Führungslos
Die Gefallenen waren in ihr Lager zurückgekehrt und hatten dabei ihre neuen Waffen geschwungen, als hätten sie soeben selbst die Schlacht geschlagen und gewonnen.
Der alte Schamane war inmitten der Schar mitgehumpelt und man hätte fast meinen können, dass ab und zu ein grimmiges Lächeln auf seinen Zügen aufblitzte.
Als hätte das Glück nicht ausgereicht, kam tags darauf eine alte Menschenfrau mit zwei kleinen Menschlein über die Brücke. Die Gefallenen hatten noch nie so leicht einen Sieg errungen, auch wenn sie bei den Erschlagenen keine Beute fanden.
Der Sippenführer hatte sie angewiesen, die Kadaver in den Fluss zu werfen, damit andere Reisende nicht schon von ferne abgeschreckt würden. Und siehe da, einen Tag später kam tatsächlich noch ein Mensch, ein Mann mit einem langen Stock, der nach irgendetwas oder irgendwem Ausschau zu halten schien. Leider war er wesentlich flinker als die alte Frau und konnte, wenn auch blutend und mit einem zerschmetterten Arm, entkommen.
Danach tat sich für drei Tage nichts und er fragte sich schon, ob der Schamane sich entschließen würde, einen neuen Lagerplatz zu suchen.
Doch am vierten Tag kam endlich eine Dreiergruppe Menschen, die jedoch wesentlich wehrhafter aussah. Es war wieder ein Mann dabei mit glänzender Rüstung, Kriegshammer und einem beeindruckenden Schild, auf das ein sich windender Drache gemalt war, ein dunkelhäutiger Schwertträger mit rotem Waffenrock und einem lächerlich kleinen Schild und zu guter Letzt ein bleicher Geselle, der anstatt einer ordentlichen Waffe einen kurzen Stab in der Rechten hielt, während an seiner Linken ein Kopf eines Dämonenkobolds baumelte.
Die Taktik gegen einen schwer Gerüsteten war aus dem ersten Kampf bekannt und schien klar. Der Rotrock bot sich als erstes Opfer an, zumal er aufgrund seiner Haltung und Bewegungen ein Untergebener zu sein schien. Und Befehlshaber ohne Untergebene waren eben viel leichter zu besiegen. Nur der Bleiche wurde von den Gefallenen aus ihrem Hinterhalt mit Argwohn betrachtet, er musste wohl mit Magie kämpfen und hatte offensichtlich schon einen Dämon, der den Gefallenen in der Hölle zumindest ebenbürtig war, überwunden.
Kaum hatten sich die ersten Gefallenen aus ihrer Deckung gewagt und ihre Waffen über den Köpfen geschwungen, nahmen die drei Menschen ihre Kampfhaltung ein und der schwer Gerüstete schien sogar grimmig zu lächeln, als ob er eine derartige Überraschung erwartet hätte. Die Gefallenen waren noch nicht in Schlagreichweite, da hatte der Rotrock schon sein Schwert gehoben und um ihn herum schwirrte wie bei einem verkleinerten Wirbelsturm eine Vielzahl an Eissplittern. Ob dies nur harmlos lästige Verzierung oder eine Bedrohung war, konnte man noch nicht sagen. Gleichzeitig schoss aus seiner Schwertspitze ein Geschoss aus Eis auf die herankommenden Gefallenen zu.
Der Gerüstete, offensichtlich der Anführer der Menschengruppe, blieb gelassen auf seiner Position stehen und ließ sich nicht wie der Mensch beim ersten Kampf auf den folgenschweren Fehler ein, den Gefallenen hinterher zu jagen, geschweige denn ihnen entgegenzukommen. Nur der Bleichling trat einen Schritt zurück, hob seinen Stab leicht an, winkte sachte zur Gruppe der Gefallenen und rief ihnen in einer grässlichen Sprache etwas zu. Augenblicklich kam die erste Welle der Angreifer ins Stocken und bewegte sich so, als seien sie um mehrere Jahrzehnte gealtert, obwohl das Phänomen des Alterns für Höllenwesen eigentlich unbekannt sein sollte. Sie liefen deutlich langsamer und gebückter, wichen dem Eisgeschoss unbeholfen aus und schleiften ihre ehemals wild geschwungenen Waffen hinter sich her, als seien sie aus Blei.
Das Eisgeschoss flog durch die vorderste Front und er konnte deutlich diejenigen erkennen, die nur gestreift worden waren. Zwei Gefallene dahinter konnten allerdings nicht mehr ausweichen und wurden voll getroffen. Entsetzt musste er mit ansehen, wie der eine der Beiden von einem Augenblick zum anderen mitten im Lauf erstarrte, während der andere Gefallene – zerbrach! Der getroffene Gefallene zerbarst in viele gefrorene Stücke, kein Körper blieb übrig, der wiederbelebt werden konnte!
