Reeba
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Vielen lieben Dank an meinen unermüdlichen Betaleser Dingior \o/
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I. Rückkehr
Die Reise ist lang.
Jene, die die Ära der Großen Kriege überlebt haben, sie und ihre Nachkommen, haben gelernt, die Zeit zu messen, genau auf die Sekunde. Mit schwelenden Mantelsäumen sind sie in das empfängnisbereite Dunkel der Zukunft gereist, haben sich wieder fleißig vermehrt und Siedlungen gebaut, durch die sich Perlenschnüre von Lichtern ziehen, Lichter und Errungenschaften und neue Waffen und frische Ordnungen.
In der Armbeuge eines flachen Gebirges haben sie sich eine Stadt erschaffen, eine Metropolis, weitläufig genug, um all den Überhang der vergangenen Jahrhunderte in sich aufzunehmen.
Zu ihrer Mitte hin wie mit einer Messerspitze zerhackt und hochgezogen, kauert die Stadt im Kessel niedriger Hügel.
Sie hält Hof. Vor allem nachts.
Nachts hat sie ihre ganze Glorie, prostituiert sich mit abertausend Lampen in der Dunkelheit, dank derer man die Dunstglocke nicht sehen muss, die tagsüber jedes Wetter in widerspenstiges Grau verwandelt. Es gibt ein paar Auserwählte auf den Hügeln weit draußen, in ihren Häusern und auf ihren Veranden, die einen Blick auf den Aschemantel der Stadt haben und darauf, wie er bei schräg und stark einfallendem Sonnenlicht oder gar bei Sonnenuntergängen zu einer schwefligen, rotgefleckten Wolke wird.
Was sich dann in den Straßenschluchten bewegt, hat, o gesegnete Gesellschaft der Klassen, kaum Gelegenheit, nach oben zu schauen.
Die Stadt will leben. Der nächste Warenlieferant wartet, die Monitore über den stoisch saubergewischten Imbisstheken halten das Fenster zum Augenzwinkern der Handelsmärkte offen, und es gibt keinen Ort mehr, in den nicht das Geplärr der Sirenen und der Passantenströme findet, irgendwie, überall, Puls der Zeit.
Sie haben viel erreicht.
An der Basis der letzten verfügbaren Baugrundstücke pressen sie in Stahlgerüsten weitere schlanke, schimmernde Türme nach oben. Für alles Alte, das abzuwerfen ihnen nicht ganz gelungen ist, haben sie Namen gefunden oder die bereits bestehenden Namen notfalls geändert, damit die Stadt ihre Vergangenheit ebenso schnell verdaut wie die eingelegten Fladen im ‚Ost-Spezialitäten’ um die Ecke.
Abstriche muss jeder machen. Daran kommen die Nachfahren nicht vorbei. Doch da ist so unendlich viel, mit dem sie sich ablenken können und das immer noch ein Streben bedeutet, wenn vielleicht auch nur ein Streben von Zwergen, verglichen mit dem der Vorväter ihrer Zivilisation.
Es gibt Wetten, Besitz, Wertpapiere, Entspannungsdrogen, Religion, gekaufte Zuneigung, kosmetische Chirurgie, die Hühnerleitern einer Karriere.
Und abgesehen von der knappen Million Menschen, die ihren Platz ums Verrecken nicht finden kann, belastet durch ihre Herkunft, ihre überlieferten, brüchigen Glaubensgrundsätze, ihre Krankheiten oder ihre Süchte, haben sie die Massen ziemlich zufriedenstellend kanalisiert.
An der Spitze der Pyramide wird gedrängelt, aber an ihrer Basis ist viel Raum. Raum für die Untersten, die die gemeinsamen Errungenschaften stützen: Halbwegs geordneten Verkehr, die Verteilung der knappen Ressourcen, ein Nachtleben von ungeheurer Vielfalt und Exotik, und sogar Bildung, wenn Interesse besteht, und eine tapfere, oft hilflose Polizei.
Kleinere Ableger umgeben die Stadt wie Muschelbänke. Da sich der Morgen im streng genommenen Sinne hier längst selbst abgeschafft hat, fehlt eine einzige Tageszeit, in der alles ins Innere des Molochs drängt. Die Strömungen sind zeitlos. Die Stadt atmet Fleisch und Blut ein wie bei einer umgekehrten Geburt, und den Einsatzkräften in ihren Verkehrsüberwachungsgleitern kommt es oft so vor, als könne nie wieder jemand aus dem Häusermeer hinaus finden.
Unten in den Straßenschluchten sehen die Passanten diese Mücken der Räteordnung nur selten. Es ist fast immer ein Gigantengleiter da, der alles mit Lichtern und Werbung überschüttet.
Den Hochhäusern kommen die Gleiter dabei nicht sehr nah. Die neuen Türme stehen wie abgesondert von allem, sakral, unerreichbar, mit den Füßen im Getümmel und den Augen im Widerschein einer beinahe machtlos gewordenen Sonne.
Sie haben viel erreicht.
Seit fast einem Jahrtausend überdauern sie schon auf diese Weise. Die Felder der Marsch oder die Sümpfe vor den Tempeln bedeuten nur noch eine Erinnerung, einen Traum in einem Traum, der entsorgt wurde, weil der Mensch sich über Schwert und Pflug letztlich doch zum Herrscher dieser Welt aufgeschwungen hat.
Die Stadt ist ewig.
Sie sagen, es wird nicht mehr lange dauern, bis man ihnen das als neues Glaubensbekenntnis an die Wände der Firmenkomplexe und Ratsgebäude hängt.
Die Stadt.
Das Allerheiligste in Stein und Stahl, während das Umland sich immer weiter entvölkert und man schon jenseits der Hügel in verbotene Zonen gerät.
Von alldem weiß die Bestie bei ihrem Eintritt in das nagelneue Jahrhundert nichts.
Die Reise war lang. Sie spürt vielleicht noch im wieder aufgetauten Gebein, wie sich Mark und Knochen knirschend in die Blase der Gegenwart strecken. Angehäufte Dekaden platzen schmetternd von ihr ab, von ihm, dem Wiedergeborenen, zerstäuben zu nichts, wo die ehemaligen Opfer sich über Generationen hinweg schreiend im Kindbett gewälzt haben.
Es ist dunkel, feucht, hinlänglich warm.
Auf festem Boden, noch zu einem Klumpen geballt, zieht die Bestie die unbekannte Luft ein. Atem zischt in Rauch. Dank des Regenmonats finden kaum frischer Wind oder Kühle in das Geviert, auf das sie nun ihre Hufe stellt. Die Hitze aber hat sie mitgebracht. Hitze, den schwelenden Kern aus dem verschütteten Abgrund.
Sie lebt in ihr, und der Klumpen dehnt sich. Es ist eine langsame Entfaltung im Aneinanderschaben von Horn und knotiger, zentimeterdicker Haut.
Die Bestie bläst den ersten Atem aus. Ohne zu wissen, wo sie sich befindet, zu welchem Fleck der Abgrund sie wieder hinauf geschoben hat, ahnt sie ihren Vorteil. Sie hat Zeit.
Die glasigen Augen nach unten gerichtet, bewegt sie den Schädel.
Sie ist in einem Hinterhof, zwischen zwei aufragenden Wänden angrenzender Häuser, gute dreihundert Schritt von der Straße entfernt, auf der Passanten sich zu entscheiden versuchen, ob sie in das Nachtlokal rechts oder in den kurastischen Schnellimbiss links gehen sollen.
Die Menschen dieser Ära haben, bis auf sehr wenige, ihre alten Dämonen längst vergessen. Oder sie arbeiten daran.
Wer könnte verlangen, dass sich irgendwer zwischen der Jagd nach Geld und dem bunten Blütenteppich aufbereiteter Religionen noch an die Großen Übel erinnert, die zu substanzlosen Mahnmalen am Rand des Gewissens verkommen sind?
Von alldem weiß die Bestie kaum etwas. Sie weiß nur vom Flüstern naher Seelen – sie sind immer noch da, und wieder da und unvergänglich gebrandmarkt – und von ihrem ureigensten Hunger.
Als sich also unweit von ihrem Geburtsort etwas regt, eine Tür klappt, zucken die glasigen Augen nach hinten.
Die Bestie wendet sich nicht um, nicht einmal, als das Menschlein seine Stimme an sie richtet. Sie holt die neue, stinkende Luft ein und hält sie eine Weile im Blasebalg ihrer Brust, bevor sie das mitgereiste Feuer am Unbekannten erprobt.
Er ist sich nicht zu schade dafür, den Müll rauszubringen.
An diesem Dienstagabend macht der Imbiss guten Umsatz. Wieder mal.
Die Gegend kommt in Schwung, sagt der Inhaber. Zu den Sommermonaten hin achten die Anwohner und die Besucher der zentralen Stadtviertel weniger und weniger darauf, ob es ein Wochentag ist oder Wochenende, und viele schieben ordentlich Kohldampf, bevor sie sich in den Bars oder den Tanzlokalen hier in Sulaya verlieren. Gerollte Teigfladen und Ingwersuppe bleiben offenbar doch Verkaufsschlager, der Inhaber hat Recht, der alte Geschmack überwiegt.
Gut für alle Angestellten. Endlich wird der Lohn mal pünktlich gezahlt, und die, die sich vor ein paar Monaten zu einer Teilpartnerschaft entschlossen haben, freuen sich. Die Anteile könnten bald abbezahlt sein.
Jamal Kwarang ist einer von insgesamt drei Mitarbeitern des auf traditionelle östliche Kost spezialisierten Imbisses, die sich in die Teilhaberschaft eingekauft haben. Es ist ein fairer Handel. Der Inhaber ist ein notorisch schlecht gelaunter, untersetzter Kurasti, der sie alle gern scheucht, wann immer er sich in der kleinen, neonerleuchteten Garküche blicken lässt, aber er wird wohl Wort halten und sie direkt am Gewinn beteiligen, wenn sie ihre Anleihen abgearbeitet haben.
Der Imbiss liegt mitten in Sulaya. Eine tolle Gegend. Sie wird nie sterben wie die Außenbezirke von Asanctar, wo sie mit verarmten Siedlern und versoffenen Erdlern so ihre liebe Müh und Not haben.
