---> Up vom 10. 06. 2005
27. November, Vormittags
Gegen Mitternacht hatte das Unwetter etwas nachgelassen, und als die Gruppe am Morgen die Höhle verließ, schien es sich endgültig ausgetobt zu haben.
Der Tag war trüb und düster, und obwohl die Gewitterwolken sich verzogen hatten, war der Himmel grau verhangen - es wollte einfach nicht hell werden.
Die Luft war kühl, eine verschlafene Brise wehte über die Ebene und zarter Nieselregen erfüllte die Luft und durchfeuchtete sie bis auf die Knochen. Es schien, als sei das raue Unwetter ermüdet und würde die Welt nun bloß noch gelangweilt streifen.
Nach einem kurzen, schweigsamen Frühstück - keiner von ihnen hatte gut geschlafen, Sally überhaupt nicht - waren sie aufgebrochen. Melissa und Ronin hatten sich anhand der Karte und nur ihnen bekannter Bezugspunkte in der öden Landschaft orientiert und verkündet, dass sie ein Stück zurück und dann in eine andere Richtung gehen mussten, um nach Himmeltreu zu gelangen.
Als sie sich der Stelle näherten, an der sie am Vortag das Gewitter überrascht hatte, erblickte Sally jenen kahlen, verkohlten Baumstumpf wieder. Ein heißer Schmerz zuckte durch ihre Stirn, und plötzlich erkannte sie glasklar den Zusammenhang: Ihre schreckliche Vision vom Gestern - es war hier geschehen! Jene Siedlung war genau hier gewesen, und das kleine, traurige Bäumchen war alles, was das schreckliche Massaker überlebt hatte... Sally stolperte über eine Unebenheit und als sie zu Boden sah, erkannte sie, dass es sich um einen Mauerrest handelte, der, von Wind und Wetter abgeschliffen, eben noch über die Erde ragte. Dort hatte also eines der Häuser gestanden... Sally sagte nichts, die Anderen hätten sie ohnehin nicht verstanden; doch eine bleierne Traurigkeit erfüllte sie, und das Gefühl, einen eisig brennenden Fremdkörper in der Stirn zu tragen, wurde für einen Moment schier unerträglich.
Sie gingen langsam und in gedämpfter Stimmung weiter, selbst Amandas munteres Geplapper über Magie und mystische Vorgänge war verstummt. Ronny trottete wie üblich still daher, nur als ein verirrter Vogel auf dem eiligen Weg in sein Nest über ihre Köpfe hinwegflog, sah er auf und lächelte schwach.
Die Ebene würde nun immer häufiger von Hügeln und Baumgruppen durchbrochen, und schließlich kamen sie in einen regelrechten Wald. Hier begann auch ein Pfad, dem sie folgten.
Der Weg führte durch den Hain und auf der anderen Seite wieder hinaus. Als die Gruppe das trübe Graugrün der Bäume verließ, sahen sie in einiger Entfernung einen Palisadenwall aufragen, ähnlich dem des Lagers der Jägerinnen.
Doch als sie sich näherten, sahen sie, dass die Umzäunung wesentlich länger war und außerdem eine durchsichtige Kuppel aus seltsam tanzenden kleinen Lichtern den Ort überspannte. Es waren keinerlei Wachen aufgestellt, doch als Sally mit den anderen weiterging, spürte sie plötzlich ein intensives Kribbeln durch ihren Körper fließen. Melissa und Amanda keuchten kurz - anscheinend spürten sie es auch. Nur die beiden jungen Männer schienen nichts wahrzunehmen.
Das Kribbeln verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war, hinterließ jedoch das unangenehme Gefühl, irgendetwas (oder jemandem) völlig ausgeliefert gewesen zu sein.
Als sie die Palisade erreichten, öffnete sich ein bis dahin nicht sichtbares Tor im Holz, und eine hochgewachsene Frau trat heraus. Sie trug ein fließendes, silbernes Gewand, die Taille umgürtet mit feinsten Lederschnüren. Ihre hagere Gestalt war umhüllt von einem schwarzsamtenen Mantel, dessen silberverbrähmte Kapuze ihr Gesicht so überschattete, dass man es nicht erkennen konnte.
Die Frau blieb an der Stelle stehen, an der die funkelnde Lichtkuppel den Boden berührte und fragte mit glockenklarer Stimme, die bis in ihre Herzen zu dringen schien: "Nun? Ihr seid also da. Das ist gut, wir hatten uns schon Sorgen gemacht... Doch wenngleich wir wussten, dass ihr kommen würdet, so muss ich euch doch bitten, die Prüfung abzulegen."
Die Gruppe begann zu raunen, und der eine oder andere entgeisterte Blick wurde gewechselt.
Sally, die nur noch Ruhe haben und die nagenden Schmerzen hinter ihrer Stirn vergessen wollte, trat vor und fragte leicht genervt: "Und was für eine Prüfung soll das bitte sein?"