In einer seltsamen Mischung aus Hass und Entsetzen schwang er sein Kurzschwert über dem Kopf, in der anderen Hand seine Fackel wie ein Schild vor sich und schrie seine Angst und Empörung über diese unerwartete Gegenwehr heraus: „NA!“
Der Schamane aber zog die Aufmerksamkeit seiner Gefolgsleute auf sich, indem er laut den Namen rief, der sie schon einmal aufgemuntert hatte, „Rakanishu!“, und wandte sich langsam der Richtung zu, in der sie das Schlachtfeld gefunden hatten.
Der Gerüstete hob seinen Krieghammer weit über den Kopf, obwohl kein Gegner in Schlagreichweite war und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ein ätherischer Hammer brach hervor und wirbelte in einer sich weitenden Spirale von dem zaubernden Schildträger davon. Die von dem Hammer getroffenen Gefallenen brachen unter wilden Schmerzensschreien zusammen, ein oder zwei sackten sogar vollkommen leblos weg; der Hammer hatte bei dem Einen die Schläfe, beim dem Anderen den Brustkorb getroffen oder genauer gesagt, durchschlagen. Zufrieden über den Effekt seines tödlichen Zaubers rückte der Gerüstete langsam vor, gedeckt von dem Eismagier, der alle näheren Gefallenen sorgfältig taxierte. Die Gefallenen hatten gesehen, was diese Gletschernadeln anrichten konnten und wandten nun die gleiche Taktik wie bei der Bogenschützin des ersten Kampfes an. Sobald aber ein weiterer magischer Hammer durch die Reihen wirbelte, gerieten sie gnadenlos zwischen alle Fronten, zumal sich einige noch nicht von dem Fluch erholt hatten.
Der Schamane ging in Richtung Schlachtfeld, belebte ab und zu einen leblosen Gefallenen und achtete sonst peinlich genau darauf, nicht in den Bereich des Hämmer zaubernden Gerüsteten oder gar in die Schusslinie des Eismagier zu geraten.
Das Kampfgeschehen war eher ein gegenseitiges Belauern als ein Schlagabtausch, aber die drei Menschen folgten der Bewegung des Schamanen und seiner Sippe. Erst als der bleiche Flucher etwas zurückblieb und nach einer konzentrierten Beschwörung so etwas wie eine lebendige Statue aus dem Boden wuchs und sich dem Kampf auf Seiten der Menschen anschloss, ging die taktierende Bewegung der Gefallenen in eine mehr oder weniger offene, panische Flucht über. Drei Gefallene waren mittlerweile in Eiswürfel zersprungen und mindestens eine Handvoll Gefallener war inzwischen niedergestreckt worden, ohne dass sie der Alte hätte wiederbeleben können. Der feindliche Angriff hatte den Schamanen derart in die Verteidigung gezwungen, dass er sogar nicht einmal dazu gekommen war, einen Feuerball den Gegnern entgegenzuschleudern. Erst wenn die Menschen besiegt worden waren, würden die leblosen Gefallenen wieder ins Leben gezwungen werden.
Als die kämpfenden Parteien - der Rotrock war inzwischen tatsächlich zweimal getroffen worden und blutete leicht an der linken Seite, die Gefallenen hatten dafür mit erfrorenen Händen von ihm ablassen müssen - das Schlachtfeld erreicht hatten, zog sich ein wildes, hämisches Grinsen über das Gesicht des Schamanen und auch die Gefallenen reckten triumphierend ihre Waffen in die Luft, als die untoten Skelette die Witterung der Menschen aufnahmen und sich aus drei Richtungen näherten. Die Menschen sahen sich jetzt von fast allen Seiten umzingelt, machten aber keine Anstalten zu fliehen oder vorsichtiger vorzugehen.
Der zaubernde Schwertträger schoss noch eine Gletschernadel auf ein Skelett und verengte die Augen, als er das Eis nutzlos abprallen sah. Drei, vier Gefallenen begrüßten dies mit einem höhnischen „Naa!“ und wandten sich gegen die wandelnde Statue, die mit bloßen Fäusten gewaltige Schläge austeilte. Die Erdgestalt war zwar selber recht langsam, dafür schien es jedoch, dass jeder Schlag, den sie austeilte und jeder Treffer, den sie einstecken musste, die Gefallenen verlangsamte, so dass dieser Kampf wie ein grotesker Tanz in Zeitlupe aussah.
Er wollte schon jubelnd gegen den Hammerwerfer anstürmen, denn so wie es aussah, würde der Eismagier den Skeletten unterliegen, die Erdgestalt und ihr Meister wurden schon von einer ausreichenden Anzahl Gefallener bedrängt und sein Ziel, der schwer gerüstete Zauberer, würde früher oder später sein Leben lassen, da der Schamane die Erschlagenen immer wieder gegen diese Bedrohung aufstehen lassen konnte, da geschah etwas Furchtbares, Unglaubliches.