Daher bringt Jamal, vierundzwanzig Jahre alt, Angehöriger der zweituntersten Kaste und Vater einer kleinen Tochter, die noch auf ihre Tempelaufnahme wartet, auch ohne Murren die Abfallkübel nach draußen.
Die Dinger sind scheißschwer. Den letzten Kübel stellt er aufatmend im Hinterhof ab, neben dem Behälter für Glas und andere Wertstoffe.
Dann zieht er sich den Kittel zurecht, fischt in der Hemdtasche nach der Schachtel Feuerimps und steckt sich eine Zigarette an.
Aus der Küche fällt bleiches Licht als kleines Quadrat aufs schwarze Pflaster. Leise, lachende Stimmen dringen nach hier draußen, Tellergeklapper. Die lieben Kollegen.
Jamal grinst, atmet den Rauch ein, blinzelt nach oben.
Regenpause. Schwarz, nass glänzend ragen die Türme auf, ungeheuer hoch, Wellenbrecher für das launische Wetter von Asanctar mit seinen tagelangen Regenfällen und dem unberechenbaren Licht. Jetzt, in der Nacht, gemahnen sie an die Pyramide des Daseins.
Wer dort oben sitzt, hat es, Himmel noch mal, geschafft. Kein Tempel in Asanctar, nicht einmal die aus der Alten Stadt im Osten her transportierten, ist so groß und mächtig wie diese Türme.
Mitten im Betrachten der unergründlichen Pfeiler seiner Welt erreicht Jamal Kwarang ein Geräusch.
Die Gasse, in die sich der Hinterhof verlängert, bevor sie auf die lichterfunkelnde Straße hinausgeht, sperrt niemand ab. Obdachlose und Schläger finden leicht schon mal ihren Weg hier herein, randalieren, pissen an die Müllkübel.
Aber das Geräusch, das Jamal hört, hat nichts von der unliebsamen Gegenwart der Aussätzigen Asanctars. Es hat eigentlich überhaupt nichts, was er jemals gehört hat.
Es klingt wie ein Luftaufbereiter in diesen großen, sauberen Gebäuden ein paar Straßen weiter: Scharf, zischend, heiß. Wie Kohle, die in einem Hochofen verdampft. Oder wie ein stählernes Ross, das sich bewegt und schnaubt.
Jamal hält das für eine sehr drollige Idee. Jedenfalls wendet er sich in Richtung des Geräuschs und sperrt die Ohren auf.
Vielleicht ist es nur jemand in Schwierigkeiten. Es wäre nicht der erste Drogensüchtige, den die Männer vom Imbiss hier hinten aufsammeln.
Jamal macht einen Schritt, zieht an der Zigarette und späht suchend ins Dunkel. Nach ein paar Sekunden entdeckt er etwas, das auf den ersten Blick wie ein Abfallkasten aussieht, bloß mit abgerundeten Ecken und merkwürdigen Auswüchsen.
Aber es ist kein Kasten. Es bewegt sich.
Jamal stoppt, plötzlich seltsam unsicher. Das Ding hört nicht auf, sich zu bewegen.
Gut, also lebt es. Also muss es ein Mensch sein. Die Dunkelheit und die Entfernung verfremden die Umrisse sicherlich, und Dornendrescher sind innerhalb des Stadtgebiets schon lange verboten.
„Hallo?“, entschließt sich Jamal zu einem Ruf. „Hallo, kann ich Euch helfen?“
Keine Antwort. Nur ein leises, unsauberes Fauchen.
Jamal fängt an, sich zu wundern. Allmählich verlässt ihn die Geduld, die er einem Hilfsbedürftigen entgegenbringen würde.
„Hallo?“, ruft er noch einmal und erwägt ernstlich, die Kollegen aus der Küche herbeizuholen. Zusammen werden sie vielleicht eher zu einer Einschätzung kommen.
Doch bevor er sich dazu durchringen kann, geschieht etwas ganz Unerwartetes, Unglaubliches.
Der Klotz scheint sich zusammenzuziehen, und dann erwacht der Hinterhof zum Leben.
Jamals Hosenbeine schmiegen sich merkwürdig warm und dicht an seine Knöchel. Das ist schon mal das Erste. Dann entdeckt er eine Art Nebel dicht über dem Boden, grauen Qualm, der von dem Ding in der Gasse wegkriecht und sich mit erstaunlicher Perfektion bis an die Hofwände ausbreitet.
Ein Licht erscheint. Eigentlich ist es mehr ein Glimmen und darüber hinaus von tiefstem Rot, sodass alles im Hinterhof flackernde Linien erhält, und es hat seinen Ursprung in dem Klotz. Mit dem Rot wird es umgehend still und relativ warm.
Es ist eine wunderschöne Farbe, schwelend, geheimnisvoll.
Jamal starrt fasziniert auf die Umrisse im kniehohen Nebel, die allmählich zu glühen anfangen. Irgendetwas wispert von Gefahr, doch der Anblick ist so fremdartig, dass jede Reaktion im Keim erstickt wird.
Schließlich flammt das Rot auf. Jamal spürt, wie er zusammenzuckt und der Bann der Faszination von ihm abfällt.
Gut, das reicht jetzt, er sollte wirklich die Jungs aus dem Laden herholen.
Doch bevor er sich rühren kann, verlässt den Klotz in der Gasse ein Ring – ein Ring aus Hitze, wie Jamal feststellt. Seine Haare flattern. Mit zitternden Knien steht er still, holt dann unbewusst tief Luft. Es riecht schwach nach verbrannter Haut, und er hat eine Art Schlag im ganzen Leib gefühlt.
Jamal blinzelt. Bevor er in Richtung der Müllkübel zurückweichen kann, erfolgt der zweite Schlag.
Diesmal, registriert sein staunendes Bewusstsein, blendet ihn etwas wie ein kurzer Blitz, der zum Zentrum einer Aureole wird. Die Hitze ist so plötzlich da, dass das Ohr ihr tiefes Summen noch bearbeitet, während man sie schon fühlt. Sie hält vor Jamal.
Er hat eine Hand erhoben, vielleicht in einer Geste der Abwehr oder sogar der Verständigung, er weiß es gar nicht so genau.
Er merkt nur, dass das Gefühl aus der erhobenen Hand schwindet, und dann bekommt sie feurige Flecken.
Während sie innerhalb weniger Sekunden vor seinen Augen schwarz wird, verkohlt, ihre Form einbüßt, während seine Finger bröckeln und ein kleiner Wind in einem allgemeinen großen Wind Asche von ihm wegträgt, begegnet Jamal dem Schmerz.
Der Schmerz ist zu stark für einen Schrei. Er lässt ihn dastehen und seine Hand und seinen Arm anstarren, und er denkt den irrwitzigen kleinen Gedanken, wie er so, mit nur einer Hand, eigentlich Teigfladen ausrollen soll und dass er wohl doch besser in die Küche zurückgegangen wäre. Dann denkt er noch an seine Tochter und an den Tempel, der umgerechnet drei Monatsgehälter für die Aufnahme eines Kindes aus der zweituntersten Kaste verlangt.
Sehr viel mehr spielt sich in den letzten Sekunden von Jamal Kwarangs Leben nicht ab.
Er hat keine Gelegenheit mehr zu einem Blick auf den Ursprung der mörderischen Hitze, die sich nun dazu entschließt, aufs Ganze zu gehen, gegen die Häuserwände anbrandet und die Müllkübel rattern lässt. Er wird einfach geschluckt.
Das erste Lebenslicht geht aus, geht unter in der kurzen Flammenhölle, die – ungesehen von den Passanten auf der Straße oder den Leuten hinter den Fenstern ringsum, die erst Augenblicke später aufmerksam werden – einmal durch den Hinterhof geistert: Ein Ring aus Feuer, der verglüht und verraucht, sich in Schatten zurückzieht, sehr heimlich, sehr schnell, und den Kern, das unförmige Ding in seinem Zentrum, nimmt er mit sich.
„Frau Celeste?“
Die Stimme schlägt an mein Ohr, doch sie dringt nicht bis in mein Bewusstsein.
Die Bankoberfläche drückt sich hart gegen meinen Hintern, schlecht zu ignorieren, selbst wenn ich auf die schwarzledernen Schnürstiefel starre und auf meine Beine und Knie, auf die ich die Ellbogen gestützt habe. Würde ich ernstlich altern, wäre die Erklärung einfach: Mein Hintern wird knochig.
Aber nein. Ich verschränke die Finger beider Hände ineinander, reibe langsam. Es liegt nicht am Alter.
„Frau Celeste?“ Unsicher. Eine ganz junge Stimme. „Bitte entschuldigt, aber der Oberste will Euch sprechen.“
Schließlich schaue ich doch hoch, vielleicht nur, weil mein voller Name – nicht die umgemodelte Kurzform, die die Kollegen verwenden – eine Brücke zu etwas Vergangenem schlägt.
Kaum jemand nennt mich noch so. Nach vielen Jahren habe ich es aufgegeben, die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, zur Bewahrung dieses alten Namens anzuhalten.
Die Auszubildende, die in schmucker Uniform vor mir steht und mich nervös beobachtet, ist höchstens zwanzig Jahre alt. Heiliges Varda, zwanzig. Ich mustere sie unverwandt.
Eine hübsche Larve von Gesicht hat sie da, mit den großen, feuchten, teerfarbenen Augen einer Ostländerin. Die Lidfalte ist operativ entfernt worden, fachmännischer als bei vielen Menschen ihrer Herkunft. Woher sie mit ihrem lächerlichen Gehalt das Geld für so einen Eingriff herbekommen hat, kann man nur raten. Hübsch, ich sagte es ja.
„Ich komme schon.“ Ich stehe auf.
Die dunklen Augen weiten sich leicht.
Fremde, vor allem Frauen, reagieren meistens so auf meine Körpergröße. Ich überrage die junge Auszubildende jetzt um einen Kopf, obwohl sie nicht klein ist.
Sie verschluckt weitere Anweisungen, tritt beiseite, als ich die Kleiderstube verlasse. Ich weiß ohnehin, dass der Oberste mich und meinen Hintern direkt in seinem Büro sehen will.
Noch herrscht auf unserem Revier wenig Betrieb.
Meine Schicht beginnt um acht Uhr in der Früh, lange bevor die Halbwelt munter wird, und so entdecke ich auf meinem Weg durch die großen Räume jetzt auch bloß ein paar Fehlgänger, die befragt werden, und die üblichen Nutten aus der Nachbarschaft, die den Mitarbeitern Beschimpfungen an den Kopf werfen.
