Dein Ruf wurde erhört, Jyroshi.
Leider komme ich einmal wieder mit einem unvollständigen Kapitel an, aber der Rest folgt bald.
Bei den Holzperlen musst du bedenken, dass die Schwestern schon Wochen in der "Freiheit" sind und auch schon wieder Handel getrieben etc. haben. Aber dein Einwand sagt mir, dass ich das nicht deutlich genug gemacht habe, ist also völlig berechtigt.
VI Teufelssöhne
Maro schüttelte sich den Schlaf aus den Gliedern und tippte dem Golem auf die Stirn. „Komm“, sagte er. Stumm und starr wie ein Felshaufen saß Oram da, aber mit dem Befehl richtete er sich auf. Die leeren Augenhöhlen richteten sich auf Maro, und die irdene Gestalt trottete um den Wagen des Händlers herum.
Das Schwert über den Rücken geschnallt, durchquerte Maro das Lager.
Hoffentlich sparten sich die Jägerinnen ihre Todesdrohungen bei Gästen, die ihr Lager verließen, und hoben sie sich auf für solche, die es betreten wollten.
Aber keiner der Schatten auf den hölzernen Zinnen regte sich, und selbst das Tor war geöffnet. Vor der Brücke blieb er stehen und sah sich um. Eine List? Würden sie Feuer geben, wenn er noch einen Schritt tat? Er befahl in Gedanken den Golem in seinen Rücken. So nah, dass die hünenhafte Figur ihn gänzlich vor Pfeilen schützen würde.
Die Brücke knarzte unter dem Schritt des Erdriesen – und hinter ihm knarrten die Stämme des Tors, das wieder verschlossen wurde. Bemerkt hatten sie ihn also.
Noch einige Schritte ging er im Schutz seines lebendigen Walls, dann befahl er den Golem zur Seite.
Die Dunkelheit machte es schwer, die Straße von den Wiesen zu trennen. Maro orientierte sich an den Meilensteinen, die den Weg säumten, oft von der Witterung bis zur Hälfte zerlegt.
Als er den dritten erreichte, zeigte sich schon ein glänzendes Band am Horizont. Aber das Licht genügte nicht, den Stein aus den Schatten des Waldes zu zerren, und auch nicht die dunkle Form, die darauf kauerte.
Maro legte die Hand an den Dolch. Er überlegte kurz und legte sie lieber auf den Griff des Schwertes, das auf seinem Rücken hing.
„Gebt Euch zu erkennen“, rief er. Die Wipfel der Weiden hingen so über den Pfad, dass er dunkel wie eine Höhle erschien.
„
Du stehst in dieser Schuld, dich zu erkennen zu geben.
Du bist der Fremde“, antwortete eine Frauenstimme.
Eine der Dryaden, die Bäume bewohnten und Eindringlingen in ihrem Forst die Sinne verwirrten?
Maro ging weiter auf die Stimme zu, auf den Schatten am Meilenstein.
„Wenn du das weißt, dann musst du mich bereits kennen.“
Oder jedes einzelne Lebewesen, dass dieses Land bewohnt, dachte er. Einem der Naturgeister wäre das zuzutrauen.
Der Schatten am Meilenstein bewegte sich, formte sich zum Umriss eines Menschen. Maro ging noch näher. So langsam, dass Oram ohne Mühe mithalten konnte, stets nur einen Schritt neben ihm war.
„Kunststück. Unser Lager ist klein, und wenn jemand über die Kontinente zu uns reist, ist die Neuigkeit in einer halben Nacht in jedes Ohr gelangt.“
Ein Mädchen saß breitbeinig auf dem zerrütteten Meilenstein. Die Haare hingen ihr wie Flammen in Strähnen ungleicher Länge in die Stirn, und das Gesicht mochte kaum mehr Sommer als er gesehen haben. Auf ihrer Stirn prangte das dritte Auge, von dem Gheed gesprochen hatte, und das Mädchen trug die selben Lederrüstungen mit Nieten wie die Jägerinnen.
Hatten sie ihn nur entkommen lassen, um ihn hier umzubringen?
„Was wollt ihr noch von mir? Ich habe euer Lager verlassen und werde euch nicht länger behelligen.“
Das Mädchen spuckte aus und erhob sich von dem Stein, um ihm gegenüberzutreten.
„Aber mit dem Lager hast du noch nicht unser Land verlassen.“
„Das habe ich auch nicht vor. Aber genauso wenig habe ich vor, euch im Weg zu sein. Ich gehe meinen, ihr euren.“
Der Blick des Mädchens flammte auf und sie stieß ihn vor die Brust. Maro taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht, tastete mit den Füßen vergeblich nach Halt in dem schlammigen Boden. Eine Hand, so breit wie sein Brustkorb, stoppte seinen Fall und richtete ihn wieder auf. Oram.
„Was für einen Weg ihr geht, das habe ich gesehen! Meine Freundin ist von einer Kreatur wie
dieser in die nächste Welt geschickt worden!“
„Ein Golem?“, fragte er.
„Was für Namen diese Bestien auch tragen mögen. Belebt von Magie wie deiner. Nicht aus Erde, sondern Knochen. Kriegerskelette!“
Wie die alte Frau mit dem Brandmal es gesagt hatte.
„Aber kein Wesen, das wir beleben, handelt eigenmächtig. Es braucht immer einen Meister...“
„Ho“, machte die Jägerin und verschränkte die Arme, „welch Schicksalsfügung, dass ich hier einen vor mir habe. Ihr schändet die Toten und ruft sie aus den Gräbern, oder ist es anders?“
Maro biss die Zähne zusammen. Die aus Erde geformten Muskeln des Golems zitterten.
Zurück, zurück.
„Es ist der Kreislauf, die Waagschale des Gleichgewichts. Unsere Magie ist nicht nur eine des Todes.“
„Hervorragend! Daneben auch eine noch eine des Verderbens und des Leids! Was habe ich in einer Nacht an Zerstörung gesehen...“
„Eine einzige Nacht ist nicht alle Nächte.“
„Was ist das für ein Blödsinn?“
„Du hast nur das eine Mal erlebt, nur die eine Seite kennengelernt.“
„Dann tu mir den Gefallen und erspare mir die anderen.“
Maro machte einen Schritt auf sie zu. Ihre Stiefelspitzen berührten sich beinahe.
