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Flucht
Es war warm, und der sonnendurchwärmte Waldboden duftete nach Moos, Laub und morschem Holz, aber auch nach zahlreichen aromatischen Pflanzen.
Er sah sich um, und da war sie:
Auf einem Baumstumpf vor einem gemütlich wirkenden Haus saß Micaya in der Sonne, ein Kind auf ihrem Schoß.
Das Mädchen war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, nur waren ihr Augen eine Spur heller, der warme Farbton erinnerte ihn an das, was ihm aus dem Spiegel entgegenblickte.
Er hörte das Lachen weiterer Kinder, die er nicht sehen konnte.
Freudestrahlend setzte sich der hochgewachsene Druide in Bewegung, um zu der Frau seiner Träume zu eilen und zu dem Kind, das nur das ihre – und das seine – sein konnte...
Oder besser, er versuchte es.
Irgendwas war faul, und der eben noch trockene Waldboden saugte sich an seinen Füßen fest, so dass es eine schier unmenschliche Anstrengung erforderte, auch nur einen Schritt zu tun.
Jede Bewegung war, als müsse er sich durch zähen Honig kämpfen, und als er endlich angekommen war, war Micaya fort...
Das Erwachen war genauso zäh und unangenehm wie die zweite Hälfte des Traumes.
Tscha versuchte nicht einmal, die Augen aufzubekommen.
Stattdessen tastete er neben sich nach Micaya. Sie war nicht da.
Mit einem Seufzen drehte Tscha sich um. Jetzt zwang er doch die tränenden Augen, sich zu öffnen.
Der Becher auf dem Nachttisch war leer, er würde hinuntergehen müssen um etwas zu finden, das seine klebrige Zunge von dem ausgedörrten Gaumen trennte.
Mühsam richtete er sich auf und griff nach seinen Kleidern.
Er wusste, dass Micaya meist recht früh aufstand, und sie versuchte, ihm ein bisschen mehr Schlaf zu ermöglichen, indem sie sehr leise aufstand. Aber es war noch dunkel.
Dass sie so früh nach unten ging, hätte er nicht gedacht.
Der Flur war recht gut beleuchtet – im Gegensatz zum Schankraum, wo nur an einer Wand zwei heruntergedrehte Öllämpchen flackerten.
Tscha blieb in der Türe stehen und schloss die Augen, um zumindest ein Stück weit seine Umgebung erkennen zu können.
Was er sah, als er seine Augen wieder öffnete, ließ ihn zuerst einen Moment in Unglauben erstarren.
Es war Joreth, der dort stand, seine Arme um eine kleine Frau mit kurzen schwarzen Haaren gelegt...
__„Nimm Deine Finger von meinem Mädchen!“
Der Necromancer hob den Kopf und sah Tscha an.
Er wartete einen Moment, bevor er sprach.
__„Ich werde immer für sie da sein, wen sie mich braucht – sie ist eine Freundin.“
Micaya schüttelte den Kopf und streifte die Arme des Necromancers ab.
Ohne Tscha anzusehen ging sie zum nächsten Tisch, wo sie sich setzte und das Gesicht in den Händen vergrub. Ihre Schultern zuckten leicht, und als Tscha seinen alten Freud misstrauisch musterte, fiel ihm der große, nasse Fleck auf dem Hemd des Mannes auf – dort, wo eben noch Micayas Gesicht gewesen war.
Joreth bemerkte wohl, worauf der Jüngere starrte.
Er nickte, dann ging er zu dem Tisch und legte Micaya die Hand auf die Schulter.
Die Assassin schüttelte noch einmal den Kopf und deutete auf einen Stuhl.
Joreth gehorchte schweigend.
Das Bild hatte etwas friedliches, vertrautes, auch wenn Micayas Gesicht nicht zu sehen war.
Mit verzweifelter Hilflosigkeit starrte Tscha seine nutzlosen Hände an.
Einen Moment war er wieder der linkische, schlacksige Junge mit viel zu großen Händen und Füßen, dessen Proportionen weder zueinander noch zu dieser Welt passten, und er fürchtete, über seine eigenen Füße zu fallen, wenn er auch nur einen Schritt machte.
Vorsichtig, um ja nicht irgendwo anzustoßen oder etwas runterzuwerfen, machte er sich auf den Weg in Richtung Küche.
Joreth stand auf.
Er packte Tscha am Arm und zog ihn zum Tisch, um dann selber in der Küche zu verschwinden.
Tscha schluckte trocken.
Er musste mehrmals ansetzen, bis ein bisschen mehr an Ton als ein heiseres Krächzen über seine Lippen kam.
__„Es tut mir Leid, Micaya. Ich wollte nicht unterstellen, dass Du... dass ihr...“
Er brach ab.
Eine dampfende Teekanne erschien auf dem Tisch, daneben ein paar Becher.
Der Stuhl knarrte leise, als Joreth sich setzte.
