragen zu dürfen...
Sie erhob sich, stand auf Beinen wie aus weichem Wachs.
„Danke... Lasst mich bis dahin nach draußen. Eine Jägerin zu lange von den Wäldern fernzuhalten, ist nicht gut.“
Ein kleines Lächeln zwang sie sich auf die Lippen.
„Bevor du gehst: Den Nekromanten hast du nicht wieder mit dir gebracht. Haben sich die Dämonen seine Seele genommen?“
„Nein, er...“ Wo blieben ihr nur an diesem Tag die Worte? „Er ist in den Flammen verschwunden. Doch er lebt noch, das weiß ich.“
Nicht zuletzt, weil es ihr Arm noch genau so tat.
Akara schloss das Salbentöpfchen und kehrte an die Seite von Zethys zurück.
„Wenn du dir darin sicher bist... dann hat er sich wohl von uns abgekehrt. Schon seit seiner Ankunft habe ich das befürchtet. Sag mir nicht, dass du etwas anderes erwartet hast von einer Schlange aus dem Osten. Doch durch dich wissen wir zumindest von seinem Verrat, und wir kennen seine Zauberkünste, wenn er sie dann gegen uns nutzt.“
Jilis wollte einsetzen, schon beim ersten Satz. Aber die Worte blieben ihr ungesprochen in der Kehle stecken. Maro... was war er?
Mit einem Ruck stand sie auf und steuerte auf den Zelteingang zu.
„Wir sehen uns bei der Versammlung“, sagte sie und drehte sich nicht noch einmal um.
Draußen schlug ihr ein kühler Nachmittagswind entgegen und strich über ihre Haut. Die Jägerinnen im Lager spannten neue Sehnen in die Bögen, drechselten Pfeile und richteten die Strohpuppen zur Übung auf. Immer taten sie das. Auch am Tag, an dem sie erst zu Blutrabes Friedhof aufgebrochen war, hatten die Jägerinnen sich schon für eine Schlacht gerüstet. Obwohl sie nicht wussten, wann sie kommen würde. Vielleicht wussten sie es auch jetzt nicht. Das Leben im Lager lief getrieben von der Hoffnung, in die alten Mauern zurückkehren zu können. Wie immer.
Aber längst war nichts mehr wie immer.
Das Brandzeichen des verborgenen Auges dafür erhalten, eine Greisin für einen Schlachtplan herbeigeholt und einen Verräter bespitzelt zu haben... für dessen Verrat es keinen Beweis gab.
Ihre Eingeweide krümmten sich jetzt noch, wenn sie an den Stoß zurückdachte, den er ihr versetzt hatte. Mit ihrem eigenen Arm. Aber das konnte sie sich genau so wenig erklären wie alles andere.
Verdammte Zeiten.
Sie ging hinüber zu ihrem Zelt. Vega würde da sein, wie sie immer da war.
Sie lächelte, und diesmal fiel es nicht schwer.

Die Bäume flüsterten einander mit ihren Blättern zu. Zwischen den Stämmen schimmerte das Weiß der Mauern in der Ferne hindurch. Ihre Heimstatt war so nah – und so fern.
Vega lag ausgestreckt auf einem flachen Stein neben einem Quell, die letzten Sonnenstrahlen tanzten auf ihrem Körper.
„Falke und du, ihr habt immer nur davon gesprochen, irgendwann das Auge zu tragen. Du hast doch gewonnen, Jilis. Schau etwas fröhlicher.“
„Gewonnen? Fühlt sich nicht so an.“ Jilis schüttelte ihr nasses Haar, und die Tropfen spritzten bis zu den Büschen, in denen ihre Kleider hingen. Sie wrang sich das Wasser aus den Spitzen und zeigte in Richtung des Klosters. „Sie sitzt dort hinter diesen Mauern. Sie hat schon lange beschlossen, nicht mehr dem Titel der Hohen Jägerin nachzujagen.“
Vega drehte sich mit vor der Sonne zusammengekniffenen Augen zu ihr um.
„Akara hat früher einmal gesagt, dass es keinen Sieg gibt. Solange der Sieger ihn nicht akzeptiert.“
Jilis tippte mit den Fingern auf den Stein. Das Quellwasser hatte ihren Körper erfrischt, aber um ihren Geist krochen noch die selben dunklen Wolken wie zuvor.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft an Akaras Worte.“
„Eigentlich nicht. Aber du hast es immer getan.“
Jilis setzte sich auf. Nur der vergiftete Arm hing an ihr herab.
„Also gut... Dann kann ich das wohl nicht akzeptieren, nein. Ich habe nicht gesiegt. Das ist kein verdammtes Spiel mehr. Den Sieg erkenne ich daran, dass vor mir ein Körper liegt, der in den Himmel starrt und dem die Glieder steif geworden sind.“
„Ach. Liegen da nicht bald genug Körper herum?“
Mit einem Tuch rieb Vega sich die Haare trocken und schlüpfte wieder in ihre Kleider.
Wahrscheinlich lagen genug Körper herum, ja.
„Wer sagt mir, dass es genug sind?“
An ihren Armen stellte sich eine Gänsehaut auf. Ein viel zu kühler Tag, um an der Quelle zu liegen. Aber nur hierhin hatte sie flüchten können.
Ein Schatten fiel über sie, dann erschien Vegas Gesicht über ihrem, mit einem strengeren Ausdruck als je zuvor.
„Ich, wenn es sein muss“, sagte sie nur, während sie sich einen Pferdeschwanz band.
„So einfach ist das?“
Jilis rückte ein Stück auf dem Stein nach vorn und ließ die Füße in das plätschernde Wasser baumeln. Eiskalt umspülte es ihre Zehen.
„Ja, das ist es. Wenn du es willst. Und das solltest du.“
„Die anderen jagen weiter. Sie haben ihre Legende zurück, und Akara meint, dass ich diese alte, zitternde Frau unterschätze.“
„Dann lass sie jagen. Wenn du dein Auge endlich auf der Stirn hast, dann bist du ihnen so weit voraus, wie du es nur sein kannst! Sie können dich nicht mehr überbieten.“
„Überbieten...“, murmelte sie. Kein Spiel mehr, das hatte sie doch eben gesagt... Aber all die zerstörten Körper waren nur Teil dieses Spiels gewesen. Ohne das Spiel, was für eine Bedeutung hatten sie?
„Es ist eben doch wie bei einem Brettspiel. Du bist am Ziel, und die anderen werfen noch fleißig ihre Würfel und rücken dir nach. Du sitzt daneben und wartest, dass sie auch fertig werden.“ Vega faltete die Finger von Jilis vergifteter Hand auseinander und legte eine Brombeere hinein, dann noch eine. Ihre Stimme wurde leiser. „Jilis... Es ist nicht so, dass du das Spiel noch weiterspielen könntest. Selbst, wenn du wolltest.“
Jilis starrte in das Wasser, auf der Suche nach einem Spiegelbild. Aber die Strömung zerriss jedes Bild. Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Es ist eine Sache des Willens?“
Sie schloss ihre Hand um die Beere und hob eine Faust in die Höhe. Der Saft troff wie schwarzes Blut zwischen ihren Fingern hervor und auf den Stein hinunter.
Vega rückte von ihr ab, Sorgenfurchen in der Stirn.
„Aber das geht nicht“, sagte sie leise.
„Nein, natürlich nicht. Kein Gramm Muskeln sitzt darin mehr. Aber wenn es eine Sache des Willens ist – dann ist das hier offenbar der Wille, das Spiel noch weiter zu spielen.“
„Was für eine Magie hast du dafür gebraucht?“
Der Kummer schnitt sich ihr ins Gesicht. Weswegen grämst du dich... Weil ich den Arm nicht verloren habe und noch weiter kämpfen kann?
„Ich bin keine Hexe. Akara ist noch immer allein mit ihrer Zauberkunst in unserem Lager.“ Aber es stimmte. Willen. Sie hätte den Nekromanten zu seinen Teufeln jagen können, statt seine Gabe anzunehmen. „Erinnerst du dich an Maro?“
Sie beugte sich nach vorn und wusch den Beerensaft im Wasser von ihrer Hand.
„Natürlich“, sagte Vega, und ihre Stimme fiel zu einem Flüstern zusammen, „er ist jetzt im Heer der dunklen Königin, geht das Gerücht im Lager.“
„Hätte er mir dann das hier gegeben?“ Sie hätte die Frage selbst nicht beantworten können. Hätte er?
„Das ist mir egal. Was wirst du damit jetzt tun? Du wirst deine Ehrung haben. Es ist sinnlos, Jilis! Du musst nicht mehr kämpfen.“
„Für die Jägerinnen“, sagte sie vorsichtig. „Für die kann ich kämpfen. Sie brauchen jeden Arm, der einen Bogen spannen kann.“
„Auch deinen, der von einem Nekromanten ver... verzaubert wurde?“
„Gerade den. Er ist so stark wie zwei Arme.“
„Und das wird alles sein, was sie dazu sagen werden? Er ist so stark wie zwei?
Jilis sprang von dem Stein hinunter. „Drei Höllen! Das werden wir sehen und hören, was sie dazu sagen werden!“
Sie zerrte ihre Kleider aus den Büschen und knöpfte sich ihr Hemd zu. Der Stoff klebte ihr an der Haut, und für eine Sekunde stand sie wieder in den Feuern, wo der Schweiß ihr die Kleider durchdrungen hatte.
Du wirst es sehen, Jilis. Weil ich nicht dabei sein werde, bei deinem Fest. Lass dich ehren und mit Blüten überschütten, und dann zeig ihnen deinen Arm und sag ihnen, wer ihn wieder lebendig gemacht hat!“
Den Kopf gesenkt, drückte Vega die zitternden Fäuste aneinander.
„Dann geh, im Namen der Teufel. Du bist nicht meine Mutter und nicht meine Schwester.“
„Fein“, sagte Vega, und ihre schmale Gestalt huschte hinter die Bäume. Ihre Schritte raschelten auf dem Laub und ein Mal noch glitzerten ihre Haare in der Sonne, die durch die Baumstämme drang. Dann verschluckten die Schatten sie.
Jilis schnürte sich ihre Stiefel und starrte zu dem durchbrochenen Halbrund der Sonne hin.
Natürlich würde sie es nicht tun, vor den versammelten Jägerinnen die Kraft zeigen, die sie erhalten hatte... Wieso sprudelten ihr zur falschen Zeit die falschen Worte aus dem Mund? Wie einfach war es damals gewesen, als die Dämonen nur in Sagen und Erzählungen gelebt hatten. Hätte es nicht einfacher werden müssen, dadurch, dass die Höllenkreaturen in die Wirklichkeit krochen? Hundert Bögen, die sich auf die Bestien richteten, wie von einer einzigen Kriegerin getragen... Aber es war nicht nur eine einzige Kriegerin, und es war nicht nur eine einzige Bestie.
Es waren nicht die Dämonen, die ihr Vega raubten. Etwas anderes. Als strömte ein Atem durch das Land, der Hirn und Herz verwirrte.
Der Einzige, der ohne Zaudern seinen Weg gegangen war, das war der verfluchte Nekromant. Und gerade ihn nannten alle nun einen Verräter.
Wenn die Sonne sich hinter den Horizont senkte, würde die Versammlung beginnen. Jilis band sich den Gürtel um und suchte ihren Weg zurück durch den dämmrigen Wald. Die feuchte Luft saugte sie in sich auf, auch das Rascheln der Blätter, und den Geruch von Moos.
Es war die letzte Ruhe, die sie für lange Zeit finden würde.

Als wollte sie den Dämonen spotten, wand sich die Flamme des Lagerfeuers von einem Hügel aus in den Nachthimmel. Ein Kreis aus unbehauenen, steinernen Stelen säumte den Versammlungsplatz. Immer wieder durchbrachen Mädchen den Rand des Steinkreises und trugen Scheite vom Waldrand her heran. Das Feuer würde lange brennen müssen, heute Nacht.
Jilis kam zusammen mit den letzten Nachzüglern den Hügel hinauf. Die ersten Reihen um das Feuer waren schon besetzt. Ein Halbkreis, der sich um das Feuer zog. Die Stimmen der Vielen füllten die Abendluft wie das Zirpen von Grillen.
Jilis hatte keine Decke mit sich gebracht, auf die sie sich im feuchten Gras setzen konnte, wie es Viele der Sitzenden getan hatten. Sie umrundete den Platz. Um einen Platz in der Nähe des Feuers zu finden. Aber ihre Blicke gingen auf die Suche nach einem blonden Haarschopf, der irgendwo zwischen den anderen sein konnte, allein.
Sie machte einen freien Platz an den Stelen aus, an denen schon einige Jägerinnen lehnten. Fernab von dem Feuer, vor das sich zwei Schatten mit wehenden Gewändern schoben. Akara, Zethys. Nur noch Kaschya fehlte.
Langsam dämmerte es Jilis, dass sie ebenso am Feuer dort stehen würde, die Augen aller ihrer Schwestern auf sich gerichtet. Was würde sie sagen? Was würde sie sagen müssen?
Längst hatten die Schwestern doch von ihr erfahren – von der Einarmigen, die durch Gräber und Flammen gegangen war, um eine Legende zu bewahren. Und um jetzt selbst zu einer zu werden. Sie wartete auf etwas. Ein wohliges Kribbeln, das sie durchlaufen sollte. Ein Signal ihres Körpers, das ihr sagte, dass sie am Ziel war. Am Ziel, so hatte Vega es gesagt. Vielleicht würde das Kribbeln kommen, wenn sie das Auge erst trug. Wenn die Blicke kamen, voll Neid, voll Anerkennung...
Sie lehnte sich gegen die Stele, die Gedanken noch in der Ferne.
„Jilis?“, fragte die Schwester, die neben ihr an der Stele lehnte.
Sie brummte eine Zustimmung. „Was ist?“
Kaschyas Kettenhemd schimmerte auf ihrer Brust wie immer. Das Zeichen dafür, dass sie den Kampf stets erwartete, und ihn auch willkommen heißen konnte.
Jilis richtete sich auf und nahm Haltung an. „Hauptmann, Ihr verzeiht...“
„Sofort auf den Boden, Anfänger. Es werden nur zwanzig Liegestütze. Oder sagen wir, dreißig, weil ich in der Dunkelheit nicht sehen kann, ob du wirklich mit der Nasenspitze den Erdboden berührst.“ Mit geöffnetem Mund stand Jilis da. Dann lachte Kaschya laut auf, dass sich einige Jüngere in den Reihen vor ihr umdrehten. „Lass die Anrede, Jilis. Wir brauchen keine Höflichkeitsformen mehr. Mich reden die Schwestern mit einem schönen Titel an. Du dagegen bekommst heute ein Zeichen, dem sie auch Tribut zollen werden, wenn sie keine Worte mit dir wechseln.“
„Ich... ich verstehe.“
„Gut. Dann mach jetzt aus Ihr, Hauptmann ein Du, Kaschya.“
Jilis räusperte sich und entspannte sich wieder. Wieso musste alles so plötzlich geschehen?
„Verzeih, ähm... Kaschya. Lass uns nachher reden.“
„Ja, du wirst wohl noch genug erzählen müssen an diesem Abend. Ich werde mir kein Wort von deiner Geschichte entgehen lassen.“
Soweit es ging, wich Jilis dem Blick Kaschyas aus. Mit sich selbst hatte sie doch schon genug... Weshalb dieses Tohuwabohu um ein Lagerfeuer in der Herbstkälte?
Von der Sonne blieb nur noch ein Saum über den Bergeskronen, und das Gemurmel unter den Schwestern sank in sich zusammen. Vor den Flammen zeichnete sich Akaras Gestalt ab, und sie hob ihre Arme.
„Kaschya?“, fragte Jilis. „Du bist nicht dort vorn bei Akara?“
Die Glieder des Kettenhemdes klirrten, als Kaschya die Schultern senkte.
„Ah, ich weiß nicht... Es gibt eine Zeit für Hauptmänner, und dann kommt irgendwann wieder eine Zeit für Legenden.“ In diesem Moment schob sich auch Zethys vor das Feuer. Es gab nur eine im Lager, die so gebeugt ging, und der man bei jedem Schritt anmerkte, dass sie hoffte, es sei ihr letzter. „Rate, welche Zeit es jetzt ist. Wir kämpfen gegen Feinde mit Flügeln und Wunderkräften, gegen die Formation und Schlachtreihe keine Strategie, sondern Mittel zu ihrer Unterhaltung sind.“
„Wovon sprichst du?“
Sie wusste es, wusste es nur zu gut. Aber vielleicht nützte es etwas, es aus einem anderen Mund zu hören, da doch ihr eigener schon nicht die Worte fand.
Kaschya straffte sich wieder und schloss kurz die Augen.
„Ich weiß nicht. Sagte ich doch schon.“
Wieder schwiegen sie, und mit ihnen die Reihen vor ihnen. Akara und Zethys schmolzen vor den Flammen zusammen zu einem einzigen Umriss.
„Es ist diese eine der letzten Nächte, in der wir so zusammenkommen können, Schwestern“, sagte Akara. Ihre Stimme hallte, als stünde sie zwischen den Wänden einer gewaltigen Halle. Und es begann.
Mehr als eine Rede war es die Geschichte, die damals in der letzten Nacht des Klosters ihren Anfang genommen hatte. Akara malte die Erzählung mit Bildern, die den jungen Frauen Tränen über die Wangen schickte. Sie malte so farbenfroh, dass die Nacht verschwand... um die Schrecken erneut zu beschwören, die sie durchlitten hatten. Auch in Jilis' Geist flammten die Bilder auf, aber sie schüttelte sie unwillig fort. Wenn es Akaras Zauberkräfte waren, die die Bilder woben, dann verschloss sie ihren Geist wohl unbewusst davor. Wenn es nur einfacher Pathos war - in dieser Nacht war sie für diesen ohnehin unangreifbar.
Kaschya, die in der Kathedrale damals eine flammende Rede gehalten hatte, stand neben ihr. Mit verschränkten Armen und einem leeren Blick, als stünde sie nur dort, um nicht durch ihre Abwesenheit aufzufallen.
Der Nachthimmel mit seinen Sternen spannte sich schon über der Versammlung, als Akara zum Ende kam. Das Leid der Schwesternschaft des verborgenen Auges würde enden.
„Durch die Tat einer einzigen von uns, die in Mut und Selbstaufgabe uns alle übertrifft.“
Ein Raunen lief durch die Menge, und Jilis Herz schlug um zwei Takte schneller. Wieso ausgerechnet ich?, fragte sie sich plötzlich. War das nicht eine andere gewesen, die sich vor den Flammen von Karmhang eine letzte Chance von einem Sohn der Hölle hatte geben lassen – eine Chance, ihr Leben für die Schwesternschaft herzugeben?
Vor ihr tat sich eine Gasse auf, die Sitzenden rückten beiseite, um ihr einen Gang zu öffnen.
„...die uns die Legende der Dämonenschlächterin wiedergebracht hat.“
Die Decken ihrer Schwestern waren der Teppich, der sie zum Thron führte, um den Ritterschlag zu erhalten. Unsinn, dachte sie. Grotesker Unsinn.
Akara zog die Kapuze von Zethys Gesicht, und das Antlitz der Uralten erschien. Hätte nicht jemand lachen können? Sagen können: Das ist eine alte Frau, was tut sie hier? Soll sie uns die Legende erzählen? Dann spute dich, Mütterchen!
Aber aus der Masse hoben sich Arme, als wollten sie zu den Sternen greifen, und Stimmen riefen: „Zethys!“
„Es ist Zethys!“
„Wirklich und vor der Herrin!“
„Ein Ende mit dem Leid!“
Hände klatschten ineinander, Jubelrufe erhoben sich. Waren sie alle Puppen? Geschreinert von Akaras alten Händen?
Jilis erreichte die erste Reihe und trat hinein in den leeren Platz in der Mitte. Akara streckte die Arme aus, als wollte sie sie umarmen.
„Und dafür gilt unser Dank Jilis, die heute als erste ihren Teil an der Legende haben wird.“
In Zethys' Gesicht flackerten die Augen wie die eines gehetzten Tiers. Sicher verstand sie nicht einmal zur Hälfte, was geschah. Aber die einzige, die alles verstand, war ohnehin Akara.
Das Feuer stieß Funken in die Nacht, und eine Welle von Wärme strich über Jilis Haut. In den Flammen lag das Ende des Werkzeugs, das den Namen einer Jägerin ewig machen konnte. Ein Eisenstab, an dessen abgeflachter Spitze ein filigranes Muster das Auge formte.
Akara fasste sie an den Schultern und drehte sie der Menge zu.
„Die Taten von einer – das Schicksal von uns allen.“
Eine Weile lang hörte sie nicht zu, und sie wusste danach nicht, ob Akara wirklich etwas von Bedeutung gesagt hatte. Durch die Miene der alten Kriegerin neben ihr zogen sich die Furchen jetzt noch tiefer. Waren sie beide sich nicht schrecklich ähnlich? Standen vor dem Feuer und ließen sich bescheinen, als wäre daran ein Glanz der Götter – und sie hätten ihn verdient. Wenn es nach Akaras Worten ging, dann hatten sie es verdient.
„Deshalb erzähl uns nun, wie es dir ergangen ist“, bat Akara.
Hunderte von Augenpaaren waren ihr gegenüber. Jilis schluckte. Geriet sie jetzt auch unter Akaras Bann? Ihre Gedanken kreisten, suchten nach einem Anfang, sprangen hinweg über das Gesicht des Nekromanten, und dann stand sie wieder unter den tapferen Dummköpfen, die den brennenden Stadtrand von Karmhang verteidigten, um dort ihren Tod zu finden.
Die Worte kamen zu ihr und legten sich auf ihre Zunge, dann entwischten sie wieder. Wahrscheinlich stotterte sie und verhaspelte sich, aber dann merkte sie es nicht. Und ohnehin war es egal. Sie sah sich wie von außerhalb ihres Körpers, wie sie dort die abgehackten Sätze herauswürgte, die über die Menge hinwegstrichen. Am Ende hatte sie von dem Dämon gestammelt, und von den Tiergesichtigen. Nur der Nekromant war mit keinem Wort aufgetaucht.
Die Augen starrten zu ihr. Sie hätte irgendetwas erzählen können. Davon, wie man einem Kitz das Fell abzog, oder, wie man einen Frosch würzen musste, damit man sich von dem Geschmack nicht übergab.
Alles hätten ihre Schwestern sich angehört. Ja, und alles würden sie sich von Zethys anhören.
Und doch war es ihr, als wäre mit den Worten zusammen ihre ganze Kraft aus ihr geflossen. Als hätte man sie leergetrunken wie einen Wasserschlauch.
Irgendwann sprach Akara wieder, und ein warmes Gefühl goss sich in sie hinein. Es füllte sie wie ein leeres Gefäß und trieb ihre Gedanken fort.
„Dafür erhält sie nun ihren Lohn“, sagte Akara.
Die Wärme um sie wich für einen kurzen Herzschlag, und als sie wiederkehrte, war sie schal und widerlich, als flößte ihr jemand dicken Brei ein. Magie. Die Zeit erstarrte, als die Erkenntnis in ihr aufzuckte. Akaras Magie schuf keine Feuerräder am Himmel, und rief keine Gebeine zum Tanz auf die Erde zurück. Ihre Stimme ganz allein war die Magie.
Plötzlich sah sie klar. Die Nacht, die Sterne, jede einzelne ihrer Schwestern vor sich. Ihr Körper war starr, wie mit eisernen Ketten festgeschmiedet.
Akara hob den Eisenstab, an dessen Spitze das Siegel des verborgenen Auges weiß glühte. Das erste Mal an diesem Abend sprach sie so leise, dass nur Jilis sie hören konnte. „Ich danke dir. Das hier ist das größte Geschenk, das ich dir geben kann.“ Das weißglühende Siegel kam auf sie zu, strahlte Hitze auf ihre Arme und Beine.
Nein, Akara spielte kein Spiel für all die Zuschauer. Das größte Geschenk. Dieses Mal meinte sie es ehrlich. Sie nutzte ihre Magie nicht, um den Schwestern zu schaden. Es brauchte keine Legende, die noch Messer und Bogen führen konnte, um den Kriegerinnen den Glauben wiederzugeben. Legende, ein gehauchtes Wort genügte. Deshalb stand Zethys hier, und deshalb stand sie hier.
Um so schwerer war es, dass sie gegen die Ketten ankämpfen musste, die sich um sie legten. Sie konnte den Weg nicht gehen, den ihr das Glühen des Siegels wies.
Die Kraft brandete hoch in ihr und bäumte sich auf gegen die Starre, die ihren Leib einschloss.
„Wenn du lächelst, hat deine Stirn keine Falten, und der Abdruck wird glatt und ebenmäßig sein.“
So nah war der glühende Stab, dass ihre Augen vor Helligkeit tränten. Sie roch das Eisen.
Ihre Kraft genügte nicht. Sie kämpfte an gegen eine Wand aus festen Ziegeln. Nicht einmal den kleinen Finger konnte sie rühren. Nur eines blieb noch. Maro, dachte sie, schickte den Gedanken aus wie eine Brieftaube.
Der Wind trieb ihr ein Haar gegen das heiße Eisen, und kurz leuchtete es auf, dann kräuselte es sich und zerfiel unter der Hitze.
Keine Stimme auf dem ganzen Hügel. Keine Bewegung, außer der von Akara, die den letzten Schritt auf sie zu tat. Das glühende Metall stand vor ihrem Gesicht wie eine Sonne, hell und schmerzend. Dann kam ihr Arm frei, durchbrach die Erstarrung. Sie packte die Eisenstange in der Mitte, dicht neben Akaras Hand, und riss sie los. Die Alte ächzte, stolperte auf sie zu wie einer der Untoten, und Jilis hieb ihr die andere Seite des Metalls in die Magengrube. Sie ließ die Waffe fallen, das Eisen zischte bei der Berührung mit dem hohen Gras des Hügels. Die Betäubung aus ihren Gliedern schwand. Doch sie stand noch Sekunden lang regungslos da.
„Nein, Jilis, nein, nein“, hauchte Akara, die sich unter Schmerzen wand, und in diesem Moment war sie so schwach wie Zethys. Die legendäre Jägerin stand neben ihr und überragte sie.
Keine von den beiden würde ihr auf ihrem Weg noch helfen können, und keine von den hundert versammelten Jägerinnen.
Die ersten erstaunten Rufe wurden laut, und Jilis lief rückwärts, fort von dem Feuer.
Sie musste verschwunden sein, bevor die Schwestern begriffen, was geschehen war: Sie hatte ihren Arm noch, und entgegen allen Gesetzen der Natur ließ er sich bewegen.
Hände packten sie an den Schultern, und sie schmetterte ihren Ellbogen gegen einen Kiefer. Eine Gestalt in der Dunkelheit jaulte auf und torkelte davon. Jilis lief. Den Hügel hinab, und hinein in den Dunkelwald. Das Gras kitzelte sie an den Beinen, dann ritzten Ästchen an ihren Wangen vorüber, und nasser Waldboden stöhnte unter ihren Schritten auf. Das Feuer der Versammlung brannte wie eine winzige Laterne. Weit, weit entfernt.
Sie lauschte auf Schritte. Nur Vogelrufe drangen aus den Ästen zu ihr.
Dann schöpfte sie Atem und ging wieder ein normales Tempo.
Ihrer aller Anführerin hatte sie niedergeschlagen. Gut, dachte sie. Das war ein Anfang. Hätte er es gekonnt, dann hätte der Nekromant es auch getan. Und letztlich war es doch seine Kraft gewesen, mit der sie sich befreit hatte.
In diesem Krieg war er der Einzige, der seinen Kopf behalten hatte. Wenn die anderen ihn einen Verräter schimpften - wohlan, dann passte diese Bezeichnung auf sie selbst nicht weniger. Was war noch übrig von der Schwesternschaft... Von dem Willen der Herrin des verborgenen Auges? Eine alte Frau, die ihren eigenen Willen zu dem des Ordens machte. Eine alte Frau, die nicht den Fragen nachging, die die Ankunft der Dämonen aufgeworfen hatte. Wie sie sich sogar mühte, die Antworten zu ersticken. Stumm für alle Zeiten, so wäre ihr der Nekromant am liebsten gewesen. In einer bodenlosen Hölle, in die er seine Wahrheiten mitnahm.
Vielleicht war das zuviel, vielleicht kannte auch er keine Wahrheit. Vielleicht war er falsch, vielleicht ein Narr. Aber er war nicht der Feind, zu dem Akara ihn gemacht hatte.
Und in den Mauern des Klosters würde sie ihn finden. Wenn die dunkle Königin ihre Ketten um ihn gelegt hatte, dann würde sie sie zersprengen. So, wie er ihr geholfen hatte, ihre zu brechen.
Fast stolperte sie über die kleine Quelle, an der sie mit Vega immer saß. Ihre Beine mussten sie instinktiv geführt haben.
Ruhiger floss das Wasser jetzt dahin. Ihr Atem rasselte noch, als sie sich an den Rand des Felsens setzte und darüberbeugte. Das Mondlicht schüttete genug Licht über das Flüsschen, um darin Jilis ihr Spiegelbild zu zeigen. Eine Irre starrte sie an. Und den Nekromanten hatte sie wahnsinnig genannt... Das war er auch, doch kein Verräter. Nein, da gab es etwas anderes.
Sie starrte ins Wasser, bis der Mond hoch stand.
Mit einer Hand schöpfte sie Wasser und ließ es durch die Finger rinnen. Die nächste Handvoll schüttete sie sich auf die Stirn und rieb. Das Auge saß noch da. Bedeutungslose Striche, gezogen mit der Farbe von Beerensaft. Sie rieb über die Haut, bis sie wund war und es weh tat, die Stirn in Runzeln zu ziehen. Seufzend setzte sie sich auf.
„Nur mit Blut kannst du es abwaschen“, sagte eine Stimme. Ein Messerklinge funkelte im Mondlicht, und jemand packte ihr Handgelenk. Etwas Warmes tropfte ihr in den Handteller. Sie fuhr herum, und Vegas Pferdeschwanz kitzelte sie an der Nase.
Aus einem Schnitt an ihrem Arm rann das Blut und fiel in Jilis Hand.
„Du...? Woher hast du es gewusst?“
„Dass du hier bist? Ich habe dich rennen sehen, alle haben das.“
„Alle, die bei der Versammlung gewesen sind, jedenfalls.“
„Genau.“
Jilis lächelte.
Vega war doch dort gewesen.
Sie verrieb das Blut auf ihren Fingern und wischte sich über die Stirn, dann wusch sie sich die Hände.
„Ist es weg?“
„Ich kann es nicht sehen, unter dem Blut.“
Vega wand sich eine Mullbinde um den Arm und tauchte ihre Finger ins Wasser, um Jilis damit über die Stirn zu wischen.
„Danke“, murmelte Jilis.
„Im Blut muss etwas sein, dass diesen Saft aufsaugt.“
„Also ist es...“
„...weg. Du hast nur noch zwei Augen.“
Vegas Arme schlangen sich um ihre Brust. Jilis atmete flach unter der Berührung. Sie würde alles zurücklassen, auch ihre letzte Freundin.
„Ich dachte schon, ein Monster wäre aus mir geworden.“
„Du bist ein Monster. Du kannst nicht leben, ohne zu töten. Aber dann ist es eben so. Ich bleibe bei dir, Monster. Und wenn du wieder gehst, dann warte ich.“
Sie strich der Jüngeren über die Haare. Die Wärme, die sie fühlte. Vielleicht würde sie nie wieder einen anderen Körper an sich spüren, außer den eines Gerichteten, der im Todeskampf gegen sie sank.
„Ich wäre längst nur noch ein Haufen Knochen ohne dich...“
Vega hob einen Hanfsack vom Waldboden und wuchtete ihn auf den Stein. Darin klirrte Metall.
„Nimm dir, was du brauchst. Damit du nicht doch noch zu einem Haufen Knochen wirst.“
Klingenspitzen und Axtschneiden funkelten ihr entgegen, als seien sie die verbotenen Schätze eines dunklen Königs.
Heller und näher als das Versammlungsfeuer brannten nun die Fackeln auf den Zinnen des Klosters. Danke, dass Ihr mir den Weg weist, ihr Narren.
Irgendwo dahinter steckte Maro, der Teufelskerl. Und ob er wartete, oder nicht - es machte keinen Unterschied.
Jilis stand auf und legte Vega einen Arm um die Taille.
„Ich sehe nach, was ich brauchen kann.“
„Du musst auch nicht verhungern. Ich habe Eisbeerenkuchen und etwas Brot und Käse für dich eingepackt.“
„Da, wo ich hingehe, wird das Verhungern die geringste Gefahr sein. Aber... hab Dank.“
Noch einmal schloss sie Vega in die Arme, dann wandte sie sich den Waffen zu.
 