„Ich bin nicht hier, um dir in einer Jahrmarktsposse zu zeigen, was ich aus Erde und Himmel herausrufen kann. Lass mich passieren.“
Diesmal wich die Kriegerin zurück, schnaubte und setzte sich wieder auf ihren Meilenstein.
„Tja, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. Der Teufel weiß, ob du nicht zum Friedhof reist und noch mehr Tote ausbuddelst.“
Langsam atmete Maro ein und aus. Wie lange würde es noch dauern, bis sie den Bogen von ihrem Rücken nahm und die Hand in den Köcher zuckte? Kämpfen würde er, wenn sie es forderte.
„Also töte mich. Versuche es.“
Sie blies die Luft hörbar aus und lehnte sich mit den Ellbogen auf ihre Oberschenkel.
„Schön wär das, wenn es so einfach ginge. Dein Kumpel aus Matsch hätte ohnehin im Nu seine Finger um mich und würde mir den Magen aus dem Hals herauspressen. Aber ich bin nicht zu dieser drei Mal verfluchten Zeit aufgestanden, um zu kämpfen.“ Die Kriegerin blickte zu Boden, dann fügte sie hinzu: „Noch nicht.“
„Gut, dann kann ich wohl weiterreisen.“
Ohne Umschweife ging er an dem Meilenstein vorüber, Oram neben ihm einherstapfend. Welch seltsame Begegnung am Morgen. Dass man ihm auflauerte, um ihn und seine Kaste zu beschimpfen.
„Ja, kannst du“, sagte die Kriegerin. Als er sich umdrehte, war der Meilenstein leer, kein Schatten mehr auf ihm. Der Straßenschlamm ächzte auf, die Frauengestalt lief neben ihm, ohne ihn anzusehen. Er überragte sie um keine Fingerbreite. Größer als die Mädchen, die in seinem Dorf die Tische deckten und Töpferwaren verkauften.
„Weshalb läufst du mir dann nach? Willst du mir dabei helfen, die Toten zu schänden?“
Plötzlich trat ein ernster Zug in ihr Gesicht.
„Ich bin das Auge der Schwesternschaft, dummer Junge.“
„Und ich hätte dich für ihre Faust gehalten.“
Sie lachte auf und barg ihre Hände in den Hosentaschen.
„Nichts dagegen. Aber der Befehl der Oberin sagt etwas anderes. Ich soll einen dunklen Magier auf seiner Reise bewachen.“
„Oh, eine Leibgarde. Sehr umsichtig, aber–“
Abrupt blieb sie stehen verkrampfte die Hände zu Klauen.
„Keine Hoffnungen“, zischte sie, und ihm raste ein Schauer den Nacken hinunter. „Ich sehe deine Schritte, und wenn ich einen
falschen sehe, dann wird es, bei den drei Höllen, dein letzter gewesen sein.“
„Was erwartest du von mir? Dass ich nichts Besseres zu tun habe, als wie ein Poltergeist durch Eure Wälder und Wiesen zu ziehen und Unheil zu stiften?“
Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter.
„Der erste deiner Art wärst du nicht, der das versucht. Und sag, es ist doch eigenartig, dass in hundert Jahren ein Nekromant sich genau dann zeigt, wenn hier die Gräber plötzlich so seicht geworden sind, dass die Toten herausklettern.“
Wenn die Geschichten stimmten, und nicht nur den wirren Gedanken einer Gemeinschaft entstammten, die in einer Nacht des Entsetzens und der Verheerung aus ihrem Heim vertrieben worden waren... Es bedurfte nicht des Dufts der schwarzen Yata, um Dinge zu sehen, die es nicht gab.
„Mir ist es zunächst eigenartig genug, dass die Toten überhaupt über die Erde wandern. Ich will herausfinden, wieso sie das tun. Genau wie du.“
Wenn auch aus einem anderen Grund als du, dachte er.
„Das behauptest du zumindest.“
„Mehr kann ich im Augenblick schwer tun. Was erwartest du?“
„Dass mir dein Freund aus Erde nicht den Schädel eindrückt, sobald ich meinen Schlafsack ausgerollt und die Augen zu habe.“
„Du willst wirklich mit mir reisen“, murmelte Maro. Eine größere List hätte er sich selbst nicht einfallen lassen können.
„Was ich
will ist unwichtig. Die Schwestern des verborgenen Auges verlangen es.“
„Also wirst du deine Pfeile nicht auf mich richten, wenn sich uns jemand entgegenstellt...?“
„...sondern auf den Jemand? Kommt ganz darauf an. Bilde dir nicht zu viel ein.“
Sie trug ein spöttisches Lächeln.
Keine Wahl.
Durch die Äste flimmerten die ersten Flecken Morgensonne hindurch und strichen über sie hinweg.
„Maro“, sagte Maro irgendwann.
„Jilis“, sagte die Kriegerin und starrte voraus in den Wald, und lange sagten sie nichts mehr.
Die Kälte kroch aus der feuchten Erde und wich der Wärme des Tages. Verstohlen sah Maro seine Begleiterin von der Seite an. Ob sie es bemerkte oder nicht – sie ging ungerührt neben ihm her, prüfte manchmal den Sitz eines schmucklosen Jagdmessers in ihrem Gürtel oder zog die Nase hoch und spuckte aus.
Eine weitere Klinge an seiner Seite konnte er gebrauchen, das ließ sich nicht leugnen. Auch, wenn das Mädchen keine Klinge trug außer dem schmalen Messer. Aber in ihren Schritten las er die Behendigkeit eines Raubtiers, einer Tigerin oder einer Perlennatter. Mit dem Messer allein würde sie ihm und seinem Schwert schon weit überlegen sein.
Bis zu einem gewissen Punkt würden sich ihre Ziele tatsächlich decken. Bis sie herausfanden, wer sich hinter den Truppen der Untoten verbarg... Dann musste er die Kriegerin abschütteln, auf die eine oder andere Art. Wenn sie es nicht vorher mit ihm tat – auf die
eine Art.
Das Kompendium wippte in seinem Rucksack bei jedem Schritt an seinem Rücken. Er
fühlte, wie die Seiten an der gepressten Yatablüte rieben, wie sie die Blüte eines Tages in ferner Zeit zerrieben haben würden. Bis dahin würde er die Blüte schon nicht mehr brauchen.