Tscha hörte mehr als er es sah, wie der Necromancer einschenkte und die Becher vor ihm, Micaya und sich selber abstellte.
Dankbar griff er danach und verschluckte sich fast an der heißen, leicht bitteren Flüssigkeit.
Er klammerte sich hilfesuchend an dem Gegenstand fest, der ihm die Finger zu verbrennen drohte.
Schließlich stellte er mit zitternden Händen den Becher ab und sah Joreth an.
__„Ich – ich habe geträumt, wahrscheinlich habe ich deshalb etwas heftig reagiert. Es war...“
Die Bewegung, mit der er die Träne aus dem Augenwinkel wischte, war hektisch und fahrig genug, dass Joreth mit einem raschen Griff den Becher retten musste.
Tscha wandte sich seinem Freund zu.
__„Zuerst war es mein schönster Traum, alles, was ich mir je gewünscht habe. Ein Haus, Sonnenschein, Kinderstimmen und Micaya, die in ihren Armen ein kleines Mädchen hielt, das genauso aussah wie sie selber. Aber mit meinen Augen. Ich wollte zu ihr, aber ich kam nicht vorwärts... und als ich endlich da war, da war sie fort...“
Er zuckte zusammen, als die Tür des Schankraums zufiel.
Micayas Platz war leer.
Die Blicke der beiden Männer lagen auf der geschlossenen Tür.
Lange rührte sich keiner, kein Ton war zu hören.
Dann holte Joreth Luft.
__„Sie ist schwanger.“
Tscha hielt die Luft an.
__„Aber das ist doch... und warum weiß ich das nicht?“
Die Freude in seinen Augen wandelte sich zu Entsetzen, während er den anderen ansah, dessen Gesichtsausdruck emotionslos wirkte wie Stein.
__„Sag, dass es nicht wahr ist...“ flüsterte er.
Die Grünen Augen des Necromancers glitzerten im spärlichen Licht der Lämpchen, aber er rührte sich nicht.
Tscha fühlte Panik in sich aufsteigen – wie auch etwas anderes, wildes und dunkles.
Seine Nackenhaare stellten sich auf, und seine Lippen zogen sich wie von selbst zurück, um ein Gebiss freizulegen, das noch raubtierartiger wirkte als sonst.
Sein Stuhl fiel krachend um, als er aufsprang und gegen die Außentür rannte, die mit einem knarrenden Geräusch nachgab und aufschwang.
Die Dunkelheit verschluckte ihn gnädig, und Tscha lief – lief, wie er schon Jahre nicht mehr gelaufen war.
Joreth schloss die Augen für einen Moment, dann sah er auf seine Hände herab.
Es kostete eine schier unmenschliche Anstrengung, die Finger auszustrecken.
Die Handinnenflächen waren blutig, wo sich seine Fingernägel tief ins Fleisch geschnitten hatten.
Als die Stimme einer Frau ihn ansprach, sah er desorientiert auf.
__„Joreth? Was habt ihr getan!“
Er konnte Wut, Angst und Kummer in Maras Gesicht lesen.
__„Sie ist fort, Joreth, meine Mutter hat ihre Sachen zusammengepackt und die nächste Tür genommen!“
Der Necromancer schluckte.
__„Tscha weiß, das sie schwanger ist.“
Er schüttelte sich.
__„Und er denkt...“
Maras Hand traf mit einem lauten Klatschen sein Gesicht.
__„Du lässt ihn einfach weglaufen? Du weißt genau, dass das Micaya nicht zurückbringt. Sie hat nichts so sehr gefürchtet wie den Moment, wo ihr euch gegeneinander wendet! Das ist der Grund, warum sie sich jetzt bei meinem Vater ausheult, auch wenn sie sich selber – und ihn – später dafür hassen wird.“
Joreth griff nach Maras Händen.
__„Es tut mir leid, ich wollte es ihm sagen, aber...“
Schnell lies er die Junge Frau wieder los.
Er wies auf die Blutspuren auf ihren Händen.
__„Entschuldige bitte...“
Mara seufzte.
Nun griff sie ihrerseits eine von Joreths Händen.
Unter der Berührung ihres Fingers verschwanden die Wunden. Die andere Hand folgte.
Joreth fühlte ihre Blicke auf sich liegen.
__„Ich werde versuchen, dass sie zumindest noch einmal mit euch redet, bevor sie sich entscheidet, dort zu bleiben. Ich nehme Morwen mit – sie wünscht sich so, meine Heimat einmal zu sehen, und ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, sie mit euch alleine zu lassen. Versuch... “
Sie schluckte.
__„Versuche bitte, Tscha nichts zu tun. Und selber am Leben zu bleiben.“
Joreth nickte langsam.
__„Letzteres ist es...“
Er wartete nicht ab, bis Mara den Schankraum verlassen hatte, er stand einfach auf und verlies das Haus, dorthin, wo Tscha verschwunden war.