Der bleiche Flucher streckte seine Hand gen Schlachtfeld und rief wieder etwas in dieser archaischen Sprache, während sein fürchterlicher Diener ihn vor den verlangsamten Gefallenen abschirmte. Aus der Erde brach ein Skelett hervor, welches augenblicklich den ihm nahestehenden Gefallenen angriff. Der Beschwörer tat dies fünf oder sechs Mal, und jedes Mal gesellte sich ein weiteres Skelett hinzu. Diese Skelette kämpften mit den Waffen, mit denen sie einst in den Tod gegangen waren, sowohl gegen die Gefallenen als auch gegen ihre ehemaligen Waffenbrüder oder Gegner und bildeten eine unerbittliche Front gegen die Feinde der Menschen. Spürte man den eigentlichen Untoten ihren Hass auf alles Lebendige an, so war bei diesen beschworenen Skeletten kein wirkliches Gefühl bemerkbar, sie schienen merkwürdig fremdbestimmt. Die einzige eigenständige Motivation, die man bei ihnen vermuten konnte, war die Sehnsucht, nach Erfüllung ihrer blutigen Pflicht wieder zur friedlichen Ruhe des Todes zurückkehren zu dürfen.
Sofort wandte er sich von seinem ursprünglichen Ziel ab, wich noch einem wirbelnden Hammer aus, umging die feindlichen Skelette und arbeitete sich zu seinem neuen Ziel, dem Herrn der Beschworenen vor. Seine behelfsmäßige Fackel hatte er schon zuvor vergeblich nach dem Rotrock geworfen, so dass er nur mit seinem Kurzschwert bewaffnet hoffen konnte, den bleichen Meister und damit auch seine Gefolgschaft zu vernichten. Indem er die natürliche Deckung ausnutzte und ab und zu hinter einem Busch verharrte, damit er nicht in den Gesichtskreis des Totenbeschwörers geriet und durch einen Fluch hilflos gelähmt den Tod durch diese fürchterliche Gestalt aus Erde erwarten musste, kam er langsam aber sicher an den aufmerksam das Schlachtfeld beobachtenden Fluchsprecher heran.
Kurz bevor er ihn erreicht hatte, zeigte der alte Schamane sein taktisches Können und seine bösartige Hinterlist, indem er einen gerade eben getöteten Gefallenen direkt neben dem Gletschernadeln feuernden Rotrock erweckte. Der Rotrock sah zu dem Schamanen, als sich schräg hinter ihm der erweckte Gefallene erhob und mit einem schartigen Beil ausholte. In dem Moment, als das Beil durch die Eisrüstung hindurch mit einem schmatzenden Geräusch in den Rücken des Eismagiers eindrang, verließ eine Gletschernadel die Schwertspitze des Magiers und flog auf den Schamanen zu.
Durch den Todesschrei seines Kampfgefährten aufgeschreckt, wandte sich der Totenbeschwörer um und bemerkte ihn, wie er eine Armlänge entfernt gerade mit seinem Kurzschwert dem anderen erfolgreichen Gefallenen nacheifern wollte. Reflexartig entfuhr dem bleichen Menschen ein Fluch und er spürte, wie seine Beine sich automatisch in Bewegung setzten. Namenlose Panik spülte durch seinen Körper, entsetzliche Furcht, und gleichzeitig eine beklemmende Unsicherheit, weil seine Beine ihn zur Flucht zwangen. Er kannte sich mit dem Flüchten gut aus, er wusste instinktiv, worauf man dabei achten musste, aber dieses Mal fühlte es sich irgendwie... ungewollt an.
Im Davoneilen sah er noch, wie der Schamane durch die Gletschernadel zu einer gefrorenen Statue wurde und der gerüstete Mensch trotzig sein Kinn reckte und den Kriegshammer zum Himmel hob.
Der wirbelnde Hammer zerschmetterte den Sippenführer in viele kleine Stücke, traf ein untotes Skelett an der Schulter und beraubte es dadurch seines Waffenarmes und riss noch einen Gefallenen aus dem Leben, in das dieser ohne seinen Schamanen nicht wiederkehren würde.
Als die Panik wieder von ihm abfiel und er sich vorsichtig dem Schlachtfeld näherte, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung dar.
Das, was von den Untoten übrig geblieben war, lag in konzentrischen Kreisen um die Stelle, von der aus der Hammermagier seine tödliche Magie gewirkt hatte. Dazwischen verstreut lagen die schmächtigen Körper erschlagener Gefallener, manche mit furchtbar deformierten Gliedern, manche mit zackig abgebrochenen Arm- oder Beinstümpfen, und dazwischen immer wieder die schaurigen Überreste von nun langsam auftauenden Fleischfetzen.
Nach dem, was er sehen konnte und was auf dem Weg zu diesem Debakel geschehen war, konnten vielleicht gerade noch ein oder zwei Gefallene außer ihm dem Untergang entronnen sein, aber er konnte sich auch irren.