Plötzlich drängte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Nein, bis jetzt gab es keinen Grund, die Hilfe der Kriegerin abzulehnen.
„Du starrst mich an und dann lächelst du wie ein Irrer“, sagte sie mit einem Mal. „Ich würde dich für einen Lustmolch halten, wenn ich dich nicht schon für etwas weit Schlimmeres halten würde.“
Bis zum Mittag ließen sie die Wälder hinter sich. Die Sonne kroch wieder hinter düstere Wolken und gab vor ihnen ein graues Land frei. Maro rastete nur, um seinen Wasserschlauch erneut zu füllen. Hatte er sich am Anfang noch gefragt, wieso die Kriegerinnen der Schwesternschaft keine Pferde besaßen – das Land hatte ihm die Frage beantwortet. Alle paar Meter in den durchweichten Böden einzusinken, war schon für einen Menschen hinderlich, wie viel dann erst für ein Pferd.
Jilis wartete in einer wilden Steinformation, bis er sein Wasser geschöpft hatte.
Sie diente einer Gemeinschaft. So, wie er es einst getan hatte. Die Nekromanten, die von Evra nichts verstanden, sie zu einem Namen machten, den sie in ihre Bücher schrieben und vergaßen. Einen winzigen Augenblick keimte in ihm die Frage auf, was wäre, wenn er nichts fände. Wenn die geflügelten Dämonen Orestars nur ein Hirngespinst der Bauern gewesen waren, und die wandelnden Skelette nur eine Ausgeburt der überreizten Geister der Schwestern. Wenn keine Höllenwesen im Kloster hausten, sondern nur eine Bande Unruhestifter...
Zurückkehren konnte er nicht.
„Heh“, sagte Jilis plötzlich neben ihm, „ich dachte schon, die Riesenwelse hätten dich verschlungen.“
„Nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung.“
„Ja, zu schade. Hast du diese Spuren gesehen?“
Maro schüttelte einige Wassertropfen von seinem Schlauch und folgte Jilis Fingerzeig. Vor dem Horizont zeichnete sich ein grauer Schemen ab. Vier Mühlenflügel, die er schon am Vortag gesehen hatte, aus nächster Nähe. Diesmal standen sie still.
Jilis stieß ihn an. „Nicht am Himmel. Wo schaust du hin?“
Sie wies in das Gras neben ihnen. Mit Mühe erkannte Maro, dass einige Halme herabgedrückt waren.
„Das könnten auch meine Spuren sein.“
„Ganz sicher. Wenn du dich in ein Wesen mit zwei Zehen und gekrümmten Klauen daran verwandeln kannst. Nicht, dass ich dir das nicht zutrauen würde.“
Maro bückte sich neben der
Spur und strich mit den Händen über die Halme. Zerdrücktes Gras, mehr war das nicht.
„Zwei Zehen, gekrümmte Klauen, das liest du aus dieser Wiese heraus?
Wer beherrscht hier finstere Mächte?“
„Da muss ich mich nur kurz umdrehen, und ich weiß die Antwort.“
Sie drehte sich zu Oram um und winkte dem hirnlosen Geschöpf zu. Maro befahl den Erdriesen an seine Seite, und sofort wankte der los.
Die zerdrückten Gräser setzten sich auf der anderen Seite des Flusses fort. Schwer erkennbar, denn auch das Regenwasser zog die Halme nach unten.
„Hinterher?“, fragte er.
„Ich gehe dahin, wohin du gehst. Wenn du dort deine wahren Absichten enthüllst, ist mir das nur recht.“
Er seufzte. Eine kreuzdumme Frage war das gewesen.
Der Golem trat über den schmalen Flusslauf mit einem einzigen Schritt hinweg und formte über der Mitte des Gewässers seine Hände zu einer Schale. Maro setzte seinen Fuß hinein und sprang von dort auf die andere Seite des Flusses.
Die Augenhöhlen des Golems richteten sich auf die Kriegerin, Maro nickte ihr zu.
„Los.“
„Lächerlich“, sagte Jilis und spazierte einige Schritte zurück, die Hände in den Hosentaschen. Wie der Blitz wandte sie sich um und schoss geduckt auf den Fluss zu, stieß sich am Ufer ab und sprang. Mit einer Rolle kam sie auf der anderen Seite wieder auf die Beine und blickte zu ihm hoch. „Wir können weiter.“
Sie folgten den Abdrücken im Gras, und aus dem einen Klauenpaar wurden viele, die nebeneinander ihre Spur in die Wiesen gedrückt hatten.
Als sie noch knappe fünfzig Schritt vom Haus entfernt waren, hielt Maro an. Die Fensterläden standen weit geöffnet, und aus dem Schornstein quoll Rauch. Kein Anzeichen, dass sich etwas verändert hatte, und die Windmühle mochte aus einem Grund still stehen, den jeder Bauer verstand. Nur er nicht.
„Hinten herum“, sagte Jilis.
Da waren noch die Spuren, die sich jetzt verteilten. Die Kriegerin folgte einem Strang, der um das Haus herum und selbst an der Scheune vorüber führte, nahe an die Mühle heran. Maro hielt sich nahe am Wasser, den Golem immer in seinem Rücken.
Schon aus der Ferne sah er es. Die Flügel der Windmühle waren gebrochen, das Pergament hing in Fetzen von den Holzgestellen hinunter. Jilis wartete auf ihn.
„Hat sich zum letzten Mal gedreht.“
„Als ich gestern hier vorübergekommen bin, haben sie sich noch bewegt.“
Er schauderte, und es war nicht des Windes wegen, der ihm durch die Kleider fuhr.
„Wahrscheinlich hatte sie da auch noch niemand zerschmettert. Zerstörung folgt dir. Nicht, dass ich überrascht wäre.“
Sie schlichen um die Mühle herum, in Richtung der Scheune. Entdecken würde sie ohnehin jeder, der nicht blind war und einen über zwei Schritt großen Riesen aus Erde nicht übersah. Aber zumindest das Geräusch ihrer Schritte mochte der Wind schlucken, der über die Wiesen ging.
