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[Story]Tausend Jahre

Reeba

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30 November 2003
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Vielen lieben Dank an meinen unermüdlichen Betaleser Dingior \o/



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I. Rückkehr





Die Reise ist lang.
Jene, die die Ära der Großen Kriege überlebt haben, sie und ihre Nachkommen, haben gelernt, die Zeit zu messen, genau auf die Sekunde. Mit schwelenden Mantelsäumen sind sie in das empfängnisbereite Dunkel der Zukunft gereist, haben sich wieder fleißig vermehrt und Siedlungen gebaut, durch die sich Perlenschnüre von Lichtern ziehen, Lichter und Errungenschaften und neue Waffen und frische Ordnungen.
In der Armbeuge eines flachen Gebirges haben sie sich eine Stadt erschaffen, eine Metropolis, weitläufig genug, um all den Überhang der vergangenen Jahrhunderte in sich aufzunehmen.
Zu ihrer Mitte hin wie mit einer Messerspitze zerhackt und hochgezogen, kauert die Stadt im Kessel niedriger Hügel.
Sie hält Hof. Vor allem nachts.
Nachts hat sie ihre ganze Glorie, prostituiert sich mit abertausend Lampen in der Dunkelheit, dank derer man die Dunstglocke nicht sehen muss, die tagsüber jedes Wetter in widerspenstiges Grau verwandelt. Es gibt ein paar Auserwählte auf den Hügeln weit draußen, in ihren Häusern und auf ihren Veranden, die einen Blick auf den Aschemantel der Stadt haben und darauf, wie er bei schräg und stark einfallendem Sonnenlicht oder gar bei Sonnenuntergängen zu einer schwefligen, rotgefleckten Wolke wird.
Was sich dann in den Straßenschluchten bewegt, hat, o gesegnete Gesellschaft der Klassen, kaum Gelegenheit, nach oben zu schauen.
Die Stadt will leben. Der nächste Warenlieferant wartet, die Monitore über den stoisch saubergewischten Imbisstheken halten das Fenster zum Augenzwinkern der Handelsmärkte offen, und es gibt keinen Ort mehr, in den nicht das Geplärr der Sirenen und der Passantenströme findet, irgendwie, überall, Puls der Zeit.
Sie haben viel erreicht.
An der Basis der letzten verfügbaren Baugrundstücke pressen sie in Stahlgerüsten weitere schlanke, schimmernde Türme nach oben. Für alles Alte, das abzuwerfen ihnen nicht ganz gelungen ist, haben sie Namen gefunden oder die bereits bestehenden Namen notfalls geändert, damit die Stadt ihre Vergangenheit ebenso schnell verdaut wie die eingelegten Fladen im ‚Ost-Spezialitäten’ um die Ecke.
Abstriche muss jeder machen. Daran kommen die Nachfahren nicht vorbei. Doch da ist so unendlich viel, mit dem sie sich ablenken können und das immer noch ein Streben bedeutet, wenn vielleicht auch nur ein Streben von Zwergen, verglichen mit dem der Vorväter ihrer Zivilisation.
Es gibt Wetten, Besitz, Wertpapiere, Entspannungsdrogen, Religion, gekaufte Zuneigung, kosmetische Chirurgie, die Hühnerleitern einer Karriere.
Und abgesehen von der knappen Million Menschen, die ihren Platz ums Verrecken nicht finden kann, belastet durch ihre Herkunft, ihre überlieferten, brüchigen Glaubensgrundsätze, ihre Krankheiten oder ihre Süchte, haben sie die Massen ziemlich zufriedenstellend kanalisiert.
An der Spitze der Pyramide wird gedrängelt, aber an ihrer Basis ist viel Raum. Raum für die Untersten, die die gemeinsamen Errungenschaften stützen: Halbwegs geordneten Verkehr, die Verteilung der knappen Ressourcen, ein Nachtleben von ungeheurer Vielfalt und Exotik, und sogar Bildung, wenn Interesse besteht, und eine tapfere, oft hilflose Polizei.
Kleinere Ableger umgeben die Stadt wie Muschelbänke. Da sich der Morgen im streng genommenen Sinne hier längst selbst abgeschafft hat, fehlt eine einzige Tageszeit, in der alles ins Innere des Molochs drängt. Die Strömungen sind zeitlos. Die Stadt atmet Fleisch und Blut ein wie bei einer umgekehrten Geburt, und den Einsatzkräften in ihren Verkehrsüberwachungsgleitern kommt es oft so vor, als könne nie wieder jemand aus dem Häusermeer hinaus finden.
Unten in den Straßenschluchten sehen die Passanten diese Mücken der Räteordnung nur selten. Es ist fast immer ein Gigantengleiter da, der alles mit Lichtern und Werbung überschüttet.
Den Hochhäusern kommen die Gleiter dabei nicht sehr nah. Die neuen Türme stehen wie abgesondert von allem, sakral, unerreichbar, mit den Füßen im Getümmel und den Augen im Widerschein einer beinahe machtlos gewordenen Sonne.
Sie haben viel erreicht.
Seit fast einem Jahrtausend überdauern sie schon auf diese Weise. Die Felder der Marsch oder die Sümpfe vor den Tempeln bedeuten nur noch eine Erinnerung, einen Traum in einem Traum, der entsorgt wurde, weil der Mensch sich über Schwert und Pflug letztlich doch zum Herrscher dieser Welt aufgeschwungen hat.
Die Stadt ist ewig.
Sie sagen, es wird nicht mehr lange dauern, bis man ihnen das als neues Glaubensbekenntnis an die Wände der Firmenkomplexe und Ratsgebäude hängt.
Die Stadt.
Das Allerheiligste in Stein und Stahl, während das Umland sich immer weiter entvölkert und man schon jenseits der Hügel in verbotene Zonen gerät.
Von alldem weiß die Bestie bei ihrem Eintritt in das nagelneue Jahrhundert nichts.
Die Reise war lang. Sie spürt vielleicht noch im wieder aufgetauten Gebein, wie sich Mark und Knochen knirschend in die Blase der Gegenwart strecken. Angehäufte Dekaden platzen schmetternd von ihr ab, von ihm, dem Wiedergeborenen, zerstäuben zu nichts, wo die ehemaligen Opfer sich über Generationen hinweg schreiend im Kindbett gewälzt haben.
Es ist dunkel, feucht, hinlänglich warm.
Auf festem Boden, noch zu einem Klumpen geballt, zieht die Bestie die unbekannte Luft ein. Atem zischt in Rauch. Dank des Regenmonats finden kaum frischer Wind oder Kühle in das Geviert, auf das sie nun ihre Hufe stellt. Die Hitze aber hat sie mitgebracht. Hitze, den schwelenden Kern aus dem verschütteten Abgrund.
Sie lebt in ihr, und der Klumpen dehnt sich. Es ist eine langsame Entfaltung im Aneinanderschaben von Horn und knotiger, zentimeterdicker Haut.
Die Bestie bläst den ersten Atem aus. Ohne zu wissen, wo sie sich befindet, zu welchem Fleck der Abgrund sie wieder hinauf geschoben hat, ahnt sie ihren Vorteil. Sie hat Zeit.
Die glasigen Augen nach unten gerichtet, bewegt sie den Schädel.
Sie ist in einem Hinterhof, zwischen zwei aufragenden Wänden angrenzender Häuser, gute dreihundert Schritt von der Straße entfernt, auf der Passanten sich zu entscheiden versuchen, ob sie in das Nachtlokal rechts oder in den kurastischen Schnellimbiss links gehen sollen.
Die Menschen dieser Ära haben, bis auf sehr wenige, ihre alten Dämonen längst vergessen. Oder sie arbeiten daran.
Wer könnte verlangen, dass sich irgendwer zwischen der Jagd nach Geld und dem bunten Blütenteppich aufbereiteter Religionen noch an die Großen Übel erinnert, die zu substanzlosen Mahnmalen am Rand des Gewissens verkommen sind?
Von alldem weiß die Bestie kaum etwas. Sie weiß nur vom Flüstern naher Seelen – sie sind immer noch da, und wieder da und unvergänglich gebrandmarkt – und von ihrem ureigensten Hunger.
Als sich also unweit von ihrem Geburtsort etwas regt, eine Tür klappt, zucken die glasigen Augen nach hinten.
Die Bestie wendet sich nicht um, nicht einmal, als das Menschlein seine Stimme an sie richtet. Sie holt die neue, stinkende Luft ein und hält sie eine Weile im Blasebalg ihrer Brust, bevor sie das mitgereiste Feuer am Unbekannten erprobt.





Er ist sich nicht zu schade dafür, den Müll rauszubringen.
An diesem Dienstagabend macht der Imbiss guten Umsatz. Wieder mal.
Die Gegend kommt in Schwung, sagt der Inhaber. Zu den Sommermonaten hin achten die Anwohner und die Besucher der zentralen Stadtviertel weniger und weniger darauf, ob es ein Wochentag ist oder Wochenende, und viele schieben ordentlich Kohldampf, bevor sie sich in den Bars oder den Tanzlokalen hier in Sulaya verlieren. Gerollte Teigfladen und Ingwersuppe bleiben offenbar doch Verkaufsschlager, der Inhaber hat Recht, der alte Geschmack überwiegt.
Gut für alle Angestellten. Endlich wird der Lohn mal pünktlich gezahlt, und die, die sich vor ein paar Monaten zu einer Teilpartnerschaft entschlossen haben, freuen sich. Die Anteile könnten bald abbezahlt sein.
Jamal Kwarang ist einer von insgesamt drei Mitarbeitern des auf traditionelle östliche Kost spezialisierten Imbisses, die sich in die Teilhaberschaft eingekauft haben. Es ist ein fairer Handel. Der Inhaber ist ein notorisch schlecht gelaunter, untersetzter Kurasti, der sie alle gern scheucht, wann immer er sich in der kleinen, neonerleuchteten Garküche blicken lässt, aber er wird wohl Wort halten und sie direkt am Gewinn beteiligen, wenn sie ihre Anleihen abgearbeitet haben.
Der Imbiss liegt mitten in Sulaya. Eine tolle Gegend. Sie wird nie sterben wie die Außenbezirke von Asanctar, wo sie mit verarmten Siedlern und versoffenen Erdlern so ihre liebe Müh und Not haben.
Daher bringt Jamal, vierundzwanzig Jahre alt, Angehöriger der zweituntersten Kaste und Vater einer kleinen Tochter, die noch auf ihre Tempelaufnahme wartet, auch ohne Murren die Abfallkübel nach draußen.
Die Dinger sind scheißschwer. Den letzten Kübel stellt er aufatmend im Hinterhof ab, neben dem Behälter für Glas und andere Wertstoffe.
Dann zieht er sich den Kittel zurecht, fischt in der Hemdtasche nach der Schachtel Feuerimps und steckt sich eine Zigarette an.
Aus der Küche fällt bleiches Licht als kleines Quadrat aufs schwarze Pflaster. Leise, lachende Stimmen dringen nach hier draußen, Tellergeklapper. Die lieben Kollegen.
Jamal grinst, atmet den Rauch ein, blinzelt nach oben.
Regenpause. Schwarz, nass glänzend ragen die Türme auf, ungeheuer hoch, Wellenbrecher für das launische Wetter von Asanctar mit seinen tagelangen Regenfällen und dem unberechenbaren Licht. Jetzt, in der Nacht, gemahnen sie an die Pyramide des Daseins.
Wer dort oben sitzt, hat es, Himmel noch mal, geschafft. Kein Tempel in Asanctar, nicht einmal die aus der Alten Stadt im Osten her transportierten, ist so groß und mächtig wie diese Türme.
Mitten im Betrachten der unergründlichen Pfeiler seiner Welt erreicht Jamal Kwarang ein Geräusch.
Die Gasse, in die sich der Hinterhof verlängert, bevor sie auf die lichterfunkelnde Straße hinausgeht, sperrt niemand ab. Obdachlose und Schläger finden leicht schon mal ihren Weg hier herein, randalieren, pissen an die Müllkübel.
Aber das Geräusch, das Jamal hört, hat nichts von der unliebsamen Gegenwart der Aussätzigen Asanctars. Es hat eigentlich überhaupt nichts, was er jemals gehört hat.
Es klingt wie ein Luftaufbereiter in diesen großen, sauberen Gebäuden ein paar Straßen weiter: Scharf, zischend, heiß. Wie Kohle, die in einem Hochofen verdampft. Oder wie ein stählernes Ross, das sich bewegt und schnaubt.
Jamal hält das für eine sehr drollige Idee. Jedenfalls wendet er sich in Richtung des Geräuschs und sperrt die Ohren auf.
Vielleicht ist es nur jemand in Schwierigkeiten. Es wäre nicht der erste Drogensüchtige, den die Männer vom Imbiss hier hinten aufsammeln.
Jamal macht einen Schritt, zieht an der Zigarette und späht suchend ins Dunkel. Nach ein paar Sekunden entdeckt er etwas, das auf den ersten Blick wie ein Abfallkasten aussieht, bloß mit abgerundeten Ecken und merkwürdigen Auswüchsen.
Aber es ist kein Kasten. Es bewegt sich.
Jamal stoppt, plötzlich seltsam unsicher. Das Ding hört nicht auf, sich zu bewegen.
Gut, also lebt es. Also muss es ein Mensch sein. Die Dunkelheit und die Entfernung verfremden die Umrisse sicherlich, und Dornendrescher sind innerhalb des Stadtgebiets schon lange verboten.
„Hallo?“, entschließt sich Jamal zu einem Ruf. „Hallo, kann ich Euch helfen?“
Keine Antwort. Nur ein leises, unsauberes Fauchen.
Jamal fängt an, sich zu wundern. Allmählich verlässt ihn die Geduld, die er einem Hilfsbedürftigen entgegenbringen würde.
„Hallo?“, ruft er noch einmal und erwägt ernstlich, die Kollegen aus der Küche herbeizuholen. Zusammen werden sie vielleicht eher zu einer Einschätzung kommen.
Doch bevor er sich dazu durchringen kann, geschieht etwas ganz Unerwartetes, Unglaubliches.
Der Klotz scheint sich zusammenzuziehen, und dann erwacht der Hinterhof zum Leben.
Jamals Hosenbeine schmiegen sich merkwürdig warm und dicht an seine Knöchel. Das ist schon mal das Erste. Dann entdeckt er eine Art Nebel dicht über dem Boden, grauen Qualm, der von dem Ding in der Gasse wegkriecht und sich mit erstaunlicher Perfektion bis an die Hofwände ausbreitet.
Ein Licht erscheint. Eigentlich ist es mehr ein Glimmen und darüber hinaus von tiefstem Rot, sodass alles im Hinterhof flackernde Linien erhält, und es hat seinen Ursprung in dem Klotz. Mit dem Rot wird es umgehend still und relativ warm.
Es ist eine wunderschöne Farbe, schwelend, geheimnisvoll.
Jamal starrt fasziniert auf die Umrisse im kniehohen Nebel, die allmählich zu glühen anfangen. Irgendetwas wispert von Gefahr, doch der Anblick ist so fremdartig, dass jede Reaktion im Keim erstickt wird.
Schließlich flammt das Rot auf. Jamal spürt, wie er zusammenzuckt und der Bann der Faszination von ihm abfällt.
Gut, das reicht jetzt, er sollte wirklich die Jungs aus dem Laden herholen.
Doch bevor er sich rühren kann, verlässt den Klotz in der Gasse ein Ring – ein Ring aus Hitze, wie Jamal feststellt. Seine Haare flattern. Mit zitternden Knien steht er still, holt dann unbewusst tief Luft. Es riecht schwach nach verbrannter Haut, und er hat eine Art Schlag im ganzen Leib gefühlt.
Jamal blinzelt. Bevor er in Richtung der Müllkübel zurückweichen kann, erfolgt der zweite Schlag.
Diesmal, registriert sein staunendes Bewusstsein, blendet ihn etwas wie ein kurzer Blitz, der zum Zentrum einer Aureole wird. Die Hitze ist so plötzlich da, dass das Ohr ihr tiefes Summen noch bearbeitet, während man sie schon fühlt. Sie hält vor Jamal.
Er hat eine Hand erhoben, vielleicht in einer Geste der Abwehr oder sogar der Verständigung, er weiß es gar nicht so genau.
Er merkt nur, dass das Gefühl aus der erhobenen Hand schwindet, und dann bekommt sie feurige Flecken.
Während sie innerhalb weniger Sekunden vor seinen Augen schwarz wird, verkohlt, ihre Form einbüßt, während seine Finger bröckeln und ein kleiner Wind in einem allgemeinen großen Wind Asche von ihm wegträgt, begegnet Jamal dem Schmerz.
Der Schmerz ist zu stark für einen Schrei. Er lässt ihn dastehen und seine Hand und seinen Arm anstarren, und er denkt den irrwitzigen kleinen Gedanken, wie er so, mit nur einer Hand, eigentlich Teigfladen ausrollen soll und dass er wohl doch besser in die Küche zurückgegangen wäre. Dann denkt er noch an seine Tochter und an den Tempel, der umgerechnet drei Monatsgehälter für die Aufnahme eines Kindes aus der zweituntersten Kaste verlangt.
Sehr viel mehr spielt sich in den letzten Sekunden von Jamal Kwarangs Leben nicht ab.
Er hat keine Gelegenheit mehr zu einem Blick auf den Ursprung der mörderischen Hitze, die sich nun dazu entschließt, aufs Ganze zu gehen, gegen die Häuserwände anbrandet und die Müllkübel rattern lässt. Er wird einfach geschluckt.
Das erste Lebenslicht geht aus, geht unter in der kurzen Flammenhölle, die – ungesehen von den Passanten auf der Straße oder den Leuten hinter den Fenstern ringsum, die erst Augenblicke später aufmerksam werden – einmal durch den Hinterhof geistert: Ein Ring aus Feuer, der verglüht und verraucht, sich in Schatten zurückzieht, sehr heimlich, sehr schnell, und den Kern, das unförmige Ding in seinem Zentrum, nimmt er mit sich.