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XIII Gläserne Wüste

Der Sand unter Maros Füßen sog ihn ein. Als sei es Treibsand, sank er immer tiefer ein. Bis zu den Knien verschwand er darin.
Doch die Sandmassen umschlossen seine Beine nicht, er hob sie einfach wieder heraus, ohne jede Kraftanstrengung.
Ja, erinnerte er sich. Kraftanstrengungen waren Sache des Körpers, und seiner ruhte in Seidenkissen an einem unendlich fernen Ort.
Er konzentrierte sich, und plötzlich bekam er Halt. Weder Finger noch Hände brauchte er, um sich zu halten. Die Arme ausgebreitet, stand er. Er malte sich in Gedanken das Bild, wie sein Bein wieder aus dem Sand emporstieg, und sein ganzer Körper mit ihm.
Er glitt wie ein Lufthauch nach oben, keine natürliche Schwere zog ihn mehr nach unten. Einen halben Schritt stand er über dem Boden. Zum Stehen war die Luft ebenso gut wie fester Boden.
Bis der Horizont seinen Blick auffing, reihte sich weiter Düne an Düne. Am Himmel gleißten zwei Sphären aus silbernem Licht. Eine einzige Sonne hätte auch unmöglich für das Götterreich genügt. Wo das Licht der zwei Himmelskörper auf den Wüstensand traf, spiegelte dieser es wie pures Gold. Aber zwischen den Sandmassen glänzte noch etwas anderes, das in genau dem selben Licht schimmerte wie Sonnen am Himmel. Stücke gefallener Sterne? Anderer Sonnen? Unmöglich war es nicht.
Maro nahm einen Atemzug von der Luft. Eine vage Erinnerung an die Tage, die er mit Gheed durch die endlosen Sande gezogen war. Bis da hatte er nie gedacht, dass Hitze einen eigenen Geruch haben konnte. Einen Geruch, der die Nase stach und lähmte, wie ein scharfes Essen den Gaumen taub machte, wie die Sonne die Augen blind machen konnte. Aber hier mischte sich ein süßer Duft dazu...
Er ließ sich wieder absinken und tauchte eine Hand in den Sand. Sie verdrängte nicht ein einziges Korn und verschwand in der Oberfläche. Aber wenn er entscheiden konnte, ob er unter den Sand sank, über ihm schwebte, oder schlicht darauf stand, dann musste er auch entscheiden können, ob er... Mit einer kurzen Anstrengung führte er die Hand erneut in den Sand, und diesmal drang sie ein und die Sandkörner rannen ihm über die Finger. Geschafft.
Er hob eine Hand voll der glitzernden Körner an die Nase. Süßlich schlug ihm der Geruch entgegen, wie Zimt und Nelken. Eine Wüste aus süßem Gewürz?
Er streute den Sand wieder fort. Jenseits dieser Berge aus Konfekt wartete seine Speise. Das Land konnte ihn nicht bedrohen, nicht aufhalten – höchstens seine Zeit fordern. Und genau das tat es gerade.
Er ließ seine Gedanken zusammenrinnen auf einen einzigen Punkt, und sein Geist festigte seine Gestalt. Der schwarze Mantel, der Schädel seines Vaters, die Krummklinge – alles an Ort und Stelle. Auch die Sonnen kitzelten mit ihren Strahlen auf der nackten Haut seiner Hände, und der Untergrund drückte ihm gegen die Stiefelsohlen. Er war so real, wie er es in dieser Traumwelt sein konnte.
In allen Himmelsrichtungen türmten sich die Dünen gleichermaßen, deshalb nahm er den erstbesten Weg und erklomm einen der Sandberge vor sich. Eine Bö fegte ihm entgegen und trug die Spitze der Düne ab, fegte sie als wirbelnden Schleier ins Tal. Er nahm einen Arm vor das Gesicht, um sich zu schützen. Aber nicht einmal ein Sandsturm würde ihn aufhalten können – er konnte sich zurückziehen, seinen Körper wieder zu dem Schatten machen, als der er in diese Welt getreten war.
Wo konnte Evra wohnen? In einem Tempel aus Knochen? So hätten es ihre Priester ihr unterstellt. Aber die Narren konnten unmöglich ihr Wesen begreifen. Varn, der das Gleichgewicht der Welt gepredigt hatte... In der Welt der Götter herrschte nicht das Gleichgewicht, sondern sie: die Götter.
Die Himmelsrichtungen glichen einander bis auf das letzte Sandkorn, und die Zwillingssonnen machten es unmöglich, Norden von Süden, von Osten, von Westen zu unterscheiden. Jede Richtung war die richtige, und jede die falsche. Maro würde jeden Sandfleck in dieser Wüste absuchen, und irgendwann musste er ihn finden, den Palast, in dem Evra wohnte. Oder er fand einen Weg, diese Wüste hinter sich zu lassen, wenn der Palast sich an einem Ort jenseits von ihr befand.
Alle paar Dutzend Schritt, die er tat, wuchsen aus dem Sand die silbernen Splitter heraus. Ihre Formen ähnelten Tonscherben, dann wieder waren sie gezackt wie Sägeblätter. Glas, erkannte er. Glas, das geschmolzen war und dann wieder erstarrt. In den durchsichtigen Oberflächen spiegelte sich das Licht und füllte sie mit Silberfarbe, als sei sie hineingegossen.
Mit solchem Schmuck zierten die Götter ihr Reich... Vielleicht nur, um die Sterblichen zu verwirren, und ihren Glauben daran, dass es etwas wie das Gleichgewicht gab und alles einem Zweck folgen musste.
Nach Stunden standen die Sonnen noch an ihrem Platz, ohne sich auch nur einen Deut bewegt zu haben. In Maros Magen rumorte es, und kurz blitzte in ihm ein Funke von Panik auf. Von Glas und Zuckersand konnten vielleicht Götter sich ernähren, doch er nicht...
Minuten später durchdrang ihn ein Gefühl, als hätte jemand ihm einen Schub reinster Lebenskraft eingeflößt – wie, wenn er von seinen Golems die Energie zurückforderte.
Natürlich. Er wurde gespeist. Aradeias Töchter gaben seinem Körper die Nahrung, mit der sein Geist sich am Leben erhielt.
Er ging weiter. Und einige Stunden später wartete er darauf, dass ihm irgendwann die Lider schwer würden und die Beine lahm. Aber zumindest Müdigkeit schien ihn hier nicht länger zu hindern. Sein Körper schlief ohnehin die ganze Zeit.
Hinter der nächsten Düne lag ein einziger Schatten. Ein schwarzer Leib, der das Licht der Sonnen schluckte. In einer gewöhnlichen Wüste hätte es ein Felsen aus schwarzem Gestein sein können, doch hier? Maro rutschte in die Senke hinab und streckte einen Arm aus. Die schwarze Oberfläche glühte fast. Plötzlich kam unter seinen Fingern Leben in den Fels. Er bebte und hob sich langsam aus dem Sand. Der Boden sank Maro unter den Füßen weg, er kämpfte um sein Gleichgewicht. Meter um Meter hob sich der Stein. Nein, kein Stein... Das, was er für Stein gehalten hatte, bedeckte als Panzerplatten einen schlauchförmigen Körper. Der Sand rann von ihm herunter wie ein Wasserfall, und dort, wo der Kopf des Ungetüms sein musste, hing ein meterbreites Maul, zu einem Grinsen gestreckt.
„Die Stürme treiben einen Bissen direkt zu mir hin – solches Glück gibt es selten.“
Die Stimme rumorte wie ein Beben unter der Erde und pfiff durch die Zahnreihen des Wesens. Weder Augen noch Ohren saßen ihm neben dem Maul am Schädel.
Mit der Schnelligkeit eines Gedanken fasste sich Maro. Das Schwert raste aus der Scheide. Gegen diesen Gegner würde es nicht einmal als Maulsperre dienen, aber die Berührung des Schwerthefts tat gut.
„Mit deinem Glück ist es aus! Zeig mir den Weg zum Schloss von Evra, oder du wirst sterben.“
„Sterben? Ich? Was will mich töten, außer der ewige Hunger?“
Aus dem Maul wehte ihm der Geruch des Zuckers entgegen, der die gesamte Wüste bedeckte.
„Ich“, sagte Maro. „Ich werde dich töten, mit einer Klinge, die du erst spüren wirst, wenn ich sie dir ins Fleisch stoße.“
„Für was hältst du dich, kleiner Mann? Ich kann dich riechen, ich kann dich spüren, und ich schlinge dich herunter, wenn ich es will. Woher weißt du, dass Evra in einem Schloss haust?“
Also hatte er Recht gehabt. Er setzte einen Fuß nach hinten, um eine sicherere Kampfhaltung zu haben.
Jetzt weiß ich es, du hast dich verraten. Und da du es auch weißt, kannst du mich hinführen.“
Das gezahnte Maul sank einige Fingerbreit in den Sand, dann hob es sich wieder, als würde es in einem Meer treiben.
„Ah. Der Erste bist du jedenfalls nicht, der an mir vorüber will.“
„Dann bist du ein Wächter?“
„Ein Wächter, der über tausend Mal tausend Tonnen Glitzersand wacht? Dümmliches Kind der Menschen. Wenn jemand diese Wüste betritt, dann führt sein Weg an mir vorüber. Ganz egal, was er sucht - ich bewache es.“
Maro entspannte seinen Arm wieder. Es musste vielleicht nicht im Kampf enden.
„Was sollte jemand hier suchen, außer... Evra?“
Wieder rumorte es im Sandboden. Der riesige Wurm ließ seinen Körper zittern, und der Sand zitterte mit.
„Das wirst du nur herausbekommen, wenn du die fragst, die gesucht haben. Ich vergesse es immer, bevor ich sie esse. Mit dir habe ich auch schon lange genug geredet. Du bist nicht der, der diesen Weg weitergehen darf.“
„Doch.“
„Nein, bist du nicht.“
„Und das erkennst du woran?“
Der Riese wiegte sein Maul hin und her, die Zähne hinter ledrigen Lippen gebleckt.
„Daran, dass du schon so gut wie in meinem Magen bist.“
Einen Augenblick lang lag das Wesen im Sand wie erstarrt, dann schnellte es nach vorn. Fünf Reihen von Zähnen im geöffneten Maul schossen auf Maro zu.
Er warf sich zur Seite, und die Panzerplatten rauschten dicht an ihm vorüber. Das Maul schlug in die nächste Düne hinein und zog den gesamten Leib des Kriechtiers hinter sich her. Maro zielte auf einen Spalt in den Platten. Die Klinge drang ein, der Körper schoss weiter an ihm vorüber und riss ihm das Heft des Säbels aus den Fingern. In einem Bogen flog die Waffe fort und landete auf einem Dünengipfel. Maro rieb sich das Handgelenk. Der Schwanz des Riesen tauchte als letzter Teil von ihm in den Sand. Dann blieb Stille.
Er sprintete zu seiner Waffe hinauf. Es wäre auch zu einfach gewesen, ohne selbst hier im Götterreich noch auf Hindernisse zu treffen.
„Wie willst du den erkennen, der passieren darf, wenn du jeden Wanderer wahllos auffrisst?“
Wenn die Bestie antworten wollte, musste sie den Sand verlassen und sich zeigen.
Er bückte sich nach dem Säbel, da rauschten die schwarzen Panzerplatten in einem Dünental vorbei. Der Wurm umkreiste ihn.
„Habe ich gesagt, dass ich ihn erkennen will? Soll er sich selbst zu erkennen geben. Die Mühe mache ich mir nicht auch noch, ihn zu suchen.“
Erneut tauchte er in den Sand ein.
Wo er sich unter dem Boden entlangwälzte, sickerte zwar der Sand in trichterförmigen Öffnungen fort und der Panzer blitzte auf. Doch wichtig war nur, wo sich das Maul befand.
Den Säbel vor das Gesicht gehoben, drehte sich Maro auf der Dünenspitze mit den Bewegungen, die ihn umgaben.
Der Sand schwieg, und das Scharren unter seiner Oberfläche verstummte.
So ein Biest verzog sich nicht einfach. Flucht war undenkbar... für sie beide.
Dann sickerte der Sand wieder – unter seinen Füßen. Das Riesenmaul stieß aus dem Boden hervor, Zahnreihen umringten ihn. Der Riesenwurm brüllte, und sein Atem schlug an Maro vorbei. Er reagierte blitzschnell, löste die Bande seines Körpers auf.
Die Zähne schnappten aufeinander, schossen auf seine Brust zu. Durchdrangen sie, klackten aufeinander. Maro ließ seinen Geistkörper nach hinten schweben, glitt durch das Maul hindurch. Noch einmal schlugen die Zähne zu, bissen ins Leere, und der Wurm bäumte sich auf.
„Wo bist du hin?“, brüllte er auf. „Du riechst nicht mehr, und im Sand stehst du auch nicht mehr...“
„Denk nach mit deinem Riesenhirn. Hier hast du den, der an dir vorüber darf.“
Ein Grollen drang aus dem Rachen des Ungetüms, es schlug die Zähne noch einmal aufeinander. Abrupt verstummte es, schloss das Maul und brummte etwas in sich hinein.
„Dann bist du es wirklich. Ich weiß nicht, wie du es getan hast... Aber einen Geist kann ich nicht jagen.“ Die Stimme klang versöhnlich. Wie lange musste der Wurm gewartet haben? „Damit kann auch ich diese Wüste endlich verlassen. Also komm, zeig dich. Auf meinem Rücken kann ich dich an den Ort bringen, den du dir herbeisehnst.“
Er zog seinen gesamten Leib aus dem Wüstensand hervor. Gute zwanzig Schritt maß der gepanzerte Leib.
Maro schwebte zu einer Stelle im Nacken des Riesen und konzentrierte seine Gestalt, bis der Panzer gegen seine Beine drückte. Der Riese schnaufte kurz.
„Es ist kein Trick? Du wirst mich zu Evras Schloss bringen?“
„Wohin immer du willst. Denn das ist der Ort, an den nicht nur du musst, sondern auch ich.“
„Hat sie dir das befohlen?“
„Niemand befiehlt mir. Es ist so. Ich muss dort hin. Nach eintausend Jahren spätestens wirst du begreifen, dass du nicht ewig unter dem Sand liegen und warten kannst, auf jemanden, von dem du nicht einmal den Namen kennst.“
Langsam setzte sich der Gigant in Bewegung, strich durch die Dünentäler.
„Vorhin hattest du noch kein Interesse daran, mich zu finden.“
„Interesse? Nein, habe ich auch nicht. Du musstest irgendwann kommen, und das habe ich gewusst. Und ich muss dich nun weiterführen. Es ist, wie es ist.“
„Das Reich der Götter ist seltsam. Was wäre geworden, wenn ich in eine andere Richtung gegangen wäre als in deine? Ich hätte dich umlaufen können und allein zum Schloss finden.“
„Nein. Niemand kann mich umlaufen, und niemand findet seinen Weg allein.“
Und er hatte gedacht, dass nur die alten Maester so reden konnten... Offensichtlich auch die Haustiere der Götter.
Der Wurmleib drängte die Sandmassen zur Seite wie ein Bootsrumpf die See. So schnell kroch er voran, dass der Wind kühl an Maros Wangen vorüberstrich. Er krallte die Finger unter eine der Rückenplatten des Riesen, um nicht den Halt zu verlieren.
„Erzähl mir von Evra“, sagte der Wurm, dann öffnete er das Maul und sog eine Ladung Sand ein. Seine Zähne knirschten auf den Körnern.
„Du kennst sie doch. Oder hast du mich doch betrogen und weißt den Weg zu ihrem Schloss nicht?“
„Ich weiß weder von ihr, noch weiß ich den Weg zu ihr. Ich weiß nur, dass ich dich dort hinbringen werde, wohin du willst. Also, erzähl mir etwas. Auf was muss ich mich einlassen?“
Als der Riese sich darüberschob, brach eine Scherbe aus geschmolzenem Gras entzwei.
Maro schluckte. Hatte er je ein Wort über sie gesprochen, seit... seit er sie gesehen hatte?
„Auf die Göttin des Lebens und des Todes.“
„Das klingt angemessen für Jahrtausende des Wartens.“
„Mehr als nur angemessen!“ Maro nahm die zweite Hand dazu, um sich in die Platten des Tiers zu krallen. „Vielleicht wirst auch du sie sehen dürfen.“
„Und du... du bist wohl nicht hergereist, nur, um sie zu sehen.“
„Ich...“
Fiel es so schwer, weil er auch darüber noch nie einen Satz verloren hatte? Es hatte ja nie jemanden gegeben, mit dem er... hätte reden können. An seinem Auge huschte das Bild der Maester vorüber. Varn, Orestar... Gheed, der dicke Händler mit den großen Träumen... Jilis...
„Ich liebe sie“, sagte er mit fester Stimme.
Mit einem Ruck hielt der Riesenwurm an. Ein Grollen in seinem Inneren schüttelte ihn, dann brach es aus seinem Maul hinaus.
Die Hitze stieg Maro den Hals hinauf. War das ein Lachen? Lachte diese riesige Missgeburt auf diese Weise?
„Ich kann dir diesen Säbel zwischen die Glieder deines Panzers stoßen!“
Das Grollen verstummte, und langsam kroch der Wurm weiter.
„Ruhig Blut. Ohne meine Hilfe kommst du nicht einmal bis zur Eingangspforte des Palasts. Was macht dich glauben, dass du überhaupt weiter kommst, dass deine Göttin nicht einen anderen in ihren Kissen bei sich liegen hat?“
Wie ferngesteuert griff seine Hand nach dem Säbel. Das Sonnenlicht glühte wie weißes Feuer auf der Klinge. Er stieß sie in die Lücke zwischen zwei Platten, wo das weiche Fleisch des Wurms liegen musste. Ein Ruck lief durch seine Hand, und es klirrte. Die Klinge, die er aus der Kluft zwischen den Platten zog, war knapp über dem Heft abgebrochen. Wozu brauchte das verfluchte Biest einen Schuppenpanzer, wenn selbst seine Haut so fest wie Felsgestein war?
„Lass das“, murmelte der Wurm. „Du tust dir weh. Nun sag schon. Was macht dich glauben, dass-“
„Es ist so. Das macht es mich glauben. Weil es so ist. Wie oft hast du diesen Satz schon benutzt?“
„Nun... Ich kenne die Gesetze dieser Welt. Aber ich bin nicht sicher, ob auch du sie kennst.“
„Gesetze sollen mir zu den Teufeln fahren! Ich habe schon genug gebrochen für zwei Menschenleben zusammen, und ich werde jetzt nicht umkehren und einen langen, langen Rückweg einschlagen.“
Eine zeitlang schwiegen sie. Nur der Sand rauschte gleichförmig an ihnen vorbei.
„Das kannst du auch nicht. Ich bringe dich, soweit ich dich tragen kann. Was danach kommt, musst du selbst sehen.“
Oh ja, und wie er es sehen würde. Sein Atem ging wieder ruhiger, und er steckte den zerbrochenen Säbel weg. Die Waffe war letztlich auch nur eine Projektion, nicht wirklich zerstört. Er steckte sie zurück in die Scheide und konzentrierte sich, formte die Energie, die ihre Gestalt beisammenhielt, neu. Als er die Waffe herauszog, hatte sie wieder die Länge eines ganzen Arms.
Im Schweigen durchquerten sie weiter die Wüste. Möglich, dass es Tage in der Wirklichkeit waren. Die Zwillingssonnen standen starr an einem Fleck.
Wieviele Narren er auf seiner Reise getroffen hatte. Oder hatte es irgendeinen gegeben, der sein Ziel verstanden hätte? Nicht einmal dieses göttliche Wesen mit der erbärmlichen Gestalt, das ihn jetzt an sein Ziel tragen wollte.
Zeit verlor ihre Bedeutung in der Wüste, in der Maro alle zwei Minuten glaubte, an stets der selben Stelle erneut vorbeizukommen. Doch der Wurm konnte sich nicht irren. Von ihnen beiden konnte er als Einziger wissen, was diese Welt zusammenhielt, nach welchen Regeln sie funktionierte. Selbst, wenn sie wirklich ewig an der selben Stelle vorüberkamen, dann würde das einen besonderen Sinn haben. Nach Sinn in der Art der Menschen zu fragen, war hier nutzlos.

Eine Ewigkeit später wölbten sich am Horizont keine Dünen mehr. Die Luft flimmerte und malte Gespinste an die Grenzen von Maros Gesichtskreis, aber tatsächlich: Das Land wurde eben.
„Wir sind fast da“, sagte er.
„Weißt du es, oder wünscht du es dir?“
Der Wurm kroch über die letzte Düne. Nicht einmal ebenes Land lag dahinter. Nichts.
Sie hielten einer Felsenschlucht, die sich nach links und rechts wiederum bis zum Horizont spannte. Leise rauschte der Sand. Aus einem unendlichen Reservoir, der Wüste selbst, glitt er über die Kante in den Abgrund. Ein Wasserfall aus purem Gold. Warmer Wind wehte aus dem Abgrund hinauf.
„Wir müssen dort hinunter?“, fragte Maro.
Mit seinem Maul tastete der Wurm nach dem Abgrund.
„Wenn du einen anderen Weg aus der Wüste hinaus findest, dann weise ihn mir...“
Maro sprang vom Rücken des Wurms und stellte sich selbst an die Kante. Ein grauer Nebel verdeckte den Grund der Kluft, schwebte einige hundert Schritt unter ihnen. Schon der Weg bis in die Nebel hinunter war weiter als der von den Berggipfeln bis hinab in die Wälder der Mark...
„So weit ist noch nie ein Mensch gefallen.“
Und noch nie ist einer so weit gekommen.
Aber in seiner körperlosen Gestalt konnte der Sturz ihn nicht zerschmettern.
„Ich werde mit dir fallen. Vergiss nicht, bis zu deinem Schloss begleite ich dich.“
„Was ist, wenn du auf dem Boden zerrissen wirst?“
„Hörst du nicht das Rauschen des Sandes? Ich werde einfach eintauchen. Dort unten muss es eine zweite Wüste geben, soviel Sand, wie dort hinunterfällt.“
Eine zweite Wüste, das war nun nicht das, auf das er hoffte...
„Gut, wir springen zusammen. Bereit?“
Maro breitete die Arme aus und lockerte bereits die Bande, die seinen Körper in der festen Gestalt hielten. Überhaupt, was würde geschehen, wenn er in dieser Welt, nun ja... starb?
Hinter ihm wühlte sich der Wurm durch den Sand, nahm seine Art des Anlaufs. Der Kopf tauchte aus dem Sand und zog den Körper hinter sich her durch die Luft. Maro stieß sich von der Kante ab und sprang ebenfalls, den Kopf voran. Neben ihm zappelten Hunderte von Tausendfüßlerbeinchen am Bauch des Wurms.
Für einen Moment war er schwerelos, dann fiel er. Die warme Luft peitschte an ihm vorüber, der Nebel näherte sich.
Maro hielt seinen Körper nur noch an einem winzigen Strang. In einem Sekundenbruchteil konnte er ihn loslassen, wenn hinter dem Nebel plötzlich Felsboden erschien.
Er tauchte gleichzeitig mit dem Wurm in den Nebel, und die Schwaden strichen kühl um seine Haut. Dann wich die graue Wand, und der Boden des Abgrunds tat sich auf, noch einige hundert Schritt unter ihnen. Ein Turm aus Sand nahe der Felswand. Darauf hatte der Wurm gehofft.
Eine Hitzewelle schlug ihm ins Gesicht. Wo die Wüste weiter von den Felsen fortführte, da stand der Sand in Flammen. Eine neue Teufelei...
Neben ihm stieß der Wurm wie ein Pfeil in den Berg aus Sand. Er selbst löste die letzte Verbindung zu seinem Körper, verbannte den schneidenden Wind. Wenige Meter über dem Sand stand er, schwebte in der Luft. Doch das Feuer... Es griff noch immer nach ihm, brannte selbst auf der Haut seiner Geistgestalt. Er wich zurück, aber die Flammen und ihre Hitze brannten noch genau so heiß, noch heißer, als sie an seinem manifestierten Körper gebrannt hatten. Er schützte sein Gesicht und sank auf den Sandturm hinab, schlüpfte wieder in sein alte Form.
Schon einige Schritt vor ihm hatte der Sand Feuer gefangen. Es war, als nährte jedes einzelne Korn eine Stichflamme. Ein Inferno ohnegleichen – Astralfeuer. Deshalb gab es kein Entkommen in die Körperlosigkeit. Das Feuer brannte an reinem Geist noch viel heißer.
Der Sand des Turms spritzte fort, und neben ihm wühlte sich das Maul des Wurms an die Oberfläche.
„Du lebst noch, oder, kleiner Mann?“
Maro wich so dicht an die Felswand zurück wie möglich.
„Nicht mehr lange. Dieses Feuer... Ich habe keine Haut aus Fels und Stein wie du.“
„Wie sieht es aus?“
„Womit?“
„Nicht womit. Das Feuer; wie es aussieht, wie weit es reicht. Spüren kann ich es, aber sehen nicht. Es hinterlässt nicht solche dankbaren Spuren im Sand wie du mit deinen Füßen.“
„Die ganze Wüste brennt. Es gibt keinen Weg, außer durch das Feuer.“
Der Wurm kämpfte seinen mächtigen Leib aus dem Sand heraus.
„Oder den Weg zurück“, sagte er. „Aber das ist nicht unserer. Ich muss dich an dein Ziel bringen.“
„Du bist eine seltsame Kreatur. Du sprichst wie ein Mensch, und dabei bist du doch ein Monster.“
„Nicht alles ist in dieser Welt immer so gewesen, wie du es jetzt vorfindest... Lass uns gehen.“
Um ihn zitterte die Luft. Wie sollte er weitergehen, ohne zu Asche zu verbrennen? Er machte einen Schritt auf die Flammen zu, und die Hitze nahm zu, schloss ihn ein.
„Aber wie?“
Es musste einen Weg geben. Bisher hatte es immer einen gegeben, und so kurz, so kurz vor dem Ziel durfte es nicht enden.
„Eine Haut aus Fels und Stein könnte dich schützen, hast du gesagt.“
Maro drehte sich um und blickte direkt in ein aufschnappende Maul. Der Wurm stülpte sich mit aufgerissenem Rachen über ihn, die Flammen wichen völliger Dunkelheit. Er stolperte, fiel gegen eine raue Wand. Hatte der Wächter der Götter ihn verraten? Das Knistern der Flammen verstummte, nur Sand rauschte, rutschte durch den Hals des Wurms.
Er kam auf die Beine und stützte sich an den Wänden ab. Hätte er nicht gesehen, wie der Wurm ihn verschlungen hatte; er hätte sich in einer Höhle geglaubt.
Durch die geschlossenen Zahnreihen rieselte feiner Sand. Die Bestie musste sich unterirdisch bewegen.
Da verstand er. Eine Haut aus Fels und Stein... Die hatte er jetzt um sich. Die Flucht unter den Sand aber würde nichts helfen. Astralfeuer brannte aus dem Herzen der Welt heraus, und wenn die Götterwelt der gewöhnlichen zumindest darin glich...
Luftzüge wehten an ihm vorüber, brachen sich an den Höhlenwänden zu einem Grummeln. Das Scharren der hundert Beine im Sand.
Die Reise dauerte an, und Maro wankte immer wieder, wenn der Wurm sich bog. Wie weit es in seinen Höhlenkörper wohl hineinging?
Immer öfter ächzte der Wind um ihn herum. Vielleicht bildete er es sich ein, doch der Raum heizte sich auf, als würde zumindest ein Abglanz der Hitze des Astralfeuers hineindringen. Dann, irgendwann, fiel ein Strahl silbernen Sonnenlichts zu ihm herein. Die Platten mussten geborsten sein, und selbst die eisenharte Haut durchbrochen. Sand rieselte die Wände hinab. Dabei waren sie über den Tiefen des Sands. Es war, als löste sich der Körper des Riesen auf...
Sie bewegten sich nur noch mit ruckartigen Bewegungen vorwärts. Dann gar nicht mehr.
Die Mauer aus Zähnen klappte auseinander, und ein heiseres Stöhnen zog an Maro vorbei. Er stieg über die Zahnreihen hinweg, und der Wurm röchelte.
„Raus mit dir“, sagte er.
Maro trat auf eine ebene Sandfläche. Die Flammen brannten am Rumpf des Wurms, sandten nur einen kleinen Wärmeschauer zu ihm herüber.
Die Rüstungsplatten des Wurms schwelten, zu großen Teilen fortgebrochen, und wo seine Haut nicht schwarz von Verbrennungen war, da tanzte leibhaftiges Feuer und bohrte sich in das Felsenfleisch.
„Die letzten Schritte machst du jetzt allein.“
Bei jedem Atemzug – wenn das Wesen etwas wie Atemzüge tat – schnaufte es. Was auch immer es war... es hatte ihn soweit getragen, wie es noch Leben in sich gehabt hatte.
„Ich danke dir“, sagte er. Vor ihm ragte eine Düne hoch wie der Ausläufer eines Berges. Auf der Spitze brach sich das Sonnenlicht auf klarem Kristall. Der Kristall spiegelte so sehr, dass das Gebilde wirkte wie ein einziger Tropfen, der alle Farben des Regenbogens trug. „Ist es das?“
„Dein Schloss? Das muss es sein. Ich habe dich an den Ort gebracht, an den du wolltest. Das weiß ich, denn ich löse mich auf.“ An den Stellen, wo das Feuer sich in den Wurmkörper hineinfraß, zerfiel der in Sandkörner. Er rieselte in das endlose Meer aus Sand unter ihm hinein. Bald würde nichts mehr übrig sein von ihm. „Ich war ein Mensch wie du, dann wurde ich dies hier, und jetzt... werde ich etwas anderes. Und wenn es nur Sand ist, für alle Ewigkeiten. Meine Aufgabe habe ich getan – da werde ich doch etwas erwarten können, oder?“
„Das kannst du“, sagte Maro, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Seine Schritte zogen ihn den Sandhügel hinauf.
„Dann leb wohl, und werde glücklich.“
Die Worte verklangen, fortgetragen von den Wüstenwinden. Ja, werde zu Sand, werde zu was auch immer...
Vor ihm erhob sich der Glanz reinen Kristalls. Die Außenwände mochten einen Platz umspannen, in den sein Heimatdorf zur Gänze hineingepasst hätte. Auf der Oberfläche schimmerte die Sonne, sodass das Gebäude wirkte wie aus makellos poliertem Eisen. Spitze Türme an den Seiten, Fensteröffnungen, ein hohes Portal... Das Ebenbild eines Schlosses, nur geschnitzt aus Kristall. Der Atem stockte ihm. Menschen konnten solche Schönheit nicht schaffen. Und dennoch, dennoch störte etwas an dem Bau.
Die Scherben, die sich jenseits des Abgrunds in der Wüste verteilten: Waren sie Splitter aus diesem Schloss?
Er setzte einen Fuß auf die Treppenstufen. Ein knirschender Laut begleitete den Schritt, und Risse liefen durch das Kristallglas. Konnten nur Götter diesen Ort betreten, und unter Sterblichen zerbrach er? Nein – längst gehörte er nicht mehr zu den Sterblichen.
Er ging die Treppe hinauf, hinterließ eine Spur aus zerborstenem Kristall. Und wenn das Schloss zusammenbrach... Nein. Nichts würde ihn aufhalten.
Er betrat das Innere. Sonnenlicht flutete das Gebilde und schuf Wände aus silbernem Licht. Angestrengt horchte er. Keine Schritte, nicht einmal ein Atemzug. Wer außer Evra mochte das Schloss noch bewohnen? Oder sie lebte tatsächlich in völliger Einsamkeit, kam nur in die Dschungel Kejistans, um dort ihre Jünger auszuwählen.
Er durchquerte Säle aus Kristall, bestückt mit Tafeln und Stühlen aus eben diesem Material. Nur jemand, der Ewigkeiten entfernt war von den Sterblichen und ihrem Leben, konnte an so einem Ort hausen.
Immer tiefer drang er ein in den silbernen Schimmer. Kristallene Betten, Kissen gefüllt mit gläsernen Federn. Bilder, gemalt aus winzigen Kristallsplittern. Vorhänge, die aus einer hauchdünnen Schicht silbernem Glanz bestanden. Und immer knirschten seine Schritte und traten Risse in den Boden. Wo war Evra? Die Götterwelt hatte ihn erwartet, ihn durch sie hindurch geführt. Würde auch die Göttin ihn erwarten?
Aber nach Stunden in dem glitzernden Palast waren die einzigen Geräusche noch immer nur die seiner Schritte. Er wich seinen Fußstapfen aus, um nicht auf den schon gesplitterten Kristallboden zu treten und ihn vielleicht mit seinem Gewicht endgültig zu zertrümmern.
Vielleicht musste er rufen... Ihren Namen. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, wie es sich schon gesträubt hatte, vor dem Gigantenwurm von der Göttin zu sprechen. Aber es konnte auch eine Prüfung sein.
„Evra“, hauchte er. Der Saal verschluckte seine Stimme. Lauter. Ja, lauter. Er holte tief Luft und sprach ihren Namen noch einmal aus. Diesmal warfen die Kristallwände den Namen zu ihm zurück. Evra. Er räusperte sich und wiederholte den Namen. Noch immer steckte ihm etwas in der Kehle, das ihm die Stimme dämpfte.
Niemand mehr war hier von den Narren, die an ihm gezweifelt hatten... hätten zweifeln können. Niemand würde ihn hören, außer die Göttin selbst.
„Evra“, sagte er noch einmal, und diesmal drang der Ruf durch de Räume, wurde von einer Wand zur nächsten getragen und kehrte auch zu ihm zurück.
Er wartete, den Atem angehalten.
Das Echo verklang, und Stille kehrte wieder ein. Eine Göttin musste zumindest Diener haben, die Gäste in ihrem Heim empfingen.
Er lauschte weiter, aber lief dabei die Räume ab und versuchte, seinen Spuren auszuweichen. Sie musste ihn doch hören. Der Wurm hatte das Ziel seiner Reise erreicht, und damit auch er, den der Wurm hatte begleiten müssen.
„Evra“, rief er, und wieder blieb er ohne Antwort.
Nahe dem Eingang fand er einen Raum, in dem noch keine seiner Fußstapfen den Boden bedeckten. Eine Treppe führte in die Höhe – als er hochsah, blendete ihn der Glanz der Sonnen. Die Kristalle bündelten ihr Licht und füllten den oberen Teil des Raums mit strahlender Helligkeit.
Sein Herz schlug schneller. Verborgen in einem Nebel aus Licht... es war der richtige Platz für sie, für eine Göttin.
Er hastete die Stufen hinauf, nahm das Knirschen unter sich kaum noch wahr. Sein Traum war so nah wie nie zuvor.
Mehr als ein Mal stolperte er. Einen Arm vor das Gesicht gelegt, um der Helle zu entkommen, sprang er von Stufe zu Stufe. Dann fanden seine Füße keine nächste Stufe mehr. Er stand wieder auf einer flachen Ebene.
Vorsichtig nahm er den Arm herunter. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in die Helligkeit. Langsam, sehr langsam, zeichneten sich Konturen in den Sturm aus weißem Licht vor seinen Augen. Die halbe Welt hatte er bereist, um an diesen Ort zu kommen, und jetzt...
„Göttin“, sagte er. „Göttin, ich bin über die Grenzen der Menschenwelt gegangen...“
Ein Thron aus Silberglas zeigte sich zwischen den Lichtschleiern.
„...ich bin in Eure Welt gekommen und habe alles zurückgelassen...“
Die Schleier lichteten sich. Er öffnete die Augen und sah klar. Sah das Ende seiner Reise. Sah, mit wem er sprach.