Das Scheunentor war zu einer Seite auf die Erde herabgerissen und öffnete den Weg hinein. Der Geruch von Dung und Tierleibern drang zu ihnen heraus. Aber nicht ein einziger Laut. Nur der Wind, der im Stroh raschelte. Durch die Wolken fiel nicht genügend Sonnenlicht, um die Scheune zu erleuchten.
Maro wechselte einen Blick mit Jilis, dann trat er ein. Mit jedem Schritt wuchs ein Geräusch an. Erst ein Rauschen, dann ein Summen. Fliegen. Er hielt in der Mitte des Raums an. Die Augen einer Kuh starrten zu ihm. Der Tierkörper lag auf die Erde hingestreckt, das Muster aus schwarzer und weißer Maserung am Hals durchbrochen von einem roten Fleck. Die Wirbelsäule schimmerte durch das Fleisch hindurch.
„Bei den Höllen“, sagte Jilis hinter ihm, und die Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
„Siehst du noch Spuren?“
Mit verzogener Miene schüttelte sie den Kopf. „Ich sehe verstümmelte Tierkadaver, das muss dir reichen.“ Sie schlug nach den Fliegen, die sich um die toten Tiere sammelten, bedeckte den Mund mit ihrer Hand.
Aus dem geöffneten Bauch der Kuh ringelten sich die Därme, und direkt daneben lag ein Lamm in seinem eigenen Blut, den Kopf so weit zurückgebogen, dass die Ohren ans Rückgrat stießen.
Knapp ein Dutzend Tiere, die mit ihrem Blut das Stroh und ihr Fell färbten. Alle mit durchgebissener, zerrissener Kehle.
Maro hob den Kopf eines Schweins an und starrte ihm in die Augen. Lange genug hatte er Leichen ausgenommen, präpariert, einbalsamiert. Die Jägerin hinter ihm wankte aus der Scheune heraus, wo auch Oram wartete.
Mit einem Zucken des Geistes wechselte Maro die Sicht, blickte ins Reich der Geister. Dumpfe Kühle umwehte ihn, und der Schädel des Schweines strahlte vor ihm im Licht der Astralwelt. Er verglich das Strahlen mit dem, das er selbst abgab. Die wabernden Lichtfäden fehlten, mehr nicht. Vor noch einem Tag musste das Schwein quicklebendig gewesen sein. Aber das hätte er sich auch denken können. Doch am Rande des Feldes seiner Wahrnehmung, hinter zwei Wänden aus Holz, brannten weitere Auren. Sie waberten. Lebendig.
Er kehrte zurück in die andere Wirklichkeit, und der Duft von süßer Verwesung hüllte ihn ein.
Jilis lehnte am Scheunentor, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt.
„Eure auferstandenen Skelette waren das nicht“, sagte Maro, „die würden nicht das Blut von Kühen und Hennen trinken.“
„
Unsere auferstandenen Skelette?“ Jilis Gesichtsfarbe ähnelte der des Himmels. Nur langsam floss wieder Farbe hinein. „Es gibt hier Wölfe in der Gegend, die Wälder wimmeln davon.“
Diesmal lächelte er.
„Wölfe mit zwei Krallen statt Pfoten?“
„Was weiß ich.“
„Wir werden sie gleich finden. Im Wohnhaus ist etwas, dem noch nicht die Kehle herausgerissen wurde.“ Er wies auf die Rauchschwaden über dem Schornstein. „Die Wölfe scheinen sich gerade eine Kohlsuppe zu erwärmen.“
„Halt den Mund“, zischte Jilis.
Maro löste den Dolch aus seinem Gürtel. Er schlich voran, auf das Bauernhaus zu. Was sich auch darin verbarg, es würde mehr Interesse daran haben, auch ihm die Kehle aufzureißen als mit ihm zu reden. In seinen Gedanken malte sich das Bild eines der Riesenaffen, die Panzerplatten auf dem Rücken trugen und deren Augen in der Dunkelheit rot wie Kohle glommen. Zwar hätte eine solche Bestie es nie über die Kontinente geschafft, doch
dieses Land kannte größere Schrecken.
Die Tür war aus den Angeln gerissen worden. Er erstieg die Treppe und trat ein. Von allen Seiten strich der Wind durch Fenster, durch die Hintertür, und zwei der Läden klapperten gegen die hölzerne Wand.
Die Tischdecke hing nur noch an einer Ecke auf dem Esstisch, und auf dem Boden verteilten sich Scherben von Tellern, Milchkrügen, und die Dielen waren dunkel von aufgesogener Flüssigkeit. Die Säure der Milch hing in der Luft, aber darüber legte sich noch ein anderer Geruch. Eine Suppe kochte hier niemand. Er briet Fleisch.
Aus dem Kamin hingen die Fetzen eines Mantels, längst schwarz vom Feuer. Auch der Körper, den der Mantel umhüllte, war schwarz wie Kohle.
Jilis Schritte tappten hinter ihm die Treppe hinauf.
„Sieh es dir nicht an“, sagte er.
„Sehr fürsorglich von dir, aber ich habe mehr al–“ Sie drehte sich der Wand zu und knurrte wie ein Tier. „Verflucht...“
Auch Maro schluckte. Er hatte viele Körper brennen sehen. Aber die waren im Tode den Flammen übergeben worden, um die Reise der Seele zu erleichtern. Ob diese hier überhaupt bereits das Leben ausgehaucht hatten, bevor sie ins Feuer geworfen waren worden...
Zwei Türen führten aus dem Esszimmer hinaus, und eine Treppe in den nächsten Stock.
Maro gab den Befehl an Oram, die Treppe draußen zu bewachen.
„Wo soll hier noch etwas Lebendiges sein?“, fragte Jilis.
Genau, die Auren. Längst musste das
Etwas, das sich im Haus verbarg, sie bemerkt haben. Er lauschte in die Stille hinein. Nur das Feuer knisterte.
Jilis verschwand in einer der Türen und beugte sich über eine Stelle am Boden, an der der Teppich zurückgezogen war.
„Lass uns nach den Vorräten sehen, einige mitnehmen und dann verschwinden“, sagte die Kriegerin. Sie griff nach irgendetwas auf dem Boden.