„Frau Celeste?“
Die Stimme schlägt an mein Ohr, doch sie dringt nicht bis in mein Bewusstsein.
Die Bankoberfläche drückt sich hart gegen meinen Hintern, schlecht zu ignorieren, selbst wenn ich auf die schwarzledernen Schnürstiefel starre und auf meine Beine und Knie, auf die ich die Ellbogen gestützt habe. Würde ich ernstlich altern, wäre die Erklärung einfach: Mein Hintern wird knochig.
Aber nein. Ich verschränke die Finger beider Hände ineinander, reibe langsam. Es liegt nicht am Alter.
„Frau Celeste?“ Unsicher. Eine ganz junge Stimme. „Bitte entschuldigt, aber der Oberste will Euch sprechen.“
Schließlich schaue ich doch hoch, vielleicht nur, weil mein voller Name – nicht die umgemodelte Kurzform, die die Kollegen verwenden – eine Brücke zu etwas Vergangenem schlägt.
Kaum jemand nennt mich noch so. Nach vielen Jahren habe ich es aufgegeben, die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, zur Bewahrung dieses alten Namens anzuhalten.
Die Auszubildende, die in schmucker Uniform vor mir steht und mich nervös beobachtet, ist höchstens zwanzig Jahre alt. Heiliges Varda, zwanzig. Ich mustere sie unverwandt.
Eine hübsche Larve von Gesicht hat sie da, mit den großen, feuchten, teerfarbenen Augen einer Ostländerin. Die Lidfalte ist operativ entfernt worden, fachmännischer als bei vielen Menschen ihrer Herkunft. Woher sie mit ihrem lächerlichen Gehalt das Geld für so einen Eingriff herbekommen hat, kann man nur raten. Hübsch, ich sagte es ja.
„Ich komme schon.“ Ich stehe auf.
Die dunklen Augen weiten sich leicht.
Fremde, vor allem Frauen, reagieren meistens so auf meine Körpergröße. Ich überrage die junge Auszubildende jetzt um einen Kopf, obwohl sie nicht klein ist.
Sie verschluckt weitere Anweisungen, tritt beiseite, als ich die Kleiderstube verlasse. Ich weiß ohnehin, dass der Oberste mich und meinen Hintern direkt in seinem Büro sehen will.
Noch herrscht auf unserem Revier wenig Betrieb.
Meine Schicht beginnt um acht Uhr in der Früh, lange bevor die Halbwelt munter wird, und so entdecke ich auf meinem Weg durch die großen Räume jetzt auch bloß ein paar Fehlgänger, die befragt werden, und die üblichen Nutten aus der Nachbarschaft, die den Mitarbeitern Beschimpfungen an den Kopf werfen.
Der Oberste bietet mir nicht mal einen Stuhl an. Offenbar hat er es eilig.
Stattdessen wirft er mir ein paar Fotos hin.
„Eine Tötung“, sagt er, schief und schwer in seinen Sessel gelehnt, den Zeigefinger der Rechten gekrümmt vor den Lippen, und nickt zu den Schwarzweiß-Aufnahmen hin. „Ein Opfer. Ja, wirklich nur eins, schaut nicht so, Sal. Aber von dem armen Hund ist nur noch ein Haufen Asche übrig. Der liegt jetzt in einem Hinterhof in Sulaya, und macht Euch auf was gefasst.“
Ich gebe ihm den fragenden Blick, den er erwartet.
„Der gesamte Hinterhof ist verbrannt“, fixiert er mich bedeutungsvoll. „Eine Riesenschweinerei.“
Schweigende Sekunden, in denen wir uns ansehen – weniger Vorgesetzter und Untergebene jetzt als zwei Leute, die schon ziemlich lang zusammenarbeiten und wissen, wie der Andere denkt.
„Ein Magier vielleicht?“, schlage ich vor.
Der Oberste zuckt mit den Schultern. „Seht Euch die Fotos an, Sal. Welche Stufe wäre das? Vier, eher fünf, für Verheerungen solchen Ausmaßes, nicht?“ Er beäugt mich mit einer Mischung aus der scharfen Intelligenz, die ihm zu seinem Posten verholfen hat, komischer Treuherzigkeit und Ungeduld. „Aber das muss ich Euch ja nicht sagen. Findet also raus, was da vorgefallen sein kann, Zeugen, geht ein bisschen in die Nachbarschaft, wenn nötig – halt das Übliche. Kriegt spitz, ob wir hier wirklich nur einen Amok laufenden Elementarier haben oder, na was weiß ich, Drogengeschäfte, Klassenkleinkrieg oder so einen Mist. Vielleicht war der tote Kerl in was verwickelt.“
„Gut.“
Er gibt mir eine Karte mit der Werbung einer Imbissstube. „Da hat das Opfer gearbeitet.“
Ich drehe die Karte um. Die Straße liegt eher am Rand von Sulaya, quasi in der Nachbarschaft, wo unser Bezirk an die engeren Gassen und an die Spazierstraßen des traditionellen Vergnügungsviertels grenzt.
„Ich nehme einen Wagen“, sage ich. „Soll mich noch jemand begleiten?“
Doch der Oberste hält das nicht für notwendig.
So steige ich, nachdem ich mich mit Kamera und Spurenschatulle ausgerüstet habe, allein in den Polizeigleiter.
Es ist mir ganz recht so. Nicht nur wegen meines heutigen Zustands, sondern auch, weil im Kunstleder des Gleiters, der sich mit einem Summen um mich schließt, endlich die sachte Anspannung auf den Plan tritt.
Der letzte Fall mit Beteiligung eines wirklich mächtigen Magiebegabten liegt ich weiß nicht mehr wie weit zurück, damals, damals, das hat etwas auf merkwürdige Weise Belebendes.
In die Getränke der Bars finden immer noch die ganz alten Zutaten. Immer noch bohren die Tempel ihre störrischen Giebel in den von Lichtkegeln zerhackten Himmel. Und immer noch wandeln, so gut wie unerkannt, Kinder einer fast verdrängten Ära unter uns, die über die Kräfte der feuchten Luft und der feurigen Erdkrusten gebieten.
Eine mögliche Verwicklung ihrer Art in diese Sache reicht aus für eine Anspannung, die mich aus dem tranceartigen Zustand schält, der mich eben in der Kleiderstube noch völlig beherrscht hat. Der mein Dasein bestimmt, sobald ich lockerlasse. Der das einzig Ewige geworden ist.
Der Morgen ist grau. Schwül.
Aus den Schachtdeckeln längs der Straße, in die ich den Gleiter dirigiere – anfangs nur auf Kopfhöhe – dringt Dampf und sättigt die ohnehin schon klebrige, warme Luft. Passanten drücken sich an den Hauswänden, den großenteils noch geschlossenen Läden, entlang.
Diese Stadt kommt niemals ohne Kater in den neuen Tag.
Morgens ist sie mürrisch, eine Diva, reagiert verzögert, hüllt sich in das Schweigen einer Person, die Nachdenklichkeit und den plötzlichen Hang zu leiseren Tönen und blasseren Farben vortäuschen will. Stunden später verzeiht sie sich selbst, und das morgendliche Kopfweh, die Übersättigung, der Ekel, der an sich selbst entsteht, sind vergeben und vergessen.
Ich reise durch ihre Übellaunigkeit, und ich tue es ohne Bedauern.
Ich habe die Morgenstunden immer geliebt. Schon als ich erst ein ganz kleines Mädchen war und ein Straßenlabyrinth wie dieses noch den Phantasmagorien der Träume entstammte.
Nun gleite ich ostwärts mitten hindurch und wechsle irgendwann auf die zweite Flughöhe.
Die Straße, die auf der Karte steht, ist gesäumt von altmodisch gehaltenen Imbissen, billigen Bars und stickigen kleinen Kräuterlädchen mit Unmengen von Tiegeln und Körben in und vor ihren Schaufenstern. Die schlichte, etwas heruntergekommene Umgebung täuscht: Hier wird viel Geld gemacht, und die Geheimtipps unter den Nachtlokalen liegen gleich um die nächste Ecke.
Der Eingang zu der Gasse, in der das Opfer gefunden wurde, gleicht einem Spalt zwischen den Wänden der sechs- oder siebenstöckigen Häuser.
Ich lasse den Polizeigleiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite parken. Ein weiterer steht demonstrativ vor dem Gasseneingang. Zusätzlich haben sie ein bisschen rotes Band aufgespannt. Aber ich kann nur ein paar Leute ausmachen, die herumstehen, manche in Nachtkitteln. Nachbarn.
Der Imbiss – “Zum Großen Basar“ – ist erleuchtet, vermutlich vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet, und besucht.
Vor dem Schicksal des getöteten Mitarbeiters eine schulterzuckende Herzlosigkeit?
Damit darf man nicht voreilig sein. Fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung von Asanctar haben keine Zeit zum Innehalten, nicht mal für Mitleid, und wie fix dem Besitzer des “Zum Großen Basar“ seine Nudelbude unterm Hintern weggerissen wird, wenn er Miete und Schutzgelder nicht rechtzeitig zahlt, kann man sich eingedenk der Attraktivität des Stadtteils leicht ausmalen.
Ich gehe an den Schaulustigen vorbei, bücke mich unter dem Band in die Gasse. Sie fragen sich, was ich jetzt machen werde, ob ich jemand Besonderes bin.
Ich bin es nicht: Keine der Zakarumitenmissgeburten, die Privatleute manchmal zu den Schauplätzen von Verbrechen bringen lassen, um die ‚Aura des Bösen’ zu untersuchen; kein hohes Tier aus dem Rat für Sicherheitsfragen; kein Sonderermittler mit übersinnlichen Fähigkeiten, von denen einige noch in einer Gilde arbeiten.
Ich bin nur eine Polizistin, von der ihr Vorgesetzter weiß, dass sie die Stadt einigermaßen kennt.
Ein Mitarbeiter, der am Rand der Gasse mit seinen mindestens zweihundertvierzig Pfund und einer ungerührten Miene Wache hält, nickt mir zu. Ich wünschte, er würde mich nicht so anstarren.
Sein Gesicht erinnert mich an die harten Gesichter vor den Türmen, draußen vor den Palisaden, an die steinernen, nickenden, verständnisinnigen Masken. Ich wünschte, ihre Kette über die Zeiten hinweg würde abreißen.
Konzentrier dich.
Bis hierher war alles Routine. Ich weiß sogar, warum der Oberste mir den Tod eines kleinen Imbissangestellten zuschiebt, an dem nur dieser eine Haken der merkwürdigen Umstände ist. Weil er hofft, mein Interesse wieder zu erwecken.
Es gelingt ihm. Mit dieser Gasse.
Ich bin mir der leidlichen Stille hier – aus der Küche der Imbissstube und den Fenstern über mir dringen Geräusche, doch sie verschwimmen in Nebensächlichkeit – deutlich bewusst, als ich bis zur Mitte der Gasse gehe. Die Kamera habe ich samt ihrem Koffer in der Sekunde des Abstellens vergessen.
Der Tote liegt noch, wie das Ableben ihn ereilt hat.
Schwer zu glauben, dass das einmal ein Mensch gewesen sein soll, dieser flache Haufen pechschwarzer Brösel und Stümpfe auf dem Boden. Übelkeit huscht flüchtig durch meinen Magen, Reaktion auf die Verbindungslücke zwischen einer atmenden Kreatur und einem glitzernden Aschefleck, den sie mit Meißel und Hammer vom Asphalt werden abklopfen müssen.
Kabhvane ransi dihina, dihina ma, prapya pakhrate.
Ich schaue weg.
Woher kommen diese Worte? Woher plötzlich - nach Jahren, in deren Verlauf ich nicht mehr an sie gedacht habe, nicht einmal an die Stimme, die sie sprach?
Allein im Zentrum des Hinterhofs, drehe ich mich um meine eigene Achse, verweise die Worte aus meinem Innern, versuche, nur Auge zu sein und Kalkül und Vernunft. Vernünftig ist allerdings nicht, was mit diesem Hinterhof passiert ist.
Der Boden unter meinen Stiefeln gleicht schwarzem Glas – von immenser Hitze geglättete Materie. Vier Müllkübel stehen an der Wand neben der Hintertür des Imbisses, auf einen flüchtigen Blick hin unverändert, aber sie sind gegen den Stein gedrückt worden und teilweise damit verschmolzen. Glückwunsch, Leute, die klaut niemand mehr. Dann wandert mein Blick weiter umher und hinauf.
Überreste von Plakaten, fein säuberlich bis zur Mitte hin verkohlt. Seltsam. Das Geländer der kleinen Treppe hin zur Hintertür des Imbisses steht noch, hat sich aber gebogen. Sämtliche Oberflächen wirken glatt gewetzt.
Irgendetwas hat hier getobt, nur für Sekunden, doch es war gewaltig genug, um in einem Radius von etwa dreißig Metern alles zu verschmoren.
Scheisse.
Ein Elementarier? Ich muss das in Betracht ziehen.
Aber würde es sich um den Schauplatz eines Kampfes handeln, fehlt da etwas, eine weitere Leiche, ein anderes Opfer als dieser bedauernswerte Bastard. Oder haben sie Überreste weggeschafft?
Mechanisch hole ich die Kamera, mache ein paar Aufnahmen. Mein Atem geht flach, nicht nur wegen des schwachen, widerlichen Gestanks von verbranntem Abfall.
Sogar die Hintertür am Ende der kümmerlichen Treppe hat ihren Teil abbekommen: Das Türmetall ist blasig, die Klinke verkrümmt, das Milchglas voller erstarrter Schleier, aber nicht geplatzt.
Ich betrete den Imbiss und stehe in Küchendunst und Neonlicht. Es riecht nach Fett, nach mehlbestäubten Fladen, Schweiß, Gewürzen und Schnaps und Spülwasser.
Drei dunkelbraune Männer sehen mich an.
„Ermittelnde Dame Ebhsada“, fixiere ich sie nacheinander. „Hat jemand hier beobachtet, was heute Nacht vorgefallen ist? Hat jemand den Verstorbenen etwas besser gekannt?“
Manchmal bilde ich mir ein, dass die Massen, zu denen unsere Welt zusammengeschmolzen ist, mich noch erkennen: Den Schemen einer Frau mit flachsblondem Pferdeschwanz und hoher Statur, den ich vage in einem Spiegel hinter einem der Angestellten ausmache.
Die Befragung ist schnell vorbei.
Der Tote hieß Jamal Kwarang. Er war ein Angehöriger der zweituntersten Ostländerkaste, und die Männer beschreiben ihn – natürlich – als unauffällig, fleißig, genügsam. Er hatte nichts mit stärkeren Drogen zu tun und war seit Kurzem Teilhaber des Imbisses.
Ein Motiv für einen Mord? Oder war er entgegen dieser Aussagen doch in Drogengeschäfte verwickelt, wenn vielleicht auch nur als Träger, hatte sich verschluckt an einem zu gewaltigen Brocken?
Ich nehme die Aussagen gewissenhaft auf, glaube aber eigentlich nicht eine Minute lang an eine Tötung in der Halbwelt.
Nein, hier geht etwas anderes vor.
Die Ahnung hat spätestens beim Betreten der Gasse eingesetzt. Sie ist es, die mich nach meinem Verlassen des Tatorts und der Rückkehr aufs Revier dazu bewegt, mich an meinen Tisch zu setzen, den Gestank der verkohlten Gasse noch in der Nase, und eine Nummer zu wählen.
Wirft die Verwandtschaft mit dem Vergangenen und dem Jenseits, den Zusammenhängen hinter den Fassaden von Asanctar, ihren Schatten voraus? Und gibt es hier überhaupt jemand Offiziellen, an den ich mich wenden könnte – die Herren der Räte, die Leiter meines Reviers, einen der vereidigten Bewacher unserer großen Gesellschaft?
Die Nummer, die ich wähle, spricht für sich. Es gibt niemand Offiziellen.
Darum muss ich mich an Stellen wenden, die im Verborgenen Macht repräsentieren. Egal, was dies auf persönlicher Ebene für mich bedeutet.
Ich habe diese Nummer lange nicht mehr gewählt. Ich weiß nicht, ob sie noch stimmt.
Doch die mehrfache Weiterleitung nach der Nennung meines Namens, das Knacken in der Leitung, sie lassen vermuten, dass sie sich nicht geändert hat – lange bevor sich die Stimme am anderen Ende meldet.
Eine weitere Stimme aus dem Gestern.
Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor zehn an einem Dienstagmorgen.




