Tag 2
"Der verwahrloste Friedhof?", vergewisserte sich Gwen.
"Ja", bestätigte Kaschya. "In letzter Zeit gab es vermehrt Gerüchte, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugehen soll. Seltsame Geräusche, wandelnde Tote, so etwas in der Art--"
Sie verfluchte ihre Nachlässigkeit, als ihr einfiel, wie grüblerisch das Mädchen sein konnte. Dennoch war die Truppenführerin nicht wirklich überrascht, in Gwens leicht besorgtem Blick eine winzige Spur von Neugier aufleuchten zu sehen - eine Eigenschaft, die anscheinend selbst in einer so ernsten Person wie Gwen schlummerte.
Seit ihrer bestandenen Abschlussprüfung vor nicht allzu langer Zeit erfüllte Gwens Anblick ihre ehemalige Ausbilderin mit Stolz. Sie wusste genau, wie sehr sich das Mädchen stets bemüht hatte, ihren Ruf als "die Bogen-untaugliche Gwen" loszuwerden, damit sie keinem eine Belastung war. Zwar kam der Hinweis mit den Waffen damals von der Truppenführerin selbst, doch Kaschya hatte nicht einen Moment lang daran gezweifelt, dass Gwen die Prüfung meistern würde - und hatte Recht behalten.
"Ach, bisher sind das alles nur Geschichten. Niemand hat etwas Genaueres gesehen, deshalb würde ich nicht zu viel darauf geben", fuhr sie rasch fort, um das Mädchen etwas aufzumuntern. "Jedoch bedarf es einer Untersuchung, und meine anderen Jägerinnen sind zur Zeit anderweitig beschäftigt. Daher übertrage ich diese Aufgabe an Euch."
Dies würde also ihr erster Auftrag als vollwertige Jägerin sein, durchzuckte es Gwen. Bisher war sie lediglich für Routineaufgaben, wie zum Beispiel Patrouillen, eingesetzt worden. Für viele eher langweilig, aber ihr gab es das befriedigende Gefühl, sich nützlich zu machen. Ihr war ohnehin nie danach gewesen, irgendwelche "glorreichen Taten" zu vollbringen.
~*~ ~*~ ~*~
Der Ausflug verlief weitgehend ohne unliebsame Zwischenereignisse. Gwen traf auf einige kleinere Gefallenen-Gruppen samt Schamanen, entdeckte daraufhin ein größeres Lager, in dem ein seltsam gelblich gefärbter Schamane hauste. Überraschenderweise explodierte er bei seinem Ableben und jagte dem Mädchen einen Riesenschrecken ein, doch außer dem lauten Knall passierte nichts weiter Schlimmes. Ab und zu begegneten ihr vereinzelte Dunkle Jägerinnen; dämonische Nachfahren einstiger Jägerinnen, die verbannt worden waren und seitdem in der Wildnis herumstreunten. Ihr Hass jenen aus den Dörfern gegenüber machte sie reizbar. Mehrmals wurde Gwen regelrecht bestürmt, doch sie konnte sich mit Hilfe ihrer Keule durchschlagen.
Ein paar Stunden später erreichte Gwen ihr Ziel. In dem Moment, als sie den Friedhof betrat, spürte sie plötzlich eine tiefe Traurigkeit in der Luft. Fast überwältigt von dem starken Gefühl, welches ihr entgegenschlug, blickte sie gerade noch rechtzeitig auf und sah, wie eine Horde von Skeletten und dunkelgrün gefärbten Zombies zielstrebig auf sie zukam.
Gwen holte Luft und konzentrierte sich. Sie umklammerte ihre Keule und versuchte einzuschätzen, wie viel Kraft sie aufwenden müsste, um Gegner dieser Art kampfunfähig zu machen.
Eine Gestalt in leuchtendem Weiß glitt vorbei, mit einem gehörnten Helm, einem Bogen in den Händen und auffällig roten Stiefeln. Sie bewegte sich leichtfüßig und zudem so enorm schnell, dass das Mädchen Schwierigkeiten hatte, ihr mit bloßen Augen zu folgen.
Dann, als würde sie spüren, wie Gwen ihr Inneres Auge einsetzte, blieb die Gestalt abrupt stehen. Den Kopf leicht geneigt, starrte sie das Mädchen interessiert an.
"Besucher...?"
"Ihr seid... eine dämonische Jägerin, oder?", fragte Gwen vorsichtig.
Die Gestalt starrte sie weiter an - und brach plötzlich in Gelächter aus.
"Haha... HAHAHAHAHA..."
Ein Lachen, das klang wie der letzte Todesschrei eines Sterbenden, unterlegt mit einem hässlichen Quietschen, wie von Fingernägeln auf Glas. Gwen schluckte. Ihr war schlagartig kalt geworden.