Maro rief das zweite Gesicht herbei. Die Welt aus weißen Schleiern umspülte ihn, gab seinen Blick frei. Er begriff. Die Luke zu der Vorratskammer. Jilis Finger schlossen sich um den Griff. Unter ihr flackerten die Auren wie ein Meer aus weißem Feuer. Maro zerrte sich zurück aus der Geisterwelt. Farbe floss wieder in die Umgebung. Zu spät.
„Nein!“, brüllte er. Sein Ruf wurde erstickt. Jilis öffnete die Luke, und Flügelschläge füllten die Luft. Sehnige Arme, rot wie wundes Fleisch, rissen ihr die Luke aus der Hand, brachen sie aus den Scharnieren und zerschmetterten sie an der Wand.
Ein Körper schoss aus dem Vorratskeller, blieb vor ihr in der Luft stehen. Zwei lederne Flügel auf seinem Rücken peitschten durch die Luft. Kein Mensch. Fingerlange Zähne standen in dem aufgerissenen Mund, dünn und spitz wie Nadeln. Dicht darunter presste sich Jilis Faust um den Hals des Ungetüms. Sie zog das Wesen aus der Luft, in einem Schwung um sich herum, dann rammte sie es in die Holzdielen, dass Bretterstücke und Nägel in die Luft spritzten.
Maro machte einen Schritt zurück. Solche Stärke.
Das Ungeheuer zuckte und seine Flügel scharrten über den Boden. In einer Krallenhand blitzte die Spitze eines Speers. Sie zischte in Richtung des Nackens der Kriegerin. Jilis duckte sich zur Seite weg und zog die Waffe weiter in die Wucht des Angriffs hinein, rammte sie der Kreatur ins Gesicht. Nadeldünne Zähne splitterten zur Seite und die Speerspitze drang durch Fleisch und die Bodendielen gleichermaßen hindurch. Gegurgelte Laute quälten sich aus der Kehle des Feindes. Eine Sprache von jenseits dieser Welt. Mit beiden Händen trieb Jilis den Speer tiefer, und als der Rote sich immer noch wand, drückte sie den Rest des Schafts mit einem Fußtritt durch ihn hindurch.
Die Flügel erlahmten, aber die Luft rauschte noch immer von Flügelschlägen.
„Noch mindestens sechs! Da unten!“, rief Maro ihr zu und deutete auf die geöffnete Luke. Schon griffen zwei Klauenpaare über den Rand der Luke hinaus und zogen rotglänzende Körper hoch.
Selbst voll aufgerichtet reichten die haarlosen Wesen ihnen nur bis zur Brust – aber als hätte das etwas über ihre Stärke ausgesagt.
Zwei Speere sirrten durch die Luft, gezielt auf Jilis. Sie entkam mit einem Hechtsprung zurück ins Esszimmer, die Wurfwaffen bohrten sich in den Boden hinter ihr und in den Brustkorb des Gefallenen.
„Das sind fünf zu viel für einen fairen Kampf. Hol deine verdammte Zauberei heraus, oder die werden uns ausnehmen wie Kaninchen!“
Maro löste sich aus der Starre, die ihn gepackt hatte, und zog Gheeds Säbel aus der Scheide auf dem Rücken. Schwerer, als er ihn in Erinnerung gehabt hatte.
„Ich weiß nicht, was du dir vorstellst, was ich für eine Magie herbeirufen soll.“
Im Raum mit der Luke zum Vorratskeller sammelten sich die Geflügelten. Es würde keiner der Übungskämpfe werden, bei denen die Gegner nur auf die Klinge des anderen zielten und ihm nach einem Sturz wieder hochhalfen.
Jilis schnaubte. Zwei der Dämonen brachen aus der Formation aus und stürzten sich durch die Tür hindurch auf sie, die Speere erhoben.
Mit einem Kniestoß warf sie den Esstisch um und sich selbst dahinter in Deckung. Ihre Hand packte Maro an der Schulter und zerrte ihn zu Boden. Ein Speer zischte dort entlang, wo er noch eben gestanden hatte, und bohrte sich in die Tür eines Geschirrschränkchens. Die zweite Speerspitze drang durch die Tischplatte, hielt eine Handbreit vor Maros Gesicht an. Kalter Schweiß brach ihm aus den Poren.
Jilis sprang wieder auf die Beine und schmetterte den Tisch mit einem Fußtritt in Richtung der Dämonen. Einer hing weit über dem schweren Geschoss in der Luft, den anderen sah Maro nicht. Die Tischplatte stieß mit einer Wucht in die Wand, dass aus den Fugen der Decke Staub herabrieselte. Ein schrilles Quieken verriet den Dämon, der zwischen Wand und Tisch geraten war.
„Raus hier!“, rief Maro.
„Raus? Dann fliegen sie uns davon und durchlöchern uns vom Himmel aus.“
Recht hatte sie.
Sie zeigte auf die Treppe, die nach oben führte. Für die fliegenden Kreaturen würde es kein Leichtes werden, ihnen im Flug durch den engen Gang zu folgen.
Augen, gelb wie Schwefel, starrten in seine. Der Dämon raste auf ihn zu, die Flügel zur vollen Spannweite ausgebreitet. Jilis Schritte eilten schon die Treppe hinauf.
Maro rollte sich zur Seite. Ein Schmerz gleißte auf seinem Rücken. Das Grinsen seines Gegners weitete sich, Blut klebte an der Speerspitze.
Als er sich hochstemmte, schoss der Schmerz erneut über sein Rückgrat. Sein Geist griff in die Astralwelt, streckte sich nach der Aura von Oram aus – aber da waren die brennenden Feuerzungen, die der Dämon abstrahlte. Ohne einen Befehl würde der Golem nutzlos sein, ein Haufen Erde, der zufällig die Gestalt eines Menschen hatte.
Der Geflügelte wirbelte den Speer über dem Kopf und keckerte wie ein Tier. Er griff erneut an. Ein Stoß ging über Maros Schulter hinweg, er wich zur Seite und umgriff seinen Säbel. Die Waffe wurde ein Blitz, der schräg über die Brust des Dämons raste. Maro setzte nach und drückte das fliegende Ungetüm mit der Schwertklinge in Richtung Boden. Die Flügel schlugen wild, peitschten um ihn und kratzten mit den winzigen Klauen daran über sein Gesicht. Schmerz war Nichts. Er zog den Geist eine Winzigkeit aus der Wirklichkeit zurück, bis das Leid des Körpers verblasste. Die Klauen huschten weiter über sein Gesicht und den Hals, doch ihre Berührung verblich zu einem Windhauch. In den Zügen des Dämons zeigte sich Entsetzen, seine Augen suchten die seiner teuflischen Brüder. Vier Augenpaare blickten aus dem Dunkel des Nebenzimmers zu ihnen, die Flügel schlugen ruhig.