„Ja.“
Kein Name. Nirgends, würde ich in den Listen öffentlicher Nummern nachschlagen, wäre diese Nummer zu finden, und das andere Ende weiß das ebenso gut wie ich.
Angespannt klingt er nicht. Bloß wachsam.
„Jeremiah“, sage ich. Ich gestatte mir eine Sekunde des Zögerns. Theatralik. „Celeste hier.“
Schweigen. Er saugt vernehmlich den Atem ein.
„Hallo Celeste“, sagt er dann, und geschmeidig noch: „Es ist auf eine eigentümliche Weise gut, dich sprechen zu hören. Du befindest dich wohl.“
Eine Feststellung. Das Weitere überlässt er mir, denn ich bin ja der Störenfried, die Bittstellerin.
„Du dich offenbar auch“, gebe ich zurück und mustere meine rechte Hand, die mit einer Elektrofeder spielt. „Die Zeitungen berichten, dein ‚Haus’ habe viele neue Jünger gewonnen. Meine Glückwünsche dazu.“
Wie er es aufgreift, könnte ich jetzt nur an seiner Miene ablesen. Durch die Leitung kommt nichts bis auf ein etwas zu ausgedehntes Schweigen.
„Das ist nicht der Grund deines Anrufes“, sagt Jeremiah dann. „Worum geht es?“
Ich gebe ihm einen abrissartigen Bericht meiner bisherigen – dünnen – Ermittlungen und schließe mit den Worten: „Eine Feuerattacke Stufe vier. Mindestens. Du weißt, was das bedeuten kann.“
Keine Antwort.
Es ist zu lange her. Er benötigt Zeit, die nicht existiert.
„Du weißt, was das bedeuten kann, Jeremiah“, wiederhole ich unnachgiebig. „Oder hat das Heil - das du noch suchst, wie man hört - dich vergessen lassen?“
„Nein“, kommt es schließlich. Die Geschäftsmäßigkeit ist aus seiner Stimme geschwunden: Sie kann einen Anflug von mit Müdigkeit vermischter Resignation nicht verhehlen. „Nein, ich habe nicht vergessen.“
Wieder schweigen wir beide ein Weilchen.
„Ich allein bin mit der Untersuchung betraut“, fahre ich dann fort. „Ich werde die Ermittlungen zunächst eventuell in die Magierzone lenken, aber nur zum Schein. Und nein, die Leitung wird nicht abgehört, was meine Aussage ja beweisen dürfte.“
Jeremiah räuspert sich. Es ist nichts Persönliches. Ich weiß, dass der Kontakt mit der Polizei ihn nervös macht, selbst wenn er eigentlich nicht viel zu fürchten hat.
„Was willst du von mir?“, fragt er leise, abwehrend. Er wird mir nichts verweigern, er ist bereits, ohne dass wir ein wirkliches Wort über die Sache und über meine, seine, unsere Ahnungen gewechselt hätten, auf meiner Seite.
„Kannst du dir das nicht denken?“
Mir kommt es so vor, als könne ich durch die Leitung das teure Leder eines Sessels knirschen hören.
„Du willst den Deckel wieder von der Schachtel nehmen, Celeste?“ Seine Stimme klingt jetzt kühl, fast vorwurfsvoll. „Nur wegen eines Feuers in einem Hinterhof? Du weißt, dass ich keine Magier mehr jage.“
„Jeremiah“, beharre ich, anfangs noch bemüht, ihn nicht zu sehr zu drängen, „das Pflaster, die Wände, alles ist verschmort. Ein Magier wäre nicht weit gekommen nach so einer Attacke, ohne Sucher auf den Fersen zu haben, aber im Funk war nichts.“ Stille. „Du hast diesen Hof nicht gesehen. Soll ich dir Bilder zeigen? Willst du Bilder sehen?“
Jetzt hat meine Ungeduld doch die Oberhand gewonnen. Ich weiß, welchen Ärger ich mir mit diesem Anruf einhandle, möglicherweise – aber ich will mit dieser Sache nicht allein unter all den Kindern dieser Welt sein.
„In Ordnung“, kommt es langsam. „In Ordnung, Celeste. Sei’s drum.“ Er atmet erneut tief ein.
„Gib mir die Nummern der Anderen“, fordere ich. In meiner Magengegend flattert es.
Gesichter huschen vorbei. Sogar Gerüche. Ich sperre alles aus.
„Ich habe nur eine Nummer“, sagt Jeremiah. „Seine.“
„Dann gib mir die. Ist genauso gut wie die Nummern von allen.“
„Also denkst du, dass er noch Kontakt zu ihnen hat?“ In der Leitung knackt es sacht, doch es vergeht sofort – Jeremiah hat die unregelmäßige Überwachungszuschaltung eigenhändig weggeklickt. Vielleicht klingt er darum plötzlich näher, jünger. Lebendiger.
„Oh“, sage ich, „daran zweifle ich nicht.“
Er gibt mir die Nummer.
Mit meinen Kontakten hätte ich es schon vor Jahrzehnten zur Obersten meines Reviers oder sogar zur Beisitzerin des Hohen Rates für Sicherheitsfragen bringen können, und das trotz meines Geschlechts und meiner fehlenden Kastenzugehörigkeit. Andere würden diese Kontakte gegen pures Gold aufwiegen. Und, wenn sie sie gebrauchten, vermutlich nicht lange überleben.
„Also gut. Höre ich von dir?“, fragt Jeremiah jetzt.
Plötzlich ist Unsicherheit da.
Zwischen uns. Das muss man sich einmal vorstellen.
„Ja“, antworte ich. „Von mir. Oder von ihm.“
„Natürlich.“ Die Stimme versteift sich, wird glatt, wird vielleicht zur Stimme des neuen Daseins. „Sei geleitet, Celeste.“
„So wie du, Jeremiah.“ Ihr ursprünglicher Abschiedswortwechsel. Die Antwort schleicht sich auf meine Lippen, ehe ich es verhindern kann, und ohne Hohn.
Es knackt in der Leitung. Er hat aufgehängt.
Minutenlang sitze ich da und schaue ins Nichts.
Der zweite Anruf wartet. Mit ihm dringe ich noch sehr viel weiter vor als bis zu Jeremiah, oder besser gesagt: Sehr viel höher hinauf.
Nein, andere würden das Wählen dieser nächsten Nummer vermutlich nicht lange überleben. Die Pfade in den Himmel sind rar und riskant wie seit ehedem, auch wenn der Himmel nur noch sprichwörtlich zu nehmen ist und nichts mehr zu tun hat mit Reinheit und überirdischen Dingen.
 
Wow, ich darf doch tatsächlich den ersten Kommentar posten... \ö/

*sich ans lesen macht*


Edit:

Heiliger Strohsack, das hab ich nun doch nicht erwartet. Du hast dir eine verdammt interessante Welt geschaffen, ein gutes Beispiel dafür wie Sanktuario in Zukunft aussehen könnte.
Will unbedingt mehr davon. ;)
 
Wow :eek: Du wirst echt immer besser, Reeba. Dein neuer Schreibstil passt wunderbar zu der Welt, die Du aufbaust. Auch wenn man noch nicht viel vom neuen Sanktuatio weiß, machst Du mich sehr neugierig auf diese Welt und ihre Bewohner.

Ich weiß grade nicht mehr, was ich sagen soll - so geplättet bin ich von dem Kapitel. Also lass uns nicht zu lange auf eine Fortsetzung warten, sonst sterben wir noch vor Spannung ;)

LG Liska
 
:hy:
Gefällt mir sehr gut ... kann es kaum erwarten mehr zubekommen

lg lce
 
Hey Reeba,

schön mal wieder etwas von dir zu lesen. Die Zeitepoche deiner Geschichte finde ich faszinierend. Es ist mal was ganz anderes als ich erwartet hätte. Fehler sind mir soweit keine aufgefallen. Wie immer absolute Spitze.

Inhaltlich finde ich jedoch einige Dinge etwas schade bzw. fast zu krass. Du beschreibst, wie sich die Gesellschaft von damals bis in die Gegenwart entwickelt und ich vermute mal sehr stark, dass du da mal wieder paralellen dbei in unsere Welt ziehst. Meinst du wirklich, dass es so extrem überhaupt aussehen kann? Meinst du, dass es überhaupt möglich ist? Ich denke nur, dass Menschen in so einem "Beziehungsverhältnis" untereinander nicht leben können, da ein Teil des Lebenssinns meiner Meinung nach in Freundschaften untereinander liegt. (Die Folge wäre möglicherweise Selbstmord ohne Ende)

Das ist nur so ein Gedanke nebenbei, wobei ich jetzt keine große Diskussion über solche Dinge losbrechen möchte. Zumindest nicht in deinem Thread :)

lg, Gandalf
 
Danke für die ersten Kommentare. :>
Inhaltlich wird es 'krass' bleiben - es geht hier nicht um eine irgendwie wünschenswerte Welt. Das spiegelt nicht meine Sicht aufs Leben wider, nur Ideen. Nehmt es einfach als zynische Abhandlung mit Sanktuario.

Heute spendiere ich ein neues Kapitel. LG, Reeba

**********




II. Die Spitze des Turms





Die Musik fährt mir in den Leib, sobald ich aus der Umkleide trete.
Ergeben wappne ich meine Ohren gegen das stumpfsinnige Geplärr, die antreibenden Texte ohne Sinn und Verstand, weiter, Kinder, weiter, vergnügt euch bis zur Bewusstlosigkeit, und wenn es das Letzte ist was ihr tut tanzt tanzt, grell, blöde, billig, man muss nicht über die Schärfe meines Gehörs verfügen.
Fünfzehn Schritte bis zur langen, nachtschwarzen Theke. Dem Getränkemeister zunicken.
Ein Dutzend Schritte quer durch den Raum. Bereits da heften sich Blicke auf mich.
Ich nehme sie eher als Berührungen wahr, und sagte ich schon, dass ich es nicht schätze, wenn man mich anfasst?
Endlich sieben Schritte zum Podest hinauf.
Ich bin oben.
Erfreulich, dass sich eine so vollkommene Erniedrigung so bereitwillig im Dämmer der Gewohnheit auflöst, dass dieser Kreis mit seinen anderthalb Metern Durchmesser mir immer aufs Neue Abgeschiedenheit vorgaukelt.
Der Widerwille erlahmt bis auf den Rest, dessentwegen sie mich hier behalten. Königin der Nacht. Abgesandte der Schatten. Sie haben ganz einfach keine Bessere, keine, die diese albernen Betitelungen perfekter verkörpert als ich – wie wirklich gefühlt manchmal, wissen sie nicht. Und selbst wenn sie es wüssten, es würde sie kaum kümmern.
Der Auswegslosigkeit wegen, die uns korrumpiert, findet mein Körper in den Takt der Musik. Ich beginne zu tanzen
Ein rascher Blick in die Runde. Hier oben darf ich es mir erlauben, die Räumlichkeit und die Gestalten abzutaxieren. Ich muss keine zahmen Wimpern mehr über meine Augen breiten.
Noch tritt niemand an mein Podest. Die absichtlich nah aufgestellten Hocker sind leer. Es ist zu früh.
An der Theke des Shangri macht die übliche Kundschaft krumme Rücken über bunten Gläsern, und nur die Ausrichtung ihrer Schultern verrät, ob sie mir zusehen oder meinen beiden Leidensgenossinnen, Mahari und Liaula, die unmotiviert an ihren Tanzstangen herum rutschen. In den Winkeln der Sitzecken lungern ein paar weitere Gäste.
Ein langsameres Musikstück erklingt. Mit etwas Glück schaffen wir es über solche Stücke, die nächsten drei, vier Stunden durchzuhalten, bevor das Shangri zum Leben erwacht und die Hungernden aus Sulayas Straßen in unsere Bar hinab schleichen.
Dank der neuen Stiefel bin ich um zehn Zentimeter gewachsen. Sie strecken selbst meine Beine, die ich immer ein Stück zu kurz gefunden habe, zu den langen Schenkeln, die in Mode sind – Farbe egal, aber lang müssen sie sein, Mädchen. Die Investition zahlt sich aus. Der Inhaber hatte Recht.
Ich hasse seinen Geschäftssinn mit demselben nutzlosen Hass, den ich an die relativ leicht verdienten Gefallenszettel verschwende, jeder davon fünf Cisma wert. Mit einem einzigen Auftrag meiner zweiten Identität – die ich hartnäckig immer noch für die wahre halte – verdiene ich in guten Zeiten das Hundertfache.
Aber die Zeiten sind nicht gut. Schon lange nicht mehr.
Solange die Stadt sich ohne meine Dienste gemütlich fortpflanzt, bleiben meine künstlich verlängerten Beine ertragreicher als die Person, die ich in der Umkleide zurückgelassen habe, sie und ihr tickendes, vorwurfsvolles Regelwerk.
Drei, vier Stunden Öde noch. Erst dann wird es Zeit für die nächste Dosis.
Hinter der Theke putzt Aseem nimmermüde seine Gläser. Etwas anderes als Sympathie lässt mich in regelmäßigen Abständen zu seiner gedrungenen, kahlköpfigen Gestalt hinüber sehen.
Er ist ein Kurasti, ein Sohn des Ostens, und die Ostlande gebieten über diesen Stadtteil, weniger aufgrund ihrer Stellung als aufgrund des Geschäftssinns und des tüchtigen, kriecherischen Gehabes, das sie sich bewahrt haben, Göttergeschaffene, Himmelsverfluchte sie alle.
Aseem ist mein Halt hier, mein Anker. Der einzige Mensch im Shangri, dem ich wirklich vertraue – weil er nie gelernt hat, zu lügen und weil er mich, wie die anderen Mädchen, mit der großzügigen Milde vieler Männer seiner Herkunft behandelt.
Gerade jene, denen wir uns noch ein wenig verwandt fühlen, werden im größeren Zusammenhang oft Ziel unserer Verachtung, unserer hilflosen Wut. Sie erdreisten sich, unseren Fall mit anzusehen und urteilen nicht einmal.
Vielleicht ahnt Aseem das und richtet deshalb nie mehr als knappe, höfliche Worte an mich. Vielleicht bin ich manchmal auch nur neidisch auf sein geduldiges Gläserputzen.
Mitten im Durcheinander dieser Gedanken erreicht mich, dass die Musik erneut wechselt.
Geschwind verzeichnet eine untergeordnete Wahrnehmungsebene noch anhand der bisher abgespielten Stücke, dass ich etwa eine Dreiviertelstunde vertanzt habe, ohne mir dessen recht bewusst geworden zu sein.
Großartig, denkt die Königin der Nacht vage, auf diese Weise schaffst du es bis neun Uhr und mit ein paar Gefallenszetteln im Hüftband, und dann wartet die kurze Pause auf dich. Und die Pille.
Aber dann hängt sich meine Aufmerksamkeit an die Musik, die anhebt.
Die Gäste kommen unter anderem gern ins Shangri, weil sie hier Musikwünsche aussprechen dürfen. Manche wollen eine der Unterhaltungsdamen – so nennen uns die komplett Verdrehten oder die hoffnungslos Romantischen – zu ausgewählten Klängen tanzen sehen. Manche ersaufen verzückt in Nostalgie oder bereiten sich bei uns auf die härteren Nachtlokale vor, in denen es exotischere Tänzerinnen – und Tänzer – gibt. Wieder andere haben wirklich einen Narren an einer bestimmten Melodie gefressen.
Dieses Stück hier ist alt. Völlig aus der Mode.
Definitiv ein Gästewunsch.
Ich gerate ins Stocken, bewege dann mit Mühe weiter die Hüften. Meine Augen huschen misstrauisch durch alle Winkel und über die Kundschaft an der Theke.
Kurastische Tempelmusik. Die inzwischen halb elektronischen Saiteninstrumente ändern nichts daran. Wer will so etwas noch hören, diese vergeistigte, getragene Musik?
Zwei Männer kommen gemächlich von der Eingangstreppe her in den helleren Bereich der Bar.
Sie stechen aus dem Einheitsbrei des beginnenden Abends hervor wie Aussätzige. Sie gleichen sich fast aufs Haar, der vordere ein wenig größer und breiter als der hintere, beide in tadellos sitzenden, schwarzen Anzügen und mit verspiegelten Sonnenbrillen vor den dunklen Gesichtern, und sie bewegen sich mit dem Habitus derer, die unantastbar sind: Sicher, ohne Eile, ohne Leidenschaft.
Sie fangen meinen Blick ein, als hätte ich nicht über mehr als ein Menschenalter hinweg gelernt, ihn in Gleichgültigkeit zu verschließen. Ich sehe sie sich locker über die Theke lehnen und ein Wort mit Aseem wechseln, und ich weiß bereits, was diese Männer und diese Musik bedeuten.
Keine Kunden.
Diese Männer wollen mich nicht. Sie sind im Auftrag eines Anderen hier, der es vorzieht, nicht selbst in Erscheinung zu treten.
Kurz wäge ich ab, ob irgendein steinreicher Bastard mich hier gesehen hat und nun seine Handlanger schickt, um mich für eine Nacht zu ‚erstehen’. Kurz überschlage ich den Profit, den mir so ein Treffen einbringen könnte.
Die Männer nähern sich meinem Podest.
Ein knappes Winken holt mich herunter. Erlöst mich. Trotzdem beiße ich die Zähne aufeinander. In gewisser Weise werde ich doch gekauft.
Ich schreite auf hohen Hacken zu dem winzigen Tisch, an den sie mich bitten. Sie haben bereits Platz genommen. Meine von einem Haufen lederner Bänder nur mäßig kaschierte Nacktheit interessiert sie ebenso wenig wie die zwei Gläser Mohnschnaps, die ein plötzlich geräuschloser Aseem vor ihnen abstellt.
„Setzt Euch“, sagt der kleinere Mann.
Es ist nicht wirklich eine Einladung.
Ich nehme keine Befehle entgegen, auch nicht von Knechten ihres Kalibers.
Die Musik und meine verfluchte Neugierde bewirken, dass ich es doch tue. Es ist nicht leicht, Haltung zu bewahren, wenn sich die Sitzoberfläche eines Barhockers höhnisch an deine Hinterbacken presst.
Keine starken Gerüche. Diese Männer sind sauber - eine Seltenheit in einer schwülen, verkommenen Stadt. Meine Nackenhaare richten sich auf.
Ein Doppelpaar verspiegelter Gläser schaut mir entgegen.
Ich weiche zum Schein, wegen des Spiels, auf das Marktgerede meiner Profession aus.
„Für wen sprecht Ihr?“, frage ich süßlich in die einander so gleichen Gesichter. „Möchte der Hohe Herr – oder die Hohe Dame – Anonymität bewahren? Das soll die Schwierigkeit nicht sein. Wir sind hier überaus diskret. Und alles für nur fünfzig Cisma.“ Der Preis für totales Stillschweigen, gemessen in der Währung dieser Zeit.
Aber mit dem Ausklingen des alten, kurastischen Musikstücks entfernt sich jede Art von Spielerei von unserem Tisch.
Die Männer tragen keine sichtbaren Waffen. Sie haben es auch nicht nötig.
Wortlos greift der Größere in seine Brusttasche. Der teure Stoff seiner Anzugjacke spannt sich dabei, ohne zu knittern.
Er schiebt mir einen papierdünnen, handtellergroßen Gegenstand zu.
Es ist eine Karte aus gewalztem Silber. Als ich sie aufhebe, hat sie ein beinahe beleidigendes Gewicht.
’Sutre’. Ein Firmenname. Weiter nichts – kein Logo, keine Adresse.
Allein diese Karte ist zweihundert oder mehr Cisma wert.
Du Schweinehund.
Ich weiß, dass sich hinter dieser Karte – noch – keine Absicht verbergen muss. Trotzdem fixiere ich den Mann, der sie mir hingeschoben hat, als könnte ich mein verächtliches, endgültiges Begreifen und meinen Zorn bei ihm zwischenlagern.
Der Mann hat meine Reaktion beobachtet.
„Ein Gleiter wartet oben an der Straße“, sagt er.
Wiederum ähnelt das einem Befehl. Er und sein Spießgeselle werden nicht weichen. Sie werden warten, bis ich Vernunft annehme, und mich, falls nicht, über kurz oder lang mit Gewalt in diesen Gleiter verfrachten, so unauffällig, dass keine Seele im Shangri Zweifel an meinem freiwilligen Mitgehen hätte. Darüber hinaus würde niemand zu meinen Gunsten aussagen. Mein Kontrahent hat zu viel Macht.
Mir bleibt keine Wahl.
„Habe ich noch Zeit, mich umzuziehen?“, frage ich giftig und weise auf meine anzügliche Aufmachung.
„Natürlich“, kommt es gleichmütig.
Mistkerle. Sogar über Ausweise verfügen sie – eingeschweißte Marken, die einen wohl bemessenen Zentimeter hinter ihren Anzugsäumen hervorlugen. Kein Rätehaus und keine Polizeistation bewilligt diese Ausweise, doch kuschen würden sie alle davor, und sie tun es.
Es zieht sich durch diese Stadt, eine Seuche, gesichtslos wie der Firmenname auf der Karte zwischen meinen Fingern.
„Einen Augenblick“, sage ich.
Lotrechten Rückens erreiche ich den Durchgang zu den Umkleiden, winzigen Kammern voller verzweifelter Gerüche, namentlich Frauenschweiß und billige Duftwasser.
Mechanisch tausche ich die Bänder und die hohen Hacken gegen meine Straßenkleidung: Schwarzes Leder, ein bodenlanger Mantel, flache Stiefel, Handschuhe. Fest und stumm stecken meine Klingen in den Zwischenräumen. Sie, die dort draußen sonst alles bedeuten, nützen mir hierbei rein gar nichts.
Nach kaum drei Minuten bin ich zurück am Tisch.
„Also, die Herren“, fühle ich mich verpflichtet, zu sagen. „Es kann losgehen.“
Sie durchsuchen mich nicht. Schweigend geleiten sie mich zur Treppe, die zur Straße hinaufführt.
Mahari und Liaula tanzen unbeirrt, und Aseem schaut weg, ganz Ahnung und Vorsicht, als ich das Shangri verlasse.





