Kapitel 4
Diablo blieb stehen. Konnte es wirklich sein, dass er, der Herr des Schreckens sich verirrt hatte? Er hatte es so eilig gehabt von seiner Mutter wegzukommen, das er sogar die Karte hatte liegen lassen. Seine Gedanken darüber, wie er dem nächsten familiären Treffen fernbleiben konnte, hatten dazu geführt, dass er weder links noch rechts geschaut hatte. Jetzt befand er sich irgendwo in Sanktuario, wo alles gleich aus sah: grün und verregnet. Nicht ein glühendroter Geysir, kein aus der Erde brechender Lavastrom an dem er sich hätte orientieren können. Sobald er die Welt unterworfen hatte, würde er das ändern. Dieses Klima hielt doch kein Dämon aus! Er meinte, schon jetzt seit Rheuma spüren zu können, auch wenn er nicht genau wusste, was das eigentlich war. Sollte er tatsächlich anfällig für diese rein menschlichen Schwächen sein?
Während er so dahin sinnierte, meinte er aus den Augenwinkeln Farbe wahrzunehmen. Nein, keine Farbe. Es war nicht Rot. Doch leuchtete dort in der Ferne nicht ein Flecken lila auf? Entschieden wandte er sich in die entsprechende Richtung. Vielleicht kam dieses zurückhaltende Leuchten ja von einem niederen Dämon, der auf die Erde verbannt worden war. Endlich jemand, den er beherrschen und an dem er seinen Frust würde auslassen können! Diablos Laune verbesserte sich mit jedem Schritt, den er den Flecken zutrat.
Als er so weit genähert hatte, dass er Genaueres erkennen konnte, blieb er verdutzt stehen. Eine alte Frau starrte ihn aus missmutigen Augen an, den Körper gebeugt.
„Was willst du? Hast Du Dich verirrt, oder was? Der Pfuhl der Sünden liegt ausserhalb und ich werde den Teufel tun, Dir zu sagen, wie Du da hin kommst!“
„Ich BIN der Teufel!“
„Ja, ja, das sind viele. Eigentlich so ziemlich jedes männliche Wesen. Liegt wahrscheinlich an all euren Schwächen, angefangen mit dem Kleinhirn, dass zwischen euren Beinen baumelt. Apropos, wenn ich mir Dich so anschaue, dann kannst Du ja nicht besonders intelligent sein. Im Vergleich zu Deiner Körpergröße wirkt das Ding ja geradezu wie ein Zipfelwürstchen.“
Auf einmal wirkte Diablo ganz verschämt. Er fühlte sich in seinem Dämonenstolz verletzt. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken, zurück in seine Hölle, wo er sich so was nicht bieten lassen musste! Plötzlich kamen in ihm Zweifel und Unsicherheit auf, Gefühle, die doch eigentlich den schwächlichen Menschen vorbehalten waren. Redeten sie dort hinter seinem Rücken und insbesondere jetzt, während seiner Abwesenheit genauso über ihn? Er verspürte den dringenden Wunsch, sich etwas zu besorgen, das er um seine Lenden schlingen konnte.
Grauenhaft! Diese Welt war einfach grauenhaft. Wenn hier alle so waren wie diese vom Alter gezeichnete Schrulle, würde er es keinen weiteren Tag in Sanktuario aushalten. Er brauchte was Vertrautes, etwas, woran er sich festhalten konnte. Diablo fasste einen Entschluss.
„Willst Du hier nur einfach weiter rumstehen, oder schaffst Du es demnächst auch, Dein Anliegen zu formulieren?“
„Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder Baal, dem Herrn der Zerstörung.“
„Na, den wirst Du wahrscheinlich auch an besagtem Ort treffen.“
„Mein Bruder wurde eingesperrt und ich werde ihn aus seinem Kerker befreien. Sag mir gefälligst, in welche Richtung ich meine Schritte lenken muss!“
„Na das haben wir ja gerne! Du kommst als Fremder in mein Lager und stellst Forderungen. So ja mal nicht, Freundchen. Wenn ich Dir helfen soll, dann musst Du zuerst eine Aufgabe für mich erfüllen. Sonst kommen wir nicht ins Geschäft.“
Diablo dachte angestrengt nach. Für diese Frechheit hätte er die alte Schabracke am liebsten dem Erdboden gleich gemacht. Nachdem er sie ausgiebig gefoltert hatte. Etwas sagte ihm aber, dass er bei der so auch nicht weiter kommen würde. So entschied er sich dann doch lieber, einzulenken.