Maro legte sein ganzes Gewicht auf die Klinge und drückte den Dämon zu Boden. Sein Rücken prallte auf die Holzdielen, und Maro setzte mit einem Stoß in die Brust nach. Die Schwertspitze stieß auf Widerstand, er drückte sie tiefer. Etwas zersplitterte, und der Dämonenkörper erschlaffte. Maro setzte einen Fuß auf den Toten und zog sein Schwert heraus.
„Worauf wartest du noch?“, kam Jilis Stimme von oben.
Er antwortete nicht. In die fünf verbleibenden Feinde kam Bewegung, sie segelten in den Raum. Sofort wandte Maro sich um, schlug einen Haken um den umgestürzten Tisch herum. Ein Speer zielte auf seine Brust, er warf sich auf die Knie und bog den Körper nach hinten. Die Spitze der Waffe strich durch sein Haar.
Am Treppengeländer zog er sich wieder hoch und rannte die Treppe nach oben. Holzsplitter steckten in seinen Hosenbeinen. Der Schmerz würde kommen, später. Hinter ihm quiekte eine der Kreaturen. Er drehte sich um, während seine Füße weiter die Stufen hochhasteten. Einer der haarlosen Schädel hing keinen vollen Schritt entfernt hinter ihm, und beide Hände des Wesens holten mit dem Speer zu einem Stoß aus.
Maro trieb sich an, schneller zu laufen. Es ging nicht. Der Speer zischte voran – ihm entgegen ein Pfeil, der sich in den angespannten Oberarm bohrte. Der Dämon kreischte auf, ein zweiter Pfeil durchschlug ihm eines der Schwefelaugen und ein dritter durchbrach seine Stirn. Die Flügel hinter sich herziehend, polterte der Kadaver die Treppe hinunter.
Maro machte die letzten Schritte. Licht brach in die Dachkammer von den Fenstern her, aber vor ihm ragte ein gewaltiger Schatten auf.
„Weg da!“, brüllte Jilis, und Maro wich zur Seite. Die Kriegerin stemmte sich mit dem Rücken gegen einen der Balken, die das Dach trugen, die Füße drückte sie gegen die Rückseite einer Kommode. Das Möbelstück wankte, das Holz ächzte. Jilis ließ den Schrank noch einmal zu sich wippen. Maro verstand. Er stemmte sich mit der Schulter gegen die Kommodenwand. Jilis nickte ihm grimmig zu und rammte ihre Stiefel noch einmal nach vorn.
Einer der roten Schädel erschien im Treppenaufgang, da kippte die Kommode nach vorn. Maro stolperte in ein Spinnennetz hinein und wischte sich die klebrigen Fäden aus dem Gesicht. Mit Wucht ging die Kommode auf die Öffnung des Treppenaufgangs nieder, der Aufprall erschütterte den gesamten Dachboden. Der Dämonenkörper wurde begraben in einer Wolke von Staub und Holzsplittern.
„Ja!“, rief Jilis und ballte eine Faust. Der Staub tanzte im trüben Licht, das auf sie fiel, wie ein Sandsturm.
„Noch drei“, sagte Maro.
„Du hast noch einen bekommen?“ Jilis bückte sich über eine Kiste aus dunklem Holz hinweg zu ihrem Bogen. „Stimmt trotzdem nicht. Da draußen sind noch zwei, vielleicht drei, und sie zielen ihre Pfeile fast so gut wie meine Schwestern.“
In den Dachbalken und über die Wand dem Fenster gegenüber verteilt steckten die pechschwarzen Schäfte von knapp zehn Pfeilen.
Noch mehr Feinde.
Jilis setzte sich auf die Kiste und betrachtete ihn misstrauisch. „Dein verdammter Rücken... Ist da ein Pflug drübergezogen worden?“
„Ist es so schlimm?“
„Ich habe schon Männer bei kleineren Wunden in die Knie sinken sehen.
Viel kleinere Wunden, bei
viel größeren Männern.“
Plötzlich lag etwas Anerkennendes in ihrem Blick. Wenn sie gewusst hätte, welche Macht sich dahinter verbarg. Der Schmerz würde kommen. Unausweichlich.
„Im Moment kann ich mich noch aufrecht halten.“
„Dann schaff deinen Erdkumpanen her. Wenn die Biester durchbrechen, will ich hier nicht allein stehen.“
Maros Herz schlug wieder langsamer. Vielleicht konnte er jetzt scharf genug sehen, vielleicht bis vor das Haus.
„Ich brauche Ruhe.“
Jilis lachte.
„Dafür bist du hier am richtigen Platz.“ Sie erhob sich von der Kiste und zog ihr Messer. Geduckt ging sie unter dem Fenster hindurch und zu der umgestürzten Kommode. „Also gut, ich geb dir so viel, wie ich kann.“
Da Möbelstück wackelte, als besäße es ein Eigenleben, und das Holz im Innern knirschte. Wegbewegen können würden die Dämonen das Hindernis nicht, aber mit ihren Klauen mochten sie sich schlicht hindurchschlitzen.
An Jilis Oberarmen breiteten sich zwei Blutflecke auf dem Leder aus. Auch sie war nicht mehr so frisch, wie sie sich den Anschein gab. Zwei Pfeile lagen auf dem Dachboden. Unzerbrochen. Sie musste sich die Geschosse durch den Arm hindurchgeschoben und herausgezogen haben. Ihm schauderte.
Er setzte sich auf einen Stuhl mit zerrissenem Sitzkissen und konzentrierte sich. Die Welt sank in ein wild wogendes Meer aus Weiß und Silber. Eine Aura mit hoch brennender Lebensflamme, die sich gegen drei weitere unter ihr stemmte. Sie berührten sich beinahe durch das schwach leuchtende Holz der Kommode hindurch. Er hatte weniger Zeit, als er gedacht hatte. Rasch schlüpfte er aus dem Haus. Die riesenhafte Gestalt, deren Aura auch die seine war, hielt ihre Wacht vor der Tür. Er näherte sich und flüsterte: „Komm. Hilf. Hilf ihr.“
Seine Gedanken drangen in den irdenen Sklaven und setzten ihn in Bewegung.