Er fiel auf die Knie, und das Glas bebte unter ihm.
Die Hände legte er wieder vor das Gesicht, und die Tränen strömten ihm über die Handballen und das Kinn hinunter. Durch den Spalt zwischen zwei Fingern warf er noch einen Blick auf das Ende von allem.
Auf einen leeren Thron.
 
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XIV Prinzessin Hundertwaffe

„Hier hast du dich versteckt.“
Blutrabe bückte sich zu dem unter der Brücke kauernden Dämon hinunter. Eine Binde aus schwarzem Stoff bedeckte das Auge des Ziegenbockkopfs. Wie bejammernswert der großartige Baphomet aussah, hier, in seiner menschlichen Gestalt.
„Ich verstecke mich nicht. Dazu müsste es jemanden geben, vor dem ich mich verstecken will, und den gibt es nicht!“
Der Dämon schickte ein tierisches Meckern seinen Worten nach, und Blutrabe musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Der Krieger, den sie turmhoch und unbesiegbar kennengelernt hatte, überragte sie jetzt kaum noch um einen Kopf.
„Vielleicht versteckst du dich vor mir?“
Baphomet presste seine dicht behaarten Hände aneinander. Sein Auge drehte sich hoch zu den Klostermauern, hinter denen die Sonne langsam verschwand.
„Vor dir, kleines Menschenwesen?“
„Wenn ich mich auf den Baumstumpf dort stelle, bin ich so groß, dass ich dir die Ohren abbeißen könnte.“
Blutrabe deutete in den inneren Klostergarten hinein.
„Wenn ich will, dann ist dieser Baumstumpf so groß wie einer meiner Hufe!“
Sie lächelte.
„Und ich dachte schon, sie hätte dich für alle Zeiten besiegt.“
„Dieses Mädchen mit dem Messer?“ Mit einer Pranke tastete er nach seiner Augenbinde. „Hat sie nicht auch dich besiegt?“
„Nein! Sie nicht. Sie lag auf den Knien vor mir, dann kam ihr Gefährte.“
Ein Schauder lief ihr über die Haut, als ob ihr toter Körper noch fühlen konnte. Gefährte...
Baphomet erhob sich vom Ufer des Bachs und trat zu ihr auf die Wiese. An seiner Brust war das Fell durchbrochen von geschwärzten Hautstellen.
„Der, den du uns hier eingeschleppt hast? Deine Strategien sind nicht die besten, Blutrabe.“
Sie seufzte gespielt.
„Leider. Deshalb habe ich dich aufgesucht.“
„Ah!“ Seine verschränkten Arme zitterten unter einem Lachen. „Du hast den Kommandanten der Schwefelstein-Legion vor dir.“
„Wo sind deine Legionen?“
Er schnaufte und zertrat unter seinen Füßen eine Tulpe.
„Es ist lange her, dass ich den Schwefelsteinern befohlen habe. Aber meinen Kopf habe ich noch, und darin ist alles, was du an Strategie brauchst. Sag mir nur, weshalb ich dir helfen sollte... In Karmhang hast du den Ruhm mit dir genommen, und mir nur die Schande übriggelassen.“
Seine Nüstern blähten sich, und er knurrte.
Um so besser. Es lief so gut, wie es konnte.
„Ich wäre doch nicht so naiv zu glauben, dass sich ein Dämon unter mich stellen würde.“
„Hm. Ihr Menschen habt dennoch oft törichte Träume.“
„Wenn du um deine Schande klagst, dann sollst du jetzt die Gelegenheit bekommen, sie wieder wettzumachen.“
„Ach ja.“ Er knuffte lässig gegen einen Brückenpfeiler. Der Stein knirschte, und der Abdruck der Fingerknöchel Baphomets zeichnete sich darin ab. „Ich weiß, dass deine alten Schwestern gegen die Tore des Klosters anrennen werden. Früher oder später. Aber ich kann nicht... in die Gigantengestalt zurück. Nicht, bis die Wunden wieder verheilt sind. Und mit dieser, der Gestalt eines Menschen... Was meinst du, vier oder fünf kann ich vielleicht mit mir nehmen, bevor sie mich niederwerfen. Aber damit habe ich nichts wettgemacht.“
Jilis, oh Jilis... Was hast du diesem König unter den Dämonen angetan?
„Dann ist es nur gut, dass ich nicht von dieser Schlacht spreche, die kommen mag oder auch nicht. Für einen Giganten reicht deine Gestaltwandelskunst nicht mehr... Aber wie ist es damit, die Gestalt eines Menschen nachzuahmen?“
Baphomet grunzte, dann verschoben sich seine Gesichtszüge. Die Hörner sanken in den Schädel zurück, das dichte Haar an Armen, Beinen, am ganzen Körper, verschwand, als würde es fortgeweht. Die Muskeln der Arme wurden flacher, und die Brüste wölbten sich nach vorn. Baphomet wischte sich mit einer Hand über das Gesicht, und seine grässliche Tierfratze verschwand.
Blutrabe biss sich auf die Lippen, in denen das Blut längst getrocknet war. Vor ihr stand Jilis. Ein perfektes, nacktes Ebenbild ihrer Freundin. Selbst Baphomets Augenbinde war gewichen. Jilis machte einen Schritt auf Blutrabe zu.
Sofort machte sie einen Schritt zurück. Wahnsinn.
„Fürchtest du mich, Blutrabe?“
„Nein...“ Die Bilder in ihrem Kopf rasten ineinander. Jilis bei dem Schachspiel ihr gegenüber, Jilis bei den morgendlichen Messen neben ihr, Jilis in den Schlafsälen- „Nein, ich fürchte deinen Nekromanten.“
Ein schallendes Lachen brach ihre Starre, und sie hörte sich selbst die Worte noch einmal sagen. Die Welt um sie zitterte. Sie wendete sich ab, aber es durchzog sie noch immer wie ein eben durchstandener Rausch.
„Das ist nicht übel gewesen, oder?“
Es war wieder Baphomets dunkle, keckernde Stimme, die sprach. Nicht mehr die von Jilis.
„Ja. Ja, das war nicht übel.“
„Was also soll mir das nützen? Ich stifte Unheil in ihren Reihen in der Gestalt einer der ihren. Letzten Endes erkennen sie den Schwindel und töten mich. Darin liegt noch weniger Ruhm als im offenen Kampf.“
„Wieviel Ruhm liegt dann darin, dich an deiner Peinigerin zu rächen?“
Er schnaubte. „Wenn ich die Gelegenheit bekommen würde...“
„Die bekommst du vielleicht.“ Der Köder baumelte dicht vor ihm. „Vergiss nicht, wir haben ihren Gefährten hier bei uns. Ich kenne sie. Sie wird nicht darauf warten, dass sich ihr ganzes Lager dazu entschließt, ihn zu retten.“
„Also gut. Nehmen wir an, sie kommt hier her. Sie ist noch so mächtig wie in Karmhang, und ich...“
„Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Deine Gestaltwandlung. Wenn mein Plan aufgeht, wirst du nicht kämpfen müssen. Bring Jilis einfach zu mir. Die Gestalt des Nekromanten annehmen, das könntest du doch?“
Wieder verschoben sich als Antwort die Gesichtszüge des Gehörnten. Eine Mähne weißen Haars strömte aus seinem Nacken, und seine Glieder wurden schmaler und sehniger.
Ein nackter Nekromant deutete vor ihr eine Verbeugung an.
Was für ein Glück, dass gerade dieser Gestaltwandler aus der Hölle nach oben gespült worden war. Jilis mochte noch so stark und unbezwingbar sein – ihrem Gefährten gegenüber würde sie so schwach sein wie jedes Mädchen.
„Dann sprich jetzt von deinem Plan“, raunte die Stimme des Nekromanten.
„Sehr wohl“, sagte Blutrabe und blickte ihm zwischen die Beine. „Als erstes solltest du dir Kleider besorgen. Wir Menschen tragen für gewöhnlich zumindest eine Hose.“

*

Tabitha stand Wache an den Westzinnen. Ein einsames Geschäft. In der Wachstube standen drei zusammen, aber eine musste immer Ausschau halten und die Winkel überblicken, die von der Wachstube aus nicht einzusehen waren.
Sie drehte die Sanduhr in den Fingern. Konnte der Sand nicht etwas schneller rinnen?
Klirrend zerbrach das Glas unter ihren Nägeln, und der Sand ergoss sich auf ihre Stiefel. Nur die Schuld dieser nekromantischen Kraft, die sie jetzt durchfloss. Auch Susa hatte vor zwei Tagen bei den Übungen ein Schwert zerbrochen. Ein Schwert aus Eisen. So viel Macht war schwer zu kontrollieren.
Sie blickte in die Nacht hinaus. Zwischen den Büschen der Aue vor dem Tor huschte ein Schatten durch die Finsternis. ...oder es war nur ihr Wunsch, dass zumindest auf ihrer Wache etwas Aufregendes geschehen würde, von dem sie erzählen konnte. Sie lachte.
Ohnehin war es Zeit für die Wachablösung. Oder war der Sand etwa nicht vollständig nach unten gerieselt? Sie schob die Splitter mit der Schuhspitze vom Wehrgang und steuerte das Wachhaus an.
Im Schein einer Pechfackel standen die anderen Wachen um einen Tisch und scherzten.
„... mit einer einzigen Hand. Knack, war der Bogen durch.“
Alle lachten, und Tabitha betrat den Raum. „Ist ja zum Glück nicht so, dass wir die Bögen noch bräuchten.“
Elle, die die Geschichte erzählt hatte, nickte ihr zu.
„Eben. Seit mich dieser Junge berührt hat, habe ich das Gefühl, dass ich die Pfeile jetzt sogar besser mit bloßer Hand werfen könnte.“
„Was machst du eigentlich hier?“, fragte Yana vom Tisch aus. „Hast du nicht Wachdienst?“
„Das haben wir alle“, sagte Tabitha. „Aber raus in die Nacht muss jetzt eine andere, mein Sand ist durch.“
„Den musst du nach unten geprügelt haben.“ Yana zog ihre eigene Uhr aus der Tasche.
Nun ja, so unrecht hatte sie nicht...
„Warte noch. Ich glaube, ich habe da draußen etwas... gesehen.“
Yana zog sich ihre Kapuze über und war schon auf der Treppe.
„Herrlich, etwas zum Gucken. Nachdem sie den hübschen Jungen jetzt in die Kathedrale geschafft haben... haben wir nur noch den haarigen Hintern von diesem Ziegenmann. Da geht irgendwann der Reiz verloren, wenn er immer nackt über den Hof stolziert.“
Sie war die Treppe längst hinunter, als Imia den Kopf hob.
„Was war das, das du gesehen hast, Tabitha?“
„Es war nur... vielleicht nur ein Schatten von einem Tier“, sagte sie.
Elle winkte ab.
„Tier, Mensch, was auch immer. Mit der Kraft, die wir jetzt haben, müssen wir nicht einmal mehr einen Ringkampf mit einem Bären fürchten.“
Tabitha kaute auf ihrer Lippe.
„Ich glaube eigentlich nicht, dass es ein Bär gewesen ist.“
„Gut, das sollten wir diskutieren. Dann haben wir zumindest etwas zu tun, während der...“
Elle verstummte, und Imia stand von ihrem Stuhl auf, um näher an das Fenster zu kommen. Ein Pochen am Holz des Tors.
Sie sahen sich eine Weile an, dann stand Imia auf. „Dein Bär ist zumindest höflich. Er klopft sogar an.“ Sie winkte Yana auf der Wehrmauer. „Geh nachsehen, wer dort ist.“
Zu dritt saßen sie um den Tisch und warteten. Imia warf eine Münze hoch und fing sie wieder auf. Wieder und wieder. Das Metall funkelte.
Tabitha räusperte sich. „Und wenn es wirklich– “
„Wenn es wirklich was ist?“, fragte Elle. „eine unserer Schwestern? Dann hat Yana den Vorteil, dass sie schon einmal gestorben ist, dass sie die Kraft von zwei Männern in den Armen hat – und das hölzerne Tor zwischen sich und wem auch immer.“
„Es könnten mehrere sein.“
„Ja“, sagte Imia und griff nach ihrem Bogen. „Das könnte tatsächlich sein. Runter.“
Elle murrte, aber legte sich ebenfalls ihre Waffe um die Schulter. „Wer ist hier eigentlich der Anführer...“
Sie mussten den umständlichen Weg hinab nehmen, über das andere Ende des Hofs. Tabitha ging voran.
Durch das Tor konnte niemand eingedrungen sein. Dunkel verstellte es die Sicht auf den Wald. Und damit auch den Weg ins Kloster.
„Da“, flüsterte Imia.
Ein menschengroßer Schatten hob sich vom Tor ab.
„Yana?“, rief Elle.
Keine Antwort. Aber es war Yanas Kapuzenmantel, der dort im leichten Wind flatterte. Neben ihr am Boden lag ein Bündel aus Dunkelheit. Ein Körper.
„Ich musste sie töten“, sagte Yana. „Sie war eine Verräterin.“
Jetzt sah Tabitha, woher der Wind kam, der ihr durch die Kleider strich. Er pfiff durch ein ausgefranstes Loch im Holz des Tors. Wie war die Verräterin hereingekommen? Mit einem Rammbock?
Elle warf Yana einen abschätzigen Blick zu. „Was ist unser Losungswort?“
„Todeshauch.“
„Es ist ernst, Yana.“ Imia festigte ihren Griff um den Bogen „Das Losungswort.“
Tabitha beugte sich zu der Gefallenen hinunter und drehte sie um. Yanas Augen starrten durch sie hindurch in den Himmel. Drei Messergriffe ragten ihr aus der Brust.
Die Fremde, die sie für Yana gehalten hatte, regte sich nicht, die Kapuze noch immer über dem Gesicht.
„Mit einem Losungswort verschafft man sich Zugang. Wie ihr seht, hat sie mich passieren lassen.“
Die Wut zeichnete scharfe Linien in Elles Gesicht. „Nachdem du sie abgeschlachtet hast! Runter mit der Verkleidung!“
Tabitha und Imia zogen die Schwerter und stellten sich um die Mörderin auf. Elle riss ihr die Kapuze herunter, und die Fremde zog die Schultern an den Körper, sodass der ganze Umhang zu Boden glitt. Tabitha erstarrte. Quer über die Brust griff der Frau ein Waffengurt, zum Zerreißen angefüllt mit Messern. In Gürtelschlaufen hingen Handäxte neben Breitklingen, die aneinander klirrten, und auf dem Rücken bildete ein Bündel Wurfspeere zusammen mit einem Zweihänder ein Kreuz.
Sie erkannte das Gesicht.
„Jilis?“, fragte Tabitha.
Elle spuckte auf den Boden und deutete auf Yana. „Sie war eine Verräterin?“
„Ja, genau wie ihr drei“, sagte Jilis.
„Hah. Deine Meinung ist hier nichts wert, Schwester. Du hast hundert Waffen bei dir, aber doch nur zwei Hände, um sie zu führen. Und gerade deinen Bogen hast du vergessen? Sehr nachlässig.“
„Ich habe keinen Bogen mehr, und ich bin nicht deine Schwester.“
Elle seufzte gespielt. „Oh? Hast du dich von uns abgewendet? Wie einsam werden wir jetzt ohne dich sein.“
Noch immer bewegte Jilis keinen Muskel, nur ihre Blicke flogen hin und her.
„Einsam werdet ihr sein, wenn eure Seelen die Niederhöllen bereisen. Ich bin nicht im Namen der Schwestern hier. Nur in meinem eigenen.“
„Um was zu erreichen? Hast du Mitleid mit uns und willst uns zurück auf den rechten Weg führen?“
Jilis Brust bebte unter einem unterdrückten Lachen.
„Davon verspreche ich mir wenig. Ihr habt Maro gefangen genommen, das weiß ich. Bringt ihn zu mir, oder ich hole ihn selbst.“
„Oh, der Nekromant.“ Imia verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. „Er ist freiwillig gekommen, und hat uns sogar ein Geschenk überlassen... mit dem wir dir weit überlegen sind.“
Irgendetwas in Jilis Blick ließ Tabitha einen Schritt zurücktreten. Elle dagegen machte einen nach vorn. „Ja, er war sehr aufmerksam zu uns. Er hat sehr weiche Hände–“
Ein Blitz schoss über ihre Lippen hinweg. Jilis Hand hielt plötzlich einen Dolch. Elles Gesicht klaffte auseinander, gespalten von einer dunklen Linie, die sich über Wange, Nasenbein und Stirn zog. Wimmernd brach sie zusammen, und eine zweite Schneide blitzte in Jilis freier Hand auf.
Imia stieß mit ihrem Schwert nach Jilis Magen, da senkten sich eine Axt und die Spitze einer Klinge von beiden Seiten in ihren Arm. Jilis verwandelte sich in einen Wirbel aus Metallglitzern. Tabitha duckte sich, und Eisen raste über sie hinweg. Imias Schwert klapperte neben der wimmernden Elle auf den Boden.
"Ich hab sie!", rief Tabitha und sprang vor, um einen Ausfall zu landen. Die entwaffnete Imia rammte sich Jilis gegen die Brust und trieb sie auf die Klinge zu. Jilis zog sich selbst die Beine unter dem Leib weg und ließ sich nach hinten fallen. Imia rollte über sie hinweg, und Tabitha stach ins Leere.
"Mein Gesicht!", heulte Elle und richtete sich auf. Etwas blitzte auf wie ein Sternenschweif und prallte ihr mit einem Schmatzen in die Schulter, dass es sie herumwirbelte und niederstreckte. Der Schaft eines Beils ragte ihr aus dem Armansatz.
Imia krallte ihre Nägel in Jilis Schultern und drückte sie auf den Boden. "Jetzt, Tabitha!", rief sie. Tabitha zielte auf Jilis Hals. Zwei Stöße hallten dumpf und schüttelten Imias Körper. Tabithas Schwert ging nieder. In der selben Bewegung hämmerte Jilis Imia mit einem Fauststoß vor die Brust, dass die Jägerin nach hinten stürzte, und rollte sich nach vorn ab. Tabithas Klinge fuhr in den Stein.
Ein Schrei erschallte von der Seite. Einen Arm vor das Gesicht gelegt, schoss Elle auf Jilis zu. Deren Stiefelspitze huschte in den Ansturm hinein und rammte sich in Elles Armgelenk. Jilis fasste nach dem Zweihänder auf ihrem Rücken. Die Waffe glitt aus der Scheide und stürzte wie ein Fallbeil auf Elle hinab und durch sie hindurch.
Tabitha wendete sich soweit ab, dass sie nicht sehen musste, was mit Elle geschah. Etwas polterte gegen die Vorratskisten.
Mit einem Sprung erreichte sie Jilis und setzte eine Finte auf ihren linken Arm an. Als hätte sie den angetäuschten Angriffsversuch nicht einmal wahrgenommen, riss Jilis die Zweihandklinge herum. Ein Strahl aus silbernem Glanz streckte sich nach Tabitha aus, stieß mit einem Ruck in ihre Brust herein. Das Klingenblatt spiegelte den Mond.
Vorbei.
Die Stärke, die ihr der Nekromant verliehen hatte, floss aus ihr hinaus wie aus einem lecken Fass, dann löste sich der Zauber ihrer Herrin. Ein Schleier fiel ihr von den Sinnen.
In einem letzten Augenblick sah sie Jilis, die vielleicht wirklich ihre Schwester war. Mehr als Elle oder Imia.
Dann hüllte Wärme sie ein, von den Schultern bis zu den Zehen. Und Dunkelheit.

*

Jilis wischte sich den Schweiß von der Stirn und schnaufte. Neben ihr auf dem Eingangsmosaik lag die Schwester mit dem Zweihänder in der Brust, und auf der Treppe zu den Wehrgängen die mit den drei Speeren im Rücken. Sie hätte einen Kampf bekommen können, aber sie war gerannt, noch mehr von den Verräterinnen heranzuholen.
Sie sammelte ihre Waffen ein und schloss den Schwestern die Augen. Keine von ihnen hatte den Tod verdient gehabt. Aber weder als die untoten Verräterinnen hätten sie sie ungehindert ins Innere gelassen, noch als die Puppen, mit denen Akara ihr Spiel trieb. Für sie, die sie jetzt zwischen den Fronten dahintrieb, gab es nur einen Weg, und der führte in das Herz des Feindes.
Sie schob den Zweihänder zurück in die Scheide. Eine gute Arbeit, die Vega besorgt hatte. Vielleicht aus den Schmieden der nördlichen Eiswüsten.
Einen Augenblick blieb sie vor der Niedergestreckten bei den Vorratskisten stehen. Das Schwert in Gesichter zu stoßen, in die sie seit ihrer Geburt blickte... Aber sie trug keine Schuld daran. Nein.
Sie beugte sich nieder und schloss auch der mit dem gespaltenen Gesicht die Augen. Was hatte sie gesagt? Maro sollte ihnen Kraft geschenkt haben? Dabei hatte sie sie zerbrochen wie Spielzeuge. Offenbar hatte er ihr mehr Kraft geschenkt. Sie lächelte.
Stille im ersten Hof.
Die Toten zu verstecken würde sie sich ersparen können. Denn zumindest das zerstörte Tor ließ sich vor Niemandem verbergen. Wenn jemand die Geräusche des Kampfes gehört hatte und nachsehen kam, dann würde sie ihn ebenfalls zerschmettern müssen.
Wieder unter dem Kapuzenmantel verborgen, schmiegte sie sich an die Wände und umschlich die Terrassengänge. Wie eine Verbrecherin, in ihrem eigenen Zuhause.
Über dem Garten, der zu Asche zerfallen war, patroullierten zwei Fackelträger. Jilis duckte sich hinter Stützsäulen und verbarg ihren Schatten vor dem Feuerschein.
Von der einstigen Pracht standen nur noch verkohlte Stümpfe, und Asche bedeckte die Erde. Wahrlich, das Kloster war gefallen. Doch sie war nicht gekommen, um den Schwur wahr zu machen, den sie alle damals in der Kathedrale geleistet hatten. Das Kloster würde nie wieder ihr Heim werden.
Als die Fackeln in einem Wachhaus verschwanden, schlüpfte sie über den Hof zum Portal der Kathedrale. Dort würde sie zumindest eine kurze Ruhepause haben, in der sie sich überlegen konnte, wohin sie Maro gebracht haben konnten. Oder wohin er von selbst gegangen sein konnte... Nein, das war unmöglich.
Sie zog einen Portalflügel auf, so langsam, wie sie konnte. Wenn das Holz jetzt knarzte... Sie hatte das Gefühl, es würde über sämtliche Innen- und Außenhöfe hallen.
Aber das Holz blieb stumm, und als der Spalt groß genug war, zwängte sie sich hinein.
Ihr flog der selbe Geruch des Räucherwerks zu, der schon damals im Gemäuer gehangen hatte. Die Bänke standen in artigen Reihe, und auf dem Altar und in den Seitenschiffen verbreiteten Kerzen ihr Licht. Und sie hatte eher damit gerechnet, dass sich der Ort in einen unheiligen Tempel verwandelt hätte. Doch selbst die Statue der Herrin des verborgenen Auges thronte noch auf der Empore.
Jilis wich in das Seitenschiff aus. Nur für den Fall. Sicher sandte niemand in diesen Mauern mehr Gebete an die Herrin, aber jemand musste die Kerzen entfacht haben.
Sie strich mit den Händen an den Flämmchen vorbei und genoss die Wärme. Nach all den Jahren der Übung nutzte ihr Training nun doch nur dazu, wieder zurück an den Anfang zu kommen.
Etwas klackte auf den steinernen Boden. Sie wandte sich um. Dunkelheit, und das warme Licht der Kerzen. Auch kein Klacken mehr.
Als sie sich wieder zu den Kerzen drehte, klackte es erneut, in einem regelmäßigen Rhythmus. Es kam näher. Sie blieb starr stehen, als hätte sie nicht gehört. Vom Geräusch her schätzte sie noch einige Schritte Distanz. Dann fuhr sie herum, und ihr Jagdmesser zischte aus der Scheide.
Die Klinge legte sich an weiche Haut. Das Kerzenlicht fiel auf einen dunklen Mantel, verziert mit einem Schädel.
„Jilis?“, fragte eine Stimme, die ihr mit ihrem Klang die Kraft aus den Gliedern sog.
„Maro?“
„Ich habe gewusst, dass du kommen würdest, um mich hier hinauszubringen.“
„Es ist schwer genug gewesen, hier hereinzukommen... Die Jägerinnen erzählen, du hättest ihnen Kraft geschenkt.“
Maro brachte vorsichtig eine Hand zwischen die Klinge des Jagdmessers und seinen Hals.
„Nimm dein Messer weg, und ich kann dir die Wahrheit sagen.“
Sie nickte und steckte ihre Waffe zurück in die Gürtelscheide, zu ihrem Arsenal.
„Die Wahrheit, ja? Dann ist es also nicht wahr, was sie mir gesagt haben?“
„Sie haben mich gezwungen, und Aradeia, die Dämonin, hat einen Nebel um die Geister von jedem in dieser Festung gelegt. Ich kann ihn noch immer spüren.“
„Ah. Dann verdanke ich es diesem Nebel, dass sich in Karmhang meine eigene Faust mir in die Niere gerammt hat?“
„Hm, das tust du wohl. Verzeih mir, aber es ist nicht meine Schuld gewesen.“
Maro sah sich nach den Seiten um. Irgendetwas in seiner Haltung passte nicht zu dem Jungen, den sie auf seinen Reisen begleitet hatte. Aber es konnte die Nachwirkung des Geistesnebels sein, von dem er gesprochen hatte.
„Dein Feuerriese, jedenfalls, dem habe ich mein Leben zu verdanken. Als du verschwunden bist, ist ein Gigant aus den tiefsten Höllen gekommen, um mich zu holen. Ein Ziegenbock von der Schulterhöhe eines Kirchturms. Er wird jetzt einige hübsche Brandflecken in seinem Fell haben, und ein Auge weniger auch.“
„So?“, fragte Maro. Sein Körper schien sich zu versteifen.
„Was haben sie mit dir angestellt? Du bist nicht einmal gefesselt...“
Er zuckte mit den Schultern, aber an der Bewegung fehlte etwas. Das ewige Lauern, das dem Jungen immer angehaftet hatte, wohin er auch gegangen war.
„Wahrscheinlich haben sie es nicht für nötig gehalten. Die Ausgänge werden bewacht, jeder einzelne.“
„Einen, den nach Westen hin, habe ich freigeräumt“, sagte sie und lächelte. „Weißt du, ein paar sehr kurze Momente lang, da habe ich geglaubt, was Akara im Lager verbreitet hat. Dass du uns verraten hättest. Aber dann ist mir eingefallen, dass du nie auf unserer Seite gewesen bist, wie hättest du uns also verraten können?“
„Akara ist nur vorsichtig, ich kann das verstehen.“
„Du?“ Jilis lachte. Das waren ganz neue Töne. „Dich hat sie doch am lautesten beschimpft und verleumdet... Und mich auf dich angesetzt. Aber ich gebe jetzt nichts mehr auf ihre Worte. Sie haben nicht weniger bösen oder guten Willen, als es die von dieser Dämonin haben mögen.“
„Das heißt, du hast dich von ihr abgewendet? Ich bin froh, Jilis.“
Froh also. Seltsam, ich hätte immer gedacht, du könntest keine Regungen wie andere Menschen empfinden.“
Mit dem Nekromanten musste in der Gefangenschaft eine Wandlung geschehen sein, die über diesen seltsamen Gedankennebel hinausging... Jetzt sprach er schon darüber, wie er sich fühlte.
Einer seiner Finger streifte ihre Hand.
„Natürlich kann ich Regungen empfinden, und du weißt das.“
Sie wich zurück und schlug ihm instinktiv die Hand weg. Was sollte das?
„Wir sollten raus hier.“
Kurz stand er erstaunt da, dann nickte er. „Gut. Ich kenne einen Weg, an dem die Wachmannschaften dünn sind. Folg mir. Wir haben noch später Zeit für alles.“
Alles?“, murmelte sie und ging ihm durch die Reihen der Kerzen hinterher.
Glut schoss ihr in die Wangen. Wovon sprach er, zum Teufel?
Sie schüttelte sich und legte eine Hand um den Griff des Jagdmessers. Irgendetwas war in ihn gefahren – und Dämonen musste es hier doch genug geben, die die Körper von Menschen besetzten.
Jede seiner Bewegungen verfolgte sie. Wie er an das Tor herantrat und einen Flügel aufstieß, ihn für sie offen hielt.
"He, Jilis", sagte er, während sie an ihm vorbeitrat. "es ist schön, dass wir uns wiedergefunden haben."
Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, und er legte die Arme um sie.
Sie handelte, bevor sie es wusste.
Das Messer flog ihm über die Kehle und zog einen roten Schweif hinter sich her, der sich auf das Holz des Portals malte.
Der Nekromant stürzte, Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht. Dann war sein Gesicht nicht mehr, es zerfloss wie ein Lehmklumpen im Wasser. An seine Stelle trat der Kopf eines Ziegenbocks mit nur noch einem einzigen Auge. Roter Schaum trat vor den Mund des Wesens. Baphomet. "Woher?", röchelte er. "Woher... hast du es gewusst?" Die Blasen rannen ihm das Kinn hinab. Langsam verformte sich der ganze Körper. Selbst der dunkle Stoff der Kleidung schmolz fort, verwandelte sich in dichte Haare.
"Gewusst? Du hast versucht, mich zu umarmen. Also hast du einen Dolch zum Knutschen bekommen."
Sie spähte nach draußen, zog den sterbenden Dämon wieder in die Kathedrale und schloss das Portal.
"Aber... Sie hat gesagt... ihr... Gefährten."
"Aradeia hat das gesagt?"
"Blut...rabe."
Blutrabe hetzte ihr Gestaltwandler nach, mit falschen Informationen. Vielleicht hatte sie ihr nur in die Hände gespielt, indem sie das Leben des Ziegenmanns beendet hatte.
"Die Schwestern dürfen sich keinen Gefährten wählen."
Sie nahm den Beidhänder hervor und zielte auf die Brust des Dämons. Selbst einer wie er verdiente kein unnötiges Leiden.
"Aber du... nicht mehr."
Mit dem Stoß brachen seine Augen, und er sank zusammen.
Sie wischte die Klinge an seinem Fell sauber und verstaute sie.
Nein, sie war keine Schwester mehr. Zumindest mit dem letzten Atemzug hatte der Dämon die Wahrheit gesprochen.
Und Maro verdankte sie es, dass sie keine Schwester mehr war.