Das erste Opfer ist verglüht, verzehrt. Die alte Macht des Feuers hat die Zeiten überdauert.
Kein Begreifen und keine Sinnesordnung, wie sie die Kinder dieser Welt besitzen, beherrschen die Bestie. Sie stellt nur fest, dass ein weiteres – und hier: Ein neues – Lebenslicht vor ihr verlöscht ist.
Zahllose so genannte Weise unter den Massen ihrer einstigen Widersacher haben versucht, das Wesen der Bestie zu ergründen, und da es ihnen nicht gelungen ist, mussten sie sich auf zentnerschwere Begriffe verlegen, Begriffe der größtmöglichen Annäherung an das Unbegreifliche.
Wie ein Zwitter aus Bulle und Hund sei sie, hieß es da, dornenbewehrt und größer als eine Hütte. Gewalt habe sie, hieß es, über die Flammen, die Hitze, den Stein und die Illusionen, den Menschen zum Verderben, und auch über die Wahrnehmung all derer, die es wagten, ihren Bannkreis zu betreten. Brutalster und stumpfsinnigster Spross eines uralten Geschlechts sei sie, Bruder zweier weiterer Schrecken – er, Lenker der Angst und Herr über das Schwarze Heiligtum und über die niederen Dämonen und Geister, und wer im Kampf gegen ihn falle, hieß es, müsse unverzüglich in die Hölle hinab fahren.
Manches davon ist wahr. Anderes ist der hilflosen, poetischen Furcht seiner Gegner zuzuschreiben. Und nichts davon hat dank des Verdrängungseifers der jeweiligen Hüter der menschlichen Gesellschaft wirklich den Weg in das neue Jahrhundert gefunden, in dem die Bestie nun ihren ersten Gang durch jungfräuliche Jagdgründe antritt.
Immer noch ist es dunkel, all der irritierenden Lichter zum Trotz. Früher hätte die Bestie sie verlöschen lassen. Heute ahnt sie, dass es zu viele sind und dass sie ihr nicht notwendigerweise schaden, in Glas gefasst, hoch über den Schluchten der Straßen. Schatten gibt es in Hülle und Fülle.
Sie ist noch nicht im Vollbesitz ihrer Kraft. Langsam schreitet sie durch das Dunkel, über ebenmäßigen Steinboden, wartet, wenn Gestalten ihr den Weg in den nächsten Schattenpfuhl versperren.
Die Kinder Asanctars spüren ihre Anwesenheit, aber nicht deutlich genug. Sie schaudern zusammen auf dem Weg zur Arbeit, vergessen, was sie eben mit ihren Begleitern bereden wollten, fühlen sich plötzlich nichtig.
Die Kranken wissen auf einmal, dass sie nicht geheilt werden können, egal was die Ärzte sagen. Die Zweifler erkennen die Richtigkeit ihrer Zweifel. Kleinkinder überraschen ihre Eltern damit, dass sie sich unter stummen Tränen die Hosen vollpinkeln und augenblicklich nach hause wollen.
Alles Lebendige flieht, ohne zu erraten wovor.
Da die Bestie vergebens nach ihren einstigen Dienern gerufen hat, nach den Rittern des Abgrunds, den Fleischbestien und den Blitzgeistern, versteht sie, dass sie allein ist. Sollten sie ihr je wieder begegnen, diese untreuen Gefolgschaften, werden sie es bitter bereuen, bei ihrer Neugeburt nicht Spalier gestanden zu haben. Mehr als diesen Gedanken verschwendet sie nicht an mögliche Diener.
Die neue Welt ist töricht. Ahnungslos. Der Eindruck, viel Zeit zu haben, hat die Bestie nicht getrogen.
Verborgen und verkannt kauert sie sich in die Schatten und wartet.
Durch Zufall findet sie eines der Geschwüre dieser Stadt, einen Platz, auf den das gewaltige Gebilde aus Stein seine Auswürfe hinspeit. Es ist eine Müllhalde, aber das weiß die Bestie nicht.
Hier verkriecht sie sich – vorerst – in den aufgerissenen Bäuchen verschrotteter Gleiter und nutzloser Tonnen und atmet sorgfältig ein, was ihr als unvertrauter Gestank in die Nüstern dringt, widerwärtig selbst für sie, die sie Schwefel und Fäulnis von einem Grad gewohnt ist, den kein Mensch ertragen würde.
Sie wittert, dass diese Ansiedlung erkrankt ist.
Sie riecht nicht nur die Dämpfe, die den Hecks der Gleiter und den Luftschächten entströmen, sie riecht die Dünste des Vergessens, der Leichtfertigkeit und der Verweichlichung in jedem Luftzug ihrer neuen Heimat.