In der Ferne auf der Heide leuchteten zwei weitere Auren. Die Bogenschützen, von denen Jilis gesprochen hatte. Ihre Auren leuchteten nicht wie die der anderen Flügelmänner, sie leuchteten überhaupt nicht wie etwas, das Leben in sich trug. Sondern wie Baum, wie Stein, wie Gras. Er war weit weg, und dennoch...
Eine Erschütterung schüttelte seinen Körper aus Fleisch und Knochen. Er sprang zurück, die Astralwelt verwischte zu einer einzigen leuchtenden Welle um ihn.
Der Schmerz katapultierte ihn zurück in seinen Körper. Ein glühendes Band lief ihm den Rücken hinunter. Sofort zog er seinen Geist ein Stück zurück, bis der Schmerz erlosch. Farbe floss in die kleine Dachstube. Rote Farbe. Die Wand der Kommode splitterte, und zwei der Dämonen schossen heraus. Ein Speer fuhr diagonal über Jilis Gesicht und zog eine blutige Spur hinter sich her. Die Kriegerin taumelte zurück und fluchte.
Maro sprang von seinem Stuhl auf und rannte dazu. Mit der stumpfen Seite der Klinge fing er einen Hieb ab, der auf die Brust der Jägerin gezielt war.
„Wo bleibt die Verstärkung?“, keuchte Jilis, die Hand vor das Gesicht gepresst. Vom Haaransatz her sickerte Blut. Sie hackte mit ihrem Messer ungezielt in die Luft, die Dämonen stoben mit Flügelschlägen zur Seite.
„Sollte längst bei uns sein.“
Maro hob das Schwert gegen die Angreifer, die um sie kreisten. Lange konnte er den Schmerzen nicht mehr fernbleiben, oder sein Geist würde sich vom Körper trennen. Die Kämpferin neben ihm hielt sich gebückt wie eine alte Frau. Der erste Kampf, in dem es nicht nur um Rangabzeichen und die Streitereien von Jungen ging, und er war dem Tod weit näher als je zuvor, selbst als in der Nacht der Initiation.
Plötzlich hielten die Dämonen inne, kniffen ihre Augen ohne Brauen zusammen als lauschten sie. Der dritte zog sich durch das Loch in der Kommode auf den Dachboden und breitete die Flügel aus. Nur erhob er sich nicht in die Luft. Ein Riss lief von oben bis unten durch das Holz der Kommode. Dann brach es. Eine Hälfte der Kommode raste in einen Haufen Unrat, zerschmetterte einen mannshohen Spiegel und warf Kerzenleuchter durch den Raum, die andere Hälfte rammte sich in die Außenwand und riss ein Loch hinein. Die Kommodenhälfte stürzte hindurch, und durch die Öffnung fiel Sonnenlicht auf Arme und Beine aus Erde. Eine Faust hielt die Beine des dritten Geflügelten gepackt, der mit Flügeln und Armen um sich schlug. Die zweite Faust schloss sich um Gesicht und Brust des Dämons, und dessen Gefährten starrten auf die Szene. Das Krachen der Kommode, die zehn Schritt unter ihnen zerbarst, übertönte das Knacken, mit dem die Hand aus Erde das Leben in dem Dämonenkörper zerquetschte. Oram öffnete die Faust, und ein Bündel aus Fleisch und vorstehenden Knochen rutschte die Treppe hinab.
Sein Ruf war nicht unerhört geblieben.
Maro setzte zu einem Schwerthieb gegen den Fliegenden vor sich an.
Plötzlich stolperte der Golem seitwärts, stieß gegen die niedrige Decke. Pfeile sprossen ihm aus der Hüfte, und jede Sekunde bohrte sich ein weiterer hinein und raubte ihm das Gleichgewicht.
„Halt die Flieger ab!“, sagte Jilis. Sie warf das Messer fort und zog ihren Bogen, trat neben das Fenster. Die verbleibenden Dämonen setzten zum Sturzflug an. Maro hackte nach einem mit dem Säbel und schlitzte ihm ein Stück des Flügels ab. Der Verwundete flog eine enge Wende und strampelte in der Luft. Das Ungleichgewicht seiner Flugglieder zerrte ihn in die Reichweite des Golems. Der Riese breitete die Arme aus und schlug die Handflächen zusammen. Knochen knirschten, und die Reste des fliegenden Kriegers platschten in den Staub des Dachbodens. Jilis ließ den zweiten Pfeil von der Sehne und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, das ihr in die Augen lief. Der letzte Geflügelte holte mit dem Waffenarm aus. Maro sprang dazwischen und blockierte den Angriff mit der ganzen Breite seiner Klinge.
„Geschafft“, sagte Jilis und drehte sich um, ließ den Bogen fallen. Sie setzte dem Dämon ein Hieb vor das Kinn, dass der sich fast überschlug und um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Oram erhob sich langsam aus seiner Ecke. Keine Pfeile mehr, die ihn aufhielten.
Maro trieb dem Rothäutigen den Schwertgriff in den Bauch und brachte ihn näher zu den Erdpranken des Golems. Die Kreatur kreischte auf und wandte den Kopf zu den Seiten. Jilis zog an Maro vorüber, drehte sich auf den Zehen einmal um die eigene Achse und schleuderte den Dämon mit einem Tritt hinüber zu Oram. Das Bündel aus Flügeln trudelte durch die Luft, aber plötzlich spannten sich die Flughäute wieder und der Riese griff ins Leere.
Jilis sank auf ein Knie hinunter.
„Er entkommt!“
Der Dämon hielt auf das Loch in der Wand zu und schlug eifrig mit den Flügeln.
Nein, entkommen würde er nicht.
Maro sandte einen Befehl an Oram, und der Gigant setzte mit zwei Schritten in Bewegung. Der Dämon tauchte ins Sonnenlicht, und der Golem ihm hinterher. Wie ein Kind, das einen Ball zu fangen versucht, warf er sich voran, riss Balken und Splitter aus dem Loch in der Wand und stürzte hinaus.