*

"Es ist die höchste Zeit für unsere Entscheidung."
Akaras Stimme drang durch das Loch des Kommandozelts, das Vega mit ihrem Messer hineingestochen hatte. Sie presste sich flach auf die feuchte Erde. Nur keinen Schatten an der Zeltwand werfen. Vor ihrer Nase krabbelten Käfer an den Grashalmen entlang. Es schüttelte sie in ihrem Innern. Sie musste jetzt aushalten...
"Nicht für diese Entscheidung, Akara."
Kaschyas Stimme.
"Wir haben die Verderbnis lange genug in unserem Land geduldet. Du hast gesehen, wie sie selbst unsere eigenen Schwestern befallen hat."
"Aber was haben wir bisher an Wissen gewonnen, was einen Angriff rechtfertigen könnte?"
"Wissen", begann Akara, und in ihrer Stimme klang eine Spur von Verachtung. "Ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist der Glaube daran, das Wissen zum Nutzen bringen zu können und damit Erfolg zu haben.“
"Dennoch ist das einzige Wissen, das wir haben, ist das über den Umgang mit Bogen und Klingen."
"Und dazu rechne nun den Glauben, mit diesem Wissen unsere Heimstatt zurückzuerobern."
Vega richtete sich auf. Nur einen einzigen Blick durch das Loch...
Akara saß an der Spitze der Versammlung und legte einen Arm um die Schultern von Zethys, die neben ihr saß. Die arme, alte Frau...
Die jüngeren Kriegerinnen des Rats beantworteten die Geste Akaras mit Jubel. Nur Zethys blickte unverwandt geradeaus, und Kaschya setzte zu sprechen an, doch die Rufe übertönten sie.
Ein Kribbeln rann ihr über das Rückgrat. Akaras Blick schien direkt zu ihr zu gehen. Die Oberin reagierte nicht, sondern starrte weiter.
Vega hielt den Atem an. Wenn sie sich jetzt bewegte, musste etwas Schreckliches geschehen. Sie wusste es tief in ihrem Innern.
Als der Jubel nachließ, wandte Akara sich wieder ab.
Vega atmete erleichtert aus.
„Ich kann nicht glauben, dass du noch Zweifel hast, Kaschya. Wir treiben die Dämonen zurück in ihre Heimat, denn wir glauben an unsere Arme und unsere Waffen. Sollte ein Hauptmann uns nicht diesen Glauben geben?“
Über Kaschyas Gesicht legten sich Schatten, und einen Herzschlag lang sah sie so uralt aus wie Zethys.
„Sagt mir, wann ich den Sturm führen soll.“
Sie hatte bei diesen Worten überhaupt nichts von einem Hauptmann, der sein Heer in die Freiheit führte. Genau so wenig, wie Zethys etwas von der Legende hatte, die den Dämonen ins Auge blickte.
„Wir greifen noch an, bevor der Morgen graut. Allein schon deshalb, weil das Lager noch mehr Verräter bergen könnte, die dem Feind bald unseren Plan verraten könnten.“
Noch mehr Verräter? Noch mehr als Jilis? Vega nahm sich zusammen, um nicht die Zeltplane zu zerreißen und in die Versammlung zu platzen.
„Das sind nur wenige Stunden Vorbereitungszeit für uns“, sagte Kaschya und sah sich unter den Jägerinnen im Zelt um. Keine von ihnen reagierte. Sie hatten ja Zethys, ihre Legende... wer brauchte sich da vorzubereiten? Es war ein solcher Wahnsinn...
„Und für unsere Feinde genau so, falls sie davon erfahren sollten. Wir haben lang genug in der Wildnis gehaust. Es geht zurück in unser Heim.“ Akara breitete die Arme aus, umfasste den ganzen Raum mit einer Geste. Zethys starrte nach vorn, als hätte ihr Geist sie längst verlassen.
Sie alle hatte der Geist längst verlassen...
Kaschya senkte den Kopf, und Akara fuhr fort.
„Wir werden gegen unsere einstigen Schwestern kämpfen müssen. Aber sie sind es gewesen, die uns verraten haben. Was den Nekromanten betrifft, und Jilis...“ Vega horchte auf. Akara legte eine Hand auf den Bauch, als fühlte sie den Stoß mit der Eisenstange ein zweites Mal. „...den Titel, den ich ihr verleihen wollte, den bekommt diejenige, die mir ihren kalten Körper bringt. Das Selbe gilt für die, die den des Nekromanten heranschafft.“
Ein Aufschrei wollte ihr aus der Kehle. Sie bedeckte den Mund mit den Händen, und nur ein Fiepen drang hinaus. Akaras Blick heftete sich wieder an die Zeltwand, und sie hielt in ihrer Rede inne. Sie machte eine Geste zu einer der Kriegerinnen neben sich, die das Auge auf der Stirn trug, und flüsterte etwas. Die Kriegerin erhob sich.
Vega tauchte fort von ihrem Guckloch und presste sich wieder auf die Erde. Was sollte sie tun? Laufen, laufen wie der Wind? Die Schwester würde sie sehen. Sehen wie sie davonlief, und das würde jeden Zweifel ausräumen. Aber sie musste Jilis warnen!
Die Plane am Eingang des Zelts wurde fortgeschlagen, und ein Schemen trat heraus.
Sie presste sich auf die Erde, als könne sie das unsichtbar machen. Vielleicht übersah die Schwester sie...
Käferbeine kitzelten sie an der Nasenspitze und der Stirn. Sie hielt die Luft an und krampfte sich zusammen.
Die Stimmen im Zelt sprachen weiter, gingen ineinander über. Vor ihr stand die Jägerin, deren schiefe Nase sie unter Hunderten erkannt hätte. Tyreé. Ihre Blicke trafen sich. Jetzt war es aus. Wenn Kaschya Jilis' Tod belohnen wollte, dann würde auch Tyreé jetzt nicht leer ausgehen, wenn sie...
„Ein paar von Elenes Hühnern haben sich verlaufen“, rief Tyreé ins Zelt zurück. „Ich bringe sie rasch ins Gehege zurück.“
Vega begriff nicht. Was hatte das zu bedeuten?
Tyreé blickte sich nach allen Seiten um und trat auf sie zu.
„Glotz nicht, komm da weg. Bevor wir noch Gesellschaft bekommen.“
Sie löste sich aus der Starre, schüttelte die Käfer von ihrem Gesicht und erhob sich. Tyreé zog sie einige Meter weit. „Was hast du jetzt mit dem Wissen vor, das du dir erschlichen hast?“
„Ich...“ Vega ballte die Fäuste. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, zu lügen. „Ich werde Jilis warnen. Damit ihr sie nicht bekommt.“
Tyreés Miene blieb undurchdringlich. „Dann weißt du, wo sie ist?“
„Ich werde es dir nicht sagen!“
Diesmal zuckte ein Lächeln auf Tyreés Gesicht.
„Gut. Sieh zu, dass du es auch niemandem sonst verrätst.“
Vega runzelte die Stirn.
„Was wirst du jetzt mit mir tun?“
„Weswegen sollte ich mit dir etwas tun?“
„Weil ich... alles gehört habe.“
„Alles? Lange nicht. Sei froh. Ich muss jetzt zurück und lächeln und nicken. Bei jedem Wort, das über Akaras Lippen kommt.“
Tyreé wandte sich ab, und Vega blieb zurück. Was sollte das?
„Tyreé! Wieso hast du mich nicht verraten?“
„Vielleicht tue ich das noch, also beeil dich lieber, wo auch immer Jilis im Moment stecken mag.“ Sie drehte sich noch einmal um und legte die Faust auf die Brust. „Ich bin nicht so blind wie die anderen Offiziere. Jilis hat mir damals die Nase gebrochen, weil sie einer Schwester zu Hilfe kommen wollte... Sie ist keine Verräterin. Auch jetzt nicht.“
Dann verschwand sie wieder im Zelt.
Sie musste Jilis hinterher, so bald es ging. Sie warnen, dass die Schwestern, die ihr folgen würden, es nicht zu ihrem Schutz taten. Wenn sie nur nicht schon im Kloster war...

Sie plünderte das Zelt, das sie gemeinsam mit Jilis bezogen hatte. Keine von ihnen beiden würde es je wieder benutzen.
Sie stopfte sich einen Sack voll mit allem, was sie finden konnte. Proviant für einige Stunden der Reise... Aber was würde danach sein? Egal, was geschah, ins Lager würden sie nicht mehr zurückkehren können. Sie füllte den Proviantsack weiter, mit Eisbeerenkuchen und einigen Brotscheiben.
Ihren Bogen schnallte sie sich auf den Rücken, und füllte den Köcher mit den letzten Jagdpfeilen. Eigentlich war es Frevel, dass sie für diese Mission den Bogen nahm... Der Wille der Schwesternschaft war Jilis' Tod, und sie stellte sich diesem Willen in den Weg. Aber schließlich kannte der Orden als Herrin längst nicht mehr die des verborgenen Auges. Nicht mehr die körperlose Göttin führte sie an, sondern eine alte Zauberin.
Außer dem Bogen fand sie als einzige Waffe die Klinge, die nach Jilis Einschätzung trudelte wie eine besoffene Ente.
Sie lächelte. Wenn es darauf ankam, dann war eine trudelnde Klinge besser als gar keine. In ihrer Hand würde vermutlich ohnehin jede Klinge trudeln.
Sie trat aus dem Zelt und schulterte das Schwert und ihr Gepäck.
Ich komme, Jilis.

*

Die Kerzen auf dem Altar leuchteten den Gang gerade genug aus, um erkennen zu lassen, dass es ihn gab.
Eine Aussparung im Boden hinter dem Altar... Als Jilis näher herantrat, blitzte ihr von unten Fackelschein entgegen und spiegelte sich auf Treppenstufen. Der Gang hätte ihr irgendwann auffallen müssen, in all den Jahren. Oder es gab ihn erst seit kurzer Zeit.
War es wirklich so, wie der Dämon es gesagt hatte? Dass Maro gezwungen worden war, den gefallenen Schwestern mit seiner Macht zu helfen? Er hatte doch selbst etwas gesucht, und war über die Kontinente hinweg gereist, nur, um es zu finden...
Mit zwei Beilen in der Hand sprang sie in den Gang und hastete die Treppe hinunter. Die Wände glichen denen des Klosters aufs Haar, als hätte der selbe Architekt sie erbauen lassen. Aber das war unmöglich.
Am Fuß der Treppe folgte ein Raum. Sie presste sich an die Wand und spähte hinein. Rausteinerne Wände wie im Kloster, und ein Geruch wie in der Bäckersstube. Nach Hitze. Der Raum endete in einem Balkon, und dahinter... Sie schlich vor, dann blieb sie bei einem steinernen Thron stehen, von dem aus Menschenschädel sie angrinsten. Ein Thron aus Knochen. Wie tief war sie hinabgestiegen? In die tiefste Hölle?
Dann flammte ein Licht am Balkon auf. Eine Bö aus Feuer zog vorüber und peitschte ihr heiß über die Haut. Ja, sie war wirklich in die tiefste Hölle geraten.
Krater voll geschmolzenen Gesteins gähnten jenseits der Brüstung in einer pechschwarzen Öde, und flüssiges Feuer floss in Strömen dahin.
Hatte er das gesucht, der dumme Nekromant? Die Hölle?
Die Flammenfunken zogen an ihr vorbei, und noch ein zweiter Luftzug, der von hinten kam. Sie sprang zur Seite. Neben ihr sauste die Stange einer Hellebarde nieder, und das Axtblatt brach einen der Schädel von der Armlehne des Throns. Die Zähne splitterten fort, und der Unterkiefer rollte über den steinernen Boden, bis er zu den Füßen eines Mädchens liegen blieb. Ihre Haut schimmerte wie Schnee in der Wintersonne, und Flügel aus pechschwarzem Leder sprossen von ihrem Rücken. Als sie die Waffe zu sich zurückzog, klapperten die Glieder eines bronzenen Harnischs.
Jilis warf ihren Kapuzenumhang fort, und die Feuerwinde packten ihn und zogen ihn in die Vulkanöde. Die Zeit des Versteckens endete hier.
„Du musst Aradeia sein“, sagte sie. Die Waffen an ihrem Gürtel klirrten und schabten aneinander.
„Und du? Bist du Prinzessin Hundertwaffe?“ Das Mädchen lachte, und ihr Lachen hallte wie Glockenklang, der zwischen gläsernen Wänden hin- und her geworfen wurde. „Leider bin ich nur Aradeias Tochter. Aber auch ich habe die Erlaubnis, dein Leben für das Betreten dieser Kammer zu beenden.“
„Die Erlaubnis hatten auch die Jägerinnen auf den Zinnen, und es hat sie nicht weit gebracht.“ Jilis duckte sich in Angriffsposition. „Ich bin nicht hier, um diesen Thronsaal zu schleifen. Nur, um einen Freund zu holen.“
Das Mädchen strich sich durch das feuerrote Haar und über die Hörner, die ihr am Haaransatz aus der Stirn sprossen.
„Dann sei willkommen, Jilis. Vor dir wurden wir bereits gewarnt.“
„Das ist gut, aber ich warne dich trotzdem noch einmal selbst: Zeig mir den Weg zu ihm, oder ich treibe dich zurück in deine Hölle.“
Wieder erklang das glockenhelle Lachen. Die Dämonin setzte sich auf die Armlehne des Throns und überkreuzte die Beine.
„Liebe Jilis, wir sind hier unten schon längst eher in dem Reich, das du Hölle nennst, als in deiner Welt. Dem Nekromanten scheint es hier gut zu gefallen. Er möchte gar nicht mit dir kommen.“
„Weil ihr ihn mit einem Zauberbann gebunden habt, du und deine grässliche Mutter.“
„Er ist von ganz allein zu uns gekommen.“
Jilis festigte den Griff um ihre Handäxte.
„Du lügst.“
Maro hätte sich nicht in die Arme dieses Dämonenvolks gegeben, nicht für eine Sekunde.
„Ich bin seine Wächterin, und vor genau solchen Eindringlingen wie dir soll ich ihn beschützen. Darüber hinaus bist du eine Tochter des Auges, und ich könnte dich ohnehin nicht gehen lassen.“
Eine Woge aus Feuerfunken zog am Balkon vorüber und erleuchtete den Thronsaal.
„Ich bin niemandes Tochter.“ Sie griff eine Axt um, sodass sie sie mit der Rückhand führen konnte. „Los, Dämon, lass uns kämpfen.“
 
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XV Göttertraum

Tyreé prüfte die Spannung ihres Bogens. Bald schon würde die Waffe Leben fordern – nicht mehr als nötig, wie sie hoffte.
Die dichten Haselsträucher verdeckten die rastenden Kriegerinnen vor ihnen. Es war jetzt die letzte Chance.
„Wieso gehst du nicht zurück zu deiner Einheit?“, fragte Kaschya. Durch das Blätterdach drang nur ein schwacher Hauch Mondlicht zu ihr. Sie kauerte im Schatten wie ein Wolf.
Aber nicht wie ein Wolf, der auf sein Opfer lauerte, sondern wie einer, der selbst Opfer geworden war und sich jetzt vor den Blicken verbarg.
„Ist das ein Befehl?“
Tyreé spähte hinaus zu den rastenden Grüppchen. Auch ihre war darunter. Eine Dutzendschaft, die sie anführen würde. Als Speerspitze würden sie durch einen Spalt im Westtor dringen, das die Späher ausgemacht hatten. Kaschyas Schlachtplan stand... aber es gab noch mehr, das den Ausgang dieses Kampfs bestimmen würde.
„Als wäre ich noch im Stande, Befehle auszugeben, Tyreé.“
„Das bist du. Du hast den Haufen, der von uns übrig war, zu einem Heer geformt.“
„Ja, auf den Befehl von Akara hin. Siehst du das nicht? Ihr seid das Eisen, ich bin der Schmiedehammer, und sie ist diejenige, die den Hammer führt. Sie ist auch diejenige, die das Schwert schwingen wird, wenn es fertig geschmiedet ist.“
„Gefallen dir die Bilder, die du dir da malst? Vielleicht ja, weil du dir dann einreden kannst, dass du zumindest darin einen schönen Platz hast. Den und nämlich das ganze, hübsche Bild würdest du zerstören, wenn du dich daraus erheben würdest.“
Die Gräser raschelten, und Kaschya trat unter den Ästen hervor. Ihr Kettenhemd spiegelte Streifen von Mondlicht.
„Wie sprichst du mit deinem Hauptmann?“
„Verzeih, Kaschya. Ich hatte für einen Moment das Gefühl, mit einer Geringeren zu reden, als du es bist.“
Ihr Hauptmann seufzte.
„Was soll ich tun? Egal, was ich versuchen würde - Akara ist eine Zauberin, und im Alter lässt die Kraft der Magie nicht eben nach. Wenn sie mich nicht niederstreckt, dann tut es eine von euch, die sich danach sehnt, ein ‚Hauptmann’ vor ihrem Namen zu hören.“
„Ich kann auch gut ohne eine Höflichkeitsform auskommen.“
„Du schon–“
Tyreé nahm sie an der Schulter und zog sie zu sich heran. Sie musste wieder Leben in diese tote Hülle bringen.
„Genau, ich. Ich weiß nicht, was die anderen aushecken, aber du hast zumindest eine Verbündete.“
Kaschya schob ihre Hand fort und ging mit gemessenen Schritten auf die Lagernden zu.
„Eine Verbündete in welchem Kampf denn? Ich habe nicht vor, noch einen zu schlagen.“
Tyreé befeuchtete die Lippen. Sie wusste ja nicht einmal, ob Vega und Jilis sich im Kloster befanden. Aber wenn, dann konnte sie etwas tun.
Ich will aber noch einen Kampf schlagen“, sagte sie. „Ich glaube, dass Jilis und Vega im Kloster sind, und wenn wir sie nicht hinausschaffen, wird Akara sie richten lassen. Mit meinen zwölf Jägerinnen werde ich sie suchen gehen, und versuchen, sie zu retten.“
Unvermittelt blieb Kaschya stehen.
„Rette lieber dich selbst. Wenn du versuchst, was du da vorhast, wird Akara dich genau so beseitigen, und du wirst auch die Last der verlorenen Leben deiner Kriegerinnen tragen müssen. Egal, ob du Jilis retten kannst oder nicht.“
Tyreé wartete mit den nächsten Worten ab. Die Zweige raschelten an ihrer Leinenhose.
„Es ist ein Tanz mit dem Teufel. Aber ich will nicht dieses Schwert sein, das Akara da aus uns schmiedet, um es dann nach ihrem Willen zu schwingen. Ich bin mein eigenes Schwert.“
„Hm“, machte Kaschya. Langsam drehte sie sich um, und in ihren Zügen malte sich Unsicherheit ab. „Ein Schwert hat zwei Schneiden. Mit einer kraftvollen Parade treibt dir dein Gegner es ins eigene Fleisch.“
Was hieß das wieder?
„Du hast immer noch Macht, Kaschya. Wenn du dir zwanzig Schwestern zusammensuchst und sie selbst in die Schlacht führst, dann wird dich niemand aufhalten. Und im Kampfgetümmel hören sie wieder auf deine Kommandos. Akaras hehrer Glaube an den Sieg ist für die Säue, wenn die Feinde euch in die Zange nehmen.“
Kaschyas Finger tasteten über das Holz ihres Bogens. „Wohin soll ich meine Kriegerinnen dann führen?“, fragte sie halblaut. Eher sich selbst als Tyreé.
„Das kannst du dann entscheiden.“
Mehr als das konnte sie nicht tun. Wenn Kaschya sich nicht selbst entschied, ihr zu folgen, dann würde sie mehr Gefahr als Hilfe sein.
„Wie nennt sich deine Einheit?“
„Wir sind die Wolfszähne. Selbst ein Welpe hat schon achtundzwanzig Zähne im Maul, wir füllen ihm mit unseren Kriegerinnen also leider nicht einmal den Oberkiefer...“
„Er sollte zumindest ein paar Zähne auch in den Unterkiefer bekommen, damit sein Biss den Feind auch schmerzt.“ Kaschya schwieg kurz. Sah sie zum Mond auf? Dann setzte sie sich in Bewegung, in Richtung des Lagerplatzes. „Wir werden nicht mehr reden können, bevor ich den Sturm ausrufe. Aber wenn ich mir eine Einheit nehme, dann wirst du am Namen erkennen, wie ich mich entschieden habe.“
Ihre Silhouette wanderte durch die Bäume am Waldrand und hielt auf das Lager zu.
Tyreé lehnte sich an den Baum, in dessen Schatten Kaschya sich verborgen hatte.
Für die nächsten Stunden lag es nicht mehr in ihren Händen, was geschah. Erst am Morgen wieder, wenn die Wolfszähne sich durch die Tore des Klosters des verborgenen Auges beißen würden. Oder bei dem Versuch zerbrachen.

*

Die Stange der Hellebarde fegte über den Tisch und riss eine Tonschale voller Äpfel mit sich. Jilis setzte einen Fuß auf die Tischkante und stieß sich ab. Das Axtblatt fegte ihr unter den Füßen vorbei. Sie riss ein Knie hoch und schmetterte es gegen die Bronzerüstung der Dämonin. Die Glieder klirrten und sprangen durcheinander, und Taubheit rammte sich in Jilis’ Bein. Sie zog das zweite nach und warf sich nach vorn. Ihr Knie prallte gegen das Kinn ihrer Gegnerin und schleuderte ihr den Kopf nach hinten.
Wie Blitze zischten die Äxte aus ihren Händen. Eine prallte von der Brust der Dämonin ab und sprengte zwei Bronzeglieder heraus, die andere wirbelte auf ihren Hals zu.
Die Luft erzitterte wie unter dem Stoß eines Sturmwinds, dann verschwamm sie um das geflügelte Mädchen. Ihr Körper wurde blass wie Äther, verschwand gänzlich, und die Axt klirrte gegen die steinerne Wand.
Ein Hieb traf Jilis in den Rücken, streckte sie lang über den Tisch hin. Sie rollte sich zur Seite auf eine gepolsterte Liege. Über ihr schwebte ihre Gegnerin, schlug ruhig mit den Flügeln.
Offenbar verzerrte sie den Raum und wechselte ihre Position...
Dann waberte die Luft wieder, und neben ihr erschien aus dem Luftzittern eine zweite Dämonin, die ihr bis aufs Haar glich.
„Du hast lang gebraucht, Lia.“
Die zweite schwieg, und aus einer schimmernden Scheide an ihrer Seite zog sie ein Rapier, dünn wie eine gestreckte Nadel.
Jilis sprang auf, die Rapierträgerin stürzte sich mit angelegten Flügeln auf sie. Mit zwei Dolchmessern in den Händen machte sie sich zur Parade bereit. Die Rapierspitze zielte auf ihre Brust, doch plötzlich zitterte die Luft wieder, und die Gestalt vor ihr verschwamm.
Sie rollte sich zur Seite über den Tisch und hörte noch, wie der Stoßdegen über den Stoff ratschte und in das Polster fuhr.
Für diesen Kampf brauchte sie auch Augen am Hinterkopf.
Aus der leeren Luft heraus fuhr die erste Dämonin, die Hellebarde zu einem Überkopfhieb erhoben. Jilis ließ das Messer in ihrer verkrüppelten Hand fallen und legte die Finger um die Tischkante hinter sich. Das zweite Messer schleuderte sie auf das Gesicht der Dämonin.
Die Hellebarde verschwamm zusammen mit der Kriegerin, das Messer sauste durch zitternde Luft.
Jilis reagierte sofort. Sie pumpte Kraft in den magischen Arm und riss mit der Hand den Tisch hoch. Als sie sich umdrehte, manifestierten sich eben die schwarzen Schwingen, und die Tischplatte krachte gegen das, was sich dort zwischen ihr und der Steinwand befand. Ein schriller Schrei gellte durch den Thronsaal. Es klang, als seien gläserne Glocken zersprungen. Die Flügel klappten nach unten, und als der Tisch über die Liege nach unten rutschte, rollte ein Körper aus Elfenbein darüber hinweg zu Boden.
„Mireh!“, rief die zweite Dämonin. In ihren Augen flackerten Flammen auf. „Das büßt du mir, Jägerin!“
Jilis nutzte die Kampfpause und klemmte sich drei schmale Wurfklingen zwischen die Finger jeder Hand.
Fauchend raste die Dämonin zu ihr, der Stoßdegen tänzelte in einer Sturmflut aus Hieben auf ihre Rüstung zu. Jilis tauchte unter einem Ausfallstoß hindurch und sprang hinter die Gegnerin. Sie zielte erst gar nicht. Auf einem Bein wirbelte sie herum, entließ die Flugdolche in alle Richtungen, indem sie die Finger spreizte. Ein Luftzittern, dann erneut ein Schrei.
Hinter ihr sank die Dämonin auf die Knie. In ihrem einen Flügel klaffte ein Loch, im anderen zwei, und die Fetzen wehten im warmen Höllenwind.
„Spar dir deine Zauberei“, sagte Jilis. „Noch einmal täuschst du mich nicht. Komm, und wir kämpfen wie in meiner Welt.“
Der Atem der Dämonin rasselte. Ein hässlicher Missklang. „Deine Welt ist bald Asche, Menschenkind!“, fauchte sie.
"Ich bin nicht hier, um eine ganze Welt zu retten. Nur, um dich aus dem Weg zu schaffen, wenn du nicht von allein verschwindest."
Wieder zitterte die Luft um ihre Gegnerin. Ihre Gestalt tauchte vor dem beinernen Thron auf. Sie streckte die Hand nach dem Herrschersitz aus und ballte eine Faust. Die Schädel auf den Lehnen schüttelten sich und klapperten gegeneinander, dann sprangen sie in die Luft und sammelten sich um die Hand der Dämonin. Kieferknochen griffen ineinander und formten sich zusammen zu einem Wall, einen Schritt in Höhe und Breite. Ein Schild aus Gebein.
Jilis zog ein Breitschwert zur Parade und tastete an ihrem Gürtel nach einer Waffe zum Angriff. Ihre Finger glitten über die leeren Gürtelschlaufen und blieben am Griff ihres Jagdmessers hängen. Besser, als mit bloßer Hand zu kämpfen. Sie zog die Klinge.
In der Ferne brodelten die Lavaströme eines Bergs, und Lia, die Dämonin, stürmte an.
Jilis lenkte einen Rapierstoß mit der Breitklinge an sich vorüber und riss mit einem Messerstreich Knochensplitter aus dem grässlichen Schild. Dann schoss die Wand aus Gebein vor und rammte sich in sie hinein.
Sie stolperte zurück, Knochenscherben ritzten und schabten über die nackte Haut an ihren Armen und über ihr Gesicht. Ihre Gegnerin schob sie vor sich her, auf die Brüstung des Saals zu. Sie verlor immer mehr Boden. In ihren Nacken schlug eine Hitzewelle aus der glühenden Einöde.
Noch zwei Schritte bis zur Brüstung. Sie ließ ihr Breitschwert fallen und stemmte sich gegen den Schild, stieß sich zu einem Rückwärtssprung ab. Als sie sich zur Seite drehte und der Knochenwand entkam, biss der Stoßdegen nach ihrer Brust. Sie griff mit den Widerhaken ihres Messers in die schmale Klinge. Eine Drehung des Handgelenks, und beide Waffen klirrten auf den Steinboden. Die Dämonin stieß gegen die Brüstung und riss den Schild herum – ihre letzte Waffe.
Jilis nahm mit einer Drehung Schwung. Der Wall aus toten Gesichtern schoss auf sie zu.
Jetzt brauchte sie Maros Kraft, um nicht zu versagen... Sie spannte ihre Faust an, und die körperlose Macht, die ihren Arm beweglich hielt, strömte hinein. Mit aller Stärke, die sie noch in sich trug, setzte sie einen Rückhandhieb an.
Ihre Hand durchdrang den Knochenpanzer, schlug die Schädel in Stücke, und rammte sich ins Gesicht der Dämonin. Krachend brach ein Horn, und die Knochensplitter des Schilds spritzten wie Wassertropfen fort. Lia zuckte unter dem Aufprall auf der Brüstung. Sie riss Gesteinsscherben mit sich und brach hindurch. Ihr Kopf knickte nach hinten und die Flügel flatterten hinter ihr wie ein dunkler Mantel, während sie in den Abgrund fiel.
Vor dem Hintergrund des Lavagesteins verschwand sie bald.
Ein Trümmerfeld aus Knochen breitete sich um Jilis herum aus. Sie schlurfte über das Gebein und stützte sich auf die Brüstung, neben der Stelle, durch die Lia hindurchgestürzt war.
Schon der Schlag musste ihr das Bewusstsein genommen haben. Sonst hätte sie womöglich wieder den Raum verzerrt und sich vor dem Sturz gerettet.
Auf jedem Meter des Raums glitzerten Klingen, aber Jilis hob nur das Jagdmesser wieder auf. Gegen was alles hatten die Dämonen sie schon anrennen lassen, und ihr Messer hatte sie stets vor Prankenhieben und Huftritten bewahrt.
Ja, es ging nichts über ein gutes Messer.
Sie steckte es ein.
Wächter hatte die Dämonin sich genannt. Wächter des Nekromanten. Sie war hier also nahe bei ihm... Wenn sie nur durch Wände hindurchschauen könnte, so, wie er es immer getan hatte.
Sie folgte einem der Gänge, die vom Thronsaal abgingen. Schon an einer Biegung strömte ihr ein fauliger Geruch entgegen. Als der Gang endete und in einen Raum mündete, blieb sie stehen. Für einen Sekundenbruchteil sah sie, dass etwas feucht und fleischfarben im Kerzenlicht glänzte, geformt wie ein kleiner Berg. Dann kniff sie die Augen zusammen und tastete sich den Gang zurück. Nein, es blieb nur zu hoffen, dass der Nekromant nicht Teil dieses Haufens geworden war. Und das war er auch nicht. Sie drehte ihren verkrüppelten Arm und ballte die Hand zur Faust. Das ging nur, solange er noch unter den Lebenden weilte und ihr seine Kraft gab.
Im nächsten Gang war es wieder ein Geruch, der ihr als erstes verriet, was sie erwarten konnte. Kräuter. Einige, deren Duft sie aus den Wäldern kannte, und einige, die ihr fremd waren. Je näher sie der Quelle kam, desto mehr verschwammen die Düfte ineinander. Seltsam, das Gemisch kannte sie... irgendwoher.