Der Oberste bietet mir nicht mal einen Stuhl an. Offenbar hat er es eilig.
Stattdessen wirft er mir ein paar Fotos hin.
„Eine Tötung“, sagt er, schief und schwer in seinen Sessel gelehnt, den Zeigefinger der Rechten gekrümmt vor den Lippen, und nickt zu den Schwarzweiß-Aufnahmen hin. „Ein Opfer. Ja, wirklich nur eins, schaut nicht so, Sal. Aber von dem armen Hund ist nur noch ein Haufen Asche übrig. Der liegt jetzt in einem Hinterhof in Sulaya, und macht Euch auf was gefasst.“
Ich gebe ihm den fragenden Blick, den er erwartet.
„Der gesamte Hinterhof ist verbrannt“, fixiert er mich bedeutungsvoll. „Eine Riesenschweinerei.“
Schweigende Sekunden, in denen wir uns ansehen – weniger Vorgesetzter und Untergebene jetzt als zwei Leute, die schon ziemlich lang zusammenarbeiten und wissen, wie der Andere denkt.
„Ein Magier vielleicht?“, schlage ich vor.
Der Oberste zuckt mit den Schultern. „Seht Euch die Fotos an, Sal. Welche Stufe wäre das? Vier, eher fünf, für Verheerungen solchen Ausmaßes, nicht?“ Er beäugt mich mit einer Mischung aus der scharfen Intelligenz, die ihm zu seinem Posten verholfen hat, komischer Treuherzigkeit und Ungeduld. „Aber das muss ich Euch ja nicht sagen. Findet also raus, was da vorgefallen sein kann, Zeugen, geht ein bisschen in die Nachbarschaft, wenn nötig – halt das Übliche. Kriegt spitz, ob wir hier wirklich nur einen Amok laufenden Elementarier haben oder, na was weiß ich, Drogengeschäfte, Klassenkleinkrieg oder so einen Mist. Vielleicht war der tote Kerl in was verwickelt.“
„Gut.“
Er gibt mir eine Karte mit der Werbung einer Imbissstube. „Da hat das Opfer gearbeitet.“
Ich drehe die Karte um. Die Straße liegt eher am Rand von Sulaya, quasi in der Nachbarschaft, wo unser Bezirk an die engeren Gassen und an die Spazierstraßen des traditionellen Vergnügungsviertels grenzt.
„Ich nehme einen Wagen“, sage ich. „Soll mich noch jemand begleiten?“
Doch der Oberste hält das nicht für notwendig.
So steige ich, nachdem ich mich mit Kamera und Spurenschatulle ausgerüstet habe, allein in den Polizeigleiter.
Es ist mir ganz recht so. Nicht nur wegen meines heutigen Zustands, sondern auch, weil im Kunstleder des Gleiters, der sich mit einem Summen um mich schließt, endlich die sachte Anspannung auf den Plan tritt.
Der letzte Fall mit Beteiligung eines wirklich mächtigen Magiebegabten liegt ich weiß nicht mehr wie weit zurück, damals, damals, das hat etwas auf merkwürdige Weise Belebendes.
In die Getränke der Bars finden immer noch die ganz alten Zutaten. Immer noch bohren die Tempel ihre störrischen Giebel in den von Lichtkegeln zerhackten Himmel. Und immer noch wandeln, so gut wie unerkannt, Kinder einer fast verdrängten Ära unter uns, die über die Kräfte der feuchten Luft und der feurigen Erdkrusten gebieten.
Eine mögliche Verwicklung ihrer Art in diese Sache reicht aus für eine Anspannung, die mich aus dem tranceartigen Zustand schält, der mich eben in der Kleiderstube noch völlig beherrscht hat. Der mein Dasein bestimmt, sobald ich lockerlasse. Der das einzig Ewige geworden ist.
Der Morgen ist grau. Schwül.
Aus den Schachtdeckeln längs der Straße, in die ich den Gleiter dirigiere – anfangs nur auf Kopfhöhe – dringt Dampf und sättigt die ohnehin schon klebrige, warme Luft. Passanten drücken sich an den Hauswänden, den großenteils noch geschlossenen Läden, entlang.
Diese Stadt kommt niemals ohne Kater in den neuen Tag.
Morgens ist sie mürrisch, eine Diva, reagiert verzögert, hüllt sich in das Schweigen einer Person, die Nachdenklichkeit und den plötzlichen Hang zu leiseren Tönen und blasseren Farben vortäuschen will. Stunden später verzeiht sie sich selbst, und das morgendliche Kopfweh, die Übersättigung, der Ekel, der an sich selbst entsteht, sind vergeben und vergessen.
Ich reise durch ihre Übellaunigkeit, und ich tue es ohne Bedauern.
Ich habe die Morgenstunden immer geliebt. Schon als ich erst ein ganz kleines Mädchen war und ein Straßenlabyrinth wie dieses noch den Phantasmagorien der Träume entstammte.
Nun gleite ich ostwärts mitten hindurch und wechsle irgendwann auf die zweite Flughöhe.
Die Straße, die auf der Karte steht, ist gesäumt von altmodisch gehaltenen Imbissen, billigen Bars und stickigen kleinen Kräuterlädchen mit Unmengen von Tiegeln und Körben in und vor ihren Schaufenstern. Die schlichte, etwas heruntergekommene Umgebung täuscht: Hier wird viel Geld gemacht, und die Geheimtipps unter den Nachtlokalen liegen gleich um die nächste Ecke.
Der Eingang zu der Gasse, in der das Opfer gefunden wurde, gleicht einem Spalt zwischen den Wänden der sechs- oder siebenstöckigen Häuser.
Ich lasse den Polizeigleiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite parken. Ein weiterer steht demonstrativ vor dem Gasseneingang. Zusätzlich haben sie ein bisschen rotes Band aufgespannt. Aber ich kann nur ein paar Leute ausmachen, die herumstehen, manche in Nachtkitteln. Nachbarn.
Der Imbiss – “Zum Großen Basar“ – ist erleuchtet, vermutlich vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet, und besucht.
Vor dem Schicksal des getöteten Mitarbeiters eine schulterzuckende Herzlosigkeit?
Damit darf man nicht voreilig sein. Fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung von Asanctar haben keine Zeit zum Innehalten, nicht mal für Mitleid, und wie fix dem Besitzer des “Zum Großen Basar“ seine Nudelbude unterm Hintern weggerissen wird, wenn er Miete und Schutzgelder nicht rechtzeitig zahlt, kann man sich eingedenk der Attraktivität des Stadtteils leicht ausmalen.
Ich gehe an den Schaulustigen vorbei, bücke mich unter dem Band in die Gasse. Sie fragen sich, was ich jetzt machen werde, ob ich jemand Besonderes bin.
Ich bin es nicht: Keine der Zakarumitenmissgeburten, die Privatleute manchmal zu den Schauplätzen von Verbrechen bringen lassen, um die ‚Aura des Bösen’ zu untersuchen; kein hohes Tier aus dem Rat für Sicherheitsfragen; kein Sonderermittler mit übersinnlichen Fähigkeiten, von denen einige noch in einer Gilde arbeiten.
Ich bin nur eine Polizistin, von der ihr Vorgesetzter weiß, dass sie die Stadt einigermaßen kennt.
Ein Mitarbeiter, der am Rand der Gasse mit seinen mindestens zweihundertvierzig Pfund und einer ungerührten Miene Wache hält, nickt mir zu. Ich wünschte, er würde mich nicht so anstarren.
Sein Gesicht erinnert mich an die harten Gesichter vor den Türmen, draußen vor den Palisaden, an die steinernen, nickenden, verständnisinnigen Masken. Ich wünschte, ihre Kette über die Zeiten hinweg würde abreißen.
Konzentrier dich.
Bis hierher war alles Routine. Ich weiß sogar, warum der Oberste mir den Tod eines kleinen Imbissangestellten zuschiebt, an dem nur dieser eine Haken der merkwürdigen Umstände ist. Weil er hofft, mein Interesse wieder zu erwecken.
Es gelingt ihm. Mit dieser Gasse.
Ich bin mir der leidlichen Stille hier – aus der Küche der Imbissstube und den Fenstern über mir dringen Geräusche, doch sie verschwimmen in Nebensächlichkeit – deutlich bewusst, als ich bis zur Mitte der Gasse gehe. Die Kamera habe ich samt ihrem Koffer in der Sekunde des Abstellens vergessen.
Der Tote liegt noch, wie das Ableben ihn ereilt hat.
Schwer zu glauben, dass das einmal ein Mensch gewesen sein soll, dieser flache Haufen pechschwarzer Brösel und Stümpfe auf dem Boden. Übelkeit huscht flüchtig durch meinen Magen, Reaktion auf die Verbindungslücke zwischen einer atmenden Kreatur und einem glitzernden Aschefleck, den sie mit Meißel und Hammer vom Asphalt werden abklopfen müssen.
Kabhvane ransi dihina, dihina ma, prapya pakhrate.
Ich schaue weg.
Woher kommen diese Worte? Woher plötzlich - nach Jahren, in deren Verlauf ich nicht mehr an sie gedacht habe, nicht einmal an die Stimme, die sie sprach?
Allein im Zentrum des Hinterhofs, drehe ich mich um meine eigene Achse, verweise die Worte aus meinem Innern, versuche, nur Auge zu sein und Kalkül und Vernunft. Vernünftig ist allerdings nicht, was mit diesem Hinterhof passiert ist.
Der Boden unter meinen Stiefeln gleicht schwarzem Glas – von immenser Hitze geglättete Materie. Vier Müllkübel stehen an der Wand neben der Hintertür des Imbisses, auf einen flüchtigen Blick hin unverändert, aber sie sind gegen den Stein gedrückt worden und teilweise damit verschmolzen. Glückwunsch, Leute, die klaut niemand mehr. Dann wandert mein Blick weiter umher und hinauf.
Überreste von Plakaten, fein säuberlich bis zur Mitte hin verkohlt. Seltsam. Das Geländer der kleinen Treppe hin zur Hintertür des Imbisses steht noch, hat sich aber gebogen. Sämtliche Oberflächen wirken glatt gewetzt.