Die Frau wandte ihr das verhüllte Gesicht zu und flüsterte: "Du bist diejenige, die ich seit Wochen in meinen Träumen sehe... Du sollst zuerst geprüft werden."
Sally wurde es fast zu bunt: Was interessierte sie, ob eine fremde Frau von ihr träumte?! Sie wollte die Andere anfahren, stellte jedoch verblüfft fest, dass sie nicht konnte: Die Worte wollten nicht über ihre Lippen kommen.
Die Frau winkte sie näher zu sich, und Sallys Körper gehorchte ohne ihr Zutun, bewegte sich bis zur glitzernden Grenze des Lichtschleiers. Die Frau fragte leise: "Ist dein Herz erfüllt mit Wahrheit und folgst du dem Licht?"
'O mann', dachte Sally, 'schon wieder so ein Geschwafel...'. Doch ihr Mund erwiderte mechanisch: "Ja." 'Was?!', dachte sie wütend, 'ich habe doch keine Ahnung, wer das hier ist und wer ihr das Recht gibt, mich irgendeiner dämlichen Prüfung zu unterziehen! Reiß dich zusammen und sag deine Meinung!!"
"Du kannst nur mit Ja oder Nein antworten", sprach die Frau und es klang, als würde sie lächeln. "Und bevor du fragst: Natürlich kann ich deine Gedanken lesen. Diese Gabe ist auch dir gegeben, doch du bist jung... Du wirst es erst lernen müsen. Doch nun tritt ein, denn deine Bestimmung hier erwartet dich."
Der eigenartige Bann, der auf Sally gelegen hatte, fiel von ihr ab. Sie schüttelte sich kurz, und funkelnde Wassertropfen sprühten aus ihrem strubbeligen Haar. Dann sah sie fragend die Frau an. Die nickte und sprach: "Tritt nur ein, der Zauber wird dir nichts tun. Du bist hier willkommen!"
Sally machte zögernd einen Schritt durch den glänzenden Vorhang, und als nichts geschah, trat sie hindurch. Die Frau winkte sie durch das Tor, und als Sally zögerte, sagte sie etwas ungeduldig: "Nun vertrau mir doch, Kind. Denkst du, Akara würde dich in eine Falle laufen lassen? Geh hinein, ich werde die anderen prüfen und sicher kommen wir bald nach."
Sally nickte resigniert und trat durch das Tor. Vor ihr erstreckte sich ein weiter, gepflasterter Hof, in dessen Mitte sich eine kleine Kapelle erhob. Ringsum standen niedrige Gebäude aus weißem Stein, und der Platz war erfüllt von Leben: Menschen aller Hautfarben, Größen und jeden Alters liefen umher, standen in Grüppchen zusammen oder wanderten in Gespräche vertieft über den Platz. Sally kam sich auf einmal sehr klein und jung vor.
Aus einer nahen Gruppe löste sich ein Mann und kam lächelnd auf Sally zu. Er war in eine silberne Robe gekleidet, sein braungebranntes Gesicht war gütig und ein silbriger Haarkranz umstand seinen Kopf wie ein zerzauster Heiligenschein. Die Augen blitzten hell, und zahlreiche Fältchen zogen sich durch sein Gesicht - die meisten waren Lachfältchen.
Er reichte der verwirrten Sally die Hand und strahlte sie an. Dann sprach er herzlich mit kräftigem Bariton: "Sally! Da bist du ja. Wie schön, dass ihr trotz des Sturms so bald hergefunden habt - willkommen in Himmeltreu! Ich bin Cain - du weißt schon, der alte Knacker, den ihr holen sollt." Er zwinkerte ihr zu, und Sally war hin- und hergerissen zwischen Verwirrung und Dankbarkeit darüber, dass dieser Mensch halbwegs normal zu sein schien und anscheinend nicht vorhatte, sie mit Magie-Geschwafel zu überhäufen.
Cain lachte, und als Sally ihn fragend ansah, schmunzelte er: "Das ist nett von dir, aber ich fürchte, du wirst mich noch oft genug schwafeln hören... Doch nun komm, ich möchte dir eure Unterkunft für heute zeigen, und wenn der Rest deiner Gruppe da ist, wollt ihr sicher etwas essen - junge Leute haben ja einfach immer Hunger!"
Sally war noch recht irritiert davon, dass hier anscheinend jeder ihre Gedanken lesen konnte, unterdrückte jedoch die Fragen, die ihr in den Sinn kamen und folgte Cain.
Später betraten die anderen das Dorf und bestaunten alles - mit Ausnahme von Amanda, die einen hochroten Kopf hatte und vor Wut regelrecht zu kochen schien. Sally fragte sie verblüfft, was los sei, und sie knurrte: "Paah, diese blöde Prüfung... Sie", Amanda wies verächtlich auf die verhüllte Frau, dei ebenfalls auf den Platz getreten war, "...meinte, in mir wäre zuwenig Ernst für die Magie. In mir!! Stell dir das mal vor!! Und sie würde ein Auge auf mich haben! Unverschämtheit!!!"