Auf dem kurzen Weg zwischen dem Kupfertor der Bar und dem schwerelos wartenden Gefährt greift die Schwüle eines regensatten Abends nach mir und meinen Begleitern.
Im Gleiter aber ist es kühl. Eine unnatürliche und wohltuende Kühle, die mich in einen Konflikt stürzt – sicherlich nicht den letzten heute Abend.
Wenig Platz hier drinnen, zwei einander gegenüberliegende Sitzbänke. Die Polsterung ist weiß, neu und abstoßend bequem. Der Türmechanismus grenzt die Welt draußen aus, die Straße, die Front des Shangri, die Umrisse der Passanten. Mit einem Laut, der dem einer sich schließenden Kühlhaustür gleicht, bin ich allein in diesen knapp fünf Quadratmetern – allein mit zwei Männern, die sich in die Sitze einfügen wie kleine Götzen in die Fassungen ihrer Standsockel.
Ein großes Schweigen setzt ein, während der Gleiter fast unmerklich summend seine Halteposition verlässt und sich in den Verkehr von Sulaya einreiht. Es ist ein Gefährt erster Klasse: Leise, unauffällig, komfortabel.
Ringsum hat es merkwürdig silbrig verdunkelte Fenster, die von außen keinen Einblick, von innen aber einen guten Ausblick gestatten. Das Stadtviertel gleitet vorbei, und weil es das so angenehm und sanft tut, verdopple ich die Anstrengung der Verachtung für meinen Transport. Ich fühle mich klein, zusammengedrückt im Leder meiner Kleidung.
Selbst wenn ich auf die Idee käme, meine Waffen zu zücken und die beiden Männer dort drüben zu töten – ich würde vielleicht lebend aus dem Gleiter herauskommen und auch noch ein Stück weit in das Labyrinth der Gassen, aber zur selben Zeit hätte ich bereits meine Anstellung, meine Unterkunft und meine bescheidenen Ersparnisse verloren, ganz zu schweigen von meiner Identität.
Ich hätte nur zwei Bedienstete von etwas mitgerissen, was ein ganzer Herrschaftsbereich in Asanctar ist, oder besser: Ein Königreich. Ein heimliches Imperium.
Dereinst hat es in dieser Gesellschaft einen Umschwung hin zu den Werten des gesprochenen und geschriebenen Wortes gegeben, voran getragen von Menschen, die an eine Heilung des Geistes zu glauben bereit waren, und ironischer Weise stammt mein Titel, die Königin der Nacht, aus eben jener Epoche. In den Vorstellungen dieser Zeit war besagte Königin Instrument eines allgewaltigen Urzorns, eine Halbgöttin der lichtlosen Stunden.
Vielleicht hatte man ihr Bild von Varda oder aus den Langhäusern von Scosglen.
Aber die Epoche, aus der sie mit vielen anderen Sagengestalten kam, in denen Träume sieben verschiedener Klassen verschmolzen, war kurz. Sie hatte keine Chance gegen das geschwinde Weiterrollen des Zeitrads.
Daher passt es ganz gut, dass ich mit meinem Handelsnamen, der nur die lächerliche Verzerrung verlorener Ideale bedeutet, ebenso machtlos im Gefährt der jetzigen Zeit sitze wie die arme Halbgöttin es wohl getan hätte. Und selbst sie, Kopfgeburt der ersten Friedensjahre, so viel jünger als ich.
Meine Begleiter beobachten mich unausgesetzt. Ich muss nicht erst den Linien ihrer Anzüge nachforschen, um zu wissen, dass sie Betäubungsstöcke und Schusswaffen bei sich tragen – für den Notfall.
Es ist von Anfang an ein Spiel. Selbst auf meiner Seite geht es um Macht oder wenigstens um das Vortäuschen von Gleichmut, und daher verlege ich mich darauf, aus den Fenstern des Gleiters zu schauen. In meinem Unterleib formt sich derweil eine Kugel kitzelnder Anspannung.
Das Gefährt nutzt die Hauptstraßen, vorbei an Polizeikontrollen und Suchern. Es steht für die Allgewalt seines Besitzers.
Mit der Macht herumprotzen, das sieht ihm ähnlich. Und es ist auch eine nicht sonderlich subtile Botschaft an mich – ich soll genau verfolgen können, wie forsch und frei der Gleiter zu seinem Ziel gelangt.
Nach kaum zwanzig Minuten Fahrt halten wir.
Wir sind am Fuß eines Komplexes gewaltiger Türme. Der hervorstechendste Turm, pures Obsidian, glatt, brutal geschmeidig, ragt über dem Zentrum der Stadt in den Himmel.
Jeder Mensch in Asanctar, der an diesem Bauwerk hinaufblickt, spürt seine erdentrückte Gegenwart wie das Zittern elektrischer Spannungen im Gebein.
Schweigend steigen wir aus. Meine Begleiter führen mich zum Eingang – der riesigen Tür am oberen Ende einer flachen Treppe.
Kein Schild, kein Firmenname. Die Passanten auf den übertrieben breiten Gehsteigen dieser Prachtstraße haben munkeln gehört, dass der Obsidianturm Hauptsitz der ’Sutre’-Korporation ist. Es handelt sich nicht bloß um eine Firma. Auch der Name gibt nur vor, zufällig gewählt zu sein, weil sie es da oben in den Sesseln ihrer Geschäftemacherei zu viel gebracht haben, aber nicht notwendigerweise zu Fantasie.
Ich beherrsche das alte Kurastisch seit Ewigkeiten. Die Erinnerung daran, wie ich es damals gelernt habe, und vor allem durch wen, sitzt mir wie ein Dorn im Fleisch, aber wenigstens weiß ich: ‚Sutre’ bedeutet soviel wie Beliebigkeit oder, mangels einer treffenden wörtlichen Übersetzung in die Gemeinsame Sprache, eine Sphäre der Gleichgültigkeit gegen praktisch alles, auch gegen das Schicksal und besonders gegen Werte und Moral.
Türen gleiten auf und wieder zu. Die Empfangshalle ist makellos mit ihren meterhohen Fenstern und ihrem spiegelglatten, grauen Boden. Eine Sumpfpflanze und ein Tresen kommen nicht gegen den Eindruck der Leere an.
Hier wird niemand ‚empfangen’. Kein Mensch gelangt durch diese Türen, um sich vorzustellen. Grüße. Ich würde gern den mächtigsten Mann von Asanctar sprechen, wenn es keine Umstände macht.
Wir treten zu dritt in den Aufzug. Leise gleitet er aufwärts. Alles geht hier ohne viele Geräusche vor sich.
Wie viele Stockwerke? Hundert, hundertundfünfzig? Irgendwann steigen meine Begleiter aus.
Ich fahre weiter und registriere, dass ich mehrmals durchleuchtet werde. Aber selbst in der letzten Bastion der Sicherheitsmaßnahmen wäre ein Auftragsmörder ohne Chance, denn die so sorgsam gehütete Person hinter diesem ganzen Zirkus braucht den Schutz eigentlich nicht.
Er hat es sich von den anderen Mächtigen der Stadt abgeguckt, all dieses Glatte, das Material, die gedeckten Farben und vermutlich auch den Stil. Er hatte dazu so viel Gelegenheit, dass man kaum sagen kann, ob er überhaupt Geschmack besitzt.
Ich bin schon einmal hier gewesen. Dieser Umstand erlaubt es mir, das einfache Staunen auszuklammern.
Als der Aufzug hält und sich die Türen öffnen, verkrampft sich meine Kiefermuskulatur.
Unsinnig, dagegen anzukämpfen. Ich will meinem Gastgeber darüber hinaus auch nicht den kleinen Triumph einräumen, dass ich auf dem letzten Stück Wegs die gesamte Palette der Lockerungsübungen meiner Klasse durchlaufe.
Hätte ich die Dosis vorher nehmen sollen? Nein.
Vor mir liegt ein niedriger, etwa drei Meter breiter, mattgelb getäfelter Gang. Das Licht darin rührt von Leuchtstiften her, doch sie dienen vornehmlich einem anderen Zweck: Dem, die Artefakte hervorzuheben, die längs des Ganges an den Wänden hängen.
Ein Museum müsste sie mit Panzerglasboxen umgeben, denn jedes der Artefakte hat einen unermesslichen Wert – sowohl in Cisma als auch in geschichtlicher Bedeutung gemessen. Hier aber hängen sie offen.
Während in meinem Rücken der Aufzug wieder in die Tiefe rauscht, gehe ich langsam an den Gegenständen vorbei. Ich könnte hier auch mit geschlossenen Augen vorwärts tappen, es ist meine Seele, die hinschaut, die erkennt.
Eine Speerspitze aus Bronze ist da, wie man sie einst in der Wüste hergestellt hat, weit unten im Süden. Ihr gegenüber: Ein schwarzes Buch, schräg in Eisenklammern festgehalten und aufgeschlagen.
Dann ein smaragdgrünes, buckliges Oval, bei dem es sich nicht um ein Kunstwerk handelt, sondern um den Panzer eines Insekts. Auf der anderen Seite, klein und braun und mit verwitterten, glotzäugigen Zügen, eine Statue. Wie in einem üblen Traum lasse ich sie rechts hinter mir zurück.
Schweigen.
Die besten Artefakte bewachen, natürlich, den Durchgang zu den eigentlichen Räumlichkeiten. Es ist vollste Absicht, und ich schaudere, so lebendig sieht die kaum kniehohe Zwerggestalt des ausgestopften Schinders aus, die fettigen Haare glänzend, die bösen Mumienzüge in einem ewigen Grinsen erstarrt. So lebendig, dass ich mich zusammenreißen muss, um ihn nicht von dem Wandsockel zu fegen, auf dem er steht, sorgsam gepfählt von einem eisernen Stift.
Ihm gegenüber hängt ein Stück einer Wirbelsäule in der Luft. Ich weiß, woher es stammt und dass dieses Artefakt sich durch kein noch so exzentrisches Kunstverständnis mehr erklären lässt, sondern nur noch durch schlechten Geschmack.
Entgegen meiner ersten Wahrnehmung ist es nicht still hier oben.
Töne, sehr leise und so hintergründig, dass sie mit Raum und Beleuchtung zu einer Einheit werden, treiben umher. Es braucht fast eine halbe Minute, bis ich das unregelmäßige, samtig-blecherne Anschlagen eines Kesselgongs erkenne.
Ich trete ein in eine vollkommen berechnete, wartende, nahezu sakrale Atmosphäre.
Ein Spiel, auch hier. Ich muss mitspielen.
Ich kann nicht anders, es wirkt – die Tonbandaufnahme des Gongs, das Schweigen daneben, die Fahrt hierher, alles wirkt.
Der Ort, den ich nun betrete, tut sein Übriges.
Es ist ein einziger, weiter Raum, rechteckig und im Vergleich zu seiner Weite niedrig, mit einer Fensterfront, fünfzig oder mehr Meter entfernt von mir, irgendwo da hinten.
Aus diesen Fenstern, die eine gesamte Wand ersetzen, schaut man auf Asanctar, aber noch sehe ich davon nichts, denn das Halbdunkel im Raum präsentiert mir die Glasfront als schwarze Fläche.
Im Eingangsbereich und längs der rechten und linken Wand ist es dank milchiger Deckenstrahler etwas heller. Unter einer solchen Lichtquelle stehe ich jetzt, gut zu sehen für meinen Gastgeber.
Wo er sitzt, weiß ich. An den Wänden gibt es ein paar lederbespannte Diwane auf leicht erhöhten Bodenabschnitten, was dem Raum etwas von einem Luxusfoyer verleiht, aber dominiert wird er von einem einzigen, gewaltigen Schreibtisch.
Der Tisch steht nahe der Fensterfront in völliger Finsternis. Ich kann nur seine wuchtigen Umrisse sowie die eines Sessels und einer Stablampe erkennen.
Der mächtigste Mann von Asanctar erwartet seinen Besucher eben dort.
Ich muss ihn nicht sehen. Ich fühle ihn.
Trotz meines flachen Atems widme ich ihm eine geballte Ladung abfälliger Gedanken, indem ich mir ausmale, wie er dort sitzt, theatralisch und arrogant ins Dunkel gerückt von seinem Bedürfnis nach Überlegenheit und eben dieser Szene.
Ich könnte sie ihm verderben, loslachen zum Beispiel oder auf ihn zustürmen und irgendetwas Albernes sagen. Aber er würde es als genau das auffassen, was es wäre: Ein dämliches Manöver, und hätte damit dann doch gewonnen.
Und bei allem lauert in mir auch ein stummer Ruf, ein Kniefall vor dem Fluch und dem Heil dieses Wiedersehens, egal was ich über den Erbauer dieser Szene denke.
Der Turm ist sein Werk. Sie sind eins, sind die absolute Macht in einer undurchsichtigen Stadt, jenseits der strengen oder kostspieligen Auswahlverfahren der Räte, jenseits der Ordnung, deren Organe sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verheddert haben.
Mit Geld und Einfluss kommt man sehr weit in Asanctar, sogar bis nah an die Schwelle heran, ab welcher die Geburt nicht mehr zählt. Trotzdem begleiten den Tempelverwalter, den Obersten und den hohen Rat immer die Grenzen des Möglichen.
Soweit ich weiß, hat diese Grenzen bisher nur ein Mann gesprengt – dieser Mann hier. Niemand hat mehr Geld und mehr zu sagen als er, und das, obwohl er in keinem der Räte sitzt und auch sonst auf keinem bedeutenden öffentlichen Posten.
Zweifelhaft, dass Vielen sein Gesicht bekannt ist. Die Wenigen, die es kennen - abgesehen von seinen sorgsam ausgesuchten Untergebenen - werden dennoch kaum wissen, mit wem sie es wirklich zu tun haben.
Vier Menschen in Asanctar aber wissen es. Einer davon bin ich.
Bis auf zehn Schritte an den wuchtigen Tisch herangetreten, entscheide ich, dass er jetzt genug Zeit hatte, mich zu betrachten.
„Hallo Stephen“, sage ich.
„Hallo Elisa“, kommt es aus der Dunkelheit. „Wie ich sehe, trägst du das Haar inzwischen lang.“
Sicher hat er auch sonst jede Einzelheit meiner Aufmachung erfasst. Die Feststellung, mit dieser so ungemein ruhigen, wohlmodulierten und inzwischen auch fast akzentfreien Stimme geäußert, dient nur der Einleitung.
Daher erwidere ich auch nichts.
Stephen schaltet die Schreibtischlampe an. Gleichzeitig könnte er eigentlich auch aufstehen, den nächsten Akt einleiten, aber er denkt gar nicht daran, bleibt sitzen und lächelt.
Ich wünschte, er würde das lassen.
Dieses Lächeln erschafft einen Kontrast zu dem Mann, den ich hinter der Fassade des Großunternehmers als herausragendsten Vertreter seiner Art kenne - einen Kontrast, dessentwegen mir die tadellos gekleidete Gestalt am Schreibtisch dort erscheint wie ein Monstrum der Wandlungsfähigkeit.
Mit dieser Ansicht ließe es sich leben. Aber leider ruft das Lächeln auch Erinnerungen wach, die durch ihr Alter zu kostbar geworden sind, als dass ich sie noch in gute und schlechte trennen könnte.
Ich traue ihm zu, dass er genau das einberechnet hat.
Vielleicht ahnen wir beide etwas von den Gedanken, mit denen wir hier aufeinander treffen, denn wir mustern uns eine Weile schweigend und rücksichtslos.
Du Hurensohn, denke ich taub. Wärst du doch bis in alle Ewigkeit abgeschottet hocken geblieben in deinem höchsten Raum hier. Mein Denken strauchelt. Es ist schön, dich zu sehen. Wunderschön.
Stephen lehnt sich zurück.
„Und?“, meint er leichthin. „Was sagst du zu meiner bescheidenen Einladung?“
Ich komme zu mir.
„Dass du ein arroganter Emporkömmling und ein erbärmlicher Angeber bist“, antworte ich ohne die geringste Ironie. „Und ein Dilettant obendrein. Das Musikstück hat dich sofort verraten.“
Er lacht kurz und lautlos auf, erhebt sich und umrundet den Tisch.
Die so menschlichen Veränderungen, die wir nach verstrichenen Jahren an unserem Gegenüber entdecken – Werke des Alterns, der Müdigkeit, der Abnutzung von Haut und Muskeln – bleiben uns vorenthalten. Wir müssen uns immer aufs Neue mit demselben Bild abfinden, an dem auch Abwandlungen durch Frisur oder Kleidung nichts ändern.
Somit nähert sich mir jetzt derselbe Stephen wie früher.
Er ist groß, schlank, in einen grauen Anzug mit straff gebundener Krawatte gekleidet, dessen Schlichtheit nicht darüber hinweg zu täuschen vermag, dass er vermutlich unanständig teuer war. Das schwarze Haar trägt er im Zopf und vor dem schmalen Gesicht, das nicht ganz so dunkel ist wie bei der Mehrheit seiner Landsleute, eine runde Sonnenbrille mit roten Gläsern. Eleganz umgibt ihn wie ein sachter Klaps ins Antlitz des Betrachters: Schau her, was auf dieser Welt möglich ist.
Ich habe ihn in anderer Kleidung kennen gelernt, aber auch damals schon hat er gut ausgesehen. Sein Alter könnte man in der Mitte der Dreißiger ansiedeln.
Ich stemme die Sohlen fest auf den Boden, entschlossen, mein mitgebrachtes Terrain nicht aufzugeben.
„Du siehst blendend aus“, stelle ich trocken fest. „Wäre dieser Zuhälterzopf Maßstab für deinen Erfolg, würde ich sagen, die Geschäfte gehen ausgezeichnet.“
Ich erwarte eine Antwort wie: Komm doch etwas näher an den Tisch, dann spritzt das Gift nicht auf den Teppich. Aber nichts dergleichen. Auch das Lächeln zieht sich zurück bis auf einen mageren Rest.
„Die Geschäfte gehen in der Tat ausgezeichnet“, kontert Stephen. „So ausgezeichnet, dass ich ernsthaft erwäge, den Preis für Shiladdigh und Gazellenblut herunterzusetzen. Er ist ziemlich geklettert in den letzten Jahren, nicht? Wie lange musst du im Shangri für eine Monatsration tanzen?“
Glücklicherweise stellt keine Antwort auch eine Antwort dar, denn kurz verschlägt es mir die Sprache. Der Treffer unter die Gürtellinie sitzt.
Ich presse die Zähne aufeinander und achte darauf, dass die Bewegung nicht auf meinen Wangen zu sehen ist.
„Gleichstand, Elisa.“ Er ist stehen geblieben und mustert mich unverwandt. Seine Stimme hat ihre Lässigkeit eingebüßt, klingt klarer, strenger. „Aber ich habe dich nicht her gebeten, um Nettigkeiten auszutauschen.“
„Schön“, sage ich. „Was willst du dann von mir?“
„Komm mit.“ Stephen weist mit dem Kopf auf die Fensterfront. „Ich weiß, dass du hohe Plätze nicht magst, aber ein Ausblick von hier oben ist das Einzige, mit dem ich dich für deine Geduld entlohnen kann.“
Ich folge ihm die drei Stufen zum Podest hinauf, das rings um den Raum herumläuft und auf dem der Schreibtisch ruht. Im Vorbeigehen bemerke ich, dass die Platte fast leer ist bis auf die üblichen Gegenstände – Telefon, Elektrofedern und Notizpapier – und ein einzelnes, kümmerliches, uralt aussehendes Buch.
Die großen Fenster schieben sich ohne Signal lautlos auf.
Dahinter, so unwirklich, dass mein Schritt nicht nur meiner Höhenangst wegen zögert: Eine Terrasse, ausgedehnt genug, damit man ein ganzes Haus auf ihr abstellen könnte, dreieckig und von einer hüfthohen Brüstung umgeben.
Die Spitze des Turms.
Ich wende den Kopf, als ich hinter Stephen hinaustrete und fast andächtig echte Luft einatme. Über, hinter uns: Das Haupt der Obsidiannadel, dreieckig wie die Terrasse, die im Vergleich zur Größe des Gesamtgebäudes zu einem Fliegenschiss verkommt.
Der Himmel ist grau, aber rötlich gefleckt. Unten in den Straßen herrscht jetzt schon Dunkelheit. Hier oben aber gewahrt man, dass es noch eine Sonne gibt auf Sanktuario, und dass sie eben im Begriff ist, unterzugehen. Die Terrasse schaut nach Westen.
Asanctar breitet sich aus.
Die ewige Stadt.
Da ragen viele Gebäude aus der Stadtoberfläche hervor, silbern, schwarz, grau, aber alle hellrot verbrämt und mit Tausenden spiegelnder Fenster. Die Füße dieser Gebäude jedoch versinken in einer gewaltigen, unbewegten Dunstglocke. Nur hier und da stechen nadelfein die Signallichter großer Gleiter aus ihr heraus.
Die Stadt, stelle ich fest, macht ein Geräusch: Ein nicht abreißendes, leises Brummen, das man mehr spürt als hört.
Es ist erstaunlich windstill hier oben.
Nach einem Dutzend Schritte packt mich doch die Angst, der Sog des Bodens achthundert oder mehr Meter unter uns, und ich muss mich an das Spiel erinnern, um Stephen bis in die Spitze des Dreiecks folgen zu können.
Er hat die Hände in den Hosentaschen, jeder Zoll breit unbeeindruckt, hält an der Brüstung an und fragt: „Etwas zu trinken?“
„Äh“, sage ich. „Ein Glas Wein, danke.“
Dank der feinen Wahrnehmung für menschliches Verhalten, die Erfahrung ihm verschaffen konnte, hat er das Schwanken meiner Stimme sicherlich bemerkt. Blöder Hund.
Neben uns öffnet sich ein kleines Viereck im schwarzen Boden. Ein ausgehöhlter Steinsockel schiebt sich heraus.
Stephen entnimmt ihm zwei Gläser, gibt mir eines, nippt dann schweigend. Aus der Hemdtasche holt er eine Packung und zündet sich eine Zigarette an.
Ich beobachte sein Profil und seine Bewegungen und denke, dass er womöglich Abend für Abend hier draußen steht und über die Stadt schaut, über sein Imperium.
Vielleicht liegt es daran, dass er nichts sagt, aber plötzlich kommt mir etwas an diesem Bild und an dem Mann neben mir traurig vor – auf eine schleichende, untergründige Weise traurig, vor allem wegen der Makellosigkeit dieser nackten Terrasse zwischen Erde und Himmel.
Alter Rituale eingedenk nicke ich zu seiner Zigarette hin. „Du rauchst immer noch dieses billige Zeug.“ Ich nehme einen Schluck Wein – der ebenfalls von einer eher gängigen Sorte ist – und begegne den zwei runden, roten Brillengläsern mit einer, wie mir bewusst wird, forschenden und nicht sehr nüchternen Miene.
Keine Antwort, es sei denn, das Lächeln wäre eine.
Aber da kann er noch so ungerührt wieder auf die Stadt schauen – ich weiß, woher das kommt, die Feuerimps und der Tavernenwein. Er hat Angst davor, den Kontakt zur Welt da unten vollständig zu verlieren.
Die Erkenntnis hilft mir, meine eigene angekratzte Fassade wieder herzurichten, und die flaue Berührung des Mitleids in meiner Magengegend ist das Mindeste, was ich mir nach seiner Bemerkung von vorhin erlauben darf.
Stephen nimmt die Brille ab. Ah, da hat sich also doch etwas verändert.
Selbst von der Seite sehe ich, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmt – oder vielmehr, eher stimmt als früher.
Nach wie vor haben wir nicht aufgehört, zu spielen, und daher wendet er sie mir nach ein, zwei Zügen an der Zigarette zu. Ich verdanke es nur meiner Beherrschung, dass mich das ganz sacht Selbstironische dieses Blicks nicht von einer weiteren, berechneten Bemerkung abbringt.
Die Augen haben eine merkwürdige Farbe. Dunkelviolett. Trotzdem ein Fortschritt.
„Die Operation war bestimmt teuer“, sage ich, lächelnd in absichtlich schlecht nachgeahmter Höflichkeit. „Hast du das in einem deiner Hospitäler machen lassen oder auf dem Schwarzmarkt?“
Warum er nicht antwortet, verstehe ich nicht.
Undenkbar, dass er jetzt schon die Waffen streckt. Er weiß, dass er sich von mir keine Sympathie erkaufen kann, nur weil es vielleicht etwas wie das Mitleid der unteren Klassen mit dem verqueren Los seiner Gesellschaftssphäre gibt.
Eine Sekunde später verpufft mein Triumph.
„Diablo ist zurück, Elisa“, sagt Stephen.
Mir gelingt es, das Glas auf der Brüstung abzustellen, bevor das Gefühl aus meinen Händen schwindet.
„Blödsinn“, sage ich.
Nach außen hin bin ich gänzlich kühl, doch aus meinen Gedärmen quillt ein Schwall saurer Hitze empor und brandet gegen die Haut meines Gesichts an.
Gedanken taumeln umher. Es gibt auf dieser Terrasse fast nichts, mit dem ich nicht zu rechnen bereit wäre. Der Mann, der mir hier gegenüber steht, hat seine Neigung zu üblen Scherzen schon oft bewiesen. Aber das –
Die Hitze erreicht meine Lippen und sperrt sie auf.
„Das ist Blödsinn“, wiederhole ich fest. Nur beim Aussprechen der letzten Silbe fiepst meine Stimme ein wenig.
„Sieh selbst“, hält Stephen mir drei aus dem Revers gezogene Bilder hin.
Fotografien. Ich starre darauf.
Dann gebe ich sie zurück und schlage einen Haken.
„Gefälscht. Oder ein Elementarier.“
„Du hast doch genau hingesehen?“, erkundigt er sich. Gleichzeitig kriecht aus der Larve seiner Erscheinung, was ich mehr als jedes Wortgefecht und jeden Stoß zurück in die Vergangenheit fürchte: Das, was er wirklich ist.
Es steht dicht neben dem, was ich war und immer noch zu sein glaube, und mein geistiges Auge hat plötzlich eine Menge mit dem Abschmettern ungerufener Bilder zu tun.
„Woher hast du die?“ Ich nicke mit brennenden Wangen zu den Fotografien hin, die in Stephens Jackett verschwinden.
„Celeste“, antwortet er schlicht.
Der Name erschüttert mich in unvorhergesehener Weise. Jeder andere von uns, jeder, würde mir die Gnade der Annahme einräumen, dass die Last der Zeit doch ein paar Vernunftverbindungen gekappt hat. Und ich könnte es ja verstehen.
Aber über Celeste stolpere ich schmerzhaft.
„Dann ist sie verrückt geworden“, mache ich einen letzten Versuch. „Oder sie ist einer Verschwörung aufgesessen. Das wäre nicht das erste Mal, dass die Obersten und die Räte die Handlungen hoher Elementarier vertuschen wollen, indem sie... Und vielleicht ist die Sache ganz zufällig in Celestes Hände geraten.“
„Elisa.“ Stephen bremst mich aus.
Ich schaue weg.
Die Finger um den zarten Stiel meines Glases geschlossen, starre ich hartnäckig nach Westen, während der Ausblick auf die Stadt, die sich unendlich langsam in orangefarben gesäumte Rauchgewänder wickelt, flach wird, fast zu einer aufgespannten und bemalten Leinwand. Der Boden fällt aus meinem Selbst, dass es mir schwindelt, und daran ist nicht die ungeheure Höhe schuld.
Ich bin zu sehr außer mir, um mich darüber zu ärgern, dass Stephen mir Zeit gibt, damit ich mich an den Gedanken gewöhne.
Gewöhne. Fast muss ich lachen.
Als ich zu Stephen zurückschaue, mustert er mich. Und ich habe vorerst keine Gelegenheit mehr, die violetten Augen, die bis in diesen Abend herüber geretteten Gewohnheiten und den mit Verachtung und Verwandtschaft beladenen Kleinkrieg in eine Ordnung zu bringen.
„Wie lange ist es her?“, fragt er leise.
Wind, unsauber und warm, bewegt eine seiner schwarzen Haarsträhnen.
Er spielt nicht auf das erste Gestern an, nur auf unsere letzte Begegnung. Er weiß, wie lange sie zurückliegt, aber er will eine Antwort von mir. Der Versicherung wegen.
An der Zeit dazwischen gelingt es uns vielleicht tatsächlich, die Bedeutung dieser Stunde abzumessen, denn da bricht Celeste aus dem Feld verkrusteter Zeitblöcke hervor, Celeste, Celeste.
Sie trägt inzwischen Khaki, vorausgesetzt, sie steckt noch dort, wo sie schließlich untergekommen ist. Aber ob sie sich wieder in Gold kleiden würde, so wie früher?
„Zweiundzwanzig Jahre“, sage ich mechanisch.
 
Hey Reeba,

erst erst mal alles gute zum Geburtstag. Es freut mich, dass ich mal wieder etwas von dir lesen darf. Die Zeitepoche deiner Geschichte finde ich faszinierend. Es ist mal was ganz anderes als ich erwartet hätte. Fehler sind mir soweit keine aufgefallen. Wie immer absolute Spitze.

Inhaltlich finde ich jedoch einige Dinge etwas schade bzw. fast zu krass. Du beschreibst, wie sich die Gesellschaft von damals bis in die Gegenwart entwickelt und ich vermute mal sehr stark, dass du da mal wieder paralellen dbei in unsere Welt ziehst. Meinst du wirklich, dass es so extrem überhaupt aussehen kann? Meinst du, dass es überhaupt möglich ist? Ich denke nur, dass Menschen in so einem "Beziehungsverhältnis" untereinander nicht leben können, da ein Teil des Lebenssinns meiner Meinung nach in Freundschaften untereinander liegt. (Die Folge wäre möglicherweise Selbstmord ohne Ende)

Das ist nur so ein Gedanke nebenbei, wobei ich jetzt keine große Diskussion über solche Dinge losbrechen möchte. Zumindest nicht in deinem Thread :)

lg, Gandalf
 
Von mir auch einen Herzlichen Burzeltag

Es ist schön wieder was von der Grande Dame zu hören. Die Geschichte gefällt mir vom Scenario sogar besser als deine vorhergegangenen,, aber das liegt daran das ich chronischer Science-Fiction Fan bin.

Just my 2 cents

scir
 
Sehr schön, weiter so ... ich freue mich auf weiteren Lesestoff

Von mir hier an dieser Stelle auch alles Gute zum Geburtstag, viel Liebe und Gesundheit sowie alles was du dir noch wünschst, möge in Erfüllung gehen.

lg lceman
 
Alles Gute zum Geburtstag, Reeba :hy:


Und danke, dass du so schnell ein weiteres Kapitel lieferst. Ich hätte das ein paar Wochen später erwartet.