Maro hielt die Luft an. Ein dumpfer Aufschlag, dann folgte Stille.
Ein Ächzen brach aus ihm, als er sich auf eine der Gerümpelkisten niederließ. Er lebte noch. Das Mädchen, das vor ihm auf dem Boden kniete, auch.
„Hat er ihn?“, keuchte sie.
„Vielleicht.“
„Das reicht mir nicht.“
Zitternd richtete sie sich auf und ging hinüber zu ihrem Bogen neben dem Fenster. Jeden Augenblick würde sie zusammenbrechen, wie es mit jedem anderen menschlichen Wesen schon längst geschehen wäre.
Maro griff in die Astralwelt und zog Körper und Geist wieder zusammen. Vorsichtig. Schon bei der ersten Berührung stöhnte er auf. Der Schmerz lief seinen Rücken wie Feuer herab, und in seinen Beinen brannten die Holzsplitter. Mit einem Ruck ließ er Geist und Körper eins werden. Die Wunden glühten auf und rissen ihn an den Rand einer Ohnmacht.
Jilis hielt den Bogen in Händen und kauerte an der Wand.
„Ja, wegen diesen Momenten wünsche ich mir manchmal, dass Kämpfe gar nicht erst aufhören.“ Sie lachte heiser. „Verdammte Höllenbestien.“
„Aus der Hölle kommen sie, denkst du?“
„Ich weiß, das ist zu einfach gedacht.“
Eine Wärme in ihm überstrahlte den Schmerz kurz. Zu einfach gedacht, vielleicht. Aber von der Erde konnten diese Wesen nicht stammen. Etwas Unsagbares hatte sie berührt, vielleicht geschaffen. Etwas, das nicht in diese Welt gehörte, aber doch hier war. Etwas, das er finden musste.
„Zumindest sind es keine Toten“, sagte er.
„Was meinst du?“
„Das ist doch deine Idee gewesen, dass ein Nekromant durch das Land zieht und es mit seinen toten Armeen verwüstet.“
Jilis schnaubte. Den Arm um den Oberkörper geschlungen, schwankte sie zu ihm herüber.
„Dann habt ihr einen Pakt mit den niederen Reichen noch dazu geschlossen. Wo diese Viecher herkommen.“
Maro krümmte sich unter seinen Verletzungen, aber kurz hielt er sich aufrecht.
„Es ist am Einfachsten, das zu glauben, nicht wahr?“
Der Blick der Kriegerin wanderte durch den Dachboden, als suche sie etwas. Dann sah sie nach unten.
„Schnauze.“
Sie verstauten ihre Waffen wieder, und Maro schnitt Stücke von einer Mullbinde ab. Sie wuschen die Wunden mit Wasser aus einigen Kübeln aus und verbanden sie. Im Moment, in dem sich der Stoff über den Schnitt in seinem Rücken legte, brannte die Wunde noch einmal, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Mit dem Rest des Wassers löschte Jilis das Feuer im Kamin, den Blick abgewandt von den Leichen.
Maro stieg über die Dämonenkörper und den zerschmetterten Esstisch hinweg in die Lagerluke. Das Fleisch hatten die Eindringlinge nicht verschmäht. Der Duft nach tierischem Fett füllte noch die Kammer, aber an den Haken hingen nur noch handballengroße Überreste, übersät mit den Spuren der Nadelzähne. Die Bestien mussten tatsächlich nur in das Haus eingedrungen sein, um sich den Wanst vollzuschlagen und den Hof zu verwüsten.
Maro wickelte einen Leib Brot, einen Topf gelbes Gelee und ein Käsestück in ein Handtuch und steckte es ein.
Jilis erwartete ihn hinter dem Haus, wo sie dem Golem die Pfeile aus der Seite zog. Der Riese ließ die Behandlung regungslos über sich ergehen.
„Wenn das bei uns auch so leicht ginge“, murmelte sie. Durch die Binden an ihren Armen sickerte das Rot hindurch.
Unter den Pranken des Golems sammelten sich im Gras die Überreste des letzten Geflügelten.
Selbst, wenn sie eines der Wesen lebendig bekommen hätten, in der quiekenden Sprache hätte es ihnen nichts verraten können.
Jilis zog den letzten Pfeil aus dem Erdkörper und wischte sich die Hände ab.
„Ich gehe nachsehen, ob ich meinen Köcher bei den beiden Bogenschützen etwas auffüllen kann.“
Maro nickte, und die Kriegerin entfernte sich über die Ebene, über die der Wind hinwegpeitschte. Ja, die beiden fremden Auren in der Ferne...
Zu fern mochten sie gewesen sein und ihn in die Irre geführt haben.
Er strich die Pfeillöcher in Orams Leib zu und schulterte seinen Proviantsack. „Wir sind möglicherweise schon nahe dran...“, sagte er und sah hoch zu dem Golem. Was für eine Dummheit. Mit belebter Erde zu reden. Und immer, wenn er sein Werk ansah, dachte er an den Namen, den der Händler ihm abgerungen hatte.
Oram.
Schon einige Minuten war Jilis im hohen Gras der Heide verschwunden. Maro ging auf und ab, spähte zu der alten Mühle hinüber. Seltsam, dass die Dämonen über die Wiesen gewandert und dort ihre Spuren hinterlassen hatten, statt den Weg in der Luft zurückzulegen.
Die Wunden glühten noch wie ein schwelendes Feuer in seinem Fleisch. Kurz dem Schmerz entkommen.
Er wechselte zur Astralsicht und studierte das Haus. Keine Auren mehr, die das Licht des Lebens in sich trugen. Aber hinter ihm. Jilis Lebensflamme brannte hoch, aber wie geschüttelt von einem Sturm. Als habe der Sturm aus der normalen Welt auch auf die zweite übergegriffen. Aber die zwei Auren neben der der Kriegerin brannten gleichmäßig. Gleichmäßig. Wie schon, als er sie das letzte Mal betrachtet hatte. Wie lebloses Material, aber nichts hatte sich verändert. Die Astralsicht trog nicht, niemals. Etwas dort war nicht, wie es sein sollte. Er riss sein Schwert aus der Scheide und rannte los, dem Wind entgegen.