„Was soll ich tun?“
„Als erstes kannst Du mir mal ein Bad einlassen. Diese klamme Kälte hier macht sich doch ganz schön in den Knochen bemerkbar. Aber sieh zu, dass das Wasser auch eine angenehme Temperatur hat. Dann wirst Du mir den Rücken schrubben. Und im Anschluss erwarte ich eine ausgiebige Massage.“
Bei dem Gedanken, was da auf ihn zu kam, lief Diablo ein kalter Schauer über den Rücken. Wiederwillig fügte er sich. Als die Alte sich nach dem Bad unbekleidet vor ihm hinlegte damit er sie massiere, stieg Übelkeit in ihm hoch. Er dachte an die Tofu-Röllchen seiner Mutter, und seltsamer Weise ließ der Brechreiz nach. Eine gefühlte Ewigkeit später gab sich die Alte endlich zufrieden. Diablo wollte nur noch die gewünschte Information habe, von hier fliehen und die letzten zwei Stunden vergessen.
„So, nun bin ich bereit, Dir Deine Aufgabe zu stellen.“
„WAS??? Ich dachte, das eben war die Aufgabe.“
„Nein, das war waschen und entspannen. Das erste solltest Du im Übrigen auch mal versuchen. Dein Gestank nach Schwefel ist sicherlich mit Schuld daran, dass Du noch keine Gefährtin gefunden hast.“
„Nein. Das liegt an meiner Mutter.“
„Ich verstehe. Der typische Ödipus-Komplex. Im Vergleich zu Deiner Mutter ist einfach niemand gut genug für Dich. So etwas kann böse enden.“
„Was? Nein! So habe ich das nicht gemeint. Meine Mutter ist...“
„Du solltest einfach mal einen Psychiater aufsuchen. Der kann Dir bestimmt helfen, Deine Kindheitstraumata aufzuarbeiten. Ich habe dazu keine Lust. Kommen wir also zu Deiner Aufgabe: Wie ich vorhin bereits andeutete, liegt ausserhalb des Lagers die Höhle der Mösen, die Du säubern sollst.“
„Die Höhle der ...was???“
„Ein Ort der Sünde. Einige abgefallene Schwestern unseres Ordens haben der Keuschheit entsagt, und dieses Etablissement der Lüste eröffnet. Nun, genau genommen ist die Keuschheit kein Prinzip unseres Ordens, aber ein Bordell wollen wir deshalb noch lange nicht in unserer Nachbarschaft haben.“
„Mich würde so was nicht stören. Die Sünde ist essenzieller Bestandteil meines Umfelds.“
„Typisch Mann! Und genau da liegt das Problem. Hast Du Dich hier mal umgeschaut? Es gibt in diesem Lager keinen einzigen mehr. Niemand der uns unter die Arme greift und unsere Einkäufe erledigt.“
„Dort drüben sind doch zwei...“
„Wenn diese beiden dicken, ungepflegten Typen noch nicht mal von den Dirnen als männlich genug angesehen werden, als dass sie sie bedienen würden, dann sehe ich auch keinen Grund weshalb das hier anders sein sollte. Wie auch immer. Du wirst besagtes Etablissement aufsuchen und dem Erdboden gleich machen. Fackel es nieder! Und wenn Du diesen Lüstling Cain dort antreffen solltest, einen alten Mann mit weissem Bart, einem Gehstock und in einer grauer Kutte, von der ich ihm raten würde, dass er sie tatsächlich an hat, dann sag ihm, dass Akara Dich geschickt hat und er zusehen soll, dass er zum Abendessen wieder da ist, wenn er nicht noch mehr Ärger kriegen will. Es gibt gedünsteten Kohlrabi mit Fischstäbchen und Remouladensauce.“
Diablo machte sich auf den Weg. Er konnte sehr gut verstehen, weshalb es die Männer, die einst dieses Lager ihr zu Hause nannten, zu den abtrünnigen Schwestern zog. Und er hatte Mitleid mit dem alten Mann. Das war ein völlig neues Gefühl für ihn, hervorgerufen durch Erinnerungen an vergleichbare Grausamkeiten, die seine Mutter ihm am Tisch vorgesetzt hatte. Er hoffte, den Alten im Bordell nicht anzutreffen.