*Kapitel ausdruck*


Edit:

BOOM!

Jetzt ist die Bombe geplatzt. Der Dicke ist zurück! Tolles Kapitel, wie immer.
 
Alles Gute nachträglich zum Geburtstag :kiss:

Wow - so schnell ein neues Kapitel? Wie viel hast Du denn von der Geschichte fertig? Auf alle fälle finde ich die Charaktere äußerst spannend und brenne darauf zu erfahren, wie sie zusammen hängen und was hinter allem steckt.

LG Liska
 
Oh mann, so viel auf einmal zu lesen an der Glotze...nicht ganz angenehm, aber sei's drum. Es hat sich gelohnt. :)

Die hinter deine Story stehende Idee verspricht hohe Spannung in einer völlig neuen Welt. Ich bin nur noch nicht sicher, ob mir diese Welt so gefällt oder ob sie mir in ihrer Modernität nicht ein wenig zu überladen scheint mit ihren vielfältigen Bezügen zum Diablo-Universum. Aber ich denke, das muss konsequenterweise wohl so sein, will man das Diablo-Konzept in eine Zukunft von LoD transportieren. Es braucht wohl etwas Zeit, bis ich mich daran gewöhne. Die Parralelität unserer Gegenwart ist ja nicht vom Tisch zu wischen. Diese mit Diablo zu verschmelzen ist ein schwieriger Banlance-Akt, der dir bisher aber prima gelungen ist.

Dein Schreibstil zeigt deutlich ausgereifte proffessionelle Züge. Er ist angenehm zu lesen und lässt den Leser das Geschehen ohne Anstrengung verfolgen. Was mir jedoch etwas fehlt, ist etwas mehr Leben. Durch die häufig Abfolge kurzer die Situation oder Gedanken beschreibender Sätze wirkt die Erzählung manchmal zu oberflächlich. Das wirft mich dann irgendwie plötzlich aus der Story wieder heraus und zwingt mich, das Geschehen, in dem ich eben noch mitten drin gestanden (mitgefühlt/miterlebt) habe, wieder von außen als neutraler Beobachter zu sehen, was ich eigentlich nicht will.
Dieser Schreibstil trifft nicht meinen persönlichen Geschmack. Das soll aber keine wirkliche Kritik sein, denn ich weiß, dass viele proffessionelle Autoren diesen oder einen ähnlichen Stil ganz erfolgreich verwenden. Es ist halt reine Geschmacksache.

Abgesehen davon ist diese Story hier im FAS wirklich eine der besten, wenn nicht sogar die beste. Du zeigst hier ein großes Talent, welches sich einmal bezahlt machen könnte. Hut ab. :top:



btw: Was hat es mit den tausend Jahren auf sich? Hast du diese Zahl wilkürlich aufgegriffen oder hat sie einen Bezug zur Offenbarung des Johannes?
 
Thx für eure Burzeltagsgrüße und Kommentare :>
@Liska: Ich habe derzeit drei fertige Kapitel auf Lager. ;>
@TearDrops: Die Zahl Tausend ist ganz zufällig gewählt.

LG, Reeba :hy:
 
So, ich hoffe ihr hattet alle ein schönes WE. :>
Hier Kapitel 3.
LG, Reeba




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III. Altlasten





Der Oberste hat zugestimmt, dass ich mir, solange die Untersuchung läuft, meine Schichten selbst einteile. Mein vollstes Vertrauen, macht, wie Ihr denkt, Sal, und so weiter.
Wir wissen beide, wie wenig es sich hierbei um eine alltägliche Untersuchung handelt.
Aber wie viel ahnt der Oberste? Genug, um zu denken, eine Zeitspanne von zwei oder drei Tagen, die er mir freihält und in der ich mich weder Fragen noch mir zur Seite gestellten Helfern ausliefern muss, könnte eine gute Idee sein?
Ich bin in den vergangenen Jahren so oft von einem Revier ins nächste versetzt worden, dass kein durchschnittliches Mitglied der asanctarianischen Polizei meinen Lebenslauf mehr nachvollziehen könnte, aber ein paar Oberste haben natürlich Kenntnis davon.
Der Zugang zu meiner Akte bleibt unter Verschluss.
Falsche Namen, ein erfundenes Geburtsdatum. Dieser Oberste hier war der erste nach längerer Zeit, der mich wieder unter meinem richtigen Namen eingestellt hat. Order von irgendwo weit oben, zweifellos. Ich glaube allerdings nicht so recht an eine Entscheidung des Rats, der vermutlich nicht viel besser aufgeklärt ist als meine vier oder fünf letzten Vorgesetzten, und ihnen wird man Stillschweigen ans Herz gelegt haben.
Euer Rekord ist ausgezeichnet. Nein, nicht zu den Sucher-Helfern, das hat man mir bereits mitgeteilt. Zur Streife also. Was soll ich sagen, es ist Eure Entscheidung. An mehr erinnere ich mich eigentlich kaum.
Das Gedächtnis lässt sich schulen, doch wenn die Seele der Bereitschaft zu solch einer Schulung Grenzen setzt, fällt für jeden neuen Brocken erinnerten Lebens hinten etwas über die Tischkante.
‚Verdrängung’ schimpft sich das. Ihr verdanke ich, dass ich immer noch atme, und wie man das nennt, ist mir gleich.
Dienstagnacht auf unserem Revier. Die ‚vollen’ Stunden.
Am Nachbartisch beugt sich ein ganz in blauen Samt gekleideter, aschfahler Mann hartnäckig in die Erklärungen eines meiner Kollegen und droht mit dem Kappen gewisser Informationsverbindungen, sollte man ihn nicht in Frieden seinen Geschäften nachgehen lassen. Weitere Eingriffe verbitte er sich ein für allemal. Man bedenke doch gütigst das Risiko.
Mein Kollege läuft kaum rot an, vergewissert sich aber hastig, dass die Leute in der näheren Umgebung nicht mithören. Kein Leichtes in einem fast aus seinen Nähten platzenden Revier.
Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wie die beiden Männer jetzt zischend Personen aufzählen – mein entnervter Kollege verschiedene hohe Vertreter der Bezirkspolizei, der Drogenhändler eine weit längere Palette von Leuten, angefangen bei seinen verständigen Schlägern über erwähnte Verbindungsleute bis hin zu seinen Kindern und Kindeskindern, die stehenden Fußes verhungern werden, und da beginnt er fast zu singen und zu feilschen, wenn er die frisch aus dem Umland eingetroffenen, irgendwie halb versehentlich in seinen Besitz geratenen Produkte nicht verkaufen darf.
Ich versuche, belustigt zu sein. Es will mir nicht glücken.
Stattdessen wandert mein Blick über die einzeln oder in Gruppen im Raum verteilten, stehenden, sitzenden, palavernden Menschen hinweg zur großen Tür.
Hinter den Scheiben der Türflügel wird es hell. Eine gestaltlose Kraft, Druck starker Hitze, klappt sie auf.
Atemzüge verstreichen, dann bläht sich eine Wolke aus Feuer in den Raum. Sie stößt vor wie eine Faust, quillt auseinander. Fauchen, wirbelnde Notizblätter. Die Kleinarbeit mehrerer Abende löst sich am Rand der Feuerwolke in Nichts auf, und es geht so schnell, dass die brüllende Walze die ersten Menschen schluckt, bevor jemand Gelegenheit dazu erhält, sich zu wundern.
Ich bleibe sitzen, die Hände im Schoß, während die Walze an Breite gewinnt und auch an Höhe, zerplatzende Luftwirbler von der Decke zupft und gierig nach den Tischen in der Raummitte schnappt. Leute wenden sich um, werden in die Luft gehoben. Stühle poltern.
Jetzt fällt es euch auf einmal wieder ein, das Klagegeheul. Tieferes Wissen lässt sich also doch vererben, was?
Leider zu spät. Ihr seid zu spät aufgewacht.
Und ich bleibe sitzen.
Zwei Meter vor mir umschließt das fauchende Gelb die erstarrenden Umrisse meines Kollegen, reißt dann den blau gewandeten Mann weg, samt seiner Kinder und Kindeskinder. Ein Hitzestrom über der Feuerwalze schlenzt seine Kappe durch die Luft und lässt sie spielerisch aufwärts trudeln.
Atem erstickt. Meine Haut beginnt zu kochen, aber immer noch sitze ich und verfolge mit Interesse den winzigen Knall, mit dem meine Elektrofeder explodiert.
Armes Asanctar. Jahrhunderte um Jahrhunderte zäher Plackerei, für nichts und wieder nichts, und jetzt stirbst du wegen einer vergessenen Legende, und ich mit dir. Warum eigentlich nicht?
„Dame Celeste?“
Ich zucke zusammen.
Vor meinem Tisch steht ein Mann mit graubraunem Gesicht und bodenlangem, schwarzweiß gemustertem Gewand.
Mehr aus einem Instinkt heraus lege ich die Hand auf die Fotografien und schiebe sie langsam unter einen Stapel Papier.
Schwarze Augen verfolgen die Bewegung für einen Sekundenbruchteil, bevor sie meinen begegnen. Der Mann hat schulterlanges Haar von derselben Farbe wie seine Augen, ein fast zu ebenmäßiges Gesicht, einen kurzen, gepflegten Kinnbart und starke, wie gemalte Brauen, die sich jetzt ganz sacht zusammenziehen in einem Anflug von Besorgnis oder vielleicht auch Befremden über meine verzögerte Reaktion.
„Grüße“, sagt er. Als er begreift, dass ich ihn erkenne, werden seine Augen hart und vorsichtig.
Ich stehe auf. Wir sind ungefähr gleichgroß.
Hätte ich etwas für Männer übrig, wäre ich angemessen beeindruckt, aber so nehme ich seine schönen Züge als Muskelübung einer ungerechten Natur und weiß, dass mein erster Eindruck getrogen hat. Er ist das genaue Gegenteil eines Suchers.
Erstaunlich, dass sich Einer von ihnen hierher wagt.
Ihnen dürfte doch bekannt sein, wie eng die Polizei immer noch mit einstigen Vertretern der Magierjäger zusammenarbeitet.
„Grüße“, antworte ich, plötzlich nervös, weil mich nur zwei Meter vom Tisch meines Kollegen trennen. „Der ehrenwerte Herr ...?“
„Mein Name tut nichts zur Sache.“ Seine Stimme ist leise und scharf. Die unvermeidliche Höflichkeit des Südländers kontrastiert eigenartig mit der Vorsicht, die er nicht verhehlen kann.
„Das nehme ich an.“ Der Oberste hat ihn zu mir geschickt, aber warum zur Hölle - wenn nicht aus tiefster Verachtung für diese geheime Gesellschaft - direkt in das überfüllte Arbeitszimmer? „Nun, wir sollten vielleicht einen ungestörteren Ort aufsuchen. Folgt mir.“
Ich führe den Mann aus der gedrängten Dichte des Raums und durch einen segensreich unbelebten Gang zu den Verhörzellen. Alle sind besetzt.
Nach raschem Umsehen schmeiße ich eine Festgehaltene, die noch ihrer Befragung harrt, aus einer Zelle heraus und kette sie, da ihr Bearbeiter gerade nicht anwesend ist, im Flur an ein Luftrohr. Die Halbweltdame protestiert und bedenkt mich mit ausgesucht widerwärtigen Schimpfnamen.
„Maul halten“, fertige ich sie ab.
Ich bitte den Mann im Burnus in den nunmehr freien Raum und verriegle die Tür hinter uns.
Er tut zwei, drei Schritte, die Schultern ganz leicht zusammengezogen und mit einem hastigen Blick in alle Ecken. Im grauen Licht des Raums wirkt er plötzlich blass, aber ich mache nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen, und da mir die Vision noch im Nacken sitzt, besänftigt mich seine Nervosität.
„Ihr könnt hier frei sprechen“, sage ich.
Da ist ein Tisch mit zwei freien Stühlen, doch er ignoriert ihn.
„Ich habe nicht viel Zeit“, beginnt er, die stolze Miene mir zugekehrt.
„Die hat euresgleichen nie“, kommt es mir über die Lippen.
Die Welt hat so viel Verachtung angehäuft für Männer wie diesen, etwas davon musste abfärben, selbst auf mich.
Er schluckt die leise Schmähung, ist wohl auch daran gewöhnt. Er gehört einem gehetzten Häuflein an, einer Runde in den Untergrund verdammter Schatten, zerquält von der Zerrissenheit zwischen lockender Aufgabe des eigenen Daseins und einem Leben auf der Flucht, gebrandmarkt durch eine Gabe, die unsichtbar und äußerlich nicht verräterisch, aber für seine Gegner immer fühlbar ist.
„Ihr seid mit der Untersuchung des Vorfalls in Sulaya betraut“, sagt er, die Hände, nach denen ich mit zeitloser Wachsamkeit spähe, in den Falten seines Burnus verborgen.
„Das ist richtig.“
Er zögert. „Ich bin nur hier“, fährt er dann fort, „um Euch zu versichern, dass keiner meiner Getreuen dafür verantwortlich war.“
Getreue. So nennt man das jetzt also.
„Tatsächlich.“ Ich gestatte mir ein dünnes Lächeln. „Es wäre mir neu, dass Eure Gemeinschaft verlässliche Kunde von allen Aktivitäten aus Euren Reihen hätte. Oder sollte es da etwa auf einmal eine funktionierende Oberaufsicht geben?“
„Nein.“ Unter seinen straffen Wangen arbeitet es. Bräuchte ich noch einen Beweis für die Aufrichtigkeit seiner Worte, wäre die Tatsache, dass er mir nicht mehr in die Augen schaut, genug. Doch als sein Blick zu mir zurückfindet, glimmt es unter der Asche. „Wir hatten nicht die Möglichkeit, uns mit einer Oberaufsicht auszustatten. Das sollte jemand wie Ihr doch nachvollziehen können, Dame Celeste.“
Ich mache die Augen schmal.
Weißt du Bescheid, du kleiner Schleicher?
„Obacht“, sage ich leise. „Lehnt Euch nicht zu weit aus dem Fenster, Ashaf oder Kalim oder wie auch immer Ihr Euch nennt. Nur weil ich in dieser Uniform stecke, heißt das nicht, dass sich meine Beziehungen auf die Obersten der Stadtreviere beschränken.“
Grotesk, genau genommen. Ich drohe einem Widergänger mit einem zweiten, der etwas glücklicher durch die Jahrhunderte der Verfolgung gekommen ist, und ich tue es ohne Versicherung, dass Letzterer mit wirklich beistehen würde.
Der Mann starrt mir ins Gesicht.
Dann auf einmal lächelt er – schlau, amüsiert, beinahe anerkennend.
„Verzeiht. Lasst uns zur Tagesordnung zurückkehren.“ Er zieht die Hände aus dem Burnus und faltet sie vor dem Schritt, wobei er mein unwillkürliches Zucken höflich übersieht. „Eure Fotografien sprechen für sich. An diesem Ableben tragen wir keine Schuld.“
„Das weiß ich“, gebe ich zurück, steif, innerlich plötzlich erschöpft. „Ich könnte Euch weitere Worte ersparen, und mir desgleichen – und wisst Ihr was? Hiermit tue ich es.“
Ich gehe zur Tür, doch bevor ich sie erreiche, drehe ich mich noch einmal um.
„Haltet Euch aus dieser Sache heraus. Seht zu, dass Ihr Land gewinnt – ich glaube nicht, dass dieses Revier unbeobachtet ist, und ich kann für die guten Absichten gewisser Parteien nicht garantieren.“
Für Sekunden verharrt er auf der Stelle.
Dann gleitet der bestickte Burnus an mir vorbei auf den Gang, beruhigt vielleicht für den Augenblick, doch mit viel sagender Eile. Ich bedauere den Mann.
Sein Besuch hat mir den Aufenthalt auf dem Revier für heute Nacht vergällt.
Ich lasse die immer noch ans Luftrohr gekettete Frau krakeelend zurück, weiche den milde erstaunten Blicken der Kollegen aus, sehe auch von einem eigenmächtigen Besuch im Zimmer des Obersten ab, der meinen aufgebrachten Fragen ohnehin nur schulterzuckend begegnen würde.
Ich kann nicht viel tun. Keiner der Anwohner rings um den Unglücksort hat etwas von Wert beobachtet, nicht in einer Stadt, in der täglich Dutzende von Menschen Gewalttaten zum Opfer fallen.
Die Vergeblichkeit meiner Profession hängt plötzlich mit bleiernem Gewicht an mir. Ich muss raus, weg von dem Papierkram und den schalen Geistern des diesseitigen Daseins.
Auf dem Weg durch die verstopften Straßen grüble ich finster vor mich hin.
Da der Mietgleiter andauernd in Trauben achtloser Passanten stecken bleibt, habe ich Zeit, durch die ölig nassen Scheiben nach draußen zu sehen.
Reigen von Gestalten ohne Gesichter. Dickichte abgetragener Stoffe, hinter denen weiße und rote und blaue Lichter vorbei flackern.
Eine weitere Generation wühlt sich durch die Neuauflage von Zeit und Pfad, läuft herum, frisst, paart sich, leuchtet kurz auf, und mich blendet der Ausgangspunkt ihrer Epoche nicht mehr genug.
Ich bin so müde.
Aber was ist mit ihm... Sollte er wirklich zu uns zurückgefunden haben?
Sind die Anderen inzwischen unterrichtet? Mit Sicherheit.
Morgen bereits habe ich mich ihnen zu stellen.
Die Nacht wird im Nu verfliegen, und ich bin froh und betroffen zugleich darüber.
Im fast dunklen Treppenhaus eines der großen Mietshäuser von Am’Ashwa riecht es nach gekochtem Bitterkohl, altem Holz und, schwach, nach Urin. Warum ich nicht in eine bessere Etagenebene hinauf gezogen bin, dorthin, wo man durch die Stahlknochen der Stadt gelegentlich sogar die Sonne sieht, weiß ich nicht mehr.
Mir scheint, dass ich hierher gehöre.
Familien drängen sich in großen, hohen Räumen zusammen, immer ein paar mehr Leute als erlaubt, weil der Ordnungsrat nicht mit Kontrollen hinterher kommt. Sie arbeiten in Küchen, Lagerhäusern, Läden, als Gleiterfahrer oder Warentransporteure und füllen die oft schlecht isolierten Wohnungen ohne richtige Kochstellen mit einem Leben, das der durch baufällige Fenster herein dringenden Feuchte und der Enge herzhaft widersteht. Herzhaft und geräuschvoll.
Auf meinem Weg in den fünften Stock höre ich Lachen, Kindergeschrei, hitzige Wortwechsel und etwas, das Gebetsgemurmel, aber ebenso gut das Gestöhn Liebender sein kann. Alles in einem hübschen Durcheinander.
Ich glaube, dass ich noch nie so lange für fünf Treppen gebraucht habe.
Maeve öffnet mir die Tür.
Sie hat gekocht, ein bisschen im Dampf über ihren Töpfen stumme Lieder gesungen – es riecht nach Gewürzen und Süßkartoffeln.
Ich küsse sie auf die leicht verschwitzte Stirn und frage sie, ob es ihr gut geht, was sie nickend bejaht, und wie ihr Tag war.
Schulterzuckend schließt sie die Tür. Gut und schlecht, heißt das.
Dann hilft sie mir aus der Uniformjacke. Ich mag nicht, wenn sie das tut, aber sie lässt es sich nicht nehmen.
„Ich bin nicht hungrig“, sage ich. „Tut mir Leid, Liebes.“
Willst du gar nichts essen?
„Nein“, beharre ich, schärfer als beabsichtigt.
Sie steht kurz unentschlossen da, verschwindet dann im Wohnzimmer und kommt mit steif nach vorn ausgestreckten Armen zurück.
Es hat mich immer gerührt, wie sie allen forschenden Blicken ihre Hände präsentiert: Als wolle sie sagen, dass man diese schmalen, verbrannten Finger, von denen zwei fehlen, eben als Umstand des Lebens hinzunehmen habe.
Die Karte glänzt silbrig.
Maeve lässt sie nicht los, hält sie nur so, dass ich den Aufdruck lesen kann.
‚Sutre’.
„Wann ist die gekommen?“, frage ich, bedacht darauf, die Karte nicht zu ergreifen, denn Maeve hat sie gefunden – irgendwann heute, wie ein neuerliches Schulterzucken beweist – und jetzt gehört sie ihr.
Sie dreht die Karte herum.
Eine schöne, geschwungene Handschrift. ‚Mittwoch, Zitadelle, 6:00’.
„Gut.“
Maeves Augen leuchten, als sie mein Gesicht verlassen und auf den flachen Gegenstand zurückkehren.
„Ja“, versichere ich ihr, „das ist echtes Silber, Maeve. Du kannst sie gleich morgen eintauschen, wenn du willst. Aber lass dich nicht übers Ohr hauen – sie ist wenigstens zweihundert Cisma wert.“
Nicht sonderlich überraschtes Schweigen. Man darf ihren Sinn für Profit, für die Gesetze der Straße und für die Mächte in Asanctar nicht unterschätzen. Er war ausgereift, Jahre bevor die Explosion ihre Hände und ihre Stimme mitgenommen hat.
Ich gehe durchs Wohnzimmer, bemerke abwesend einen kleinen Stapel fliederfarbener Schachteln, die herumstehen, und gelange in den Schlafraum, der kühl ist und dunkel dank fast geschlossener Jalousien.
Maeve ist mir gefolgt. Ihr Schweigen drückt Unsicherheit aus.
Ich lasse mich auf der Matratze nieder, mit gekreuzten Beinen immer noch einen Kopf größer als die schwarze Gestalt, die sich vor mir hin kniet und ihren gelben Leinenüberwurf abstreift.
„Maeve“, sage ich, „ich werde morgen den ganzen Tag fort sein. Ich muss den Mann treffen, von dem diese Karte stammt.“
Nickendes Schweigen, aufmerksam, aber nicht ergeben. Das macht mir Mut.
„Pass auf dich auf. Selbst wenn du in Sulaya zehn Cisma mehr für die Karte bekommst, verkauf sie hier. Geh nicht zu weit vom Haus weg.“
Ich möchte ihr etwas erzählen. Ich weiß, es wäre gut aufgehoben bei ihr. Maeve spricht nicht mehr.
Uralte Geduld schaut mir entgegen, eine Gelassenheit jenseits meines Einflusses.
Dann plötzlich tastet Maeve nach meinen Fußknöcheln. Bar ihres Leinenüberwurfs riecht sie nach Asche und Pfeffer, und jetzt schweigen wir beide eine Weile, zusammen.
In ihrer Wortlosigkeit aber verbirgt sich eine Forderung.
„Meinetwegen“, gebe ich nach und recke die verspannten Schultern. „Komm ins Bett.“