Irgendetwas hat hier getobt, nur für Sekunden, doch es war gewaltig genug, um in einem Radius von etwa dreißig Metern alles zu verschmoren.
Scheisse.
Ein Elementarier? Ich muss das in Betracht ziehen.
Aber würde es sich um den Schauplatz eines Kampfes handeln, fehlt da etwas, eine weitere Leiche, ein anderes Opfer als dieser bedauernswerte Bastard. Oder haben sie Überreste weggeschafft?
Mechanisch hole ich die Kamera, mache ein paar Aufnahmen. Mein Atem geht flach, nicht nur wegen des schwachen, widerlichen Gestanks von verbranntem Abfall.
Sogar die Hintertür am Ende der kümmerlichen Treppe hat ihren Teil abbekommen: Das Türmetall ist blasig, die Klinke verkrümmt, das Milchglas voller erstarrter Schleier, aber nicht geplatzt.
Ich betrete den Imbiss und stehe in Küchendunst und Neonlicht. Es riecht nach Fett, nach mehlbestäubten Fladen, Schweiß, Gewürzen und Schnaps und Spülwasser.
Drei dunkelbraune Männer sehen mich an.
„Ermittelnde Dame Ebhsada“, fixiere ich sie nacheinander. „Hat jemand hier beobachtet, was heute Nacht vorgefallen ist? Hat jemand den Verstorbenen etwas besser gekannt?“
Manchmal bilde ich mir ein, dass die Massen, zu denen unsere Welt zusammengeschmolzen ist, mich noch erkennen: Den Schemen einer Frau mit flachsblondem Pferdeschwanz und hoher Statur, den ich vage in einem Spiegel hinter einem der Angestellten ausmache.
Die Befragung ist schnell vorbei.
Der Tote hieß Jamal Kwarang. Er war ein Angehöriger der zweituntersten Ostländerkaste, und die Männer beschreiben ihn – natürlich – als unauffällig, fleißig, genügsam. Er hatte nichts mit stärkeren Drogen zu tun und war seit Kurzem Teilhaber des Imbisses.
Ein Motiv für einen Mord? Oder war er entgegen dieser Aussagen doch in Drogengeschäfte verwickelt, wenn vielleicht auch nur als Träger, hatte sich verschluckt an einem zu gewaltigen Brocken?
Ich nehme die Aussagen gewissenhaft auf, glaube aber eigentlich nicht eine Minute lang an eine Tötung in der Halbwelt.
Nein, hier geht etwas anderes vor.
Die Ahnung hat spätestens beim Betreten der Gasse eingesetzt. Sie ist es, die mich nach meinem Verlassen des Tatorts und der Rückkehr aufs Revier dazu bewegt, mich an meinen Tisch zu setzen, den Gestank der verkohlten Gasse noch in der Nase, und eine Nummer zu wählen.
Wirft die Verwandtschaft mit dem Vergangenen und dem Jenseits, den Zusammenhängen hinter den Fassaden von Asanctar, ihren Schatten voraus? Und gibt es hier überhaupt jemand Offiziellen, an den ich mich wenden könnte – die Herren der Räte, die Leiter meines Reviers, einen der vereidigten Bewacher unserer großen Gesellschaft?
Die Nummer, die ich wähle, spricht für sich. Es gibt niemand Offiziellen.
Darum muss ich mich an Stellen wenden, die im Verborgenen Macht repräsentieren. Egal, was dies auf persönlicher Ebene für mich bedeutet.
Ich habe diese Nummer lange nicht mehr gewählt. Ich weiß nicht, ob sie noch stimmt.
Doch die mehrfache Weiterleitung nach der Nennung meines Namens, das Knacken in der Leitung, sie lassen vermuten, dass sie sich nicht geändert hat – lange bevor sich die Stimme am anderen Ende meldet.
Eine weitere Stimme aus dem Gestern.
Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor zehn an einem Dienstagmorgen.
„Ja.“
Kein Name. Nirgends, würde ich in den Listen öffentlicher Nummern nachschlagen, wäre diese Nummer zu finden, und das andere Ende weiß das ebenso gut wie ich.
Angespannt klingt er nicht. Bloß wachsam.
„Jeremiah“, sage ich. Ich gestatte mir eine Sekunde des Zögerns. Theatralik. „Celeste hier.“
Schweigen. Er saugt vernehmlich den Atem ein.
„Hallo Celeste“, sagt er dann, und geschmeidig noch: „Es ist auf eine eigentümliche Weise gut, dich sprechen zu hören. Du befindest dich wohl.“
Eine Feststellung. Das Weitere überlässt er mir, denn ich bin ja der Störenfried, die Bittstellerin.
„Du dich offenbar auch“, gebe ich zurück und mustere meine rechte Hand, die mit einer Elektrofeder spielt. „Die Zeitungen berichten, dein ‚Haus’ habe viele neue Jünger gewonnen. Meine Glückwünsche dazu.“
Wie er es aufgreift, könnte ich jetzt nur an seiner Miene ablesen. Durch die Leitung kommt nichts bis auf ein etwas zu ausgedehntes Schweigen.
„Das ist nicht der Grund deines Anrufes“, sagt Jeremiah dann. „Worum geht es?“
Ich gebe ihm einen abrissartigen Bericht meiner bisherigen – dünnen – Ermittlungen und schließe mit den Worten: „Eine Feuerattacke Stufe vier. Mindestens. Du weißt, was das bedeuten kann.“
Keine Antwort.
Es ist zu lange her. Er benötigt Zeit, die nicht existiert.
„Du weißt, was das bedeuten kann, Jeremiah“, wiederhole ich unnachgiebig. „Oder hat das Heil - das du noch suchst, wie man hört - dich vergessen lassen?“
„Nein“, kommt es schließlich. Die Geschäftsmäßigkeit ist aus seiner Stimme geschwunden: Sie kann einen Anflug von mit Müdigkeit vermischter Resignation nicht verhehlen. „Nein, ich habe nicht vergessen.“
Wieder schweigen wir beide ein Weilchen.
„Ich allein bin mit der Untersuchung betraut“, fahre ich dann fort. „Ich werde die Ermittlungen zunächst eventuell in die Magierzone lenken, aber nur zum Schein. Und nein, die Leitung wird nicht abgehört, was meine Aussage ja beweisen dürfte.“
Jeremiah räuspert sich. Es ist nichts Persönliches. Ich weiß, dass der Kontakt mit der Polizei ihn nervös macht, selbst wenn er eigentlich nicht viel zu fürchten hat.
„Was willst du von mir?“, fragt er leise, abwehrend. Er wird mir nichts verweigern, er ist bereits, ohne dass wir ein wirkliches Wort über die Sache und über meine, seine, unsere Ahnungen gewechselt hätten, auf meiner Seite.
„Kannst du dir das nicht denken?“
Mir kommt es so vor, als könne ich durch die Leitung das teure Leder eines Sessels knirschen hören.
„Du willst den Deckel wieder von der Schachtel nehmen, Celeste?“ Seine Stimme klingt jetzt kühl, fast vorwurfsvoll. „Nur wegen eines Feuers in einem Hinterhof? Du weißt, dass ich keine Magier mehr jage.“
„Jeremiah“, beharre ich, anfangs noch bemüht, ihn nicht zu sehr zu drängen, „das Pflaster, die Wände, alles ist verschmort. Ein Magier wäre nicht weit gekommen nach so einer Attacke, ohne Sucher auf den Fersen zu haben, aber im Funk war nichts.“ Stille. „Du hast diesen Hof nicht gesehen. Soll ich dir Bilder zeigen? Willst du Bilder sehen?“
Jetzt hat meine Ungeduld doch die Oberhand gewonnen. Ich weiß, welchen Ärger ich mir mit diesem Anruf einhandle, möglicherweise – aber ich will mit dieser Sache nicht allein unter all den Kindern dieser Welt sein.
„In Ordnung“, kommt es langsam. „In Ordnung, Celeste. Sei’s drum.“ Er atmet erneut tief ein.
„Gib mir die Nummern der Anderen“, fordere ich. In meiner Magengegend flattert es.
Gesichter huschen vorbei. Sogar Gerüche. Ich sperre alles aus.
„Ich habe nur eine Nummer“, sagt Jeremiah. „Seine.“
„Dann gib mir die. Ist genauso gut wie die Nummern von allen.“
„Also denkst du, dass er noch Kontakt zu ihnen hat?“ In der Leitung knackt es sacht, doch es vergeht sofort – Jeremiah hat die unregelmäßige Überwachungszuschaltung eigenhändig weggeklickt. Vielleicht klingt er darum plötzlich näher, jünger. Lebendiger.
„Oh“, sage ich, „daran zweifle ich nicht.“
Er gibt mir die Nummer.
Mit meinen Kontakten hätte ich es schon vor Jahrzehnten zur Obersten meines Reviers oder sogar zur Beisitzerin des Hohen Rates für Sicherheitsfragen bringen können, und das trotz meines Geschlechts und meiner fehlenden Kastenzugehörigkeit. Andere würden diese Kontakte gegen pures Gold aufwiegen. Und, wenn sie sie gebrauchten, vermutlich nicht lange überleben.
„Also gut. Höre ich von dir?“, fragt Jeremiah jetzt.
Plötzlich ist Unsicherheit da.
Zwischen uns. Das muss man sich einmal vorstellen.
„Ja“, antworte ich. „Von mir. Oder von ihm.“
„Natürlich.“ Die Stimme versteift sich, wird glatt, wird vielleicht zur Stimme des neuen Daseins. „Sei geleitet, Celeste.“
„So wie du, Jeremiah.“ Ihr ursprünglicher Abschiedswortwechsel. Die Antwort schleicht sich auf meine Lippen, ehe ich es verhindern kann, und ohne Hohn.
Es knackt in der Leitung. Er hat aufgehängt.
Minutenlang sitze ich da und schaue ins Nichts.
Der zweite Anruf wartet. Mit ihm dringe ich noch sehr viel weiter vor als bis zu Jeremiah, oder besser gesagt: Sehr viel höher hinauf.
Nein, andere würden das Wählen dieser nächsten Nummer vermutlich nicht lange überleben. Die Pfade in den Himmel sind rar und riskant wie seit ehedem, auch wenn der Himmel nur noch sprichwörtlich zu nehmen ist und nichts mehr zu tun hat mit Reinheit und überirdischen Dingen.