In dem Raum bedeckten seidene Kissen den Boden, schillerten in allen Farben des Regenbogens. Mitten dazwischen, wie eingesunken in ein Meer der Farben, breitete sich das weiße Haar des Nekromanten aus. Seine Augen waren geschlossen, und das Gesicht zuckte nur manchmal, wie von einem dunklen Traum.
Endlich hatte sie ihn gefunden.
Sie schlich näher heran, über die Kissen. Auf einem goldglänzenden Tischchen stand ein Krug, in dem eine Flüssigkeit schillerte. Sie hob das Gefäß an einem Henkel und steckte die Nase hinein. Der Geruch kitzelte sie in der Nase und schien von dort ihren ganzen Körper zu durchfluten. Die Lider wurden ihr schwer... Abrupt schleuderte sie den Krug fort. Er prallte gegen die Wand und färbte die Kissen dunkel mit seiner Flüssigkeit.
Traumsud.
Akara hatte damals alle Jägerinnen vor dem Gebräu gewarnt. Es war ein Geheimnis der Mark, und dennoch fast so leicht anzufertigen wie ein heißer Tee. Jeder zweitklassige Geistseher konnte sich den Trunk zubereiten, und dann in die Welt der Träume reisen. In eine Welt, die sich nach seinen Wünschen formte.
Sie krabbelte über die Kissen zu Maro hin. Was würde geschehen, wenn jemand den Trank einnahm, der von den Wirkungen keine Ahnung hatte? Zu was würde er seinen Traum formen?
„Wach auf“, sagte sie.
Sie zog ihn an den Schultern aus den Kissenbergen und schüttelte ihn herum, dass sein Kopf von vorn nach hinten und wieder zurück flog.
Zumindest würde er irgendwann auf jeden Fall erwachen – wenn ihm niemand mehr den Trank einflößte, dann musste die Wirkung nachlassen. Früher oder später.
Sie verpasste ihm eine Backpfeife und rüttelte weiter an ihm herum.
Was für ein feiner Plan, den Nekromanten in Rausch zu versetzen, ihn aber vorher die Armee der untoten Jägerinnen mit einem Schutzzauber belegen zu lassen.
„Komm schon, du Hund!“
Sie versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust und brüllte ihm ins Ohr.
Vielleicht hatte das alles keinen Sinn bei einem, der unter der Wirkung von Traumsud stand. Aber etwas stimmte nicht. Akara hatte ihnen eingebläut, dass die Betroffenen daran zu erkennen waren, dass ihnen ein schwachsinniges Lächeln auf dem Gesicht stand. Kein Wunder, sie erlebten ihre Wunschträume in einer Welt, die sie für die Wirklichkeit hielten.
Doch Maros Gesicht zeigte den gleichen, gefrorenen Ausdruck wie stets, und beizeiten zuckte er wie unter Schmerzen zusammen.
Dann rannen Tränen aus seinen Augenwinkeln, und Jilis erstarrte. Wieso weinte er ausgerechnet jetzt, wo jeder andere dümmlich gegrinst hätte?
Ihr selbst liefen die Tränen über die Wangen.
„Du sollst aufwachen, wenn du mich hörst!“
Sie schlug ihm noch einmal mit der flachen Hand den Kopf zur Seite. Da öffneten sich seine Augen, und die Qual stand ihm auf die Züge geschrieben.
„Ein... Traum?“, fragte er schläfrig.
„Ja, du dummer Kerl. Ist nur ein Traum gewesen“, sagte sie, zog die Nase hoch und schleuderte ihm noch eine Ohrfeige ins Gesicht.
Das ist für die Sorgen, die du mir gebracht hast...

*

Der Sturm aus Pfeilen erhob sich von den Mauern des Klosters und ging auf sie nieder wie ein wütender Vogelschwarm. Tyreé rollte sich hinter den Stamm einer Eiche. Die Pfeilspitzen stürzten sich mit dumpfem Stoß in das Holz und in die Heide.
Einer Schwester aus ihrer Einheit schossen im Hechtsprung zwei Pfeile in die Seite und warfen sie ins hohe Gras, wo sie reglos liegen blieb.
„Wo bleibt das verfluchte Feuer von den Sturmschwingen?“, fragte Tyreé. Zwei Schwestern kauerten sich hinter ihr ebenfalls in die Deckung des Baumstamms.
„Sie sind noch nicht in Position, es hat zu plötzlich begonnen“, sagte eine von ihnen und hielt sich den Oberarm, aus dem ein Pfeilschaft ragte.
„Dann sollen sie eben ohne Position feuern! Hauptsache, die Schützen auf der Mauer müssen kurz die Köpfe einziehen.“
Schon ein paar Sekunden würden genügen. Das geborstene Tor lag keine zwanzig Schritt vor ihnen. Ein kurzer Sprint, und sie waren mitten unter den Schützen.
Ein Ast über ihr brach unter dem Aufprall eines Pfeils und stürzte zu ihr herunter.
Die nächsten Geschosse kamen nicht von vorn, sondern hagelten auf sie herab wie ein Gewitter. Die Schützen lernten schnell.
Tyreé presste sich mit den anderen an den Stamm. Ein Pfeil bohrte sich zwischen ihre gespreizten Finger, einige weitere Geschosse verhakten sich im Geäst und prasselten wirbelnd zu ihr nach unten.
Die nächsten Schüsse würden besser gezielt sein.
Tyreé spannte ihren Bogen.
„Bevor die Sturmschwingen in ihrer Deckung sind und sich trauen, endlich Pfeile fliegen zu lassen, sind wir längst Hackfleisch.“
Eine Jüngere aus ihrer Einheit schüttelte den Kopf, und das Blut von einer Schürfwunde rann ihr ins Schläfenhaaar.
„Sollen wir die Schützen selbst niederhalten? Wir haben nur noch neun Arme, die eine Sehne spannen können. Auf der Mauer sind zehnmal so viele Schützen.“
„Wir halten so viele nieder, wie wir können. In dieser Deckung sterben wir jämmerlich. Dann lieber bei dem Ansturm auf das Tor. Los! Spannt, Wolfszähne.“
Widerspruchslos zog ihre Einheit die Bögen und machte die Köcher auf den Rücken frei. Selbst die Schwester mit dem blutigen Haar nickte und machte sich bereit.
Es roch nach Tod. Wenn sie den ersten Schritt aus der Deckung heraus getan hatten, würde es kein Zurück mehr geben, nicht einmal zu ihren eigenen Leuten.
Tyreé atmete durch.
Nach allen Seiten spie das Kloster die Pfeilstürme aus. Wenn es auch nur an einem der Tore gelang, durchzubrechen, konnte ein Trupp Plänkler ins Kloster eindringen und die restlichen Pforten öffnen. Und die besten Chancen darauf hatten sie, die Wolfszähne.
Sie wartete, bis alle die Pfeilschäfte an den Wangen hatten. Dann spannte sie selbst.
„Beißen wir ihnen ein Stück aus ihren Reihen! Gebt Feuer!“
Neun Pfeile peitschten von den Sehnen, und im selben Augenblick stürmten die Wolfszähne aus der Deckung. Tyreé hielt den Kopf gesenkt. Wenn eine der Eisenspitzen aus der Pfeilflut dazu bestimmt war, sie zu treffen, dann würde sie sich ohnehin nicht davor retten können.
Die Luft sirrte vor Geschossen, die an ihr vorübergingen, und zwei Schreie aus ihrer Einheit drangen von hinten zu ihr. Nicht anhalten. Noch zehn Schritt. Sie blickte auf.
Vor dem Rot der Morgensonne zog eine Unzahl von Pfeilen vorüber. Ein Vogelschwarm, der mal aus den Wällen des Klosters nach außen zog, dann einem zweiten Schwarm Platz machte, der sich in die andere Richtung erhob. Und ein Schwarm hielt direkt auf sie zu.
Lezali, die direkt neben ihr in gestrecktem Sprint zum Tor eilte, trafen zwei Spitzen in die Brust und ließen sie ohne einen Schrei in die Grasdecke vor sich stürzen. Nicht anhalten.
Jetzt sah sie die Gesichter der Schützen. Ihre alten Schwestern, mit denen sie gemeinsam die Jahre der Ausbildung durchlaufen hatte... Sie spannten die Bögen für eine nächste Salve. Als sie die Finger von den Pfeilschäften lösten, rollte sich Tyreé nach vorn. Die Pfeile warfen sich in die Erde hinter ihr, und jetzt spannte sich der Torbogen über ihrem Kopf. Ein toter Winkel für die Schützen.
Der Spalt im Tor lag vor ihr – doch dunkles Holz versperrte die Sicht in den Innenhof. Tyreé warf sich gegen die Blockade, aber sie rührte sich keinen Millimeter. Die Schwestern mussten einen ganzen Haufen aus Unrat hinter dem Tor deponiert haben, um die Barrikade zu stützen...
„Sie haben ihn wieder verschlossen“, fluchte eine der sechs Jägerinnen, die hinter ihr das Tor erreichten.
Tyreé zog ihre beiden Langmesser.
„Dann fressen wir uns durch.“
Der Atem pfiff ihr vom Lauf noch in den Lungen. Beidhändig hieb sie auf das Holz hinter dem Spalt ein und versenkte die Messer darin. Vier Messer gesellten sich zu ihrem und rissen Stücke aus der Oberfläche. Immer wieder blieben sie stecken, aber auch immer mehr geborstenes Holz häufte sich vor ihren Füßen auf.
„Weiter, los, weiter!“, drängte Tyreé, obwohl jeder Messerstoß sie schmerzte, als ob sie ihn sich selbst zufügte.
Hinter der hölzernen Oberfläche leuchteten in Samt gebundene Einbände auf. Ein Bücherregal.
Tyreé stieß ihr Messer so ins Holz, dass die Klingenzacken sich verkeilten, und zerrte mit aller Macht. Das Holz quietschte über den Boden, unter all dem Lärm der tosenden Schlacht. Neben dem Regal öffnete sich ein schmaler Spalt, hinter dem die verbrannte Erde des Innenhofs sich zeigte.
„Wir können das Ding zu Fall bringen“, ächzte eine Stimme neben ihr.
Tyreé nickte.
Blieb nur zu hoffen, dass das Regal nicht auch noch an den Seiten gestützt würde.
„Tun wir es.“
Hände krampften sich um die Regalwand und zogen. Tyreé glaubte, die Muskeln müssten ihr die Arme sprengen. Um sie herum keuchten ihre Schwestern, die Gesichter krampften sich zusammen. Dann wankte das Regal.
Die Bücher purzelten aus den Fächern, und das das Regal neigte sich, krachte auf den Boden. Dahinter türmten sich Vorratskisten, Bänke und Haufen von steinernen Trümmern. Aber sie würden darüberklettern können.
„Zehn Sekunden zum Atem holen“, sagte Tyreé und lachte. Sie zog wieder die Messer und streckte die Arme. Schmerz brannte sich hindurch, von den Handgelenken bis hinauf zur Schulter. Aber für ein paar Hiebe würde es noch reichen. „Seht ihnen nicht ins Gesicht, sonst zögert ihr.“
Die Wolfszähne nickten.
Hatte sie es nicht eigentlich zu sich selbst gesagt?
Ihre Füße trugen sie wie von selbst durch den Türspalt. Steinstaub wirbelte unter ihr in einer Wolke hoch. Getrampel drang von den Wachhäusern her, und die Treppen zu ihren beiden Seiten füllten sich mit Kriegerinnen in blutroten Lederpanzern.
Eine aus den Wolfszähnen streckte eine Säbelklinge aus und zeigte auf die anrückenden Jägerinnen.
„Gebt das Kloster auf! Wir haben am Tag des Untergangs genau so gekämpft wie ihr, und diese Stätte ist für die Lebenden, nicht für die Toten!“
Der Ansturm hielt inne, aber die Jägerinnen sammelten sich am Treppenabsatz.
„Aradeia ist nicht engherzig. Wenn ihr erst gefallen seid, wird sie auch euch neues Leben schenken – und das Kloster wird wieder euch gehören“, rief eine aus der ersten Reihe der Angreifer.
Die Wolfszähne formierten sich in einem Halbkreis um den freigeschlagenen Eingang, eine einzige Sammlung von blitzenden Klingen.
„Das Kloster wird uns wieder gehören“, rief Tyreé, „aber das erreichen wir auf einem anderen Weg.“
Dann brach die Hölle los.
Tyreé raste voran und schlug mit einem Tritt aus der Drehung der letzten Sprecherin die Beine weg. Sie stürzte mit dem Gesicht direkt in Tyreés Klingen. Ein dunkler Schauer durchlief sie, und sie zerrte die Messer aus dem Leichnam. Die Welt um sie herum verschwamm in Bewegung, hundert Klingen klirrten und hundert Füße scharrten über die Barrikaden.
Eine Kriegerin warf sich über das gestürzte Regal hinweg auf sie. Tyreé stieß eine Klinge mit ihrer eigenen beiseite und fing den Vorstoß der Gegnerin mit einem Ellbogen ab. Eine Kämpferin der Wolfszähne richtete die Gefallene mit einem Schwerthieb, und kurz darauf ragte aus ihrer eigenen Kehle eine Schwertspitze. Tyreé stürzte sich auf die Mörderin, parierte einen Stoß, packte den Schwertarm, der die Breitklinge hielt, und rammte ihn ihr zusammen mit der Waffe in den Bauch. Fünf Wolfszähne standen noch.
Eine von ihnen warf einer blutroten Kriegerin eine handvoll Staub in die Augen, aber ein blindgeführter Stoß zuckte heran und durchbohrte ihr die Achselhöhle.
Der Platz kochte, und die Morgensonne färbte den untoten Schwestern die Rüstung in noch tieferem Rot.
Klingen stießen von allen Seiten her, kein Unterschied mehr zwischen Freund und Feind. Alles parieren, was in die Nähe des eigenen Körpers zuckte, dann einen eigenen Schlag in die blutrot Gerüsteten hinein.
Tyreé sah ihrem Körper zu, wie er focht. Kein Atem mehr, keine Erschöpfung, nur ein brodelndes Drängen in ihrem Innern. Würde der Körper weiterkämpfen, wenn sie längst das Bewusstsein verloren hatte?
Ihre Klinge schnitt einen blutigen Zirkel in die Jägerinnen um sie herum. Sie stemmte sich gegen einen Überkopfhieb mit beiden Klingen, aber es war, als kämpfe sie gegen zwei Kriegerinnen zugleich an. Eine unsichtbare, unhörbare und unfühlbare Macht, die sich auf die Seite des Feindes gestellt hatte.
Mit einem Mal verdampfte der Rausch. Ihre Gegnerin fegte ihr eine Klinge aus der Hand, dann die zweite, und die Waffen bohrten sich in die Spalten des Mosaikbodens.
Grausam kehrte der Schmerz zu ihr zurück, als flössen Dolche quer durch ihre Adern.
Um sie, noch immer in einem Halbkreis, lagen die Schwestern ihrer Einheit. Die Wolfszähne waren keinen Schritt zurückgewichen, bis die Untoten ihnen das Lebenslicht gelöscht hatten.
Eine Wand aus blutroten Rüstungen rückte immer näher um sie zusammen.
„Wir haben alle die gleichen Prüfungen durchlaufen, Tyreé“, sagte eine Jägerin mit kahlrasiertem Schädel. „Aber dir und deinem kleinen Trupp, euch fehlt die Macht, die uns gegeben wurde. Ihr habt nie eine Chance gehabt.“
Mit einem schaurigen Grinsen hob die Schwester das Schwert auf Brusthöhe und zielte mit der Spitze auf Tyreés Herz.
Gut, es war vorbei… Aber sie waren weit gekommen. Weiter, als die Jägerinnen an den anderen Toren wahrscheinlich kommen würden.
Kriegerinnen packten sie an den Armen.
„Ich habe noch eine andere Prüfung durchlaufen, damals, als ihr euch schon in die Arme eurer dunklen Herrin geworfen hattet“, sagte Tyreé. Auf ihrer Haut glühte das Blut und färbte sie fast so rot wie die Rüstungen ihrer Gegnerinnen.
„So?“, fragte die Kahlgeschorene, und machte einen Schritt auf sie zu, dass ihre Gesichter sich fast berührten. „Dann wirst du uns sicher gern verraten, wovon du sprichst.“
Tyreé hatte erwartet, den Atem zu spüren… aber die Toten hatten keinen Atem mehr.
„Gern.“
Sie legte den Kopf in den Nacken. Immernoch flitzten Pfeilschwärme vor dem Sonnenrot dahin. Der Kampf würde weitergehen, und sie würde vielleicht auf der anderen Seite weiter an ihm teilnehmen…
Mit einem Ruck warf sie den Kopf nach vorn und schlug ihrer Henkerin die Stirn auf die Nase. Fluchend prallte die Jägerin gegen eine der Vorratskisten.
Ja, zumindest das hatte sie von Jilis noch gelernt.
Tyreés Arme wurden von den Jägerinnen neben ihr so hart gepackt, dass sie glaubte, die Glieder müssten jeden Augenblick aus den Gelenken springen.
Eine Hand vor dem Gesicht, trat die Henkerin wieder näher heran und stieß das Schwert nach vorn.
Tyreé lächelte.
So weit, wie sie gekommen war…
Dann schob sich Dunkelheit über sie.
Sie wartete darauf, dass auch die Laute verstummten, aber etwas prallte laut auf die Dunkelheit, die sie einschloss. Die Klinge der Henkerin.
Die Dunkelheit wich – jemand hob den Turmschild fort, der sie vor dem Hieb bewahrt hatte. Die gefallenen Schwestern neben ihr ließen ihre Arme los.
Metall schepperte hinter ihr, und eine Horde aus Schildträgern brach durch den Torspalt und in den verbarrikadierten Hof. Auf den pfeilgespickten Schilden glänzte frische Farbe, die einen Wolfsschädel formte.
„Fenris’ Töchter!“, rief jemand hinter ihr, und Kaschyas Kettenhemd zog an ihr vorüber.
Ein eiserner Hammer rammte die Henkerin durch die Platte eines Holztischs und schickte ihr Splitter hinterher.
Kaschya hob die Waffe auf ihre Schulter, und um sie herum fielen ihre Schildträger über die dunklen Jägerinnen her.
Tyreé atmete auf. Fenris’ Töchter. Auf einen so klangvollen Namen war sie bei ihrer Einheit natürlich nicht gekommen. Aber es lebte auch niemand mehr, der sich daran hätte stören können.
„Beeil dich besser“, sagte Kaschya. „Unsere Schwestern sind im Süden mit Fanghaken über die Mauern geklettert, und im Norden haben sie mit Böcken Löcher in die Tore gerammt. Wenn sie dich im Kloster finden, und sehen, dass du nicht kämpfst...“
"Böcke und Fanghaken? Teufel, und wir hatten nur unsere Messer."
Im nächsten Moment schossen zwei Kriegerinnen auf den Hauptmann zu. Kaschya parierte mit einem einzigen Hammerstoß die Klinge der einen Gegnerin und zerquetschte den Waffenarm der anderen an der Klostermauer.
Tyreé sammelte ihre Klingen ein und steuerte auf die Schneise zu, die Kaschyas Schildträger für sie geschlagen hatten.
„Ich habe genug gekämpft“, murmelte sie, und das sengende Zerren in ihren Armen stimmte ihr zu.
Die Jägerinnen fielen wie Raubtiere über die Schildträger her, stürzten sich mit gezückten Messern von den Zinnen und warfen sich auf ihre Opfer. Doch die schweren Metallschilde ließen die Klingen abgleiten wie Regentropfen, und alle paar Sekunden biss ein Hammer aus der Deckung hervor und zertrümmerte mit einem Stoß Knochen und untotes Fleisch.
Wer wusste schon, welche Chance sie hatten?
Tyreé fiel in einen leichten Trab und ließ das Klirren der Kämpfe hinter sich.
Sie wusste nur, dass Kaschya ihr Wort gehalten hatte. Jetzt musste sie Vega und Jilis finden. Sonst wären nicht nur die Wolfszähne umsonst gestorben, sondern auch Fenris’ Töchter würden es tun.

Neuer Schlachtenlärm löste den alten ab, denn auf jeder Terrasse und in jedem Gemach rangen die Jägerinnen miteinander. Ein Leichnam stürzte im verbrannten Garten vor ihre Füße, und sie wendete nicht einmal den Blick auf ihn. Ob es nun die Lebenden oder die Untoten waren, die ihre Streitkräfte einbüßten – beides konnte ihr nur recht sein.
In einem Säulengang stellte sich ihr noch einmal eine der bleichen Dienerinnen der Aradeia entgegen, und noch einmal musste sie die Arme heben, um die Feindin niederzustrecken.
Krustiges Blut klebte ihr die Hände an die Griffe der Langmesser. Aus eigener Kraft hätte sie die Waffen wohl auch nicht mehr halten können.
Vor den Toren der Kathedrale drängte eine der Untoten eine Gegnerin mit raschen Schwerthieben zurück. Tyreé blieb stehen. Blondes Haar und Sommersprossen bei der Schwester, die in die Ecke gedrängt wurde. Sie hielt ein unförmig langes Schwert vor sich wie ein Schild, und die Schläge der Untoten brachen es mit jedem Hieb weiter aus ihren Fingern.
Vega!
Tyreé rannte, so schnell, wie ihre Beine es ihr erlaubten.
Die Untote stieß ein letztes Mal zu, und in einem Bogen torkelte die Waffe Vega aus den Fingern. Die junge Jägerin wich gegen die Wand zurück, und übergangslos holte ihre Gegnerin zu einem Hieb aus.
Tyreé warf sich mit einem Sprung nach vorn, beide Messer vorgestreckt. Die zwei Klingen fingen die andere im Angriffsschwung auf, und eine Erschütterung vibrierte durch Tyreés Arme.
„Schau dir das an“, sagte die Untote. „Es ist wie eine große Familienzusammenkunft.“ Ein Mundwinkel war zu einem grimmigen Lächeln verzogen, der andere verlor sich in einem Netz aus Brandnarbengewebe. Falke.
„Wenn noch irgendetwas von dir in dieser Hülle steckt, dann gib den Kampf auf“, sagte Tyreé. Sie hörte selbst, wie ihre Stimme unter der Anstrengung des Zweikampfs zitterte. Ein Flehen, mehr nicht. „Wir wollen Jilis helfen!“
Vega regte sich hinter ihr und tastete ungelenk nach ihrem Riesenschwert. „Das weiß sie längst.“
„Ja.“ Falke nickte, und ihre Narbenmaske verzog sich wie im Schmerz. „Und nun, bitte: sterbt.“

*

Der Thron zersplitterte in tausend Scherben. Risse durchliefen die Kristallwände des Schlosses, die Stufen der Treppe hinter ihm stürzten fort. Die Welt ging in Splitter. Maro selbst ging in Splitter.
Gläserne Scherben prasselten nieder und hackten seinen Körper in tausend Stücke, durchdrangen Muskeln und Fleisch, und dann endete es.