Sally musste sich ein Grinsen verkneifen. Ausgerechnet Amanda, die die Magie so sehr verehrte, hatte solch einen Dämpfer bekommen...
Cain trat zu ihnen, und nun stellte sich auch die Torwächterin endlich vor. Sie schlug ihre Kapuze zurück, und Sally schrak zusammen: Am Gesicht der Frau war weiter nichts ungewöhnliches. Sie war sicher jenseits der Fünfzig, und auch sie trug etliche Falten im Gesicht, war aber immer noch attraktiv. Doch ihre Augen... Sie waren eisblau und schienen direkt in Sallys Seele zu blicken.
Die Frau stellte sich ihnen als Sokara vor, Akaras Schwester. Eine Ähnlichkeit war nicht zu erkennen: Wo Akara dunkelhäutig und schwarzhaarig war, war Sokara blass und ihr Haar silberblond. Akara war gütig und weise, Sokara scharfsinnig und eher kühl...
Sokara lächelte und sagte: "Ja, ich weiß, wir sind ungleiche Schwestern. Aber wir teilen eine Seele. Kommt nun, ihr Kinder, wir wollen gemeinsam speisen. Ihr solltet euch heute Nacht gut ausruhen, damit ihr morgen rasch ins Lager zurückkehren könnt. Sally, du kommst bitte kurz mit mir!", fügte sie bestimmt hinzu.
Sally tat, wie ihr geheißen, nicht ihne einen fragenden Blick und ein Schulterzucken zu Melissa, die sie breit angrinste und mit den anderen Cain folgte.
Sokara führte Sally in ein Haus, in dem es kühl und dämmerig war. Sie nahmen an einem Tisch platz, und Sokara sagte: "Du bist sicher verwirrt, und ich spüre den Schmerz der Visionen in dir. Ich möchte dir helfen, sie zu beherrschen - dass ist mein Beitrag zu deinem Weg."
Sally nickte stumm - das Fragen war ihr vergangen, sie war dankbar, dass Sokara ihr helfen konnte. Die Schlaflosigkeit der letzten Nacht saß ihr noch in den Knochen.
Sokara beugte sich vor und legte Sally die Hände an die Schläfen. Dann murmelte sie: "Merke dir meine Worte: Kämpfe nicht gegen die Visionen. Nimm sie an, sie können dir helfen! Wenn du körperlichen Schmerz fühlst, dann hol die Stille aus deinem Innersten. Nein, frag nicht! Du musst das ernen(?). Finde die Stille in dir. Du musst sie wie einen Schleier über die Vision ausbreiten. Und in völliger Stille machst du den Schmerz hörbar, wie einen Schrei. Dann lässt du den Schrei schrumpfen und leiser werden, hüllst auch ihn in die Stille ein. Du wirst viel üben müssen, aber ich sehe in deinem Geist, dass du es kannst." Sally sah ihr in die Augen, und Sokaras Blick war wie ein kühler, stiller See. Sally tauchte ein in diesen See, nahm seine Kälte und legte sie wie ein Tuch auf ihre Stirn... Und der Schmerz ließ nach! Sie spürte, wie er verschwand...
"Nein!", keuchte Sokara plötzlich, Sally fuhr hoch und Sokaras Hände ließen sie los. Die Frau atmete schwer und sah Sally ängstlich und bestürzt an: "Das - das meinte ich nicht. Bei den Göttern, ich wusste ja nicht, was für eine Kraft in dir steckt... Aber merke dir eins: Ziehe niemals die Kraft eines anderen ab, das hat immer böse Folgen!"
Sally schämte sich, doch Sokara winkte ab: "Ist schon gut, es war nicht deine Schuld. Übe, was ich dir gesagt habe, dann wirst du den Schmerz bald selbst bezwingen können. Und nun", sie erhob sich und lächelte schwach, "lass uns essen gehen!"
Als sie abends in einem weichen Bett lag und Amanda und Melissa ruhig atmen hörte, fragte Sally sich, wie eine erfahrene und offensichtlich mächtige Megierin wie Sokara sie, Sally, fürchten konnte... Sie würde Cain morgen danach fragen. Und nach diesem Glitzerding, dass das Dorf umspannte. Und warum sie gewusst hatten, dass die Gruppe kommen würde. Und nach dem Rezept für diesen Braten, der war einfach göttlich gewesen... Und sie musste mit Ronin reden. Sie mochte ihn - doch seitdem Sally sie ihn in der Schule so harsch abgefertigt hatte, war er meistens eher zurückhaltend... Die Schule... Wie lange schien es her zu sein, dass sie dort gelebt hatten! Aber Ronin... Sally musste oft an ihn denken... Ronin...
Und dann kam der Schlaf. Ruhiger, traumloser Schlaf, ihne Visionen und ohne Schmerz...