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I. Rückkehr
Die Reise ist lang.
Jene, die die Ära der Großen Kriege überlebt haben, sie und ihre Nachkommen, haben gelernt, die Zeit zu messen, genau auf die Sekunde. Mit schwelenden Mantelsäumen sind sie in das empfängnisbereite Dunkel der Zukunft gereist, haben sich wieder fleißig vermehrt und Siedlungen gebaut, durch die sich Perlenschnüre von Lichtern ziehen, Lichter und Errungenschaften und neue Waffen und frische Ordnungen.
In der Armbeuge eines flachen Gebirges haben sie sich eine Stadt erschaffen, eine Metropolis, weitläufig genug, um all den Überhang der vergangenen Jahrhunderte in sich aufzunehmen.
Zu ihrer Mitte hin wie mit einer Messerspitze zerhackt und hochgezogen, kauert die Stadt im Kessel niedriger Hügel.
Sie hält Hof. Vor allem nachts.
Nachts hat sie ihre ganze Glorie, prostituiert sich mit abertausend Lampen in der Dunkelheit, dank derer man die Dunstglocke nicht sehen muss, die tagsüber jedes Wetter in widerspenstiges Grau verwandelt. Es gibt ein paar Auserwählte auf den Hügeln weit draußen, in ihren Häusern und auf ihren Veranden, die einen Blick auf den Aschemantel der Stadt haben und darauf, wie er bei schräg und stark einfallendem Sonnenlicht oder gar bei Sonnenuntergängen zu einer schwefligen, rotgefleckten Wolke wird.
Was sich dann in den Straßenschluchten bewegt, hat, o gesegnete Gesellschaft der Klassen, kaum Gelegenheit, nach oben zu schauen.
Die Stadt will leben. Der nächste Warenlieferant wartet, die Monitore über den stoisch saubergewischten Imbisstheken halten das Fenster zum Augenzwinkern der Handelsmärkte offen, und es gibt keinen Ort mehr, in den nicht das Geplärr der Sirenen und der Passantenströme findet, irgendwie, überall, Puls der Zeit.
Sie haben viel erreicht.
An der Basis der letzten verfügbaren Baugrundstücke pressen sie in Stahlgerüsten weitere schlanke, schimmernde Türme nach oben. Für alles Alte, das abzuwerfen ihnen nicht ganz gelungen ist, haben sie Namen gefunden oder die bereits bestehenden Namen notfalls geändert, damit die Stadt ihre Vergangenheit ebenso schnell verdaut wie die eingelegten Fladen im ‚Ost-Spezialitäten’ um die Ecke.
Abstriche muss jeder machen. Daran kommen die Nachfahren nicht vorbei. Doch da ist so unendlich viel, mit dem sie sich ablenken können und das immer noch ein Streben bedeutet, wenn vielleicht auch nur ein Streben von Zwergen, verglichen mit dem der Vorväter ihrer Zivilisation.
Es gibt Wetten, Besitz, Wertpapiere, Entspannungsdrogen, Religion, gekaufte Zuneigung, kosmetische Chirurgie, die Hühnerleitern einer Karriere.
Und abgesehen von der knappen Million Menschen, die ihren Platz ums Verrecken nicht finden kann, belastet durch ihre Herkunft, ihre überlieferten, brüchigen Glaubensgrundsätze, ihre Krankheiten oder ihre Süchte, haben sie die Massen ziemlich zufriedenstellend kanalisiert.
An der Spitze der Pyramide wird gedrängelt, aber an ihrer Basis ist viel Raum. Raum für die Untersten, die die gemeinsamen Errungenschaften stützen: Halbwegs geordneten Verkehr, die Verteilung der knappen Ressourcen, ein Nachtleben von ungeheurer Vielfalt und Exotik, und sogar Bildung, wenn Interesse besteht, und eine tapfere, oft hilflose Polizei.
Kleinere Ableger umgeben die Stadt wie Muschelbänke. Da sich der Morgen im streng genommenen Sinne hier längst selbst abgeschafft hat, fehlt eine einzige Tageszeit, in der alles ins Innere des Molochs drängt. Die Strömungen sind zeitlos. Die Stadt atmet Fleisch und Blut ein wie bei einer umgekehrten Geburt, und den Einsatzkräften in ihren Verkehrsüberwachungsgleitern kommt es oft so vor, als könne nie wieder jemand aus dem Häusermeer hinaus finden.
Unten in den Straßenschluchten sehen die Passanten diese Mücken der Räteordnung nur selten. Es ist fast immer ein Gigantengleiter da, der alles mit Lichtern und Werbung überschüttet.
Den Hochhäusern kommen die Gleiter dabei nicht sehr nah. Die neuen Türme stehen wie abgesondert von allem, sakral, unerreichbar, mit den Füßen im Getümmel und den Augen im Widerschein einer beinahe machtlos gewordenen Sonne.
Sie haben viel erreicht.
Seit fast einem Jahrtausend überdauern sie schon auf diese Weise. Die Felder der Marsch oder die Sümpfe vor den Tempeln bedeuten nur noch eine Erinnerung, einen Traum in einem Traum, der entsorgt wurde, weil der Mensch sich über Schwert und Pflug letztlich doch zum Herrscher dieser Welt aufgeschwungen hat.
Die Stadt ist ewig.
Sie sagen, es wird nicht mehr lange dauern, bis man ihnen das als neues Glaubensbekenntnis an die Wände der Firmenkomplexe und Ratsgebäude hängt.
Die Stadt.
Das Allerheiligste in Stein und Stahl, während das Umland sich immer weiter entvölkert und man schon jenseits der Hügel in verbotene Zonen gerät.
Von alldem weiß die Bestie bei ihrem Eintritt in das nagelneue Jahrhundert nichts.
Die Reise war lang. Sie spürt vielleicht noch im wieder aufgetauten Gebein, wie sich Mark und Knochen knirschend in die Blase der Gegenwart strecken. Angehäufte Dekaden platzen schmetternd von ihr ab, von ihm, dem Wiedergeborenen, zerstäuben zu nichts, wo die ehemaligen Opfer sich über Generationen hinweg schreiend im Kindbett gewälzt haben.
Es ist dunkel, feucht, hinlänglich warm.
Auf festem Boden, noch zu einem Klumpen geballt, zieht die Bestie die unbekannte Luft ein. Atem zischt in Rauch. Dank des Regenmonats finden kaum frischer Wind oder Kühle in das Geviert, auf das sie nun ihre Hufe stellt. Die Hitze aber hat sie mitgebracht. Hitze, den schwelenden Kern aus dem verschütteten Abgrund.
Sie lebt in ihr, und der Klumpen dehnt sich. Es ist eine langsame Entfaltung im Aneinanderschaben von Horn und knotiger, zentimeterdicker Haut.
Die Bestie bläst den ersten Atem aus. Ohne zu wissen, wo sie sich befindet, zu welchem Fleck der Abgrund sie wieder hinauf geschoben hat, ahnt sie ihren Vorteil. Sie hat Zeit.
Die glasigen Augen nach unten gerichtet, bewegt sie den Schädel.
Sie ist in einem Hinterhof, zwischen zwei aufragenden Wänden angrenzender Häuser, gute dreihundert Schritt von der Straße entfernt, auf der Passanten sich zu entscheiden versuchen, ob sie in das Nachtlokal rechts oder in den kurastischen Schnellimbiss links gehen sollen.
Die Menschen dieser Ära haben, bis auf sehr wenige, ihre alten Dämonen längst vergessen. Oder sie arbeiten daran.
Wer könnte verlangen, dass sich irgendwer zwischen der Jagd nach Geld und dem bunten Blütenteppich aufbereiteter Religionen noch an die Großen Übel erinnert, die zu substanzlosen Mahnmalen am Rand des Gewissens verkommen sind?
Von alldem weiß die Bestie kaum etwas. Sie weiß nur vom Flüstern naher Seelen – sie sind immer noch da, und wieder da und unvergänglich gebrandmarkt – und von ihrem ureigensten Hunger.
Als sich also unweit von ihrem Geburtsort etwas regt, eine Tür klappt, zucken die glasigen Augen nach hinten.
Die Bestie wendet sich nicht um, nicht einmal, als das Menschlein seine Stimme an sie richtet. Sie holt die neue, stinkende Luft ein und hält sie eine Weile im Blasebalg ihrer Brust, bevor sie das mitgereiste Feuer am Unbekannten erprobt.
Er ist sich nicht zu schade dafür, den Müll rauszubringen.
An diesem Dienstagabend macht der Imbiss guten Umsatz. Wieder mal.
Die Gegend kommt in Schwung, sagt der Inhaber. Zu den Sommermonaten hin achten die Anwohner und die Besucher der zentralen Stadtviertel weniger und weniger darauf, ob es ein Wochentag ist oder Wochenende, und viele schieben ordentlich Kohldampf, bevor sie sich in den Bars oder den Tanzlokalen hier in Sulaya verlieren. Gerollte Teigfladen und Ingwersuppe bleiben offenbar doch Verkaufsschlager, der Inhaber hat Recht, der alte Geschmack überwiegt.
Gut für alle Angestellten. Endlich wird der Lohn mal pünktlich gezahlt, und die, die sich vor ein paar Monaten zu einer Teilpartnerschaft entschlossen haben, freuen sich. Die Anteile könnten bald abbezahlt sein.
Jamal Kwarang ist einer von insgesamt drei Mitarbeitern des auf traditionelle östliche Kost spezialisierten Imbisses, die sich in die Teilhaberschaft eingekauft haben. Es ist ein fairer Handel. Der Inhaber ist ein notorisch schlecht gelaunter, untersetzter Kurasti, der sie alle gern scheucht, wann immer er sich in der kleinen, neonerleuchteten Garküche blicken lässt, aber er wird wohl Wort halten und sie direkt am Gewinn beteiligen, wenn sie ihre Anleihen abgearbeitet haben.
Der Imbiss liegt mitten in Sulaya. Eine tolle Gegend. Sie wird nie sterben wie die Außenbezirke von Asanctar, wo sie mit verarmten Siedlern und versoffenen Erdlern so ihre liebe Müh und Not haben.
Daher bringt Jamal, vierundzwanzig Jahre alt, Angehöriger der zweituntersten Kaste und Vater einer kleinen Tochter, die noch auf ihre Tempelaufnahme wartet, auch ohne Murren die Abfallkübel nach draußen.