„...Traum gewesen“, flüsterte eine vertraute Stimme zu ihm. Seine Gedanken kämpften sich aus einem dumpfen Schlamm hervor, folgten der Stimme und einem wabernden Bild. Einem Raum, in dem sich sein Körper befand.
Ein Ruck schüttelte ihn, und seine Augen und Ohren waren wieder wirklich seine. Die Geräusche hallten, und die Mauern um ihn wankten noch. Es war ihm, als ruhte ein Felsblock auf seiner Brust.
„Ich bring dich hier weg“, sagte die Stimme.
War es die Göttin, die ihn erlöste? Aus dieser grausamen Nachtmahr?
Die Konturen wurden schärfer, und um ihn wölbten sich die Mauern des Raumes, in dem er in seinen Schlummer hinübergeglitten war.
Nein... das kann nicht sein!
Die Gestalt vor ihm gehörte nicht der Göttin. Der Arm, aus dem das Yata-Gift die Muskeln gesogen hatte, griff nach ihm und schüttelte ihn.
„Hörst du? Wir verschwinden jetzt gemeinsam aus dieser Hölle.“
Seine Gedanken krochen dahin, aber sie kamen bis zu dem einzig möglichen Schluss.
„Du hast mich... geweckt?“, fragte er, und seine Zunge war so schwer wie ein Eisenbarren.
Auf dem verweinten Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Endlich sagst du etwas. Ich dachte schon, jetzt säße ein Dämon in deinem Körper.“
Die Worte glitten an ihm vorüber.
„Wieso hast du das getan?“
In der Ecke des Raums glitzerte das Gold des Krugs, aus dem er getrunken hatte. Er streckte die Hand aus. Noch einen Schluck, und er würde vielleicht zurückkehren können.
„Kannst du dir das nicht langsam denken? Diese Königin hat dir Gift in den Rachen schütten lassen, damit du nie wieder aufwachst.“
Die Wut rollte langsam in ihm hoch, wie eine Welle, die sich irgendwann an der Brandung brechen musste.
„Das wollte ich auch nicht!“, sagte er. Er wollte, dass seine Stimme donnerte, den ganzen Raum zerbrach und die hirnlose Jägerin auch noch. Aber es war kaum ein Krächzen, das aus ihm drang. „Gift? Du hast mich einmal gefragt, wieso ich den ganzen Weg in Euer Land gemacht habe. Da hast du deine Antwort: wegen diesem Gift!“
Sie verstand einfach nicht. Natürlich nicht. Wie konnte ein so einfaches Mädchen verstehen, dass es erstrebenswert sein könnte, den Geist vom Körper zu befreien? Wie sollte sie verstehen, dass es Dinge ohne Körper gab, nach denen man sich sehnen konnte?
„Du redest ziemlich wirr. Das muss der Sud sein... Ich habe noch nie gehört, dass er abhängig macht, aber bei dir scheint das der Fall zu sein.“
Seine Hände streckten sich langsam nach ihrem Hals aus, dann packte er sie am Kragen.
„Ich wäre fast bei ihr gewesen! Fast-“
Er hielt inne. Die Erinnerung an die andere Welt strömte in sein Bewusstsein zurück. Der leere Thron, den er gefunden hatte, und das zusammenstürzende Schloss. Wie tausend Maden fraß es sich in sein Herz. Er war nicht fast bei ihr gewesen. Er war dort gewesen, wo sie hätte sein sollen, wohin die Bestimmung und das Schicksal in dieser Götterwelt ihn geführt hatten. Ja, er hatte das ihm bestimmte Ende erreicht, und es war das Schrecklichste gewesen, das er sich hätte ausmalen können. Ein leerer Thron.
Ein Schluchzer brach sich aus seiner Kehle Bahn.
„Bei wem?“, fragte Jilis. Sie strich seine Hände von sich fort und zog ihn aus seinem Grab aus Kissen heraus. „Hauptsache, du bist jetzt hier.“
„Nein, ich-“ Die Erinnerungsbilder überschlugen sich, verschwammen ineinander. Der Wurm, die Wüste, ein Feuer bis zum Horizont, der Palast aus Kristall.
Evra war nicht dort gewesen. Das war es, was wichtig war. Was die Wut in ihm schürte wie kochendes Öl einen Brand. Und nur Jilis war da. Die Närrin.
Sein Körper versagte ihm. Er schob einen Arm über die Kissen, doch heben konnte er ihn nicht. Die Hand blieb liegen wie taub. Aber sein Geist. Sein Geist war scharf. Er packte mit einem Gedankenstrahl Jilis’ Arm.
Ein Zucken lief hindurch, dann bewegten sich die Finger, wie er es befahl. Verblüfft sah Jilis an sich herunter, da schloss sich ihr die eigene Hand um die Kehle.
„Die Göttin“, schluchzte Maro, und er schickte all seine Lebenskraft fort und lenkte sie in Jilis’ Arm. Ein Strom aus klarem Silber in der Astralwelt, der von ihm auf sie überging. Er würde sie töten. Und er würde sich töten, mit der Kraft, die er selbst aufgab.
„Was für eine verfluchte Göt- … hör auf!“, presste sie hervor. Sie fasste das Gelenk der würgenden Hand und zerrte daran, aber der Griff, der sie hielt, war fester als der jeder Eisenkette. Sie würde ihn nicht lösen können.
Wenn es seine Bestimmung gewesen war, wie der Wurm gesagt hatte… Dann war es wahrhaftig die Bestimmung gewesen, nur an ein Ende voller Verzweiflung zu gelangen.
Er zog die Kraft wieder zu sich, die er den hundert Kriegerinnen des Klosters geschenkt hatte, und ließ sie in Jilis Arm hineinfließen. Hundert Silberfäden, die aus allen Richtungen heransickerten und sich vereinigten. Niemand würde sich aus diesem Griff befreien.
Du bist verflucht“, sagte er. Die Tränen brannten auf seinen Wangen heiß wie Ströme aus geschmolzenem Stahl. „Nicht die Göttin. Sie ist schöner und größer, als du es dir ausmalen könntest. Sie ist-“
Ein Krächzen von Jilis unterbrach ihn. „…nur ein Traum.“ Ihre Füße verfingen sich in den Kissen, und sie stürzte rücklings gegen die Wand, riss den goldenen Tisch mit sich. Das Metall schepperte. Irgendetwas hallte in seinem Kopf wider, und plötzlich sah er, was er tat.
Jilis pochten die Adern an den Schläfen, und sie schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Mit vorgequollenen Augen starrte sie an die Decke.
Maro ließ los. Die zahllosen Aurenfäden, die sich um Jilis’ Arm wanden, jagte er fort in alle Richtungen. Sie schossen davon wie Strahlen einer Sonne, wickelten sich ab, Strang um Strang. Bis ein dunkles, lebloses Körperteil zurückblieb und über Jilis’ Brust hinunterrutschte.
„Nur ein Traum?“, wiederholte er. Er fiel zurück in die Kissen, und sein Kopf fühlte sich leer an.
„Ja.“ Jilis’ Stimme hallte schwach in der kleinen Kammer. Die Jägerin lehnte schräg mit dem Kopf in einer Ecke, als könne sie nie wieder eine Bewegung tun. Die roten Streifen der Druckmale zeichneten sich an ihrem Hals ab. „Keine Ahnung… wer diese Göttin ist, aber…“ Jedes Wort kämpfte sie mit unendlicher Mühe hervor. „…sie ist dir nur durch das Gift des Tranks in den Kopf gekrochen. In deinen Traum.“
„Es ist kein Traum gewesen!“
„Nein? Was hat die Hexe dir erzählt?“
Maro schluckte. Wut und Trauer sanken nieder in ihm. Langsam konnte er wieder sehen. Sehen, ohne den Schleier, mit dem er sich selbst blind gemacht hatte.
„Dass mich der Trank ins Reich der Götter bringen wird.“
Dafür also wolltest du mich umbringen.“ Jilis rieb sich den Hals und hustete noch einmal, dann stand sie auf und fischte mit den Fingerspitzen nach dem Krug. „Dann hat sie so sehr nicht gelogen. Wenn du ins Götterreich wolltest, dann muss der Trunk dir zumindest einen… Göttertraum beschert haben.“
Darauf hätte er selbst kommen können… Dämonen spielten nach niemandes Regeln, hielten keinen Eid und brachen ihre Versprechen. Wieso hatte er es nur geglaubt?
„Einen Göttertraum - aber was hat das damit zu tun, was ich wollte?“
Jilis watete durch die Kissen hindurch und setzte sich zu ihm. Erst jetzt sah er die Spuren, die sie trug. Es waren nicht nur die Tränen auf ihren Wangen. An den Armen spalteten Risse die Haut, und Fugen klafften in ihrer Lederrüstung auf.
„Wir haben nicht viel Zeit.“ Sie sah sich um wie ein gejagter Wolf. „Eigentlich gar keine. Aber ich will es dir erklären, dummer Totenbeschwörer. Wer vom Traumsud trinkt, dem werden Träume beschert, und sie sind die lebendig gewordenen Wünsche des Träumenden. So passiert es bei denen, die den Trank mit Absicht trinken und seine Wirkung kennen. Was bei dir passiert ist, das weiß ich nicht.“
Er hätte um ein Haar das Atmen vergessen. Jilis hatte keinen Grund, ihn zu belügen.
Wünsche? Seine Wünsche hatten den Traum geformt?
Er senkte den Blick, und an die Stelle der seidenen Kissen trat die Wüste, die er durchquert hatte.
Also hatte er sich gewünscht, dass er der Auserwählte war, der als Einziger in allen Zeitaltern der Menschen an dem Wächter der Götter vorübertreten durfte… Er hatte sich gewünscht, dass ihn eine für jeden anderen Menschen unmögliche Prüfung erwarten würde, die nur er allein bestehen konnte.
Sein Hals brannte, als hätte er leibhaftige Flammen geschluckt.
Ja, und er hatte sich gewünscht, dass er in einem Schloss aus silbernem Kristall auf einen leeren Thron stieß. Dass es keine Göttin gab, die auf ihn wartete.
Das habe ich mir gewünscht?
„Das ist unmöglich“, murmelte er.
„Träume können Wahrheiten in sich tragen, die wir noch nicht sehen, weil wir uns selbst geblendet haben.“ Jilis stützte sich auf mit einem Arm auf die Kissen vor ihm. Der andere hing so nutzlos herab wie eh und je.
Wahrheiten?
Er nickte.
Vielleicht hatte er es gewusst. Dass er nie ankommen würde. Nie ankommen konnte, nie in allen Zeitaltern. Dass die Menschen nicht in das Reich der Götter steigen konnten, weil für sie die Erde gemacht worden war.
Eine seltsame Ruhe breitete sich in ihm aus. Als decke sich über ihn Raureif, der dann wieder schmolz.
Jilis machte eine wegwerfende Geste und stand auf.
„Das hat Akara einmal gesagt. Aber du weißt ja, was sie sonst noch alles gesagt hat – und dafür sollte ich ihr die Zunge herausschneiden.“
Wieder nickte er nur.
„Du hast geweint.“
Ihre Blicke gingen zu den Spuren auf ihrer Wange, und sie rieb sich mit der Hand darüber.
„Und das bei dir ist wohl Wasser, das dir aus den Ohren heraus und über das Gesicht gelaufen ist.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen.
„Ja, das kann man bei den Schlangen aus dem Osten nie wissen.“
„Ich hoffe, du hast nicht nur mir meinen Arm genommen, sondern auch meinen bösartigen Schwestern ihre Kräfte, mit denen sie sich so gebrüstet haben.“
Er tastete sich mit den Fingern über die Kissen hinweg, bis er ihre Hand zu fassen bekam.
„Niemand hier hat mehr Kräfte von mir… Ich ja nicht einmal selbst.“
Mit einem Lächeln, das halb das eines Wolfs war, und halb das eines Mädchens, festigte sie den Griff um seine Hand. „Dann lass nur los, wenn ich mein Schwert greifen muss, um einen Dämon das Weinen zu lehren.“
Er erwiderte den Druck mit seiner Hand, so gut er konnte, und taumelte ihr hinterher, aus dem Raum heraus.

Erst am Thronsaal blieb Jilis abrupt stehen, und Maro neigte den Kopf zur Seite, um zu sehen, warum.
Ein weißes Kleid flatterte unter einem goldenen Brustschutz, und rotes Haar züngelte wie Feuer um einen Körper, dessen Haut weiß glänzte.
Jilis bog den Kopf ein Stück zu ihm. „Aradeia?“, flüsterte sie.
„Ja“, grollte eine Stimme von unendlicher Gewalt zu ihnen, bevor Maro antworten konnte.
 
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XVI Zwei Königinnen

Jilis löste sich vorsichtig von der Hand des Nekromanten. Er stützte sich an der Wand, und sie konnte den Zweihänder fassen. Mit nur einer Hand am Griff wackelte die Waffe. Die Balance fehlte, aber sie würde die Stoßkraft eines Zweihänders benötigen.
Als Aradeia einige Schritte zu ihr machte, füllte ihr wehendes Haar fast den ganzen Gang aus. Dann legte es sich über ihren Nacken und reichte bis zu den Hüften hinab.
Eine Königin. Die Dämonenkönigin, die sich den Weg in das Kloster geschlagen hatte. Sie war das Böse, das sich in diesem Land ausgebreitet hatte.
Jilis umklammerte den Schwertgriff.
„Du hast den Tod über die Mark gebracht.“
Es war ein Lächeln, das auf den Lippen der Königin spielte.
„Ich habe mir nur diese Mauern genommen, weil ich sie gebraucht habe. Ihr Menschen mit euren Vorstellungen von… Besitz. Du glaubst, es ist dein Kloster, das ich genommen habe.“
Nein. Akara glaubte das, und ihre Getreuen glaubten es vielleicht auch.
Jilis senkte die Klinge etwas.
Die Königin, die vor ihr stand, war die Betrügerin, die Maro gelockt und gefangen hatte.
„Du hast mir nicht das Kloster weggenommen. Es hat mir nicht gehört. Aber du stehst mir im Weg, und mein Schwert macht bei Dämonen und Göttern keinen Unterschied.“
Welche Chance hatte sie, gegen dieses Wesen zu kämpfen? Sie musste es dennoch, wenn es keinen Ausweg gab.
„Ich werde weder dich noch dein Schwert herauszufordern, und ich werde auch keine Herausforderung annehmen.“
Aradeia trat beiseite und öffnete den Weg in den Thronsaal. Jilis runzelte die Stirn, schleppte sich aber in den Raum hinein. Eine Dämonenkönigin musste Listen kennen, um sich lästiger Wesen zu entledigen...
„Aber du hast Zerstörung über das Land gebracht, und Dörfer niederbrennen lassen!“
Die Königin beugte sich über den leblosen Leib im Saal. Mireh, die mit blauen Druckflecken am Körper neben dem umgestürzten Tisch lag.
„Es hat jetzt ein Ende, wenn dich das beruhigt. Meine Töchter sind gefallen, und mein Heer ist zerschlagen. Einer meiner Verbündeten hat mich in der letzten Sekunde verlassen…“
Sie legte ihrer Tochter die dunklen Flügel wie ein Leichentuch über den Körper.
„Einen Verbündeten nennst du mich noch?“ Maro stützte sich auf die Lehne des Sofas, sein gesamter Körper bebte. „Du hast unser Bündnis verraten.“
„Dir hat nicht gefallen, was dir im Reich der Götter begegnet ist?“
„Nein! Denn es ist nur ein Traum gewesen, dem ich dort begegnet bin. Ihr habt mich in ein Traumland geschickt, statt in die Götterwelt!“
Aradeias Blick huschte von ihm hinüber zu Jilis, dann wieder zurück.
„Es tut mir Leid, dass du davon erfahren hast. Ich hätte es dir nicht offenbart, und du hättest ewig in deinem Traum weiterleben können.“ In ihren Augen funkelte es plötzlich, und wieder sah sie zu Jilis. „Ich habe dir dein Glück nicht zerstört. Das ist dieses Mädchen gewesen.“
Das also plante sie!
Jilis machte einen Schritt nach vorn und richtete das Schwert auf die Dämonin. Maros Arm hielt sie zurück, und der Nekromant richtete sich hoch auf.
„Nein“, sagte Maro. „Sie hat mich geweckt. Aus einem Traum, aus dem ich schon lange vorher hätte aufwachen sollen. Ihr habt mich nur vergiftet… damit ich Euch dienlich sein konnte!“
Seine Hand fasste den Ritualdolch am Gürtel, und er stürzte sich auf die Dämonin.
Jilis griff nach seinem Mantel, um ihn zurückzuhalten, aber die Winde ließen den Stoff durch ihre Finger gleiten.
Kurz schien Aradeia überrascht, fixierte den Nekromanten in seinem Ansturm. Dann riss sie die Hand wie ein Schild nach vorn, und die Luft erzitterte. Ein Druck zog an Jilis Ohren vorüber, als befände sie sich im Herzen eines Orkans. Eine unsichtbare Macht packte den Nekromanten und riss ihm die Beine unter dem Körper weg.
Jilis sprang, um ihn aufzufangen, und zusammen prallten sie gegen die Wand. Das Gestein rammte sich ihr in die Rippen, und die Luft wurde ihr in einem Schwall aus den Lungen getrieben.
„Bist du…“, flüsterte sie.
Maro wand sich in ihrem Griff.
Zum Glück, er regte sich noch. Aradeia hätte seinen Körper sicher zu Asche zerstäuben können, mit einem einzigen Gedanken.
Jilis griff ihren verkrüppelten Arm am Handgelenk und schloss den Griff um Maro. Noch einmal würde er nicht gehen.
Traurig schüttelte Aradeia den Kopf und ließ die Hand sinken.
„Ich habe dir soviel gegeben, wie ich konnte, närrischer Mensch. Hast du nicht selbst geahnt, dass dir eine Göttin niemals ihre Zeit widmen würde? Dich in einen Traum schicken, in dem du zumindest glauben konntest, dass sie bei dir wäre; mehr konnte ich nicht für dich tun.“
„Ich will keinen Traum mehr! Diese hier ist die Menschenwelt. Sie gehört zu mir. Nicht die der Götter.“
Er atmete ruhiger, und Jilis gab ihn frei. Sie stand auf und trat der Dämonin gegenüber.
„Geh zurück in deine Hölle! Du hast es gehört, diese Welt gehört den Menschen. Verschwinde in die, aus der du gekommen bist.“
Als hätte sie kein Wort gehört, beugte Aradeia sich zu ihrer Tochter hinab und nahm den leblosen Körper auf den Arm.
„Das werde ich. Ihr Menschen erfüllt die Aufgabe, die mir zugekommen ist, schon ganz von allein. Niemand wird den Schatten im Osten bemerken, wenn ihr euch mit Mord und Tod gegenseitig beschäftigt.“
„Wovon sprichst du?“, fragte Jilis.
„Du wirst es sehen, wenn du in die Oberwelt zurückkehrst – um dann dort zu sterben.“
Aradeia hielt vor dem gebrochenen Geländer an. Ein Sog aus der Einöde schien sie zu packen, Kleider und Haar wehten ihr in Richtung der Vulkane. Dann zog eine kreischende Böe sie in die Luft und trug sie über die brennenden Abgründe hinweg.
Jilis sah ihr nach, wie sie in der Feuerwelt verschwand.
Was hatte sie gemeint? Du wirst es sehen. Den Schatten im Osten? Oder das, was die Menschen einander schenkten – Mord und Tod?
Eigentlich hatte sie genug gesehen. Von allem. Für immer.
Maro krümmte sich noch immer in der Ecke zusammen.
Ein warmes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, und sie half ihm auf.
„Komm schon. Ich weiß selbst nicht, ob wir nicht beide nur einen verdammt seltsamen Traum gehabt haben. Mit Höllenwesen und Toten, die aus der Erde gekrochen sind…“
„Ich weiß es auch nicht“, sagte Maro mit schwacher Stimme. „Ich auch nicht.“
Ein Grollen ging durch den Stein um sie herum, der Boden zitterte. Steinbrocken prasselten neben der Brüstung aus der Decke. Ein Stein schlug das Gerippe von der Lehne des Throns und zermalmte es, ein zweiter riss die gesamte Lehne vom Thron. Steinmassen prasselten in einer Flut nahe des Abgrunds herab. Der Blick in die Höllenwelt verschloss sich.
Jilis stützte Maro, damit er nicht fiel.
Es war, als schlösse sich das Maul eines Riesen. Selbst den letzten Spalt, der einen Blick in die Öde erlaubt hätte, versiegelten die Gesteinsmengen.
Dann hallte nur noch das Echo des Steinschlags, und Stille kehrte ein. Licht drang nur noch aus dem Treppengang, der nach oben führte.
„Die Hölle haben wir hinter uns“, sagte Jilis. „Jetzt müssen wir nur noch ein Schlupfloch finden, das aus dem Kloster hinausführt.“
„Wohin werden wir denn gehen?“
Ja, wohin?
„Nach Osten. Was auch immer dieser Schatten ist, von dem Aradeia gesprochen hat… Akara ist gefährlicher.“

Sie folgten dem Gang bis wieder hinauf zum Altar.
In die Unterwelt führte nun kein Weg mehr hinein... höchstens hinaus. Wenn die gleiche Macht, die den Steinhagel beschworen hatte, ihn wieder rückgängig machen würde.
Immer wieder stöhnte Maro, und Jilis meinte, die Schulter müsste ihr bei dem Gewicht, das sie stützte und zog, bald brechen.
Sie half dem Nekromanten auf eine der Bänke in der Kirche.
Plötzlich hallten Schritte hinter ihr. War der Dämon zurückgekehrt?
„Jilis?“, fragte eine dünne Stimme.
Vega.
Jilis drehte sich in die Richtung um, aus der die Stimme gekommen war. Ihre Freundin trat aus dem Seitenschiff, Blutrinnsale flossen ihr den Arm herab, und sie hielt ein zerbrochenes Schwert.
„Vega! Du hast gekämpft. Ich dachte, das würde ich nicht mehr erleben.“
„Ich bin froh, dass du noch lebst. Jetzt kämpfen nur noch die anderen, draußen.“ Sie lächelte müde und setzte sich neben den Nekromanten. Mit einem Nicken grüßte er sie, und sie nickte zurück.
„Welche anderen?“
Jilis horchte auf. Keine Geräusche. Aber hinter den Kirchenfenstern zum Hof hin bewegten sich Schatten.
„Die Schwestern. Sie kämpfen gegeneinander. Akara will das Kloster zurück... Aber das ist nicht so wichtig.“ Vega blickte sie besorgt an. „Sie will dich tot sehen. Und dich auch.“ Sie sah zum Nekromanten.
Maro lachte ein trockenes Lachen.
„Das habe ich schon seit dem ersten Tag gewusst. Die Hexe hat sich einige schöne Gerissenheiten zusammengekocht.“
Vegas traurige Augen schlossen sich.
„Sie wird nach euch suchen und euch beide hinrichten lassen. Ihr müsst fort von hier, solange Akaras Heer noch mit dem Kampf beschäftigt ist.“
„Du hast den ganzen Weg vom Lager gemacht, durch eine Schlacht, um uns das zu sagen?“
Jilis setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. War das noch die Vega, die sie gekannt hatte? Die wollte, dass sie nie wieder einen Bogen in die Hand nahm?
Das zerbrochene Schwert in der Hand, sah Vega sie ernst an.
„Ja. Wir sind doch Schwestern.“
Jilis zog sie an sich und stieß Maro mit dem Knie an. Das Sonnenlicht fiel durch das Kirchenfenster und legte sich mit einem hundertfachen Farbenmosaik auf die Haut des Nekromanten.
„Das hier ist nicht deine Schlacht gewesen“, sagte Jilis. „Da draußen steht eine Irre mit einer Übermacht, und sie will dein Leben, weil sie keinen Schimmer hat...“
„Deins will sie auch.“
„Ja, aber sie hat einen Grund dafür. Eine Eisenstange, die ich ihr in den Bauch gerammt habe.“
Vega umschloss ihren verkrüppelten Arm. Das Gliedmaß war wieder so nutzlos wie eh und je.
„Du hast nicht mehr die Kraft, ihn zu bewegen?“
„Vielleicht will mir das sagen, dass ich jetzt genug gekämpft habe.“
„Oder es will dir gar nichts sagen. Du entscheidest doch selbst.“
Jilis stand auf und betastete ihren Gürtel. Das Jagdmesser steckte noch darin, und einige Speere hingen noch in dem Köcher auf dem Rücken.
„Wie du siehst, habe ich auch fast keine von den Waffen mehr, die du mir überlassen hast. Ich bin sehr verschwenderisch gewesen...“
Vega zuckte mit den Schultern.
„Du hast sie alle gebraucht. Dann ist es gut.“
„Tja, ich werde sie noch einmal brauchen.“
Am Altar fuhr sie mit der Hand über die steinernen Beine der Göttinnenstatue. Gefiel der Herrin, was hier geschah? Dass ihre Kinder sich gegenseitig abschlachteten? Die einen glaubten sich nur im Recht aufgrund eines Zaubers, der über sie gelegt worden war. Aber die anderen?
Jilis lehnte die Stirn an den Fuß der Statue.
Keine der Schwestern erfüllte mehr die Aufgabe, die in den Schriften der Göttin niedergelegt war. Keine war noch das wachsame Auge, das das Übel ausspähte, wenn es kam, um die Mark zu bedrängen.
Aber sie, sie hatte es gesehen. Das ganze Grauen. Und sie würde es vertreiben, damit ihre Schwestern wieder frei würden.
Außerdem gab es da noch den Nekromanten.
Er fixierte sie durch das bunte Lichtspiel der Fenster hindurch.
Der dumme Junge mit seinem Traum. Sie wollte nicht, dass er starb. Wenn sie sich an einem anderen Ort kennengelernt hätten, in einer anderen Zeit...
Das Gelübde der Schwestern, auf einen Gefährten zu verzichten, band sie jetzt nicht mehr. Doch auch ihr Körper würde sie nicht mehr lange binden.
Sie wusste, was sie zu tun hatte. Für die Göttin, für Vega und Maro, für die Schwestern. Für sich selbst.
„Ich halte Akara auf“, sagte sie. „Ihr sucht euch euren Weg in den Osten.“
Das Echo ihrer Stimme in dem hohen Raum verklang, und der Staub tanzte in den Säulen aus Sonnenlicht.
Nach einer Weile senkte Vega den Kopf. „Wenn es das ist, was du willst-“
Maro richtete sich auf und krallte eine Hand um die Lehne der Bank. „Das ist die größte Torheit, von der ich je gehört habe. Wir... wir wollten nach Osten. Gemeinsam.“
„Erzähl du mir etwas über Torheit, bitte.“ Jilis lachte so laut, dass das Lachen von allen Wänden widerhallte. „Manchmal geht es nicht darum, dass wir etwas wollen. Sondern, dass wir es tun müssen. Akara hat lange genug die Geister meiner Schwestern vergiftet. Sie haben an sie geglaubt, und an den Weg der Göttin. Akara hat alles in Trümmer geschlagen.“
Vielleicht wollte auch Maro lachen, aber aus seiner Kehle kam nur ein unartikuliertes Knurren.
„Dafür willst du nun Akara selbst in Trümmer schlagen.“
„Zum Wohle aller.“
„Du willst keine Rache?“
Sie überlegte kurz. Rache wollte die alte Zauberin.
Nein, wenn sie selbst aus einem Gefühl heraus handeln würde... dann wäre da ein anderes Gefühl, das sie treiben würde – und es würde sie in den Osten treiben.
„Ich will sie nur töten.“
„Ganz allein.“
„Ich bin nicht von deinem magischen Arm abhängig, um Akara ein Messer in die Kehle zu stoßen.“
Wieder knurrte Maro.
„Hältst du dich für eine Retterin deines Volks?“
Nein... Für deine Retterin.
In ihrem Hals drückte es, als hätte sie einen Fleischbrocken quer und ohne zu kauen verschluckt.
Dann klirrte eines der Fenster zum Hof hin, und das farbige Kristallglas goss sich in einer Splitterwelle in die Kathedrale. Zusammen mit einem Schatten, der zu ihnen hereinfiel.

*

Der Kerzenleuchter in Tyreés Hand strahlte auf die toten Gesichter am Boden der Kaserne. In ihnen stand noch die Überraschung des Moments, in dem ihnen die Kraft versiegt war.
Erst hatte ein Schauer sie durchlaufen, und die Arme der untoten Schwestern waren plötzlich wieder so schwach wie die der lebendigen geworden. Wie ein Inferno hatten die Lebenden sich über sie gewälzt und sie niedergemacht. Die, die danach noch standen, hatten in einem einzigen Moment alle gemeinsam das Leuchten in den Augen verloren. Dann waren sie gefallen, eine nach der anderen. Die Quelle ihrer Kraft musste versiegt sein. Selbst Falke hatte sich nicht mehr auf den Beinen halten können.
Sie ließ die Waffenkammern hinter sich und kehrte zurück auf den Kasernenhof.
Kaschya lehnte sich an eine der Zielpuppen aus Stroh für den Bogenkampf, während Akara auf sie einredete. Als Tyreé sich näherte, verstummte die Zauberin und sah in ihre Richtung. Auch Fenris‘ Töchter wendeten sich ihr zu, Beulen und Schlitze in den Turmschilden.
Tyreé schüttelte den Kopf.
„Kein Zeichen von Leben in der Kaserne?“, fragte Akara, und ihre Stimme schnitt wie ein Schwert. Aber sie bedurfte keiner Antwort.
„Sie sind alle unter deiner Zauberei gefallen“, sagte Kaschya und rieb sich über eine Schwellung im Gesicht. Das Fleisch über den Augen war angeschwollen von einem Hieb, der ihr den Schild eingedellt und ins Gesicht geschmettert hatte. „Schätze dich doch glücklich. Bis auf die Letzte ist das Kloster gereinigt.“
Gereinigt…
Tyreé ballte eine Faust in der Hosentasche. Kaschya musste ja so sprechen, um die Gunst der Anführerin nicht zu verlieren. Es ging nur noch darum, soviel Zeit für Vega und Jilis herauszuschinden, wie irgend möglich. Und darum, vielleicht doch lebendig diese Mauern zu verlassen.
„Es ist nicht meine Zauberei gewesen.“ Unter Akaras Fingerspitzen schwelten die Strohhalme einer der Übungspuppen. „Es muss die Magie gewesen sein, die sie am Leben erhalten hat – plötzlich ist sie versiegt.“
„Einerlei. Wenn sie sich selbst vernichtet haben, dann soll es uns umso mehr recht sein.“ Kaschya betastete ihre Beule über dem Auge und wies auf die zahllosen Toten, die allein den Kasernenhof bedeckten. Eine war über eine der Übungspuppen hingestreckt worden, dass sie jetzt wie das eigenartigste Tanzpärchen dieser Welt wirkten. „Wir können damit beginnen, die Trümmer fortzuräumen und die verbrannten Plätze wieder zu bepflanzen.“
Wie gerne wollte Tyreé das glauben. Aber sie wusste, dass nicht einmal Kaschya selbst es glaubte.
Akaras Blick war düster, als sie um sich blickte.
„Es gibt noch ein letztes Pestgeschwür. Was aus der Hexe geworden ist, die uns das Kloster entrissen hat, das kann ich nur mutmaßen. Aber wenn ihre Totenbeherrschung gebrochen worden ist, dann haben die Mächte, mit denen sie im Bündnis gesteckt hat, vielleicht ihren Preis gefordert. Damit bleibt aber noch immer der Totenkünstler, der sich in unser Lager geschlichen hat, und Jilis, die sich an seinen Rocksaum gehängt hat. Sie selbst benutzt die Nekromantie, um ihren vergifteten Körper aufrecht zu halten. Ihre Existenz allein verleugnet den Willen der Göttin, verleugnet die Gesetze der Welt.“
Neben den Fenristöchtern sammelten sich nun auch andere Einheiten im Kasernenhof. Die Anführer jeder einzelnen traten vor und verkündeten Akara, dass sie keine Lebenden mehr in den Mauern des Klosters gefunden hatten.
Kaschyas Blick huschte zu ihr herüber, rief nach Hilfe.
Aber Tyreé konnte nicht helfen.
Akaras Gesicht verzerrte sich, und im Rot der Morgensonne wirkte es wie eine grausame Fratzenmaske aus Ton.
„Denkt an den Lohn! Die Ehre der Hohen Jägerin für die, die mir den kalten Körper von Jilis oder dem Nekromanten bringt! Der Frevel, den sie an der Schwesternschaft getan haben, darf nicht vergessen werden!“
Ein Feuerstoß füllte den Hof mit seinem Licht, und eine Stichflamme fauchte hoch bis zu den Wachtürmen. Tyreé bedeckte die Augen mit den Unterarmen, und eine Hitzewelle brandete gegen sie.
Um die Strohpuppe, an der Akara gestanden hatte, wand sich eine Säule aus Feuer empor und sprühte Funken in den Hof.
Gluthabichte zu mir“, forderte Akara und winkte zu einem der Truppenverbände, die sich auf dem Hof versammelt hatten. „Wildlanzen… und Kinder der Göttin.“
Zögernd trat zuerst die Führerin der Wildlanzen an die Flammen; die Spitzen ihrer zwei Eisenlanzen ragten ihr schräg über die Schultern. Dann folgten die Führerinnen der zwei anderen Trupps.
„Wir durchsuchen die Kathedrale“, sagte Akara. Sie hob die Arme. „Die restlichen Scharen forschen in den Quartieren, den Lazaretten – in jedem Winkel, in den wir bisher noch nicht geblickt haben.“
Die drei Truppen, die Akara aufgerufen hatte, schlossen sich zusammen und strömten durch die Kasernentore. Die restlichen Jägerinnen teilten sich in kleinere Gruppen auf und glitten im Dämmerlicht durch Seitenausgänge davon.
Zurück blieben Fenris‘ Töchter… und sie, die letzte der Wolfszähne.
Neben Kaschya brannten noch die letzten Reste des Strohs. Die Arme der Puppe brachen ab, und in dem Strohgeflecht wimmelten noch einige Glutpunkte umher.
„Es ist fast so, als hätte sie gewusst, wohin Vega gegangen ist“, sagte Tyreé.
„Die beiden werden längst aus den Fenstern geflohen sein. So wie damals der ganze Orden.“
Tyreé stocherte mit der Klinge in der Glut. Irgendetwas stimmte nicht.
„Sie sind geflohen, meinst du…“
„Dafür ist Vega doch hier eingedrungen. Um Jilis zu warnen, damit sie gemeinsam-“ Kaschya hielt im Satz inne. Neben ihr stürzte der verkohlte Rumpf der Puppe vom Haltestock. „Du meinst, dass sie nicht geflohen sind? Was für einen Grund sollten sie haben, sich Akara noch in den Weg zu stellen?“
Ungläubig starrte Kaschya sie an.
Tyreé blies die Glut von ihrer Klinge und steckte sie wieder in die Scheide.
„Hast du jedes Mal einen Brief mit erzgräflichem Siegel und einen hochherrschaftlichen Grund gebraucht, um dein Schwert zu ziehen?“