Mein Weg aus dem Turm heraus gleicht dem Weg hinein, bloß in umgekehrter Reihenfolge.
Ich atme erst freier, als ich auf dem breiten Gehweg ankomme. Die anzugtragenden Knechte sind in die Sphäre ihres Brotgebers zurückgewandert, ich bin allein und dem Gewicht der vergangenen Stunden entronnen. Und ihm ausgeliefert.
Ich habe eine Nacht zu überstehen, nur eine einzige Nacht.
Niemand fragt, ob ich eigentlich einverstanden bin damit, dass mir alles bis hierher Erkämpfte weggerissen wird.
Wir bleiben unter uns. Mittlerweile sind alle kontaktiert, wette ich: Jeremiah und Stephen durch Celeste, ich durch Stephen, und Raoul werden wir auch noch kriegen.
Es bleibt Keinem erspart.
Namen.
Betäubt, steifbeinig gelange ich zur nächsten großen Kreuzung.
Gleiter rücken, auf drei Flugebenen verteilt, gegeneinander vor, die obersten etwas zügiger, die auf der untersten Ebene langsam und schwerfällig, reine Transporter, oft fast schrottreif. In dieser Gegend halten sich die Passanten noch einigermaßen an die Straßenüberquerungsverbote, bevölkern die Gehsteige aber so dicht, dass man Schwierigkeiten hat, sich auszumalen, wohin all diese Menschen zurück kriechen, wenn ihr Tagewerk erledigt ist.
Ich quere die Kreuzung und tauche aufs Geratewohl in die Menge.
Es hat zu regnen begonnen, doch mit dem staubfeinen Niederschlag Asanctars, dem niemand mehr Beachtung schenkt und der in öligen Tropfen von meinem Mantel abperlt. Der Ausstoß der Gleiterhecks und der warme Dampf aus Tausenden von Garküchen und Abzugsrohren verhindert, dass es kühler wird. Die Nachtstadt hat eine Sumpf- oder Waschhausatmosphäre, Wolken geruchsgesättigten Nebels, in denen der Gestaltenstrom zu wabernden Umrissen verzerrt wird.
Für mich ist diese Dichte ein sanft prasselnder Hagel aus Geräuschen und Bewegungen. Meist verbiete ich mir ihre seltsame Erlösungskraft.
Ich darf nicht weich werden. Jeder Kontakt zum schwammigen Schleifstein der Massen überträgt sich auf meinesgleichen, nutzt Sinne ab, rührt mit bösem Finger an die nie ganz verheilte Wunde der unvollständig und zu früh durchtrennten Nabelschnur.
Gegen meinen Willen, als ich aufatmend in das Gewühl der übernächsten Kreuzung eintrete, schiebt sich eine schwarze, dreieckige Terrasse in den Raum hinter meiner Stirn. Darum diese kleinen Stilbrüche in seinem luxuriösen Dasein. Ich will ihn nicht verstehen.
Stephen.
Er tut mir nichts Gutes an.
Trotzdem, ich gehe wacher, lebendiger als in unzähligen Jahren durch die Straßen, in denen die Gleiter, hier an der Schnittstelle zwischen Camever und Sulaya, nicht mehr viel zu melden haben, in denen sie nur noch Untersätze für Leute oder Waren sind, zum Schritttempo verdonnert.
Die Straßen werden enger, die Häuser rücken zusammen und überspannen trennende Schluchten mit den Aussichtsstiegen von Großtavernen und mit grellen, starren Bannern aus Leuchtschrift.
Der Regen gelangt kaum noch bis zum Asphalt hinunter. Dessen ungeachtet ist es feucht, klebrig warm dank der Dämpfe aus Kleidern und Körpern.
In Camever, könnte man meinen, ist rund um die Uhr und an sieben Tagen die Woche Markttag.
Dieses Viertel entzieht sich den Ordnungsversuchen der Obrigkeiten, seitdem die ersten Grundpfeiler Asanctars hier aus dem Boden geschossen sind. Weit müssen die Unterhändler der Drogenfürsten, deren größtem ich eben gegenübergestanden habe, die Ware nicht in die Stadt hinein tragen.
Der Obsidianturm steht mitten zwischen seinen besten Umschlagplätzen.
Vielleicht ist es so weit oben erträglich, Vergifter der Massen zu sein.
Ich starre einem alten, mit Töpfen und Tiegeln behängten Kurasti so scharf ins Gesicht, während sich unsere Wege kreuzen, dass der arme Kerl mich erschüttert vorbei lässt.
Sich kein Urteil erlauben zu können, steigert die Wut. Ich hätte mich von Stephen nicht so kalt erwischen lassen dürfen. Er, der gut unterrichtete Mittelpunkt unserer einstigen Gruppe, weiß natürlich, dass ich süchtig bin – eine von Hunderttausenden, die nicht mehr ohne Gazellenblut oder Saccanam leben können.
Vielleicht gehört Stephen längst zu uns. Aus reiner Langeweile, nicht aus Not.
Der Alte mit seinem portablen Kramladen ist vorbei, und plötzlich, schlagartig wie ich es gewohnt bin, meldet sich Hunger.
Es wird Besuchern von außerhalb – was nicht das Umland Asanctars, sondern andere, noch unzerstörte Städte meint – geraten, sich von den Buden und Schenken des Pöbels fernzuhalten. Nicht abgekochtes Wasser, verdorbenes Fleisch, erkrankte Arbeiter, die mit Lebensmitteln herum hantieren. Ungeziefer. Sowohl tierisches als auch menschliches.
Egal.
Mit einer Suppe kann ich nichts falsch machen, und diese kleinen, dampfblinden Fenster hinter den Passantenströmen ziehen mich magisch an. Über den Gehsteig hinweg, der vor hockenden Bauchladenhändlern, geduckten Mantelträgern und müden Heimkehrern nur so wimmelt, betrete ich einen Imbiss.
An der Theke hängt ein Besoffener mit dem Gesicht in einem Fleck Reiswein, aber sonst ist alles einigermaßen sauber, und auch die Gäste, namentlich Kurastis oder Mischlinge, riechen nicht allzu stark nach Schweiß. Über allem leuchtet und plärrt ein Bildschirm: Ergebnisse der Schaukämpfe von Besiméra, unterbrochen von grell bunten Werbeeinlagen.
Eine Schale Nudelsuppe ist schnell geordert.
Ich ziehe mich an einen Wandtisch nahe der Theke zurück.
Das Los der Frauen, die in diesen Straßen rascher unerwünschte Begleitung bekommen als ein Tempeldiener ‚Neigt euch!’ sagen kann, bleibt mir dank wohl kalkulierter, eisiger Blicke erspart. Der einzige Kerl, der sich mir hoffnungsvoll nähert, weicht umgehend zurück, als ich, tief über meine Schale gebeugt, meinen Mantel aufschlage.
Die Suppe schmeckt fade, ist aber heiß, so wie es sich gehört.
Und mit einer gewissen Grundlage im Magen verkrafte ich auch die Pille besser.
Auf dem Abort des Imbisses nehme ich die Dosis, und ich habe sie kaum mit einem Schluck Wasser hinunter gespült, da verlieren die mit Anzüglichkeiten beschmierten, fleckigen Wände schon alles Widerwärtige.
Das Licht der nackten Glühbirne wird punktartig hell. Ich stemme die behandschuhten Hände gegen die Wände der Kabine, den Kopf gesenkt. Ich könnte die morsche Tür aufbrechen, mit einem einzigen Tritt. Elend und Schmutz werden unwichtig, nein, besser noch: Hören auf zu existieren.
Ich will zurück auf die Straße, wo die Droge mir Platz verschafft, wo sie Gestalten und Lichter, selbst wenn es Tausende sind, übersichtlich macht.
Ohne zu merken wie, verlasse ich den Imbiss kurz darauf. Der Druck in meinen Schläfen ist verflogen.
An einer Straßenkreuzung drehe ich mich sogar um und schicke einen Blick zum Nadelhaufen der großen Türme empor. Ich allein weiß Bescheid. Ich allein unter all diesem Gesindel hier.
Mein Unterbewusstsein, das unbeeinflusst bleibt, sagt mir zwar, wie närrisch ich mich benehme, aber der Rest... der Rest...
Soll er doch kommen.
Ist es überhaupt denkbar, dass er dieselbe böse Macht und Vernichtungsgewalt besitzt wie damals – hier, inmitten all dieser Bauten aus Glas und Licht, inmitten all dieser zusammengepferchten, emsigen Bürger? Längst haben sie die Sumpfpfade und hohen Wiesen gegen harten Asphalt eingetauscht, Krieg und Jagd gegen eine ausgedehntere Lebensspanne.
Sie bedienen sich so vieler blinkender, metallener, tödlicher Dinge – in welche Welt kommt er, und aus welchem Raum zwischen Damals und Diesseits sollte er denn plötzlich hervor gebrochen sein?
Nein. Es muss sich um einen Irrtum handeln.
Doch mein spöttisches Auflachen ist blechern, versandet zu schnell und zu hohl.
Ein Irrtum.
Das Gewühl in den Straßen wird dichter. Regen träufelt von Gleitern auf die tanzenden Köpfe herab, spaltet Lichter in Myriaden feucht blinzelnder Äuglein. Bauchhändler schnalzen mir zu, eine Gruppe hochgewachsener Männer unterhält sich mit fliegenden Zungen.
Noch dichter. Eine lebende Eidechse am Arm einer Alten, die dahin schlurft. Hundert Dialekte, nasse Schritte. Man weiß nicht wohin in den Atemstößen aus Garküchen und Luftlöchern.
Ein Schulterstoß.
Zutiefst erschrocken weiche ich seitlich aus.
Es war ein Fehler, die Pille so weitab meiner dunklen, kühlen kleinen Wohnung zu nehmen, denn auf die Phase der Euphorie folgt unausweichlich die Phase, in der körperlicher Tribut gezahlt werden muss.
Im Shangri wäre das kein Problem gewesen, nicht auf meinem Tanztablett, im Shangri, das dir nicht gehört, oder, Stephen? Noch nicht.
Ich taumle. Mein Schritt hat sich verlangsamt.
Hastig neben einen Kübel schlüpfen, einen Müllbehälter, so wie das stinkt. Hauptsache Schatten. Meiner Haut bricht Schweiß aus. Ich möchte mich schälen wie eine Schlange.
Er ist zurück.
Der Übelkeitsanfall kommt so unvermittelt, dass er mich in der Mitte abknicken lässt.
Die Welt wird mir zu eng. Und ich spüre peinlich, beschämend, irritierend deutlich die kalt verschwitzte Wölbung meiner Brüste am Leibleder, während die Nudelsuppe mir zwischen die Stiefelspitzen plätschert.
Augenblicklich wird mein Kopf klar. Hastig richte ich mich auf, der Magen leer, eine Hohlkugel mit fleischigen Wänden, wie wir inzwischen wissen, die Augen auf allen nahen Gestalten gleichzeitig. Hat mich jemand beobachtet?
Was, wenn Stephen mir seine Handlanger hinterher geschickt hat? Sie werden ihm berichten, wie ich mich hier selber entehre, und er wird an seinem Tisch sitzen und womöglich den Kopf schütteln und mitleidig lächeln.
Er weiß es längst. Aber Sehen ist glorreicher als Wissen.
Aber dann, was macht es schon? Widerstreit von altem Stolz und fürchterlicher Mattigkeit in mir, trotz des Adrenalins, das durch meine Adern rauscht.
Früher hätte ich es nie so weit kommen lassen, dass mich die Augen der Massen taumeln und zusammenklappen sehen. Früher wären sie meiner nicht einmal gewahr geworden, eines Schattens höchstens, der in den Korridoren zwischen ihren Herden spazieren geht.
Aber die Zeit hat uns einander näher gebracht, sie zu Generationen aufgestapelt, mich vereinsamen lassen – auch durch die Einsicht meiner Unfähigkeit, mich gegen Verrohung und Abstumpfung zu wappnen.
Denn so viel Ausdauer besitzt niemand. Nicht einmal ein Halbgott wie jener, dessen Gemächer ich eben verlassen habe. Vielleicht, wer weiß, ist er in Wahrheit der Einsamste von uns allen.