Die Dinger sind scheißschwer. Den letzten Kübel stellt er aufatmend im Hinterhof ab, neben dem Behälter für Glas und andere Wertstoffe.
Dann zieht er sich den Kittel zurecht, fischt in der Hemdtasche nach der Schachtel Feuerimps und steckt sich eine Zigarette an.
Aus der Küche fällt bleiches Licht als kleines Quadrat aufs schwarze Pflaster. Leise, lachende Stimmen dringen nach hier draußen, Tellergeklapper. Die lieben Kollegen.
Jamal grinst, atmet den Rauch ein, blinzelt nach oben.
Regenpause. Schwarz, nass glänzend ragen die Türme auf, ungeheuer hoch, Wellenbrecher für das launische Wetter von Asanctar mit seinen tagelangen Regenfällen und dem unberechenbaren Licht. Jetzt, in der Nacht, gemahnen sie an die Pyramide des Daseins.
Wer dort oben sitzt, hat es, Himmel noch mal, geschafft. Kein Tempel in Asanctar, nicht einmal die aus der Alten Stadt im Osten her transportierten, ist so groß und mächtig wie diese Türme.
Mitten im Betrachten der unergründlichen Pfeiler seiner Welt erreicht Jamal Kwarang ein Geräusch.
Die Gasse, in die sich der Hinterhof verlängert, bevor sie auf die lichterfunkelnde Straße hinausgeht, sperrt niemand ab. Obdachlose und Schläger finden leicht schon mal ihren Weg hier herein, randalieren, pissen an die Müllkübel.
Aber das Geräusch, das Jamal hört, hat nichts von der unliebsamen Gegenwart der Aussätzigen Asanctars. Es hat eigentlich überhaupt nichts, was er jemals gehört hat.
Es klingt wie ein Luftaufbereiter in diesen großen, sauberen Gebäuden ein paar Straßen weiter: Scharf, zischend, heiß. Wie Kohle, die in einem Hochofen verdampft. Oder wie ein stählernes Ross, das sich bewegt und schnaubt.
Jamal hält das für eine sehr drollige Idee. Jedenfalls wendet er sich in Richtung des Geräuschs und sperrt die Ohren auf.
Vielleicht ist es nur jemand in Schwierigkeiten. Es wäre nicht der erste Drogensüchtige, den die Männer vom Imbiss hier hinten aufsammeln.
Jamal macht einen Schritt, zieht an der Zigarette und späht suchend ins Dunkel. Nach ein paar Sekunden entdeckt er etwas, das auf den ersten Blick wie ein Abfallkasten aussieht, bloß mit abgerundeten Ecken und merkwürdigen Auswüchsen.
Aber es ist kein Kasten. Es bewegt sich.
Jamal stoppt, plötzlich seltsam unsicher. Das Ding hört nicht auf, sich zu bewegen.
Gut, also lebt es. Also muss es ein Mensch sein. Die Dunkelheit und die Entfernung verfremden die Umrisse sicherlich, und Dornendrescher sind innerhalb des Stadtgebiets schon lange verboten.
„Hallo?“, entschließt sich Jamal zu einem Ruf. „Hallo, kann ich Euch helfen?“
Keine Antwort. Nur ein leises, unsauberes Fauchen.
Jamal fängt an, sich zu wundern. Allmählich verlässt ihn die Geduld, die er einem Hilfsbedürftigen entgegenbringen würde.
„Hallo?“, ruft er noch einmal und erwägt ernstlich, die Kollegen aus der Küche herbeizuholen. Zusammen werden sie vielleicht eher zu einer Einschätzung kommen.
Doch bevor er sich dazu durchringen kann, geschieht etwas ganz Unerwartetes, Unglaubliches.
Der Klotz scheint sich zusammenzuziehen, und dann erwacht der Hinterhof zum Leben.
Jamals Hosenbeine schmiegen sich merkwürdig warm und dicht an seine Knöchel. Das ist schon mal das Erste. Dann entdeckt er eine Art Nebel dicht über dem Boden, grauen Qualm, der von dem Ding in der Gasse wegkriecht und sich mit erstaunlicher Perfektion bis an die Hofwände ausbreitet.
Ein Licht erscheint. Eigentlich ist es mehr ein Glimmen und darüber hinaus von tiefstem Rot, sodass alles im Hinterhof flackernde Linien erhält, und es hat seinen Ursprung in dem Klotz. Mit dem Rot wird es umgehend still und relativ warm.
Es ist eine wunderschöne Farbe, schwelend, geheimnisvoll.
Jamal starrt fasziniert auf die Umrisse im kniehohen Nebel, die allmählich zu glühen anfangen. Irgendetwas wispert von Gefahr, doch der Anblick ist so fremdartig, dass jede Reaktion im Keim erstickt wird.
Schließlich flammt das Rot auf. Jamal spürt, wie er zusammenzuckt und der Bann der Faszination von ihm abfällt.
Gut, das reicht jetzt, er sollte wirklich die Jungs aus dem Laden herholen.
Doch bevor er sich rühren kann, verlässt den Klotz in der Gasse ein Ring – ein Ring aus Hitze, wie Jamal feststellt. Seine Haare flattern. Mit zitternden Knien steht er still, holt dann unbewusst tief Luft. Es riecht schwach nach verbrannter Haut, und er hat eine Art Schlag im ganzen Leib gefühlt.
Jamal blinzelt. Bevor er in Richtung der Müllkübel zurückweichen kann, erfolgt der zweite Schlag.
Diesmal, registriert sein staunendes Bewusstsein, blendet ihn etwas wie ein kurzer Blitz, der zum Zentrum einer Aureole wird. Die Hitze ist so plötzlich da, dass das Ohr ihr tiefes Summen noch bearbeitet, während man sie schon fühlt. Sie hält vor Jamal.
Er hat eine Hand erhoben, vielleicht in einer Geste der Abwehr oder sogar der Verständigung, er weiß es gar nicht so genau.
Er merkt nur, dass das Gefühl aus der erhobenen Hand schwindet, und dann bekommt sie feurige Flecken.
Während sie innerhalb weniger Sekunden vor seinen Augen schwarz wird, verkohlt, ihre Form einbüßt, während seine Finger bröckeln und ein kleiner Wind in einem allgemeinen großen Wind Asche von ihm wegträgt, begegnet Jamal dem Schmerz.
Der Schmerz ist zu stark für einen Schrei. Er lässt ihn dastehen und seine Hand und seinen Arm anstarren, und er denkt den irrwitzigen kleinen Gedanken, wie er so, mit nur einer Hand, eigentlich Teigfladen ausrollen soll und dass er wohl doch besser in die Küche zurückgegangen wäre. Dann denkt er noch an seine Tochter und an den Tempel, der umgerechnet drei Monatsgehälter für die Aufnahme eines Kindes aus der zweituntersten Kaste verlangt.
Sehr viel mehr spielt sich in den letzten Sekunden von Jamal Kwarangs Leben nicht ab.
Er hat keine Gelegenheit mehr zu einem Blick auf den Ursprung der mörderischen Hitze, die sich nun dazu entschließt, aufs Ganze zu gehen, gegen die Häuserwände anbrandet und die Müllkübel rattern lässt. Er wird einfach geschluckt.
Das erste Lebenslicht geht aus, geht unter in der kurzen Flammenhölle, die – ungesehen von den Passanten auf der Straße oder den Leuten hinter den Fenstern ringsum, die erst Augenblicke später aufmerksam werden – einmal durch den Hinterhof geistert: Ein Ring aus Feuer, der verglüht und verraucht, sich in Schatten zurückzieht, sehr heimlich, sehr schnell, und den Kern, das unförmige Ding in seinem Zentrum, nimmt er mit sich.
„Frau Celeste?“
Die Stimme schlägt an mein Ohr, doch sie dringt nicht bis in mein Bewusstsein.
Die Bankoberfläche drückt sich hart gegen meinen Hintern, schlecht zu ignorieren, selbst wenn ich auf die schwarzledernen Schnürstiefel starre und auf meine Beine und Knie, auf die ich die Ellbogen gestützt habe. Würde ich ernstlich altern, wäre die Erklärung einfach: Mein Hintern wird knochig.
Aber nein. Ich verschränke die Finger beider Hände ineinander, reibe langsam. Es liegt nicht am Alter.
„Frau Celeste?“ Unsicher. Eine ganz junge Stimme. „Bitte entschuldigt, aber der Oberste will Euch sprechen.“
Schließlich schaue ich doch hoch, vielleicht nur, weil mein voller Name – nicht die umgemodelte Kurzform, die die Kollegen verwenden – eine Brücke zu etwas Vergangenem schlägt.
Kaum jemand nennt mich noch so. Nach vielen Jahren habe ich es aufgegeben, die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, zur Bewahrung dieses alten Namens anzuhalten.
Die Auszubildende, die in schmucker Uniform vor mir steht und mich nervös beobachtet, ist höchstens zwanzig Jahre alt. Heiliges Varda, zwanzig. Ich mustere sie unverwandt.
Eine hübsche Larve von Gesicht hat sie da, mit den großen, feuchten, teerfarbenen Augen einer Ostländerin. Die Lidfalte ist operativ entfernt worden, fachmännischer als bei vielen Menschen ihrer Herkunft. Woher sie mit ihrem lächerlichen Gehalt das Geld für so einen Eingriff herbekommen hat, kann man nur raten. Hübsch, ich sagte es ja.
„Ich komme schon.“ Ich stehe auf.
Die dunklen Augen weiten sich leicht.
Fremde, vor allem Frauen, reagieren meistens so auf meine Körpergröße. Ich überrage die junge Auszubildende jetzt um einen Kopf, obwohl sie nicht klein ist.
Sie verschluckt weitere Anweisungen, tritt beiseite, als ich die Kleiderstube verlasse. Ich weiß ohnehin, dass der Oberste mich und meinen Hintern direkt in seinem Büro sehen will.
Noch herrscht auf unserem Revier wenig Betrieb.
Meine Schicht beginnt um acht Uhr in der Früh, lange bevor die Halbwelt munter wird, und so entdecke ich auf meinem Weg durch die großen Räume jetzt auch bloß ein paar Fehlgänger, die befragt werden, und die üblichen Nutten aus der Nachbarschaft, die den Mitarbeitern Beschimpfungen an den Kopf werfen.