*

Der Schatten stürzte durch den Splitterregen in die Kathedrale hinein und zog einen Umhang aus Fetzen hinter sich her.
Jilis hielt ihn mit einem Fuß am Boden fest und setzte die gezackte Klinge dorthin, wo weißes Fleisch aufblitzte.
Winzige Scherben steckten in den vernarbten Wangen der Gefallenen.
Blutrabe?
Jilis wich zurück, und ein Arm streckte sich nach ihr aus. Die Bewegung stoppte kurz vor ihrer Brust, die Finger erstarrten wie bei einer Toten.
„Bring mich… der Nekromant“, flüsterte Blutrabe. Ihr Mund bewegte sich kaum noch, und in ihren Augen glomm der Lebensfunke nur noch dünn.
Sie musste sich entscheiden. Schnell. Jetzt.
Stöhnend hievte sie Blutrabe um die Taille hoch und rief nach Maro.
Der Nekromant ging ihr durch die Bankreihen entgegen, eine Hand an die Seite gepresst, als bereite ihm das Gehen Schmerzen.
„Hilf ihr, wenn du kannst.“
Jilis lud ihre Last auf einer Bank ab. Blutrabes Körper war kalt wie Stein. Aber den Tod hatte sie ohnehin schon hinter sich.
„Ich soll ihr helfen? Sie hatte ein Leben, und sie hat es verloren. Das zweite hat sie nur durch Dämonenkraft bekommen.“
„Kannst du diese Dämonenkraft ersetzen, die ihr jetzt entzogen worden ist?“
Maro sah sie verblüfft an.
„Ja, ich könnte…“
„Dann tu es.“
Maro war schon ohnehin geschwächt, und Blutrabe würde vielleicht nichts anderes tun, als sich mit blanken Klingen auf sie zu stürzen… Dennoch. Aradeias Ableben mochte den Bann gelöst haben, der die Jägerinnen sämtlich zu ihren Sklaven gemacht hatte.
Er widersprach nicht und legte einen Arm an Blutrabes Schulter.
„Mit diesem Rest Kraft hätte ich dir vielleicht deinen Arm wiederherstellen können, aber so…“
In diesem Augenblick schlug die Tote die Augen auf und öffnete den Mund, als wolle sie nach Luft schnappen.
Jilis setzte sich neben sie und schlug die Beine übereinander.
„Du kommst zu uns zurück, Falke?“
Die Jägerin starrte an die Decke, und ihre Pupillen rasten. Als flogen Hunderte von Bildern vor ihr entlang.
Maro verschränkte die Arme und stand auf. Vega kam ihm entgegen, aber sie wechselte nur einen kurzen Blick mit Jilis und führte Maro dann fort.
„Ich weiß nicht, wie lange ich ihren Geist noch im Körper halten kann. Er strebt in die Jenseitswelt… dorthin, wo er hingehört“, sagte er und drehte sich dann um.
Sie verstand. Es war ein Akt der Dämonenmagie, Falke noch länger in dieser Welt zu halten. Aber wen kümmerte es, woher die Magie kam?
Falkes Blick beruhigte sich. Dann blieb er stehen, und ein Ruck lief vom Scheitel bis zur Ferse des Körpers. Die Augen blickten in die von Jilis.
„Ich... habe dich verraten.“
Jilis schob die Lippen auf den Zähnen hin und her.
„Ja“, sagte sie. „Du hast mich zum Krüppel gemacht, und den Dämon, der mich töten sollte, den hast du auch geschickt.“
„Ich habe sie alle verraten, die ganze Schwesternschaft.“
Jilis nahm Falkes Hand und drückte sie. Die Beine überkreuzte sie und legte sie über die Lehne der Bank vor ihr.
„Es ist niemand im Raum, den das interessiert. Es gibt die Schwesternschaft nicht mehr. Eigentlich hat es sie nie gegeben, wie ich sie mir gedacht habe.“ Sie holte Luft. „Aber du hast versucht, mich umzubringen. Nur wegen dem Fluch, mit dem Aradeia sich in deine Gedanken geschlichen hat? Du bist doch Falke, nicht wahr? Oder spreche ich noch mit Blutrabe?“
Falke schüttelte den Kopf. Ihre Hand drückte zurück.
„Ich wollte nur noch ein Mal mit dir zusammen kämpfen. Aber du hattest dir diesen Gefährten genommen...“
„Unsinn, Falke. Damit hätte ich das Gelöbnis der Schwestern gebrochen. Und da, auf dem Friedhof, habe ich noch an die Schwestern geglaubt.“
„Das heißt, ihr seid nicht...?“
„Du hast das auch dem Ziegendämon erzählt. Sein Schauspiel ist leider wenig überzeugend gewesen. Es hat ihn das Leben gekostet, dass du ihm deine Annahmen als Leitfaden mitgegeben hast.“
Langsam begriff sie. Falke war ebenso sehr Opfer geworden von Aradeias Gedankenfluch wie von der einfachsten menschlichen Leidenschaft. Eifersucht, Falke? Das hat uns also in den Untergang getrieben.
Falke wand den Kopf herum, als könne sie irgendwie entkommen.
„Ich wollte das nicht... das alles.“ Sie verschloss die Augen.
Jilis erhob sich und setzte sich auf die Lehne einer der Bänke.
„Gut, du hast es nicht gewollt. Aber was willst du dann, Falke? Es ist so wichtig wie ein Rattendreck, was genau geschehen ist, und wieso. Jetzt sind wir jedenfalls hier, und du hast noch einige Stunden. Wahrscheinlich nicht sehr viel weniger als ich.“
„Was hast du vor?“
Falke setzte sich auf, und langsam kehrte das Leben in sie zurück. Machte aus dem untoten Wrack wieder die Kriegerin, die sie gekannt hatte.
„Ich töte Akara. Wenn ich es nicht schaffe, gebe ich zumindest Maro und Vega mehr Zeit zum Fliehen.“
„Du riskierst doch dein Leben, um ihn zu beschützen?“
„Ich bin jetzt keine Schwester mehr, Falke. Ich hätte den Segen der Hohen Jägerin bekommen sollen, aber stattdessen hat Akara nur einen kräftigen Hieb in den Magen bekommen.“ Sie lachte. „Jetzt tue ich, was ich will. Um diesen dummen Kerl dort zu heiraten, brauche ich ein zweites Leben. Aber ich werde es mir verdienen.“
Falke stand auf. Ihre Gesichter berührten sich fast.
„Du willst ihn gleich heiraten? ...Du trägst den Wahnsinn eines Dämons in dir.“ Falke lächelte das erste Mal wieder, seit langer Zeit. Seit dem Spiel im Wachturm. „Dann bin ich bei dir, Jilis, wenn du dich Akara in den Weg stellst. Mein Schwert ist noch scharf.“
Jilis umarmte sie.
Das war die Falke, die sie vermisst hatte.
„Es wird eine Himmelfahrt“, sagte Jilis und drückte den kalten Körper Falkes an sich.
„Dann wäre ich glücklich. Nach dem, was ich getan habe, ist mir eher eine Reise in die Hölle beschieden, fürchte ich.“
„Besorg uns ein paar Waffen. Im Saal unter dem Altar dürftest du noch einige finden, die ich dort gelassen habe.“
In Falkes Augen glomm ein heller Funke.
„Wie groß siehst du unsere Chancen?“
„Zu zweit gegen ein Heer, das aus dem gesamten Lager besteht? Die Frage ist eben, wann wir untergehen, nicht ob.“ In ihrem Kopf erschien das Bild des Schachbretts, das Falke damals vor ihnen im Turm ausgebreitet hatte. „Wir sind zwei Bauern, die es mit der ganzen Garde der Königin aufnehmen.“
„Es gibt noch eine Regel, die ich dir damals nicht erklärt habe. Der Bauer ist die einzige Figur, die nicht wieder zurück kann, sondern immer nur vorwärts...“
„Ja, das weiß ich. So ähnlich wie wir. Ziemlich dumm.“
„...aber wenn er es bis ans Ende des Bretts schafft, dann wird er zu einer Königin.“ Falke schwieg einen Moment, dann ging sie in Richtung des Altars. „Und an welchem anderen Ort sind wir hier, als am Ende des Bretts?“
 
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XVII Unsterblich

Maro sah noch einmal zurück, aber Jilis besprach sich mit Blutrabe für den folgenden Angriff.
Für den Wahnsinn, den die beiden entfesseln würden.
Er stieg hinter der blonden Jägerin her, aus einem der Fenster, die nach Osten wiesen.
Die Sonne warf einen langen Schatten vor ihn hin – ein Fuhrwerk mit zwei Ochsen stand halb versteckt zwischen den Büschen.
Der Wind rauschte durch Gheeds Gewänder, die um ihn flatterten wie Bettlaken. Mager war er geworden, von dem mageren Pferdefleisch in der Mark, oder, weil er sich jetzt im Verzicht übte.
Das passt nicht zu Euch.
Der Händler zog den Gürtel etwas höher, aber er rutschte sofort wieder hinunter zur Taille.
„Eine Freude, dich noch lebendig wiederzusehen“, sagte er und öffnete die Arme. Aber die joviale Geste passte jetzt so wenig zu der Gestalt wie die Worte. Der Mann war wieder zu dem Schakal geworden, der einst Maros Säbel geführt hatte. Er wusste es nur noch nicht. „Du würdest genug von diesen Landen haben, hat mir deine Freundin erzählt.“ Er wies mit einer Reitgerte auf Vega. „Ich habe auch genug. Schwerter und Äxte sind bei mir aus, und ich will nicht wissen, wessen Seelen mit ihnen gefällt werden.“
Die junge Jägerin nickte Maro zu. Alles war vorbereitet für die Flucht.
Er löste den Schwertgurt und reichte Gheed seinen Säbel.
„Ihr lasst Euren Bauch wohl in der Mark zurück?“
Der Händler strich den Stoff über dem Gürtel glatt und lachte.
„Und deswegen könnte ich mein Falchion wieder brauchen, meinst du.“
„Ich brauche es jedenfalls nicht mehr.“
„Aha… Du hast dir schon erkämpft, auf was du es abgesehen hattest. Aber ich werde wohl nicht aus dir herausbeko-“
„Nein“, sagte Maro. Ein warmer Wind fuhr ihm von Osten her entgegen und trug die ersten Schleier von Wüstensand heran. „Ich habe es mir nicht erkämpfen können. Trotzdem.“
Vega trat zwischen sie und nahm Maro die Schwertscheide aus der Hand, um sie an Gheed weiterzureichen.
„Wir haben keine Zeit! Bitte. Jilis kämpft für jede unserer Sekunden.“
Sie hatte Recht. Auch, wenn er nicht verstand, nie verstehen würde, was genau die Kriegerin antrieb.
Maro schwang sich auf die Ladefläche des Wagens unter der Plane und half dann Vega hinein, während Gheed sich auf den Kutschbock setzte. Als er die Zügel anzog, grunzten die Ochsen in ihrem Joch und trampelten die Büsche vor sich nieder.
Der Wagen rumpelte unter Maro über den unebenen Boden.
Das Gefühl, in Bewegung zu sein. Die letzten Wochen hatte er immer auf Reise zugebracht, hatte Täler und Berge durchwandert, blutende Blasen an den Füßen, und doch… erst jetzt wieder kam dieses Gefühl, dass er sich wirklich bewegte. Obwohl er keinen Muskel rührte.
Die Türme des Klosters entfernten sich, und die grasbewachsenen Hügel wichen bald einer dünnen Schicht aus Sand.
„Wir halten uns an der Wüstengrenze und versuchen, die Anauroch möglichst in Küstennähe zu durchqueren“, rief Gheed zu ihnen nach hinten. „dann ersparen wir den Rädern die Dünen, und unser Wasser können wir uns aus dem Meer abkochen.“
Maro murmelte eine Zustimmung.
Vielleicht würde er tatsächlich zu Varn zurückkehren. Zumindest Orestar würde sich dafür interessieren, was er von dem Tor ins Dämonenreich erzählen konnte.
Sein Traum war verloren. War es von dem Moment an gewesen, in dem er ihn gefasst hatte. Er hatte es nur erst begreifen müssen.
Dass Evra ein Schatten war, der ihm seine Magie schenkte… und, dass sie nie mehr sein würde. Es gab jetzt andere Wege, andere Orte, an die er gehen konnte.
Rotes Licht der Morgensonne durchdrang die Plane des Wagens und machte seine Haut und die der jungen Jägerin fleischfarben.
Das Kloster war bald nur noch ein Umriss, der sich kaum mehr von Wäldern der Mark abhob.
Er ertappte sich dabei, wie er an seinem Gürtel nestelte.
Etwas stimmte nicht.
Ein Blick auf seine Aura.
Die Flämmchen am äußersten Rand wirbelten wild umher, während die des Mädchens neben ihm ruhig da lagen, fast wie ein ausgebreiteter Kranz von Pfauenfedern.
„Kann ich dich etwas fragen?“
Sie sah auf und deutete mit den Mundwinkeln ein Lächeln an.

*

„Wieviele Legionen, Falke?“, fragte Jilis.
Sie nahm den Zweihänder entgegen und umwickelte den Griff mit den Zähnen mit einem Lederband. Die Waffe sollte in der Schlacht nicht rutschig von ihrem eigenen Blut oder Schweiß werdens.
„Ich habe nicht ihr gesamtes Heer gesehen und gehört. Nur einige Verbände. Klingenherz, Wildlanzer, einige Namen habe ich aufgeschnappt. Aber es ist uninteressant. Eine Truppe allein würde genügen, uns umzubringen.“
Jilis schärfte die Klinge am Rand des Taufbeckens. Nie waren hier Kinder getauft worden. So würde zumindest ihre Waffe hier eine Taufe erhalten.
Sie wusch Reste von Erde und getrocknetem Blut von der Schneide und lud sich die Waffe dann auf die Schulter.
„Es ist eben doch interessant“, sagte sie. „Akara wird all diese Namen nennen, wenn sie von ihrem Sieg erzählen wird. Oh, wie heldenhaft warfen sich drei Dutzend auf die zwei der Göttin lästernden, grässlichen Kriegerinnen.“
Falke zog die Sehne ihres Bogens fest und lächelte dabei.
„Königinnen“, sagte sie. „Es waren zwei Königinnen.“
Jilis prüfte die Wurfbeile und Dolche an ihrem Gürtel. Einzig für Akara selbst war eine scharfe Waffe bestimmt, nicht für die armen Seelen, die ihr folgten. Aber schon die untoten Jägerinnen hatten sie für eine Wahnsinnige gehalten, weil sie ein halbes Kaserneninventar am Körper mit sich getragen hatte – und für noch wahnsinniger gehalten zu werden, würde ihnen in diesem Kampf nur nützen.
„Wir sind unsterblich“, sagte Jilis.
„Nun ja, fast. Jedenfalls, bis sich fünfzig Pfeilschäfte in unserem Brustkorb tummeln.“
„Nein. Wir sind wirklich unsterblich.“ Jilis stellte sich vor der Göttinnenstatue auf. Solche Gedanken hatten sich nie in ihr Bewusstsein gedrängt, aber jetzt… Vielleicht, weil da draußen Vega und Maro waren, die sie liebte, und auf sie selbst in diesen Mauern der Tod lauerte. „Sie können nicht gewinnen. Weil wir nicht verlieren können. Alles, was ich erwarte, ist, dass wir sterben. Kein Gott wird eingreifen und uns helfen, Akara zu erreichen und zu töten. Wir sind nur hier, um Zeit zu kaufen, und das tun wir, wenn wir sterben.“
Falkes Hand legte sich ihr auf die Schulter.
„Wusste gar nicht, über was du so alles nachdenkst. Kommt das davon, dass du zu lange mit diesem Zauberer umhergezogen bist?“
„Wäre das schlimm?“
„Nein. Das hier wird unser letzter Tag, und ich habe alles, was ich mir gewünscht habe.“
„Unseren Kampf?“
„Nur dafür habe ich all das getan, was ich jetzt bereue. Du kannst nur mit einem Arm kämpfen...“
„Und hätte ich drei – sie würden ja trotzdem nicht ausreichen.“
„Kannst du mir verzeihen?“
„Wenn du mir verzeihst, dass ich damals nicht nach den zehn Minuten zu dir zurückgekehrt bin, die ich dir versprochen hatte.“
„Ich war tot, als du zurückkamst. Du hast dich an dein Versprechen gehalten. Nur ich, ich war nicht mehr da. Es gibt nichts zu verzeihen.“
Der Klang von Marschschritten auf Stein drang durch das gebrochene Fenster hinein, und Fackellicht glühte durch die bunten Glasscheiben daneben hindurch.
Jilis trat neben das Kathedralenportal und stützte sich auf ihr Schwert.
„Wir benutzen die scharfe Seite der Waffe nur zum Parieren. Du kannst auch ohne eine Klinge angreifen, nicht wahr?“
Falke nickte. Sie steckte ein Messer zurück in die Scheide.
„Den Nahkampf haben wir doch alle eingeprügelt bekommen. Alle. Die anderen leider auch.“
Die Schritte zogen näher zum Kathedralentor heran. Dann verstummten sie.
Jilis senkte ihre Stimme.
„Sie sollen von uns erzählen, Falke. Von den zwei Unsterblichen, die ihnen einen Empfang wie hinter den Toren der Hölle gemacht haben.“
Die Haare an den Armen stellten sich ihr auf, und ihr Magen drehte sich in einem wilden Tanz.
Sie würden sterben. Maro würde leben, und Vega auch.
Sie spannte ihren gesamten Körper an. Nur noch ein Netz aus Sehnen und Muskeln.
Knarrend öffneten sich beide Flügel des Portals.
Falke presste sich an die Wand und formte Worte mit dem Mund.
Ich liebe dich, Schwester.
Jilis lächelte, und formte die gleichen Worte.
Sie würden für einige Momente das gleiche tödliche Gespann sein wie damals, bevor diese grausame Zeit gekommen war.
Zwei Schwestern traten voran in die Kirche, Fackeln in der Hand, und sahen sich um.
Jilis genoss den letzten Augenblick.
Dann drehte sich die Schwester zu ihr um. Ihr Mund öffnete sich, dann rammte sich Jilis’ Knie gegen das Kinn und verschloss ihn wieder. Die Pupillen rollten ihr nach oben weg, und sie kippte nach hinten, in die Arme der nächsten Schwester. Falke erschien hinter ihr, und ihr Schwertgriff schlug der zweiten Kriegerin in die Schläfe.
Zwei. Von Hundert.
Waffen glitten kreischend aus den Scheiden, und Rüstungsglieder klapperten aneinander, als die Schwesternschaft Formation annahmen. Über allem erhob sich ein Ruf von Akara, und Kriegerinnen quollen in die Kirche.
Falke verschwand hinter den Rücken zweier Schwestern, aber eine taumelte wie von einem Hammerschlag zurück und die zweite stürzte lang auf die Erde hin. Ein Mädchen drängte sich vorbei, um Platz für die Truppen hinter sich zu machen. Jilis stieß ihr die Ferse in die Kniekehlen und rammte ihr den eisernen Schwertknauf in den Magen.
Zwischen zwei Atemzügen erhaschte sie einen Blick auf das Heer, das sich im Hof sammelte. Lanzen und Schwerter funkelten rot im Morgenlicht. Eine dieser Waffen war für sie bestimmt. Fragte sich nur, welche.
Sie warf sich gegen die nächste Welle.

*

„Wieso bist du hier?“, fragte Maro.
Vega zupfte an den Zipfeln des weißen Burnus, den Gheed ihr gegeben hatte.
„Stellt ihr Totenbeschwörer alle so seltsame Fragen?“
„Ich meine… sogar Blutrabe ist bei Jilis geblieben.“
„Willst du sagen, ich wäre feige?“
Maro schüttelte rasch den Kopf. Neben ihm klirrten einige Speere in einer Vorratskiste.
Aus einem Beutel holte die Jägerin eine Tonschale mit Kuchenstücken darin hervor.
„Jeder Mensch ist gut in einer besonderen Sache“, sagte sie, „und das Kämpfen ist es bei mir nicht.“
„Ich weiß nicht“, sagte Maro. Er kam sich dumm vor. „Sie sind deine Schwestern gewesen.“
Vega schob ihm den Kuchen hin.
„Das sind sie immer noch, und ich will nicht, dass sie sterben. Aber Jilis hat gewollt, dass ich dich begleite.“
„In den Osten, fort von hier. Weil sie will, dass du überlebst.“
Maro versuchte einen Bissen von dem Kuchen. Die Schicht aus Beeren zerging auf seiner Zunge wie schmelzendes Eis.
„Nein, nicht deswegen.“
Er hustete, und fast hätte er sich an dem Teig verschluckt.
„Ihr seid wirklich seltsam. Nicht die Totenbeschwörer.“
In Vegas Augen funkelte Grimm. Hatte er etwas Falsches gesagt?
Sie beugte sich über die Kuchenschale und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust.
„Vielleicht nicht, aber du bist es auf jeden Fall. Bist du so schwer von Begriff, Maro aus dem Osten?“
Maro sah nach vorn zu Gheed, der den Wagen an der Küstenlinie entlang steuerte.
„Ja, das bin ich wohl. Ich habe lange gebraucht, zu verstehen, dass es keine Göttin gibt, die auf mich wartet“, sagte er, mehr zu sich selbst.
„Hohlkopf“, sagte Vega. Ihre Sommersprossen leuchteten im Sonnenlicht. „Ein großer Hohlkopf bist du! Ich weiß nicht, wovon du sprichst, aber es gibt auf jeden Fall ein Mädchen, das auf dich warten würde, eine ganze Ewigkeit lang. Undzwar hier auf der Erde. Jilis will, dass ich bei dir bin, weil sie es nicht sein kann!“
Es dauerte. Dann fiel ihm das Kuchenstück aus der Hand. Die Beeren zerfielen zu einer blauen Pfütze.
„Sie…“
Vega stemmte die Fäuste gegen den Boden des Wagens, dass ihr die Knöchel schlohweiß wurden, und beugte sich vor.
„Großer, großer Hohlkopf! Hast du das nicht verstanden, wieso sie dort stirbt? Sind dir deine Sümpfe ins Hirn gesickert?“
Langsam richtete Maro sich auf.
Seine Gedanken rasten ineinander, zerbarsten und wurden neu geboren.
Jilis...
Zuviel, um es schon zu verstehen. Aber ein Blitz leuchtete auf, eine einzige Eingebung. Er wusste, was er zu tun hatte, so sicher wie noch nie – obwohl ihm die Knie weich wie Gummi waren, und seine Gedanken sich in sich selbst verstrickten.
Sie sehen. Bevor es endete... alles.
Sein Körper machte die Schritte, hielt sich nicht an den Gedankenwirren auf.
„Ich habe es nicht verstanden, bis jetzt“, sagte er, und ging auf das offene Heck des Wagens zu.
Entsetzen trat auf Vegas Antlitz.
„Was hast du vor?“
„Sie ist vielleicht noch am Leben.“
Die Räderspuren im Sand gingen höchstens eine Fingerbreite tief. Der Aufschlag würde schmerzen.
Maro setzte einen Fuß über den Wagenrand hinweg, da schloss sich ein Gewicht um seinen Arm und riss ihn zurück ins Wageninnere. Er schlug auf die Bretter auf und keuchte.
„Du gehst nicht“, sagte Vega. Sie setzte ihm die Knie auf die Brust und zog ihr Messer.
Sie hatte gelogen, als sie gesagt hatte, sie könnte nicht kämpfen. Kämpfen war mehr als nur Schwertkunst. „Wenn du jetzt gehst, dann machst du sie unglücklich. Das lasse ich nicht zu.“ Ihre Augen funkelten. Sie war die Wölfin, die für die Letzte aus ihrem Rudel kämpfte.
Maro wand sich zu den Seiten, aber das Gewicht des Mädchens hielt ihn nieder. Gheed lenkte ungerührt den Wagen an der Küste entlang. Was hätte er auch verstanden von dem, was hier geschah?
Ächzend schob sich Maro ein Stück nach oben, in die Nähe der Waffenkisten. Seine Hand ertastete einen Griff und zog daran.
„Sie glaubt zu wissen, was für mich gut ist?“, fragte er. Mit einem schmalen Dolch stemmte er sich gegen Vegas Waffe. Er war schwach, ja, aber er bündelte den letzten Rest an Kraft, um sich zu befreien.
„Ist der Tod gut für dich?“
Sie verkantete die Zähne des Messers in der Dolchklinge und drehte ihm das Handgelenk zur Seite. Dann erreichte die konzentrierte Lebenskraft seine Hand, und mit einem mächtigen Ruck hebelte er ihr das Messer aus den Fingern. Er bäumte sich auf und stieß das Mädchen von sich hinunter. Sie stürzte gegen einen Sack mit Gewürzen und stöhnte auf.
Zwei Schritte, und er stand wieder am Wagenheck.
„Vielleicht muss ich das erst herausfinden.“
Er sprang. Der Sand spritzte bei seinem Aufprall zur Seite. Er ignorierte die Taubheit in seiner Schulter und rollte sich ab. Neben ihm ein zweiter Aufprall, der Sand stob zur Seite. Vega setzte ihm nach und richtete sich auf.
„Nicht, solange ich noch stehen kann. Ich habe es Jilis versprochen!“
Einen Moment, der ihm unendlich schien, standen sie sich gegenüber.
Wahrscheinlich verstand sie ihn sogar. Es war ja nicht schwer, seinen Hohlkopf zu durchschauen. Aber das half nichts.
„Ihr entscheidet, was ich zu tun und zu lassen habe? Sag mir, wo das gerecht ist.“
Maro löste sich aus der Starre und sprintete los, durch den Sand.
Zu Tod, zu Untergang, zu was auch immer ihn erwarten würde.

*

Ein Schwert schlug eine Kerbe in die Bank neben ihr. Jilis stützte sich auf die Lehne und hämmerte die Angreiferin mit einem Fußtritt zurück in die Reihen, aus denen sie getreten war.
Falke setzte schon über die Bankreihen hinweg, in Richtung des Altars.
Wir brauchen Distanz.
Drei Einheiten strömten in die Kirche – die einen mit Lanzen, deren Spitzen immer wieder durch die Fugen der ersten Reihe hindurchstießen. Die nächsten stürmten mit Messern und Schwertern vor, und die letzten... trugen ihre Bögen auf dem Rücken. Aber noch hatte niemand ihnen einen Feuerbefehl erteilt.
Während Jilis über die Bänke hechtete, schoss ein Schwertarm von der Seite heran. Sie fing sich ab und packte das Handgelenk der Schwester, zog sie zu sich und warf ihr einen Haken entgegen. Ihre Faust prallte auf die Wange, und die Schwester wankte zurück.
„In die Sakristei!“, rief Falke ihr zu. Jeder in der Kirche konnte ihre Schlachtpläne belauschen – aber was machte das noch.
Sie holte Falke bei den Orgelpfeifen ein, hinter sich eine Flut aus Schwertern, die die Luft durchschnitten. Sie duckte sich unter einem Hieb, der dann in ein Pfeifenrohr fuhr. Der Treffer hallte wie ein schwacher, schriller Gongstoß durch die Kathedrale.
„Sie behindern sich selbst mit ihrer Masse“, rief Blutrabe. „Wenn wir auf die Galerie kommen, dann erst recht.“
Sie ging in die Sakristei hinab und deutete auf die Treppe, die die Empore hinaufführte.
Eben drängte sich eine ihrer Verfolgerinnen durch die Tür. Ein Dolchstoß – Falke parierte ihn in Richtung Wand. Ein Schwertstreich – Falke lenkte ihn zum Boden hin. Jilis packte einen Besen und rammte den Stiel der Schwester tief in den Bauch, dass ihr die Klingen aus der Hand fielen und sie sich in dem schmalen Durchlass krümmte.
Falke rannte bereits die Stufen hinauf und winkte. Die nächsten Wellen fluteten in die Sakristei.
Jilis folgte Falke auf die Galerie.
Wo hielt sich nur Akara auf? Würde sie einfach vor dem Kirchenportal warten, bis die Schwestern sie beide überrollt hatten?
Zwischen den Bankreihen ging die letzte Einheit in Position. Die Mädchen nahmen die Bögen von den Schultern, und Jilis hielt den Atem an. Sie waren in eine Todesfalle geraten. Die Kriegerinnen stürmten aus dem Galerieaufgang auf sie zu. Kein Weg zurück.
Jilis zog Falke am Arm, und die nickte. „Schon gesehen. Schön, dich gekannt zu haben.“
Langsam zogen die Schützen die Pfeile aus dem Köcher. Aber die Schwertkämpfer rannten ungebremst an – wussten sie nichts von dem Hagel aus Tod, der kommen würde?
Mit Falke zusammen wich sie über die Galerie zurück, Hunderte von Schwertern und Piken hinter sich. Die Welle ihrer Feinde strömte heran, und eigentlich würde es keinen Unterschied machen, ob Klingen oder Pfeilen sie richteten.
Plötzlich wandten sich die in der ersten Reihe um, und hinter ihnen stürzten Kriegerinnen über das Geländer, um dann wie Insekten unten auf den Kirchenbänken zu zerschellen.
Dann brach die Schlachtreihe.
Turmschilder rammten die Frauen beiseite, und die Schildträger stürzten nach vorn. Jilis suchte sich ein Beil aus dem Gürtel, und Falke brachte ihre Messer hervor.
„Köpfe runter!“, rief eine der Angreiferinnen, und Jilis stutzte.
Hinter dem Turmschild offenbarte sich ein Gesicht mit verwachsener Nase. Tyreé?
Die Jägerin rutschte auf ihren Stiefeln zu Jilis herüber. Das Schild kreischte über den Boden, Tyreé stellte es wie einen Schutzwall vor sich auf. Gleichzeitig sirrten die Pfeile los.
Wie erstarrt stand Jilis da, da zog Falke sie nach unten. Ein zweites Turmschild fügte sich in den Wall.
„Fast zu spät.“
Kaschyas Stimme. Der Hauptmann duckte sich hinter das Schild.
Noch vier weitere Schildträger reihten sich zu ihnen, und die Pfeile prallten wie Hagelkörner gegen das Metall.
Sie waren doch nicht allein.
„Weswegen seid ihr hier?“, fragte Jilis.
„Tja, ich weiß nicht. Vielleicht, um mich für das hier zu revanchieren?“ Tyreé zeigte auf ihre krumme Nase.
„Es tut mir Leid...“
Zwischen den Worten klapperten Pfeilspitzen gegen die Schildwände.
„Nein, das glaube ich dir nicht“, sagte Tyreé. „Aber es geht jetzt auch nur darum, dass wir alle hier sind... und Akara dort unten. Blutrabe kämpft auch wieder auf unserer Seite?“
Falke fiel ihr ins Wort. „Ich heiße nicht so.“
Jilis nickte. „Also kämpfen wir alle dafür, die Schwesternschaft von Akara zu befreien.“ Maro und Vega hatten jetzt genug Vorsprung bekommen, um schon die halbe Wüste durchquert zu haben. Dann konnte jetzt kommen, was wollte. „Wir sind fast so etwas wie Helden.“
„Auf jeden Fall“, sagte Falke, „Helden werden erst welche, wenn sie es ins Grab geschafft haben. Und dort kommen wir auch bald an.“
Durch den Aufgang zur Galerie strömten die nächsten Truppen der Schwertträger. Die Pfeile hagelten weiter, und zwei der Kriegerinnen stürzten, gefällt von den Geschossen ihrer eigenen Schwestern.
Jilis duckte sich in Verteidigungshaltung.
„Akara ist nicht einmal das Leben von denen etwas wert, die für sie kämpfen...“
Neben ihr nahm Falke Aufstellung. Blut klebte ihr an der Rüstung, und ihr eigenes konnte es nicht sein – das war längst geronnen.
Kaschya wuchtete ihren Kriegshammer vor sich in den Boden. „Was hast du erwartet? Sie ist nur noch ein wütendes Tier, und ihre Klauen sind die Kriegerinnen der Schwesternschaft.“
„Dann locken wir sie her. Akara soll sich zeigen, und dann erhält sie den Lohn für ihre Machenschaften.“ Jilis machte sich bereit für die nächsten Angreifer.
Sie wusste nicht, wie lange sie noch würden standhalten können. Die Wand aus Schilden bewahrte sie vor dem Pfeilregen der Schützen, aber nur vier Mann konnten sich am Rand des Walls den Schwert- und Messerkämpfern entgegenstellen.
„Das ist das Ende“, flüsterte Kaschya.
„Noch nicht“, sagte Jilis. „Noch nicht.“

*

Als sich Vega ihm von hinten in die Beine warf, stürzte Maro und schlug lang in den Sand hin. Die Sandkörner brannten ihm in Nase und Mund, und er keuchte und hustete.
Noch zwei Dünentäler lagen vor ihm, dann flachte die Wüste ab. In der Ferne standen schon die Schatten der ersten Laubbäume.
„Es ist auch nicht gerecht, dass du dich umbringen lassen willst, wo sie doch dafür kämpft, dass du lebst!“, rief Vega.
Maro nahm Schwung und rollte sich den Abhang hinunter. Die Welt wirbelte um ihn, und Sand rieb zwischen Haut und Kleidern. Er strampelte mit den Beinen, und erst löste sich der Griff um sein eines, dann um sein anderes Fußgelenk.
„Ich habe sie nicht darum gebeten, für mich zu sterben!“
Schnaufend kam er wieder auf die Beine, und Meter hinter ihm richtete sich auch die Jägerin wieder auf.
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang er sich bergauf, über die letzte Düne. Ein langer Schatten fiel über ihn, und ein wütender Schrei gellte heran. Er sprang zur Seite, und neben ihm stürzte die blonde Kriegerin in den Sand. Augenblicklich stemmte sie sich hoch und stand wieder aufrecht. Ihre Augen glühten wie die eines Berserkers, der nur noch den Tod kannte – den der Feinde, oder seinen eigenen.
Wenn er nicht gewusst hätte, dass sie gerade darum kämpfte, dass er am Leben blieb...
Er riss sich los und nutzte den winzigen Vorsprung, den er hatte. Er wollte das Mädchen nicht niederschlagen. Wenn er das überhaupt geschafft hätte.
Die ersten Gräser federten seine Schritte, und er sprang über Sträucher und Äste. Sein Atem pfiff wie von selbst hinein und wieder hinaus aus ihm.
Zwischen dem Geäst neben ihm tauchte das Gesicht der Jägerin auf. Geduckt hetzte sie ihm nach. Vier oder fünf Schritt von ihm entfernt, auf gleicher Höhe. Ihr Hecheln drang hin bis zu ihm. „Ich... lasse nicht zu...“
Maro quälte die letzte Energie aus seinem Körper. Es machte nichts, wenn er danach zu Boden ging und vielleicht niemals mehr hochkam.
Den Wind im Rücken, setzte er über schmale Bachläufe hinweg, über sumpfige Senken, immer hin zu den Mauern, die sich bis über die Baumwipfel erhoben.
„Es macht jetzt keinen Unterschied mehr!“, keuchte er, „wir sind schon zu nah. Sie kriegen uns hier, oder im Kloster!“
Vega jagte weiter neben ihm her. Sie brauchte keine Magie, um die letzten Reserven aus ihrem Körper zu pressen. Sie tat es einfach. Den Blick auf ihn fixiert, flog sie über die Ebene hinweg.
Dann fiel sie zurück, Schritt um Schritt.
Vielleicht, weil seine Worte sie erreicht hatten und sie sich endlich in den Wahnsinn fügte, wegen dem er diesen Weg nahm. Vielleicht, weil ihre Ausdauer sie dazu zwang.
Sie verschwamm zu einem Blitz, der nach hinten an ihm vorbeiglitt, wie die Weidenstämme und die Beerensträucher.
Er lief weiter.
Wenn er jetzt anhielt, musste er sterben. Und auch Jilis musste sterben. Die Welt musste zerfallen.
Sein Körper war nur noch eine Hülle, die seinen Geist vorantrug. Zu welchem Ende auch immer.
Wenn er es nur früher begriffen hätte. Dass die Göttin nie auf ihn gewartet hatte, aber dafür ein anderes Mädchen.
Vor seinem Auge sah er den Dämon, der auf dem Gebirgspfad zu ihm gestürmt war. Dann der Bolzen, der den Geflügelten gefällt hatte. Selbst mit nur noch einem Arm beschützte sie ihn. Jetzt, wie sie es damals getan hatte.
Sie war mit ihm durch die Hölle gegangen, hatte ihn wieder herausgeholt. Sie hatte soviel von einer Göttin an sich, wie es eine Sterbliche haben konnte.
Auf den letzten Metern spürte er, wie sein Körper nachgab.
Aber noch nicht ganz.
Sein Schatten reichte schon fast bis zu den geborstenen Fenstern der Klosterkathedrale, und er setzte den letzten Schub Lebenskraft ein, um nicht zusammenzubrechen.
Jilis!