Es begann zu dämmern, und die Sterne waren verblasst.
Am Horizont war die durchscheinende Sichel des Mondes zu erkennen, aber all dies interessierte den hochgewachsenen Necromancer nicht.
Mit schnellen, gleichmäßigen Schritten folgte er der Spur, die Tscha hinterlassen hatte.
Nach und nach wurden die Spuren anders, bis sie nichts mehr mit denen eines Menschen gemeinsam hatten.
Es waren die Spuren eines sehr großen Hundes oder Wolfes, denen Joreth jetzt folgte, und er bewegte sich auf allen Vieren, nicht mehr auf zwei Beinen, wie ein normaler Mensch.
Mit der tierischen Fortbewegung wurden aber auch die Spuren undeutlicher.
Joreth war auf einer kleinen Lichtung angelangt, als er die Spur vollkommen verloren hatte.
Er sah sich um.
Der Wald mit seinem dichten Unterholz behielt seine Geheimnisse gut für sich.
Hier war ein Rascheln, dort bewegte sich etwas...
Der weißhaarige Mann holte tief Luft, dann trat er in die Mitte der Lichtung.
Er hielt seine geöffneten Hände vor sich, so dass jeder sehen können musste, dass sie leer waren.
__„Tscha, bitte komm raus, es ist nicht so wie Du denkst... nicht ganz.“
Langsam lies er die Hände sinken.
Eine Weile geschah gar nichts.
Irgendwo dort draußen erklang ein bedrohliches Knurren, aber Joreth versuchte nicht einmal, die Gefahr zu lokalisieren.
Er rührte sich nicht, als ein Schatten auf ihn zuraste und hob nicht die Arme zum Schutz, als der gigantische, rostfarbene Wolf ihn ansprang.
Er fühlte den heißen Raubtieratem in seinem Gesicht, als die rasiermesserscharfen Zähne nur Millimeter vor seiner Kehle zusammenschnappten.
Dann war das Gewicht fort.
Das Untier vor ihm verlor seine Form und brach in sich zusammen.
__„Wie konntest Du nur!“
Tschas Stimme zu den Füßen des Necromancers war von verzweifeltem Schluchzen unterbrochen.
Langsam öffnete Joreth wieder seine Augen.
Wie in Zeitlupe beugte er langsam seine Knie, um sich neben das wimmernde Häuflein Elend zu hocken.
Vorsichtig streckte er die Hand aus und legte sie Tscha auf die Schulter.
Der Jüngere zuckte zusammen, wich aber nicht noch weiter zurück.
__„Tscha, sie war bei mir, bevor sie das erste Mal zu Dir ging. Ich habe versucht, sie zu vergessen – das kannst Du mir glauben. Aber... es war bereits zu spät.“
__„Aniki.“
Joreth nickte.
__„Es hätte funktionieren können, sie war ihr sehr ähnlich.“
Tscha sah den Älteren verzweifelt an.
__„Warum hast Du sie dann nicht in Ruhe gelassen?“
Joreth setzte sich.
Es war ihm gleich, dass der Boden kalt war.
__„Sie ist zu mir gekommen, weil sie wusste, dass sie Dir nicht sagen konnte, was sie bedrückt. Sie brauchte Trost, weil sie nicht wusste, wer der Vater ist, und wir hatten beide den gleichen Schmerz, nachdem Aniki...“
Seine Stimme brach.
Tscha brauchte eine Weile, bis er genügend Fassung gewonnen hatte um zu Antworten.
__„Glaubt sie ernsthaft, ich würde ein Kind zurückweisen, nur, weil es aus der Zeit stammt, bevor Micaya...“
__„Sie weiß es mittlerweile, und das hat es für sie nicht einfacher gemacht. Es sind Zwillinge, und: wir beide.“
Eine Weile sagte keiner der beiden Männer ein Wort.
Schließlich hob Tscha den Kopf.
__„Und nun?“
Der Ältere zog die Schultern hoch.
__„Spielt es noch eine Rolle? Sie ist fort.“
Der Jüngere zuckte zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen, aber es war Joreth, der fortfuhr.
__„Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, euch beide zu verlieren. Mara sagte, sie versucht, sie zurückzubringen, aber sie weiß nicht, wie lange es dauert, und...“
_ob Micaya überhaupt dazu bereit ist.
Tscha konnte sich durchaus vorstellen, was es war, was Joreth nicht aussprach.
Er fühlte sich einsamer als je zuvor in seinem Leben, und er sah das Spiegelbild seines eigenen Schmerzes in den Augen des Anderen.
So nickte er nur leicht, als Joreth vorschlug, zur Taverne zurückzukehren.
Schweigend schritten die beiden Männer durch die Dämmerung, deren Nebelschwaden so undurchdringlich und ungewiss waren wie die Zukunft, die sie nun erwartete.
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