Der Oberste bietet mir nicht mal einen Stuhl an. Offenbar hat er es eilig.
Stattdessen wirft er mir ein paar Fotos hin.
„Eine Tötung“, sagt er, schief und schwer in seinen Sessel gelehnt, den Zeigefinger der Rechten gekrümmt vor den Lippen, und nickt zu den Schwarzweiß-Aufnahmen hin. „Ein Opfer. Ja, wirklich nur eins, schaut nicht so, Sal. Aber von dem armen Hund ist nur noch ein Haufen Asche übrig. Der liegt jetzt in einem Hinterhof in Sulaya, und macht Euch auf was gefasst.“
Ich gebe ihm den fragenden Blick, den er erwartet.
„Der gesamte Hinterhof ist verbrannt“, fixiert er mich bedeutungsvoll. „Eine Riesenschweinerei.“
Schweigende Sekunden, in denen wir uns ansehen – weniger Vorgesetzter und Untergebene jetzt als zwei Leute, die schon ziemlich lang zusammenarbeiten und wissen, wie der Andere denkt.
„Ein Magier vielleicht?“, schlage ich vor.
Der Oberste zuckt mit den Schultern. „Seht Euch die Fotos an, Sal. Welche Stufe wäre das? Vier, eher fünf, für Verheerungen solchen Ausmaßes, nicht?“ Er beäugt mich mit einer Mischung aus der scharfen Intelligenz, die ihm zu seinem Posten verholfen hat, komischer Treuherzigkeit und Ungeduld. „Aber das muss ich Euch ja nicht sagen. Findet also raus, was da vorgefallen sein kann, Zeugen, geht ein bisschen in die Nachbarschaft, wenn nötig – halt das Übliche. Kriegt spitz, ob wir hier wirklich nur einen Amok laufenden Elementarier haben oder, na was weiß ich, Drogengeschäfte, Klassenkleinkrieg oder so einen Mist. Vielleicht war der tote Kerl in was verwickelt.“
„Gut.“
Er gibt mir eine Karte mit der Werbung einer Imbissstube. „Da hat das Opfer gearbeitet.“
Ich drehe die Karte um. Die Straße liegt eher am Rand von Sulaya, quasi in der Nachbarschaft, wo unser Bezirk an die engeren Gassen und an die Spazierstraßen des traditionellen Vergnügungsviertels grenzt.
„Ich nehme einen Wagen“, sage ich. „Soll mich noch jemand begleiten?“
Doch der Oberste hält das nicht für notwendig.
So steige ich, nachdem ich mich mit Kamera und Spurenschatulle ausgerüstet habe, allein in den Polizeigleiter.
Es ist mir ganz recht so. Nicht nur wegen meines heutigen Zustands, sondern auch, weil im Kunstleder des Gleiters, der sich mit einem Summen um mich schließt, endlich die sachte Anspannung auf den Plan tritt.
Der letzte Fall mit Beteiligung eines wirklich mächtigen Magiebegabten liegt ich weiß nicht mehr wie weit zurück, damals, damals, das hat etwas auf merkwürdige Weise Belebendes.
In die Getränke der Bars finden immer noch die ganz alten Zutaten. Immer noch bohren die Tempel ihre störrischen Giebel in den von Lichtkegeln zerhackten Himmel. Und immer noch wandeln, so gut wie unerkannt, Kinder einer fast verdrängten Ära unter uns, die über die Kräfte der feuchten Luft und der feurigen Erdkrusten gebieten.
Eine mögliche Verwicklung ihrer Art in diese Sache reicht aus für eine Anspannung, die mich aus dem tranceartigen Zustand schält, der mich eben in der Kleiderstube noch völlig beherrscht hat. Der mein Dasein bestimmt, sobald ich lockerlasse. Der das einzig Ewige geworden ist.
Der Morgen ist grau. Schwül.
Aus den Schachtdeckeln längs der Straße, in die ich den Gleiter dirigiere – anfangs nur auf Kopfhöhe – dringt Dampf und sättigt die ohnehin schon klebrige, warme Luft. Passanten drücken sich an den Hauswänden, den großenteils noch geschlossenen Läden, entlang.
Diese Stadt kommt niemals ohne Kater in den neuen Tag.
Morgens ist sie mürrisch, eine Diva, reagiert verzögert, hüllt sich in das Schweigen einer Person, die Nachdenklichkeit und den plötzlichen Hang zu leiseren Tönen und blasseren Farben vortäuschen will. Stunden später verzeiht sie sich selbst, und das morgendliche Kopfweh, die Übersättigung, der Ekel, der an sich selbst entsteht, sind vergeben und vergessen.
Ich reise durch ihre Übellaunigkeit, und ich tue es ohne Bedauern.
Ich habe die Morgenstunden immer geliebt. Schon als ich erst ein ganz kleines Mädchen war und ein Straßenlabyrinth wie dieses noch den Phantasmagorien der Träume entstammte.
Nun gleite ich ostwärts mitten hindurch und wechsle irgendwann auf die zweite Flughöhe.
Die Straße, die auf der Karte steht, ist gesäumt von altmodisch gehaltenen Imbissen, billigen Bars und stickigen kleinen Kräuterlädchen mit Unmengen von Tiegeln und Körben in und vor ihren Schaufenstern. Die schlichte, etwas heruntergekommene Umgebung täuscht: Hier wird viel Geld gemacht, und die Geheimtipps unter den Nachtlokalen liegen gleich um die nächste Ecke.
Der Eingang zu der Gasse, in der das Opfer gefunden wurde, gleicht einem Spalt zwischen den Wänden der sechs- oder siebenstöckigen Häuser.
Ich lasse den Polizeigleiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite parken. Ein weiterer steht demonstrativ vor dem Gasseneingang. Zusätzlich haben sie ein bisschen rotes Band aufgespannt. Aber ich kann nur ein paar Leute ausmachen, die herumstehen, manche in Nachtkitteln. Nachbarn.
Der Imbiss – “Zum Großen Basar“ – ist erleuchtet, vermutlich vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet, und besucht.
Vor dem Schicksal des getöteten Mitarbeiters eine schulterzuckende Herzlosigkeit?
Damit darf man nicht voreilig sein. Fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung von Asanctar haben keine Zeit zum Innehalten, nicht mal für Mitleid, und wie fix dem Besitzer des “Zum Großen Basar“ seine Nudelbude unterm Hintern weggerissen wird, wenn er Miete und Schutzgelder nicht rechtzeitig zahlt, kann man sich eingedenk der Attraktivität des Stadtteils leicht ausmalen.
Ich gehe an den Schaulustigen vorbei, bücke mich unter dem Band in die Gasse. Sie fragen sich, was ich jetzt machen werde, ob ich jemand Besonderes bin.
Ich bin es nicht: Keine der Zakarumitenmissgeburten, die Privatleute manchmal zu den Schauplätzen von Verbrechen bringen lassen, um die ‚Aura des Bösen’ zu untersuchen; kein hohes Tier aus dem Rat für Sicherheitsfragen; kein Sonderermittler mit übersinnlichen Fähigkeiten, von denen einige noch in einer Gilde arbeiten.
Ich bin nur eine Polizistin, von der ihr Vorgesetzter weiß, dass sie die Stadt einigermaßen kennt.
Ein Mitarbeiter, der am Rand der Gasse mit seinen mindestens zweihundertvierzig Pfund und einer ungerührten Miene Wache hält, nickt mir zu. Ich wünschte, er würde mich nicht so anstarren.
Sein Gesicht erinnert mich an die harten Gesichter vor den Türmen, draußen vor den Palisaden, an die steinernen, nickenden, verständnisinnigen Masken. Ich wünschte, ihre Kette über die Zeiten hinweg würde abreißen.
Konzentrier dich.
Bis hierher war alles Routine. Ich weiß sogar, warum der Oberste mir den Tod eines kleinen Imbissangestellten zuschiebt, an dem nur dieser eine Haken der merkwürdigen Umstände ist. Weil er hofft, mein Interesse wieder zu erwecken.
Es gelingt ihm. Mit dieser Gasse.
Ich bin mir der leidlichen Stille hier – aus der Küche der Imbissstube und den Fenstern über mir dringen Geräusche, doch sie verschwimmen in Nebensächlichkeit – deutlich bewusst, als ich bis zur Mitte der Gasse gehe. Die Kamera habe ich samt ihrem Koffer in der Sekunde des Abstellens vergessen.
Der Tote liegt noch, wie das Ableben ihn ereilt hat.
Schwer zu glauben, dass das einmal ein Mensch gewesen sein soll, dieser flache Haufen pechschwarzer Brösel und Stümpfe auf dem Boden. Übelkeit huscht flüchtig durch meinen Magen, Reaktion auf die Verbindungslücke zwischen einer atmenden Kreatur und einem glitzernden Aschefleck, den sie mit Meißel und Hammer vom Asphalt werden abklopfen müssen.
Kabhvane ransi dihina, dihina ma, prapya pakhrate.
Ich schaue weg.
Woher kommen diese Worte? Woher plötzlich - nach Jahren, in deren Verlauf ich nicht mehr an sie gedacht habe, nicht einmal an die Stimme, die sie sprach?
Allein im Zentrum des Hinterhofs, drehe ich mich um meine eigene Achse, verweise die Worte aus meinem Innern, versuche, nur Auge zu sein und Kalkül und Vernunft. Vernünftig ist allerdings nicht, was mit diesem Hinterhof passiert ist.
Der Boden unter meinen Stiefeln gleicht schwarzem Glas – von immenser Hitze geglättete Materie. Vier Müllkübel stehen an der Wand neben der Hintertür des Imbisses, auf einen flüchtigen Blick hin unverändert, aber sie sind gegen den Stein gedrückt worden und teilweise damit verschmolzen. Glückwunsch, Leute, die klaut niemand mehr. Dann wandert mein Blick weiter umher und hinauf.
Überreste von Plakaten, fein säuberlich bis zur Mitte hin verkohlt. Seltsam. Das Geländer der kleinen Treppe hin zur Hintertür des Imbisses steht noch, hat sich aber gebogen. Sämtliche Oberflächen wirken glatt gewetzt.