*

Am Rande des Schildwalls prallten die letzten Fenristöchter auf die Gluthabichte. Namen, die Kaschya genannt hatte, die jetzt nichts mehr bedeuteten. Schwester kämpfte gegen Schwester.
Eine mit gebrochenem Arm wurde aus der ersten Reihe nach hinten gerissen, um die Schilde aufrecht zu halten, und eine mit nur einem leichten Schnitt in der Seite ersetzte sie in der Schlacht.
Tyreé verband sich eine tiefe Wunde am Arm, und Jilis selbst schöpfte einige Sekunden lang neuen Atem. Nur einige Sekunden...
Falke, die keine Erschöpfung kannte, stritt neben zwei Fenristöchtern auf der gesamten Breite der Galerie. Um sie herum schnauften die Kriegerinnen vor Anstrengung und kämpften mit zitternden Armen, nur Falke schlug noch mit vollendeter Präzision zu, durchtrennte hölzerne Rundschilder zu Splitterhageln und warf Gegnerinnen mit Kniestößen auf die Erde nieder.
Neben ihr fiel eine Fenristochter unter einem Schwertstich, der ihr bis durch den Rücken drang. Falke entwaffnete ihre Mörderin und setzte zu einem Ellenbogenstoß an, aber mitten in der Bewegung verharrte sie.
Jilis ahnte es. Wie sehr hatte sie den Moment gefürchtet.
Die Schlacht gerann zu einem einzigen Bild, zu einem Augenblick des Schreckens. Mit zwei Schritten eilte Jilis nach vorn und war bei ihrer Freundin. Die Gluthabicht-Kriegerin vor ihr zog ihre zwei Klingen aus der Brust von Falke.
„Hätte... früher oder... später...“, stammelte sie und fiel in Jilis’ Arme.
Jilis schluckte die Tränen herunter. Hätte sie nicht froh sein sollen, dass sie in diesem Wahnwitz überhaupt noch Tränen hatte?
Falkes Augen waren bereits erstarrt, als Jilis sie auf den Boden bettete.
Akara…”, murmelte Jilis, und obwohl sie die Nase hochzog, flossen ihr Tränen und Rotz über das Gesicht.
Um sie war es still geworden. Zwei weitere Fenristöchter lagen in Lachen ihres Bluts am Boden, und vor Tyreé krümmte sich die letzte der Gluthabichte.
Das Blut tränkte die Luft mit saurem Geruch, aber da war noch etwas anderes. Eine unsagbare Schwere, als drückten Tonnen von Wasser auf sie herab.
Sie... ist in der Kirche“, sagte Kaschya schwach.
Akara? Würde Akara sich die Mühe machen, sie nun selbst zu töten?
Zu dem Gewicht, das sie niederhielt, kam Hitze dazu. Der Schweiß drängte sich Jilis aus allen Poren.
Sie stemmte sich gegen die Schwere, stand auf, und im selben Augenblick wallten dunkle Gewänder die Treppe hinauf.
Akara.
Die Robe griff um sich wie die Arme eines Tintenfischs, getrieben vielleicht von dem selben Wind, der gegen jede von Jilis’ Bewegungen arbeitete.
Mit ungeheurer Mühe zog sie das Jagdmesser aus der Scheide und trat an den Rand des Schildwalls.
„Nicht“, schallte eine dünne Stimme von hinten heran.
Sie war unwichtig.
Akara hatte die Arme ausgebreitet, um ihren dürren Leib flatterte das Tuch wie ein Wesen mit eigenem Willen.
„Eure Anwesenheit in dieser Halle ist ein Frevel, gegen alles, für das wir stehen“, hauchte Akara, aber ihre Stimme hallte von einer Wand bis zur anderen.
Die Macht einer Zauberin.
Jilis hatte nur die Macht einer einarmigen Kriegerin.
Sie machte einen Schritt auf Akara zu. Die Zauberin riss die Augen auf, und ein Druck, als würden Wände sie zermalmen wollen, drängte sich von allen Seiten gegen Jilis’ Körper.
„Näher kommst du nicht“, sagte die Hexe.
Es war, als würden ihr die Knochen von innen heraus langsam zu Staub zermahlen. Dann ein Stich in die Seite. Ein Pfeil ragte aus ihrer Hüfte. Ein lächerlicher Schmerz, verglichen mit der Magie.
Jilis setzte einen Fuß vor den anderen.
Sie würde sterben, aber sie würde soweit gegangen sein, wie es möglich gewesen war.
Das Messer streckte sie nach vorn, konzentrierte ihr gesamtes Sein in diesem Moment, strebte dem Glitzern der Klinge nach.
Zwei Pfeile bohrten sich ihr in den Hals, und sie spürte ihre Zunge im Mund nicht mehr.
Ein Treffer in die Wade. Sie zog das Bein nach, ging in die Knie. Weiter vorwärts. Langsam.
Akaras Augen glühten wie Bernstein, und wieder verstärkte sich der Druck.
Ihr Körper war ein Tempel, der einstürzen musste. In ihren Ohren lag das Krachen ihrer Knochen. Ihr Kiefer verschob sich, und ein scharfes Splittern sprengte ihr beinahe den Schädel.
Ein Pfeil drang schräg in ihre Brust. Ein zweiter prallte gegen die Rippen, ein dritter drang mit dem halben Schaft ein.
Sie war nicht mehr Jilis. All ihr Sein gab sie in den gestreckten Arm, in die Klinge in ihrer Hand. Sie war die Klinge. Deswegen würde sie siegen. Weil Akaras Klinge nur die Schwestern waren, die sie missbrauchte.
Sie war ihre eigene Waffe.
Unsicherheit lief über das faltige Gesicht der Hexe.
„Du bist tot!“, zischte sie, und ihre Hände machten hilflose Gesten, als wolle sie die Luft kneten.
„Ja“, sagte Jilis, und der Laut kam nur als ein Stöhnen aus ihrem gebrochenen Kiefer.
Eine Pfeilsalve schüttelte ihren Körper. Mindestens zwei waren durch den Brustkorb in ihr Herz gedrungen, und durch eine andere Wunde wich ihr die Atemluft aus der Lunge.
Sie machte den letzten Schritt, und das Jagdmesser verschwand zwischen den tanzenden Stoffschichten von Akaras Umhang und grub sich in ihre Brust.
Jilis’ Finger glitten ab von dem Messergriff. Die Farben wichen aus der Welt, zusammen mit dem Gewicht ihrer Glieder, dem Gewicht ihres ganzen Körpers. Sie sank auf die Knie, und Akara mit ihr. Die Geräusche um sie verstummten, die Welt verblasste.
Und alles war gut.

*

Ein Strom aus reiner Magie rollte auf Maro zu. Entfesselte Macht, wie sie nur beim Tod eines Zauberers wirken konnte.
Er sprang hinter einen Strauch in Deckung, und im nächsten Augenblick explodierten die Fenster der Kathedrale. Es klirrte, als wären hundert Hämmer gleichzeitig auf das Glas getroffen, und ein Regen aus bunten Scherben ging auf ihn nieder. Stechender Schmerz senkte sich zwischen seinen Schulterblättern ins Fleisch.
Beim Versuch, sich aufzurichten, sank er zurück auf den Boden. Der letzte Rest an Kraft war verbraucht. Mit zitternden Händen zerrte er sich zwei faustgroße Splitter aus dem Rücken und schleuderte sie in die gläserne Decke, die sich auf dem Gras ausbreitete.
Für Sekunden schloss er die Augen, dann kämpfte er wieder. Jaulte und schrie gegen Schmerz und Erschöpfung an, und schließlich stand er wieder. Flecken tanzten vor seinen Augen, und er quälte sich vorwärts. Unter seinen Stiefeln knirschte das Glas, und irgendwie zog er sich durch das Fenster in die Kathedrale hinein.
Es war still.
Die Morgensonne färbte die Rüstungen von hundert Kriegerinnen, die wie Statuen entlang der Bankreihen standen. Weitere hundert lagen zu ihren Füßen und führten in einem grausigen Pfad hinter dem Altar vorbei.
Er ging vorüber an den Kriegerinnen. Keine von ihnen sagte ein Wort, nur mit den Blicken folgten ihm manche.
Nicht einmal in den Hallen der Meister der Nekromantie hatte er ein solch... absurdes Schauspiel erlebt.
„Jilis“, sagte er plötzlich, und seine Stimme war die einzige in dem leeren Raum.
Sie musste es geschafft haben, Akara zu töten. Deshalb die magische Entladung. Ja, so musste es gewesen sein. Sein Herz schlug schneller.
Er drängte sich durch die Kriegerinnen, und bereitwillig wichen sie beiseite. Manche trugen Klingen, an denen Blut haftete.
Eine Treppe ging er hinauf, folgte den Gefallenen, dann blieb er in einem schmalen Durchlass stehen.
Akaras dunkler Umhang breitete sich als ein Leichentuch über sie, bedeckte sie bis zu den Beinen.
Maro suchte in den Gesichtern auf der Empore nach dem von Jilis. Wo war sie?
Schritte tappten auf den Stufen der Treppe hinter ihm, und eine Hand umschloss seine Schulter. Erst zögernd, dann fasste sie fest zu.
„Komm weg“, sagte Vega, noch immer außer Atem.
Er sah den Körper, der ebenfalls zur Hälfte von dem Tuch Akaras verdeckt wurde, gespickt mit Pfeilschäften.
„Nein“, sagte er. Nur wozu genau, das wusste er nicht.
 
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XVIII Epilog: Das Ende des Traums

Vega schlang sich den Schal noch zwei Male um den Hals.
Wie tückisch die Kälte der Berge schon im November sein konnte.
Mit einem Becher Kakao in der Hand setzte sie sich auf einen Felsvorsprung und ließ die Beine baumeln.
Aus den grauen Wolken würde bald der erste Schnee fallen, und er würde Blut und Tod, all die Überbleibsel der Schlachten, gnädig verdecken. Wenn erst eine Decke über den Dörfern lag, würden die Menschen bis zum Frühling vielleicht die Verheerung vergessen können, die sich in die Nordmark gestürzt hatte.
Aber sie würde nicht vergessen.
Die Begräbnisprozession, die Jilis erhalten hatte, hatte sie nur aus der Ferne verfolgt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob die meisten der Jägerinnen verstanden hatten, weshalb Jilis dieser Trauerzug gewährt worden war.
Neben sie trat ein Gespenst, mit schneeweißem Haar und gehüllt in schwarze Stoffe.
Der Nekromant beugte sich über den Grabhügel auf dem schmalen Stück Wiesengrund und pflückte eine Blume dicht neben dem Grabstein.
„Es ist Edelherz.“ Er hielt ihr die Blüte mit den gezackten, weißen Blättern hin und setzte sich neben sie. „Die Nordmänner sagen, es wächst auf den Gräbern ihrer größten Helden.“
Wie lange hatte sie den jungen Mann nicht mehr gesehen? Wochen, Monate, schätzte sie. Und dann war Tyreé mit der Botschaft zu ihr gekommen, dass er sie treffen wollte.
Sie reichte ihm auch einen Becher und schenkte ihm ein.
„Das machen sie so. Sie vergraben die, die sie für Helden halten, einfach über der Schneegrenze – dort wächst keine andere Blume mehr als Edelherz.“
„Schade, dass du das weißt. Manchmal können Illusionen schöner sein als die Wahrheit dahinter.“ Lächelnd nahm er den Becher entgegen. „Wieso habt ihr sie hier begraben?“
„Den Friedhof halten nun Viele für einen verfluchten Ort. Es ist dann Tyreé gewesen, glaube ich, die diese Idee hatte. Sie hatte die Nordmänner vielleicht im Sinn, als sie sich das ausgedacht hat.“
Maro nahm einen Schluck aus dem dampfenden Becher und machte ein fragendes Gesicht. „Tyreé?“
„Hauptmann Hakennase sagen alle zu ihr. Jilis hat ihr einmal die Nase gebrochen, und das sieht man...“
„Dann lebt sie bei euch weiter durch eine gebrochene Nase. Das passt, glaube ich.“
Unter ihnen verschwanden die Wälder im Frühnebel.
Es stimmte. Keiner würde Jilis vergessen. Schon, wenn er nur gesehen hatte, wie sie Akara gegenübergetreten war. Sie selbst hatte es ja nur von Kaschya gehört. Aber sie glaubte die Geschichte gern, in der Jilis sich mit zermalmten Knochen zu Akara vorgekämpft hatte, um sie dann mit sich in den Tod zu nehmen.
„Bei uns lebt sie weiter, ja“, sagte Vega. Sie nahm noch einen Schluck, um noch einen Moment Bedenkzeit zu haben. „Und... bei dir?“
Der Nekromant stieß die Luft aus, und ein Dunstgespinst stieg in die Höhe. Er hielt sich an dem Kakaobecher mit beiden Händen fest, als müsse er sonst in die Tiefe stürzen.
„Sie hat mir etwas gegeben, an das ich mich erinnern werde.“
Sie wartete einen Augenblick. Aber er sprach nicht weiter.
„Es ist richtig gewesen, dass du Gheed aus dem Wagen gesprungen und zum Kloster zurückgelaufen bist.“
„Dabei hat es doch nichts geändert.“
„Nein, aber vielleicht hast du es... gebraucht, in diesem Augenblick.“
Er wandte den Blick ab.
„Ich frage mich, wann Gheed bemerkt hat, dass er allein mit den Ochsen gewesen ist.“
„Er ist sicher längst zurück im Osten.“
„Nein, er wartet. Darauf, dass ich zurückkomme. Er steht am Waldrand.“
„Hast du die ganze Zeit bis jetzt in der Mark verbracht?“
An seiner Schulter hing noch immer der Totenschädel. Voll von Rissen zwar und ohne Unterkiefer, aber das Zeichen blieb. Maro war noch immer ein Beschwörer der Toten, kein Bauernjunge aus einem der nächsten Dörfer. Vielleicht deshalb hatte sich Jilis in ihn verliebt.
„In meinen Künsten kann ich mich überall üben. Dazu muss ich nicht in meine Heimat zurück.“
„Aber du wirst doch zurückkehren, oder?“
„Ich wüsste nicht, wer oder was dort auf mich warten würde. Aber auch hier ist nichts mehr, nach dem es mich noch verlangen würde.“ Er seufzte, und nach dem letzten Schluck stellte er den Becher ab. „Für dich ist die Wahl leichter.“
„Ja, das stimmt“, sagte sie. Sie lächelte. „Ich komme mit.“
Entgeistert starrte er sie an.
„So meinte ich das nicht, ich dachte...“
„Dass es mich hier noch nach etwas verlangen würde? Die Schwesternschaft baut ihr Kloster wieder auf, und das Land erholt sich vielleicht langsam von diesem Krieg... Aber ich habe nichts mehr hier. Meine Freundinnen haben sich für diesen Frieden geopfert, doch ohne sie ist es ein Frieden, der mir nicht behagt. Es ist kalt in den Gemäuern, wenn draußen der Schnee stürmt, und allein ist es einsam. Tyreé ist eine Kriegsheldin geworden, und selbst die Schwestern, die im Kloster gegeneinander gekämpft haben, können sich jetzt Geschichten von der großen Schlacht erzählen. Aber ich habe nicht gekämpft, und ich bin wie eine Fremde für die anderen. Nimm mich mit. Auch, wenn ich nicht kämpfen kann.“
Er lachte leise.
„Du kannst nicht kämpfen, sagst du? Als du mich verfolgt hast, in der Wüste, dachte ich, ein reißender Wolfshund wäre mir auf den Fersen. Vielleicht hast du nur noch nicht herausgefunden, für was du kämpfen willst.“
Erst kletterte er von dem Vorsprung herunter, dann half er ihr.
Sie stiegen den gewundenen Bergpfad hinab, und langsam wich der Nebel vor ihnen.
Für was sie kämpfte? Der Nekromant verstand sich darauf, unangenehme Fragen zu stellen.
Vielleicht kämpfte sie dagegen, allein zu sein.
„Für was kämpfst denn du?“, fragte sie.
„Die Aufgabe der Nekromanten ist es, das Gleichgewicht zu wahren. Dafür kämpft meine Kaste.“
„Und wofür kämpfst du?“
Diesmal lachte er lauter.
„Vorerst für einen vollen Mittagsteller und ein trockenes Unterbett.“
„Hm“, machte Vega und setzte über einen Felsspalt hinweg. „Ich kenne dich kaum, aber das klingt nicht nach dir.“
„Ich sagte ja. Vorerst.“
„Dann bin ich dabei. Gegen ein trockenes Unterbett gibt es wenig einzuwenden. Vorerst.
Sie mochte ihn. Er war keiner der lauten Handwerksburschen oder Tagelöhner, die durch die Lande zogen, und er ging nicht verschwenderisch mit seinem Lächeln um.
Auf einem Pfad neben der Straße stand das Ochsengespann des Händlers, und diesmal verhüllte ein Fuchspelz seine schmächtige Gestalt.
„Ah, die üblichen Passagiere“, grüßte er sie vom Kutschbock aus. „Diesmal wollt ihr mir nicht hinten von der Ladefläche springen, um euch im Sand zu wälzen, hoffe ich. Es wird nämlich Abend sein, bis wir die Wüste erreicht haben, und dann sind die Dünengipfel so kalt wie die eurer Berge.“
Sie nahmen Platz zwischen den Gepäckkisten und einigen zusammengerollten Teppichen, die der Händler noch erworben haben musste.
„Fahrt schon zu“, sagte Maro.
„Es soll geschehen, junger Kaiser!“, rief Gheed nach hinten, und grunzend spazierten die Ochsen los, lenkten den Wagen wieder auf die Hauptstraße nach Osten. „Leider habe ich weder Platz noch Geld für einen Kamin, also rückt etwas zusammen, dort hinten.“
Ein eisiger Wind fuhr Vega in den Nacken, und sie rückte ein Stück näher zu Maro heran.
„Und gäbe es doch irgendwie die Möglichkeit, einen Kamin auf einem Lastkarren zu transportieren...“, sagte er und sah sich nach hinten zu dem Händler um, „...dann wäre Gheed ohnehin schlicht zu geizig, um sich einen zu besorgen.“
Vega lächelte.
„Du hast doch vorhin gesagt, dass Jilis dir etwas gegeben hätte. Zeigst du es mir?“
„Es lässt sich nicht zeigen. Nur begreifen. Das... Ende des Traums.“ Mit gesenktem Blick hielt er kurz inne, bevor er weitersprach. „Wahrscheinlich brauchen wir alle Träume. Sogar der alte Gheed hat welche. Aber ich habe über den Träumen vergessen... dass es tatsächlich noch eine Welt gibt, die ich mit meinen eigenen Händen greifen kann.“
Der Nebel schlang sich um das Kloster und verschluckte Stück für Stück den Weg, den sie gekommen waren.
„Das klingt eher nach dir“, sagte Vega nach einer Weile, und sie mussten beide lachen.
 
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...und, noch nicht genug? ;)
Dann gibt es hier eine Leseprobe meines nächsten Romans, bei dem ich durchaus schon auf eine Veröffentlichung schiele.


Leseprobe: Die Ketten der Welt

Als würden Karpfen sich in ihrem Magen wälzen. So fühlte es sich an.
Aylis presste die Hände vor den Bauch und tappte über den samtenen Teppich auf das Tor zum Hof zu.
Hinaus. Sie musste einfach hinaus.
Der Qualm der Pechfackeln biss sie in der Nase und der wabernde Feuerschein an den Wänden machte sie schwindeln.
Zuviel von den Haferflocken mit Honig am Abend? Dabei aß sie schon seit Wochen bei jeder Mahlzeit gerade eben genug, um das Magenknurren verstummen zu lassen.
Mit einer Hand raffte sie ihr Kleid hoch, damit der Spitzenbesatz nicht über die Treppenstufen schleifte.
An der Tür hielt sie an und lauschte. Metallenes Klirren drang vom Ende des Flurs her zu ihr.
Schritte? Aber die Burg hatte viele Stockwerke, viele Ritzen im Gemäuer – es konnte auch eine Magd sein, die den mitternächtlichen Abwasch erledigte und dabei Pokale aneinanderschlug.
Wieder bebte es in ihrer Körpermitte.
Es würde besser werden, wenn sie erst im Hof stand, an der frischen Luft. Ja, das würde es.
Sie zog die Tür auf. Ein Windstoß fuhr ihr in die Puffärmel des Kleids und rann kalt wie ein Winterschauer an ihrem Körper herab. Dann schlug die Tür hinter ihr zu.
Der Wind heulte von den Schluchten an der offenen Seite des Hofs her und wurde von den Wänden hin- und hergeworfen.
Kalt. Eiskalt.
Sie rubbelte sich über die nackten Unterarme. Bei jeder Bewegung grollte in ihr ein wütendes Tier, zog und zerrte mit seinen Klauen an ihrem Innersten.
Nein, Bauchschmerzen fühlten sich anders an.
Die Tür fiel ins Schloss – ein zweites Mal.
Zwischen den wogenden Blütenköpfen hob sich eine Gestalt ab. Der Mond spiegelte sich auf dem blanken Eisen eines Brustpanzers und auf dem Vollhelm, der den Mann zu einem Gesichtslosen machte. Nur durch einen schmalen Schlitz funkelten die Augen.
„Die Tigerin ist also aus ihrem Käfig ausgebrochen.“
Seine Stimme hallte blechern durch das Metall, dann ging sie im Wind unter.
Aylis wich über den Plattenweg zurück. Ein weiteres Mal dröhnte es in ihr, wie vom Schlagen eines Gongs. Sie taumelte zur Seite und trat mitten in das Beet neben sich. Die Halme raschelten und gaben unter ihr nach.
„Ich bin keine Gefangene. Ich darf hinaus in den Hof, wann ich will.“
Es klang nicht überzeugend.
„Sicher.“ Seine Eisenstiefel klirrten über den steinernen Weg. „Aber ob du es solltest? Der Pöbel wird erst Ruhe geben, wenn er deinen Kopf auf einer Lanze sieht.“
Am Gürtel des Mannes glänzte die kupferne Schnalle mit dem Symbol des Fuchskopfes.
Dann war es einer aus der Leibgarde.
Sie stolperte zurück auf den Weg, weiter fort von dem Gerüsteten. Die Schmerzen kehrten zurück. Dolchkaskaden warfen sich von innen gegen ihre Glieder, wollten aus ihr herausbrechen.
„Der Pöbel kommt nicht hier hoch“, sagte sie, und um jedes Wort musste sie einzeln kämpfen, um es herauszuzwingen. „kein Mann kann es den Berghang hinaufschaffen.“
Mit den Schuhen stieß sie an das raue Gestein. Nur noch Moos quälte sich aus den Felsspalten hervor, und der Abgrund ins Tal öffnete sich wie das erstarrte Maul eines Riesen.
„Dann können sie mir dankbar sein dafür, dass ich ihnen den Weg erspare.“
Der Krieger watete durch die Blumenfelder zu ihr, und der Wind ließ die Platten seines Brustschutzes aneinander klappern.
Was hatte er vor? Er konnte nicht...
Aylis rutschte näher an den Abgrund. Unter ihren Schuhen knirschten Kiesel, lösten sich und rauschten ins Tal. Die Winde peitschten ihr in die nackten Beine. Aber in ihr strömten Flüsse aus flüssigem Schmerz, geschmolzenem Eisen, und brannten die Kälte fort.
Der Krieger fuhr mit den gepanzerten Fingern in das Blütenmeer und zog eine Blume heraus, die er ihr hinstreckte.
„Du musst das verstehen. Ich bin kein... kein böser Mensch. Unten in Seygrund habe ich ein Mädchen. Etwas älter als du, und sie ist so schön wie einhundert Mal Hundert dieser Blumen. Ich tue es für sie.“ Er zog sich den Helm vom Kopf, und sein Haar wehte ihm wie Fäden von reinem Kupfer um den Kopf. Seine Augen glänzten feucht. „Du kennst die Prophezeihung. Noch einen Mondlauf, und von dieser Welt wird nur noch Asche sein... wenn du dann noch atmest.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Die ganze Kälte der Nacht und des Sturms fuhr in sie.
Dann pochte das Blut ihr wieder in den Ohren. Pochte zweifach, als hallte ihr Herzschlag wider.
Aber der Junge. Der Junge mit den traurigen Augen. Er wollte ihr Leben, wie all die anderen.
„Ich bin es doch nicht“, sagte sie, und in ihrem Körper zog und stach es. Jeden Augenblick musste es sie zerreißen. „Ich bin nicht das Teufelskind, und ich habe doch niemandem ein Leid getan!“
Ebensogut hätte die Prophetin den Namen jedes anderen Mädchens nennen können! Wieso gerade ihren?
Die Klinge des Schwerts schabte an der Scheide, dann zitterte die Waffe in der Hand des Jungen. Mit der anderen, in der er die Blume hielt, zeigte er zwei Finger.
„Zwei Mal hat sich das Orakel bisher geirrt. Auf diese zwei Male kommen eintausend Wahrsprüche. Versteh doch... vielleicht bist du es wirklich nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit ist einfach zu gering.“ Er schüttelte seinen Kopf und sah an ihr vorbei, in die Finsternis des Tals. „Ich werde sie am Ersten des nächsten Mondlaufs heiraten. Sie wird nicht zu Asche werden. Das lasse ich nicht zu. Verzeih mir, wenn du kannst.“
Die Spitze des Schwerts tastete sich in ihre Richtung.
Sie wollte die Hände heben, so sinnlos es war. Doch in die Arme und Beine senkte sich ihr eine unsagbare Schwere. Ihr Körper war der einer Statue, und das Schwert ruckte zu ihr.
Ein warmer Puls durchrauschte sie. Wohlig warm.
Die Welt erstarrte für eine endlose Sekunde.
Traurig blickte der Junge sie an, seine Bewegung erlahmte, die Klinge vor ihrer Brust.
Ein lautloser Wind zerrte die Blätter der Blume ab, die er in der Hand hielt. Ein Blatt, dann noch eines, dann die übrigen mit einem einzigen Stoß. Blätter lösten sich auch aus den Blumenreihen hinter dem Jungen. Eine Welle aus Blütenblättern rollte los, schälte sich von der Wiese. Das ganze, endlose Feld schickte seine Blüten in den Himmel hinauf.
In ihren Ohren fauchte es, als stünde sie im Zentrum eines Orkans.
Der Stengel rutschte dem Jungen aus der Hand, zerfiel in graue Staubkörner, und in der anderen Hand schmolz das Metall seines Schwerts und fiel in dicken Tropfen auf die Erde. Seine Rüstung pellte sich von ihm herunter wie die Schale einer Frucht. Nur Unglauben in seinem Gesicht.
Aylis stand bewegungslos da, und ihr ganzes Wesen rann zu einem einzigen Gedanken zusammen. Nein.
Bis ein lautloser Wind dem Jungen die Stiefel vom Boden hob und die Erde aus allen Poren Flammen gebar. Ein Pflug aus Feuer, der voranfauchte, glimmende Gräser beiseitewarf und die Erde in Brocken davonspritzen ließ. Und den Jungen mit den traurigen Augen mit sich riss.
Nein...











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