"Kommt, meine Kinder!" Den Blick weiterhin auf das Mädchen gerichtet, hob die Jägerin die Arme. "Zeit zum Spielen!"
"K-Kinder?" Alarmiert sah sich das Mädchen um. Weitere dunkelgrüne, fast komplett verweste Körper wühlten sich vor den Grabsteinen aus der Erde hervor. "
Ihr wart das?"
"Viele Knochen hier, viele Kinder..."
"Warum?" Gwen war sich nicht sicher, ob die Jägerin überhaupt auf ihre Fragen einging oder ob sie lediglich zu sich sprach. Dennoch musste sie fragen. Laut zu sprechen verbesserte die Lage irgendwie.
"Ganz allein auf dem Friedhof. Nichts zu tun, ne? Außerdem... sehr gefährlich draußen, oh ja!" In diesem Moment erkannte Gwen, dass das traurige Gefühl von nichts anderem als den Skeletten und Zombies ausging.
Gewaltsam ihrer Ruhe entrissen... Sie schüttelte den Kopf und blickte wieder zu der Jägerin, die einen weiteren Lachanfall überwunden hatte. "Bald... wird meine Armee bereit sein, und dann...
endlich von hier fortgehen!! Haha... HAHA... HAHAHAHA..."
Ohne Vorwarnung spannte die Jägerin ihren Bogen. Zischend flog der Pfeil durch die Luft, geradewegs auf Gwen zu.
Bewegt Euch, kreisten die Worte in ihrem Kopf, doch ihr Körper gehorchte nicht. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren und musste hilflos zusehen, wie der Pfeil - und auch die Untotengruppe - immer näher kam.
"Huuuuuungeeeeeer...", brummten die Zombies im Chor.
Ironischerweise war der Schmerz genau das, was Gwen brauchte, um sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Geistesgegenwärtig wich sie zur Seite und entging somit knapp einem zweiten Pfeil.
"Huuungeeer... Fleeeiiischhh..."
Gwen schwang ihre Keule. Entschlossen, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen, kämpfte sie sich durch die untote Horde. Mit jedem "Hungrigen Toten", den sie niederschlug, verschwand ein wenig von der drückenden Traurigkeit. Am Ende blieb nur noch die Jägerin übrig, die hysterisch lachte und wie wild zwischen den Grabsteinen herumflitzte.
Obwohl es gar nicht so einfach war, die flinke Jägerin überhaupt einzuholen, jagte Gwen ihr nach und brachte es irgendwie fertig, sie in eine Ecke zu drängen. Völlig außer Atem holte das Mädchen aus und traf mit voller Wucht. Ein lautes Knacken ertönte. Die Jägerin taumelte zurück, halb benommen von dem harten Schlag.
"Niemand... hält meine Armee auf! Die Krypta ist voll von meinen Kindern! HAHAHA... HAHAHAHAHAHAHA..."
Noch ehe Gwen reagieren konnte, stürzte die Jägerin an ihr vorbei und rannte hinaus in die Wildnis. Einige Herzschläge lang sah das Mädchen ihr nach, dann ließ sie ihre Keule sinken und sich auf den Boden fallen. Leise fragte sie sich, wie weit die verrückte Jägerin wohl kommen würde. Sie selbst war nämlich viel zu erschöpft, um ihr jetzt hinterherzulaufen.
~*~ ~*~ ~*~
Wie erwartet war Kaschya ganz und gar nicht begeistert von der Geschichte, die Gwen ihr erzählte.
"Das ist natürlich ein Problem", sprach sie nachdenklich. "Ich werde einen Spähtrupp entsenden, um nach dieser Jägerin Ausschau zu halten. Wir werden außerdem wohl oder übel die ganze Krypta auf den Kopf stellen müssen - das heißt,
Ihr."
Gwen seufzte innerlich. Zwar hatte sie dies bereits geahnt, aber dennoch hatte sie gehofft, Kaschya würde diese Angelegenheit einer ihrer anderen Jägerinnen übertragen, an jemanden, der mehr Erfahrung besaß.
"Ihr werdet nicht ganz allein gehen müssen", beruhigte sie Kaschya. "Während Ihr unterwegs wart, habe ich mich nach einer Begleitung für Euch umgesehen. Sie wird bald hier eintreffen." Gwen nickte, und Kaschya fuhr fort: "Das ist eine gute Gelegenheit, die Zusammenarbeit einzuüben, da die meisten Aufgaben ohnehin nur für Zweiergruppen gedacht sind... Oh, keine Sorge", fügte sie lächelnd hinzu, "ich bin sicher, ihr werdet euch hervorragend verstehen."