Irgendetwas hat hier getobt, nur für Sekunden, doch es war gewaltig genug, um in einem Radius von etwa dreißig Metern alles zu verschmoren.
Scheisse.
Ein Elementarier? Ich muss das in Betracht ziehen.
Aber würde es sich um den Schauplatz eines Kampfes handeln, fehlt da etwas, eine weitere Leiche, ein anderes Opfer als dieser bedauernswerte Bastard. Oder haben sie Überreste weggeschafft?
Mechanisch hole ich die Kamera, mache ein paar Aufnahmen. Mein Atem geht flach, nicht nur wegen des schwachen, widerlichen Gestanks von verbranntem Abfall.
Sogar die Hintertür am Ende der kümmerlichen Treppe hat ihren Teil abbekommen: Das Türmetall ist blasig, die Klinke verkrümmt, das Milchglas voller erstarrter Schleier, aber nicht geplatzt.
Ich betrete den Imbiss und stehe in Küchendunst und Neonlicht. Es riecht nach Fett, nach mehlbestäubten Fladen, Schweiß, Gewürzen und Schnaps und Spülwasser.
Drei dunkelbraune Männer sehen mich an.
„Ermittelnde Dame Ebhsada“, fixiere ich sie nacheinander. „Hat jemand hier beobachtet, was heute Nacht vorgefallen ist? Hat jemand den Verstorbenen etwas besser gekannt?“
Manchmal bilde ich mir ein, dass die Massen, zu denen unsere Welt zusammengeschmolzen ist, mich noch erkennen: Den Schemen einer Frau mit flachsblondem Pferdeschwanz und hoher Statur, den ich vage in einem Spiegel hinter einem der Angestellten ausmache.
Die Befragung ist schnell vorbei.
Der Tote hieß Jamal Kwarang. Er war ein Angehöriger der zweituntersten Ostländerkaste, und die Männer beschreiben ihn – natürlich – als unauffällig, fleißig, genügsam. Er hatte nichts mit stärkeren Drogen zu tun und war seit Kurzem Teilhaber des Imbisses.
Ein Motiv für einen Mord? Oder war er entgegen dieser Aussagen doch in Drogengeschäfte verwickelt, wenn vielleicht auch nur als Träger, hatte sich verschluckt an einem zu gewaltigen Brocken?
Ich nehme die Aussagen gewissenhaft auf, glaube aber eigentlich nicht eine Minute lang an eine Tötung in der Halbwelt.
Nein, hier geht etwas anderes vor.
Die Ahnung hat spätestens beim Betreten der Gasse eingesetzt. Sie ist es, die mich nach meinem Verlassen des Tatorts und der Rückkehr aufs Revier dazu bewegt, mich an meinen Tisch zu setzen, den Gestank der verkohlten Gasse noch in der Nase, und eine Nummer zu wählen.
Wirft die Verwandtschaft mit dem Vergangenen und dem Jenseits, den Zusammenhängen hinter den Fassaden von Asanctar, ihren Schatten voraus? Und gibt es hier überhaupt jemand Offiziellen, an den ich mich wenden könnte – die Herren der Räte, die Leiter meines Reviers, einen der vereidigten Bewacher unserer großen Gesellschaft?
Die Nummer, die ich wähle, spricht für sich. Es gibt niemand Offiziellen.
Darum muss ich mich an Stellen wenden, die im Verborgenen Macht repräsentieren. Egal, was dies auf persönlicher Ebene für mich bedeutet.
Ich habe diese Nummer lange nicht mehr gewählt. Ich weiß nicht, ob sie noch stimmt.
Doch die mehrfache Weiterleitung nach der Nennung meines Namens, das Knacken in der Leitung, sie lassen vermuten, dass sie sich nicht geändert hat – lange bevor sich die Stimme am anderen Ende meldet.
Eine weitere Stimme aus dem Gestern.
Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor zehn an einem Dienstagmorgen.
„Ja.“
Kein Name. Nirgends, würde ich in den Listen öffentlicher Nummern nachschlagen, wäre diese Nummer zu finden, und das andere Ende weiß das ebenso gut wie ich.
Angespannt klingt er nicht. Bloß wachsam.
„Jeremiah“, sage ich. Ich gestatte mir eine Sekunde des Zögerns. Theatralik. „Celeste hier.“
Schweigen. Er saugt vernehmlich den Atem ein.
„Hallo Celeste“, sagt er dann, und geschmeidig noch: „Es ist auf eine eigentümliche Weise gut, dich sprechen zu hören. Du befindest dich wohl.“
Eine Feststellung. Das Weitere überlässt er mir, denn ich bin ja der Störenfried, die Bittstellerin.
„Du dich offenbar auch“, gebe ich zurück und mustere meine rechte Hand, die mit einer Elektrofeder spielt. „Die Zeitungen berichten, dein ‚Haus’ habe viele neue Jünger gewonnen. Meine Glückwünsche dazu.“
Wie er es aufgreift, könnte ich jetzt nur an seiner Miene ablesen. Durch die Leitung kommt nichts bis auf ein etwas zu ausgedehntes Schweigen.
„Das ist nicht der Grund deines Anrufes“, sagt Jeremiah dann. „Worum geht es?“
Ich gebe ihm einen abrissartigen Bericht meiner bisherigen – dünnen – Ermittlungen und schließe mit den Worten: „Eine Feuerattacke Stufe vier. Mindestens. Du weißt, was das bedeuten kann.“
Keine Antwort.
Es ist zu lange her. Er benötigt Zeit, die nicht existiert.
„Du weißt, was das bedeuten kann, Jeremiah“, wiederhole ich unnachgiebig. „Oder hat das Heil - das du noch suchst, wie man hört - dich vergessen lassen?“
„Nein“, kommt es schließlich. Die Geschäftsmäßigkeit ist aus seiner Stimme geschwunden: Sie kann einen Anflug von mit Müdigkeit vermischter Resignation nicht verhehlen. „Nein, ich habe nicht vergessen.“
Wieder schweigen wir beide ein Weilchen.
„Ich allein bin mit der Untersuchung betraut“, fahre ich dann fort. „Ich werde die Ermittlungen zunächst eventuell in die Magierzone lenken, aber nur zum Schein. Und nein, die Leitung wird nicht abgehört, was meine Aussage ja beweisen dürfte.“
Jeremiah räuspert sich. Es ist nichts Persönliches. Ich weiß, dass der Kontakt mit der Polizei ihn nervös macht, selbst wenn er eigentlich nicht viel zu fürchten hat.
„Was willst du von mir?“, fragt er leise, abwehrend. Er wird mir nichts verweigern, er ist bereits, ohne dass wir ein wirkliches Wort über die Sache und über meine, seine, unsere Ahnungen gewechselt hätten, auf meiner Seite.
„Kannst du dir das nicht denken?“
Mir kommt es so vor, als könne ich durch die Leitung das teure Leder eines Sessels knirschen hören.
„Du willst den Deckel wieder von der Schachtel nehmen, Celeste?“ Seine Stimme klingt jetzt kühl, fast vorwurfsvoll. „Nur wegen eines Feuers in einem Hinterhof? Du weißt, dass ich keine Magier mehr jage.“
„Jeremiah“, beharre ich, anfangs noch bemüht, ihn nicht zu sehr zu drängen, „das Pflaster, die Wände, alles ist verschmort. Ein Magier wäre nicht weit gekommen nach so einer Attacke, ohne Sucher auf den Fersen zu haben, aber im Funk war nichts.“ Stille. „Du hast diesen Hof nicht gesehen. Soll ich dir Bilder zeigen? Willst du Bilder sehen?“
Jetzt hat meine Ungeduld doch die Oberhand gewonnen. Ich weiß, welchen Ärger ich mir mit diesem Anruf einhandle, möglicherweise – aber ich will mit dieser Sache nicht allein unter all den Kindern dieser Welt sein.
„In Ordnung“, kommt es langsam. „In Ordnung, Celeste. Sei’s drum.“ Er atmet erneut tief ein.
„Gib mir die Nummern der Anderen“, fordere ich. In meiner Magengegend flattert es.
Gesichter huschen vorbei. Sogar Gerüche. Ich sperre alles aus.
„Ich habe nur eine Nummer“, sagt Jeremiah. „Seine.“
„Dann gib mir die. Ist genauso gut wie die Nummern von allen.“
„Also denkst du, dass er noch Kontakt zu ihnen hat?“ In der Leitung knackt es sacht, doch es vergeht sofort – Jeremiah hat die unregelmäßige Überwachungszuschaltung eigenhändig weggeklickt. Vielleicht klingt er darum plötzlich näher, jünger. Lebendiger.
„Oh“, sage ich, „daran zweifle ich nicht.“
Er gibt mir die Nummer.
Mit meinen Kontakten hätte ich es schon vor Jahrzehnten zur Obersten meines Reviers oder sogar zur Beisitzerin des Hohen Rates für Sicherheitsfragen bringen können, und das trotz meines Geschlechts und meiner fehlenden Kastenzugehörigkeit. Andere würden diese Kontakte gegen pures Gold aufwiegen. Und, wenn sie sie gebrauchten, vermutlich nicht lange überleben.
„Also gut. Höre ich von dir?“, fragt Jeremiah jetzt.
Plötzlich ist Unsicherheit da.
Zwischen uns. Das muss man sich einmal vorstellen.
„Ja“, antworte ich. „Von mir. Oder von ihm.“
„Natürlich.“ Die Stimme versteift sich, wird glatt, wird vielleicht zur Stimme des neuen Daseins. „Sei geleitet, Celeste.“
„So wie du, Jeremiah.“ Ihr ursprünglicher Abschiedswortwechsel. Die Antwort schleicht sich auf meine Lippen, ehe ich es verhindern kann, und ohne Hohn.
Es knackt in der Leitung. Er hat aufgehängt.
Minutenlang sitze ich da und schaue ins Nichts.
Der zweite Anruf wartet. Mit ihm dringe ich noch sehr viel weiter vor als bis zu Jeremiah, oder besser gesagt: Sehr viel höher hinauf.
Nein, andere würden das Wählen dieser nächsten Nummer vermutlich nicht lange überleben. Die Pfade in den Himmel sind rar und riskant wie seit ehedem, auch wenn der Himmel nur noch sprichwörtlich zu nehmen ist und nichts mehr zu tun hat mit Reinheit und überirdischen Dingen.