Der Mann wehrt sich. Ein klebriger, nasser Fleck verunziert seine elegante Weste, seine Frisur ist zerrauft. An beidem bin ich schuld, und er protestiert lautstark, während er durch das Spalier glotzender Bargäste Richtung Ausgang gezwängt wird.
Kurz davor versucht er noch, sich aus meinem Griff zu winden, aber er hat keine Chance.
Niemand Wichtiges hört zu, also muss ich nicht höflich tun.
„Ich breche dir den Arm, du Stück Mist“, sage ich ihm. „Ich versprech’s dir. Ich breche dir den Arm.“
Die Drohung jagt ihm Angst ein. Aber seinesgleichen ist an rohe Behandlung nicht gewöhnt. Als wir die Tür erreichen, stemmt er sich gegen das Vorwärtsgeschobenwerden.
„Drecksblöder Ochse!“, zischt er mir zu. „Wer von uns ist hier das Stück Mi- au!“ Sein Arm ächzt vernehmlich im Gelenk. Ich muss nur ein wenig fester zupacken. „Ich werde dafür sorgen, dass du hier nie wieder arbeitest!“
„Das glaube ich kaum“, sage ich.
Der Ausgang. Leicht bekleidete Mädchen weichen quietschend zur Seite, starren, kichern. Hinter uns pulst die Musik.
Leere Drohungen. Selbst wenn die Familie dieses verzogenen kleinen Bastards meinen Chef dazu zwingt, mich zu entlassen, zwingt ihn am nächsten Tag jemand anderes, mich wieder einzustellen.
Oder ich ziehe eine Bar weiter. Zum so und so vielten Mal. Es kümmert mich nicht im Geringsten.
Es ist tot in mir. Selbst das Wissen, dass mich ein anderer Mann schützt, weckt nirgendwo mehr etwas in mir auf.
Auf der Straße parken zahlreiche Gleiter, schimmernd bunt im staubfeinen Regen. Auch der Rinnstein ist nass.
Da hinein befördere ich den Unruhestifter mit einem Stoß.
Er stürzt, flucht. Dutzende Leute sehen zu, wie er sich aufrappelt, die Weste verrutscht, jetzt auch mit dreckigem Wasser besudelt, das Gesicht zornblass im kränklichen Licht der Neonschilder. Heimlich, tief innen, empfinde ich einen kurzen Anflug ungeheurer Genugtuung.
„Pack dich weg“, rate ich dem Oberklassensöhnchen und verschränke zur Unterstützung meiner Worte die Arme vor der Brust. Ich weiß, wie ich aussehe – für die alten Augen. Mein Gegenüber sieht nur einen Berg von einem Kerl, ja, einen drecksblöden Ochsen, aber einen, der ihm das Genick brechen könnte, wenn es ihm so gefiele. „Und lass dich hier nicht mehr blicken.“
Ich überlasse ihn der Straße und dem Gekicher der Mädchen.
Ein Teufel hinter meiner Stirn empfiehlt mir, ein paar von ihnen ebenfalls kopfüber in die Gosse zu werfen. Dafür, wie sie mich anschauen, mit dieser widerlichen, aufgeregten Faszination am brutalen Tier.
„Raoul.“ Im Eingang nickt mir Jeevan zu, der zweite Rausschmeißer, ein brauner, kahlköpfiger Mensch mit schwerlidrigen Augen. Er hat genug Pillen gefressen, um im Brust- und Schulterbereich wie eine Tonne zu wirken, aber ich überrage ihn um Haupteslänge.
Als ich an ihm vorbei zurück ins Atma will, hält er mich auf.
„Solltest vorsichtiger sein.“ Er nickt zur Straße hinüber. „Eine Idee, wer das war?“
So muss er mir gar nicht kommen.
„Mir scheißegal, wer das war“, brumme ich.
„Trotzdem.“ Jeevan hebt die Brauen. Immer wieder geht er mir mit Warnungen auf die Nerven – weil es ihn ärgert, dass ich mir vieles ungestraft erlauben kann. Dann senkt er die Stimme. „Du bringst uns alle in Verruf. Die ganze Bar, Mann.“
„Jeevan.“ Ich verringere den Abstand zwischen uns. „Wenn’s dir nicht passt, arbeite woanders. Lass mich in Frieden. Ich rate es dir im Guten.“
Die vorgetäuschte Besorgnis fällt ihm aus der Miene. Er wird fast so blass wie das reiche Söhnchen, das ich in den Rinnstein befördert habe.
„Eines Tages“, zischt er, laut genug, damit die Gäste am Eingang rasch ein Stück vor uns zurückweichen, „ist auch deine Glückssträhne mal vorbei, Barbar.“
Ich richte mich auf. Ohne dass ich es will, ballen sich meine Fäuste.
„Halt dein Maul“, sage ich leise und gefährlich.
Aber ich kann nichts tun, und Jeevan weiß das. Er gestattet sich ein triumphierendes Grinsen, das schlecht zu seinen bösen, schwerlidrigen Augen passt.
„Verbieten sollten sie euresgleichen“, gibt er zurück. „So wie die Erdler. Vielleicht tun sie’s bald. Und dann wird dein Schutzengel auch nichts mehr machen können, stolzer Krieger.“ Der Hohn gräbt sich so hinterrücks in meine Magenwand, dass ich mich kaum noch vom Zuschlagen abhalten kann. „Dann sind wir euch endlich los.“
Damit verschwindet Jeevan im blau und rot gefleckten Dunkel der Bar, aus der die Musik auf den Gehsteig schwappt.
Ich sehne mich nach Stille, nach Menschenleere, irgendeinem Fleck, der frei ist von diesen Gesichtern, diesen geschminkten Augen, diesen verständnislosen und verständnislos feiernden Kindern. Aber ich muss zurück.
Im Atma ist es laut. Ich sollte mich längst daran gewöhnt haben.
Trotzdem zieht sich alles in mir zusammen. Selbst das Gewicht der Schritte hinein ins vollgepackte, bunte, schwitzende Dunkel hängt heute schwerer an mir. So wie das Wissen, dass ein einziger Hieb Platz schaffen würde.
Stockenden, gellenden Platz, schließlich Stille.
Heute ist es schlimm mit mir.
Ich atme tief, aber durch widerwillig verengte Nasenflügel ein, gehe weiter, den Kopf gesenkt. Ich will nicht wirklich zurück nach Ierissea, nicht einmal für die paar Wochen bis zum Begnadigungserlass. Es würde mich umbringen.
Also auf in die nächste Runde.
Der Pfad, den mir meine Erscheinung durch die Menge bahnt, hat so wenig Zweck und Ziel, dass die Freude über das allseits sofortige Zurückweichen schon vor Unzeiten verlöscht ist.
Ein matter Kontrollblick. Tanzende Seen aus Köpfen, um die schmackhaftesten Leiber gebildete Strudel. Aufgeklappte Münder, spitzes Lachen. Kunstlicht gleitet in farbigen Kegeln über die Szenerie hin. Jedes Mal, wenn ein solcher Kegel mich knapp verfehlt, atme ich auf.
Sie müssen schreien, um sich zu verständigen. Schreien, als gäbe es tatsächlich noch etwas zu sagen.
Stündlich steht den Rausschmeißern eine Pause von ein paar Minuten zu. Meine so genannten Kollegen nutzen sie zum Ende ihrer Schicht hin mit wachsender Dankbarkeit, weil das Prügeln, Knurren und Umherschwadronieren sie müde macht.
Mich nicht. Ich könnte spielend doppelte oder dreifache Schichten abarbeiten.
Meine Müdigkeit ist anderen Ursprungs. Immun gegen Schlaf. Unheilbar.
Glückssträhne. Jeevan hat nicht den Hauch einer Ahnung. Dürfte ich hier und jetzt mit ihm tauschen, Leib, Seele und Leben, ich täte es, gottverflucht – wenn ich mich selbst schon nicht zurück haben kann, wie ich war vor Jahren: Gesegnet mit Dummheit und Durchhaltevermögen.
Er kann nicht geahnt haben, was er uns mit dem Geschenk antat.
Hätte er diese grobe, alte Brust, die ausgeleierten, dicken Adern zu stemmen, die seit Ewigkeiten immer gleichen Bewegungen, die sich durch Abnutzung immer mehr gleichenden Gefühle, er wüsste es wohl. Ließe er sich in diese gedrängte, stickige Menschenhölle herab, ich würde es nehmen, sein Geschenk, und es ihm zurückstopfen in den fleischlosen Hals.
Quer über die Tanzflächen steuere ich auf den Personalbereich zu, die Hinterzimmer des Atma. Ohne Begeisterung, ohne einen lichteren Gedanken. Nur, weil ich pissen muss.
Hier nahe der Rückwand ist das Gedränge weniger dicht, wegen der Sockel, auf denen die Tanzplattformen ruhen, zwei, oft auch drei oder vier Meter über den Köpfen der Gäste.
Links ein gelbes Rechteck: Der Durchgang zu den Aborten und Lagerräumen. Rechts Dunkelheit auf einer Fläche von mehreren Quadratmetern, ein Platz, den sie zwischen den Sockeln und der Wand freigelassen haben.
Platz für die Attraktionen der Bar.
Mit nackten Mädchen sind keine Gäste mehr anzulocken. Die gibt es überall, in allen Farben und Formen, kahlköpfig, ganzkörpertätowiert, ausgefallen gekleidet oder mit Nadeln und anderem Zeug durchbohrt, taub, umgestaltet, ohne Zähne oder mit falschen aus Kupfer.
Wie günstig, werden die Betreiber der Tanztavernen sich damals gedacht haben, dass unsere Notlage mit dem Edikt zur Reinigung der Verbotenen Zonen zusammenfällt, erlassen von Asanctars Räten, als hätten sie’s gewusst, und, nun ja, hinter vorgehaltener Hand gesagt, sind einige von ihnen unsere besten Kunden.
Daher kommt dieser Platz hinter den Sockeln.
Es riecht seltsam hier.
Heiß, eisern und verzweifelt.
Vielleicht wittern sogar die Gäste, die zum ersten Mal ins Atma finden, etwas davon, wenn sie günstig an der nahen Jadebar stehen.
Die Zivilisation soll den Geruchssinn der Menschen verkümmert haben lassen. Unsinn, sage ich. Da ist noch eine Fähigkeit zur Wahrnehmung von Geruch und Gefahr, auch wenn sie ihren Sitz womöglich nicht mehr in der Nase hat, sondern ins Herz oder unter die Haut weitergekrochen ist.
Ich beeile mich, zum gelben Rechteck zu kommen.
Es gelingt mir nicht.
„Herr?“
Ein Schlurfen und Rascheln im Dunkel. Dann ein metallenes Klirren. Eine Kette. Die Stimme, die mich angesprochen hat, ist unsauber, kratzig, verschliffen.
Ich bleibe stehen, die Augen auf das Rechteck geheftet.
„Herr?“ Bittend. Der Geruch wird stärker, lässt an Trockenfleisch denken, an ranziges Fett, an Urin. Aber nur fast.
Obwohl es besser für mein verbliebenes Seelenheil wäre, bringe ich es nicht über mich, das Flehende, Unterwürfige der Stimme zu ignorieren.
Die Käfige sind im Dreivierteldunkel eben noch auszumachen.
Aus dem vordersten, dort, wo es geschlurft und geklirrt hat, glänzen mich zwei winzige, metallisch grüne Punkte an. Ihre Nachtsicht. Sie sieht mich jetzt, haben Wissenschaftler herausgefunden, ein Dutzend mal schärfer als ich sie.
Blick über die Schulter. Niemand beobachtet, was hier hinten geschieht.
„Was ist?“, knurre ich, unfreundlicher als beabsichtigt.
Sie schweigt.
Ihr Name ist Ivo. Wie ihresgleichen sie gerufen hat, als sie noch weit draußen jenseits der südlichen Hügel lebte, weiß niemand, und es könnte wohl auch niemand aussprechen.
Seit drei Jahren hockt sie Tag für Tag und oft auch die halbe Nacht über auf dem Boden ihres Käfigs, einen Ring um den Hals und daran die Kette. Als habe sie eine Chance, irgendwohin zu fliehen in dieser Stadt ihrer Unterwerfer. Nachts dann, und auch heute wieder, wird sie heraus geholt und oben auf einer Plattform angekettet.
Dort tanzt sie dann für die Gäste.
Ich habe mir das ein Mal angesehen. Ein Mal nur. Es war nicht zu ertragen.
Aber den Gästen gefällt es. Vielleicht braucht es die bis zur Perversion gesteigerte Schaulust der Kinder Sanktuarios, und vielleicht hat, so wie das Wittern des Fremden, auch der Hass gegen uralte feindliche Rassen überdauert.
Ivo bewegt sich. Einen Schritt wagt sie näher zu den Verstrebungen. Das metallisch grüne Funkeln verschwindet. Gleichzeitig sehe ich sie deutlicher, dank des schwachen Lichts aus dem Rechteck hinter mir.
Und ein erschöpfendes Gefühl der Betroffenheit klärt mich höhnisch darüber auf, dass doch noch nicht alles tot ist in meiner Brust.
„Ach, Ivo“, sage ich leise. „Arme Ivo.“
Sie haben sie rasiert.
Ihr Fell ist weg – nicht bloß rings um den runden Schädel, an dem nicht einmal mehr die Schnurrhaare stehen, sondern komplett. Ihre krummen Läufe schimmern fahl, hässlich darin die blauen Sehnen und die hervorlugenden Knochenbuckel. Erschüttert streifen meine Augen die Doppelreihe der Zitzen – Zwergenbrüste einer tierischen, erniedrigten Weiblichkeit.
„Herr“, fixiert sie mich unnachgiebig, „hast du gehört?“ Schweigen. Dann: „Meine Sippe, Herr. Du gehört? Wo sind sie?“
Ausgerechnet mir musste sie sich nähern. Die Verzweiflung wird sie darüber hinwegsehen haben lassen, was sie an mir doch riecht, wette ich: Den Verantwortlichen für den Tod vieler ihrer Vorfahren.
Sonst spricht keiner der Angestellten im Atma mit Ivo.
Unter den Tänzerinnen ist sie, obwohl auch diese ihre persönlichen Ketten umher schleppen, verpönt und ausgestoßen. Die Tatsache, dass ab und an wirklich Einer daherkommt und Ivo will – und nicht nur zum Tanzen – erfüllt die Mädchen mit Ekel vor ihrer fremdartigen Leidensgenossin. Sie ahnen womöglich, dass mit Ivo der Untergang aller menschlichen Moral am Horizont herauf dämmert. Ein Untergang, der perfide aus uns selbst auf uns zurückfällt.
Dennoch ist, was ich vor mir sehe, nur ein bedauernswertes Relikt, in die Mitte einstiger Widersacher gezwungen und ohne Chance, die Vernichtung ihrer Art mitzuverfolgen oder gar mit ihr zu kämpfen und zu verpuffen.
Ein Teil meiner Selbst hatte gehofft, Ivo würde ihre Frage vergessen. Und mein Versprechen.
Ich habe mich geirrt.
„Es tut mir Leid, Ivo“, ringe ich mich zu einer Antwort durch. Sie schaut gebannt zu mir hinauf, obwohl sie mein Bedauern längst spürt. „Die Trupps sind schon viel tiefer nach Süden gezogen. Die Verbotene Zone ist leer.“
Immer noch starrt sie mich an. Nur oberhalb ihrer riesigen Augen zieht sich schmerzlich zusammen, was bei Menschen Brauen sind.
„Jeder Jäger, der -” – ich sollte sagen: Der euch noch vor die Flinte bekommen will, aber ich kriege die Worte nicht heraus – „...der an bestimmter Beute interessiert ist, fährt jetzt nach Gholein.“
Da. Der Hieb des Begreifens.
Sie bringt die Parodie eines Nickens zustande. Tränen rollen ihr über die nackte Schnauze. Und ich stehe da wie ein Dummkopf und kann mich nicht rühren.
Ich hätte ihr gern andere Nachrichten überbracht. Doch selbst ohne meinen verlässlichen Kontakt, den Mann, der sich über solche Dinge niemals im Zweifel befindet, hätte ich die Wahrheit ohne sonderliche Mühe an vielen Anzeichen ablesen können.
Für eine echte Säbelkatze wie Ivo müssen Interessenten im Stadtgebiet inzwischen an die zweitausend Cisma auf den Tisch legen, für eine lebende sogar fünfzig Prozent mehr. Jene Organisationen, die Jagdausflüge ins Umland angeboten haben, sehen sich genötigt, jedem, der noch selbst eine große Katze erlegen will, Reisen in den tiefen Süden aufzuschwatzen, und selbst das ohne Garantie auf Beutesichtung. Es heißt, die Sprengungen der Gräber rings um Gholein, die unvorstellbare Landschaftszerstörungen zur Folge hatten, hätten auch verborgene Wasserquellen und Schlupfwinkel ausradiert – die Wüste endgültig zur Wüste gemacht, wenn man so sagen kann.
Ich kann nichts für Ivo tun.
Sie hat sich hingehockt und zittert.
Als ich mich zum Gehen wende, ertönt die unsaubere, flehende Stimme noch einmal.
„Hast du etwas, Herr?“ Eine Klaue schiebt sich durch die Streben. „Bitte, Herr.“
Ich zögere, sichere die Umgebung erneut.
Jeevan wäre höchst erfreut, unserem Chef melden zu können, dass ich einer Tänzerin Drogen zustecke. Kein direktes Ticket nach Ierissea, aber viel Ärger.
Dann lasse ich die Kugel aus meiner Hosentasche in Ivos Klaue fallen. Die Klaue schließt sich, zieht sich ins Käfigdunkel zurück.
Ich will nicht bezeugen, wie sie sich das Gift ihrer Unterwerfer ins Maul stopft, mit dieser fürchterlich menschenähnlichen Bewegung.
Ohne ein weiteres Wort mache ich auf dem Absatz kehrt und verschwinde durch das gelbe Rechteck.
Als ich in die Bar zurückkomme, ist es still bei den Käfigen. Oder vielleicht nicht ganz, aber das Klanggemenge aus Musik und schreienden Stimmen übertönt das kleine Elend hinter den Sockeln.
Ein Blick auf die Neonziffern über der Jadebar. Unbemerkt ist ein Mittwochmorgen angebrochen. Die Ziffern, die jede Minute getreulich umspringen, gemahnen an das gleichmäßige Verstreichen der Zeit, an das Weiterrollen des Rads. Ich kann mich nur festhalten, mitrollen – über Teppiche von Geschöpfen hinweg, menschliche und nicht menschliche, denen niemand mehr zuhört.
Wie ich die nächste Stunde überstehen soll, weiß ich noch nicht. Fast steht zu hoffen, dass mir ein weiterer Unruhestifter in die Finger gerät.
Dann sehe ich sie.
Sie sitzen an der Jadebar. Sie sind zu zweit, der eine etwas größer, der andere etwas kleiner, beide in schwarzen Anzügen, und trotz ihrer dunklen Brillen ist klar, wem sie zunicken.
 
Öhm ja, klappt nicht so richtig mit dem Posten heute. Sry wg. Dreifachpost -.-
 
Sehr duster, erinnert mich an Shadowrun

nichts desto trotz erste Sahne

Just my 2 cents

scir
 
Tja...da gibt's für mich nicht viel zu sagen.

Ich mag das Kapitel. Und vor allem mag ich die düstere Atmosphäre und die Art, wie du die menschlichen Schwächen und niederen Instinkte beschreibst.

Ich denke, ich hab bis jetzt unter den Protagonisten vier der sieben Klassen wieder erkannt. Vielleicht stimmen auch nur drei davon...

Wie lange müssen wir auf das nächste Kapitel warten? Ich will wissen, wie es weiter geht...
 
Ein update... gleich mal zum lesen hinsetz..


wow, Du lässt aber kein gutes Haar an der neuen Zeit - und leider auch nicht an deren Geschöpfen.

War mal wieder top :top: und ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht und wer nun die einzelnen Protagonisten sind (und auch: wie alt sie sind?).
 
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