Lange mussten sie nicht warten, denn kurz darauf gesellte sich ein Mädchen zu ihnen. Sie trug eine einfache Lederrüstung und einen Kurzbogen. Ihr mittellanges, bräunliches Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, welcher, im Einklang mit ihren Schritten, auf- und abhüpfte.
"Hallo, Gwen!", grüßte sie lässig.
"Elly!", rief Gwen erfreut aus.
Elly war alles, was Gwen nicht war. Fröhlich, leicht verspielt und abenteuerlustig sorgte sie stets für gute Laune unter ihren Freunden. Obwohl Gwen diese Art bei vielen nicht ausstehen konnte - bei Elly war das einfach so natürlich und beneidenswert. Sie kannten sich schon seit dem Sandkasten, und trotz oder gerade wegen dieser Unterschiede wurden sie beste Freundinnen, was sich bis heute nicht geändert hat. Während ihrer gemeinsamen Ausbildungszeit galt Elly als vielversprechende Bogenschützin und hatte sich dann bei der Abschlussprüfung beinahe spielend durch die Höhle geschossen.
Kaschya nahm Elly das Versprechen ab, unter keinen Umständen unnötige Risiken einzugehen, und entließ die beiden mit einem Nicken, woraufhin die Mädchen Richtung Dorftor marschierten.
~*~ ~*~ ~*~
Elly stellte sich als gute Helferin heraus, was unter anderem sicherlich auch daran lag, dass sich die beiden aufgrund ihrer langen Bekanntschaft fast blind verstanden. Mit ihrer Unterstützung war es ziemlich leicht, die komplette Krypta von Skelettkriegern und Hungrigen Toten zu befreien. Zumal es den Anschein hatte, als ob die Untoten ohne ihre Meisterin schwächer wurden.
Eines der Anführer-Skelette hinterließ neben seinem Staub eine Keule, die etwas grünlich verfärbt war. Auf Ellys Drängen hin probierte Gwen sie aus und musste zugeben, dass sie ziemlich gut in ihrer Hand lag.
Anstatt nun auf direktem Wege ins Dorf zurückzukehren, schlug Elly jedoch vor, die Gegend etwas genauer zu erkunden.
"Auf dem Hinweg hatten wir keine Zeit dazu", meinte sie. "Außerdem, Kaschya wäre bestimmt damit einverstanden, wenn wir unterwegs ein wenig an unserer Zusammenarbeit feilen würden."
Gwen versuchte erst gar nicht, mit ihr zu diskutieren - es hätte wahrscheinlich ohnehin nichts gebracht, ganz gleich, was sie gesagt hätte. So machten die beiden Mädchen einen kleinen Umweg, um Elly diese Freude zu gewähren.
Sie stießen auf einige Gargantuas und Gefallenen-Gruppen samt Schamanen, die ihnen allerdings keine Probleme bereiteten. Zumindest keine größeren. Elly war eine gute Bogenschützin, doch leider war sie ungeduldig. Mehr als einmal rannte sie übereilt voran und sah sich dann inmitten zahlreicher Gefallener, die von ihren Schamanen wiederbelebt wurden.
"Bleibt ruhig!", mahnte Gwen. "Es ist gefährlich, wenn Ihr Euch schutzlos zwischen ihren Messern bewegt."
Elly nickte und legte einen neuen Pfeil an, als die nächste Gruppe Gegner auf sie zukam. Sie zielte auf die Brust eines riesigen Gargantuas.
Der Pfeil traf ins Schwarze. Überrascht sperrte Gwen die Augen auf: Das Fell des Gargantuas -
brannte. Ungläubig starrte sie auf die Stelle, wo der Pfeil steckte, und vergass beinahe, selbst anzugreifen.
"Wie habt Ihr das angestellt?", fragte sie leicht irritiert zwischen zwei Angriffswellen.
"Was? Der Feuerpfeil?" Elly grinste zufrieden. "Bedankt Euch bei den Schamanen, ihre Feuerbälle haben mich auf die Idee gebracht. Gut, nicht?"
Die Mädchen brauchten nicht sehr lange, um eine schöne Taktik auszuarbeiten. Gwen kümmerte sich um die stärkeren Gegner einer Gruppe, zumeist ihr Anführer oder auch die Schamanen, während Elly etwas im Abseits stand und ihre Pfeile auf die zerstreuten Gefallenen schoss. Zudem halfen sich die beiden gegenseitig aus, je nachdem, wer mit seinen Gegnern zuerst fertig wurde. Schnell wurde ihre Zusammenarbeit zur Routine, und bald darauf erreichten Gwen und Elly zwar leicht erschöpft, aber dennoch recht glücklich ihr Dorf.