Nächtliche Wanderungen
Es war mitten in der Nacht, als Micaya ein Geräusch vernahm.
Anders als normal war sie nicht sofort hellwach.
Diffuse Träume und Erinnerungsfetzen zogen eine gewisse Desorientiertheit nach sich.
Die Menschen hier um sie – sie kannte die meisten zwar noch nicht lange, aber sie hatten etwas von Familie. Kein Wunder, dass sie von Arlorann geträumt hatte.
Was die Bilder von Blut und Tod dazwischen wollten, konnte sie sich nicht vorstellen.
Vielleicht hatte ihre Wut auf Amaion dazu beigetragen...
Sie
war wütend, und sie wollte ihn weder sehen noch anfassen, aber ihr Bett kam ihr leer und kalt vor.
Eine unbestimmte Sehnsucht nagte an ihr, sie wollte nach Hause, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Freunde zu verlassen.
Rasch wischte sie die Tränen weg und richtete sich auf.
Irgendetwas war, ansonsten wäre sie ja nicht aufgewacht.
Shar'Tel drehte sich leise murmelnd in ihrem Bett auf die andere Seite.
Micayas Blick glitt weiter.
Morwens Bettdecke lag zusammengeknüllt am Fußende ihres Bettes, von der jungen Assassin keine Spur.
Leise Stimmen waren auf dem Flur zu vernehmen.
Micaya seufzte und stand auf, irgendwas war faul hier.
Von der Tür aus konnte sie sehen, dass Morwen sich mit irgendjemandem unterhielt.
Die andere Person trug einen weiten Mantel mit Kapuze, und war insofern nicht zu erkennen, aber sowohl die Stimme, als auch der Clandialekt, den die beiden sprachen, waren Micaya unbekannt.
Schließlich nickte die Gestalt, wandte sich um und ging die Treppe hinunter.
Morwen ging weiter in Richtung der anderen Zimmer.
Micaya schob vorsichtig die Tür weiter auf um ihr zu folgen, doch schon nach wenigen Schritten stolperte sie.
Mit einem leisen Fluchen richtete sich die Assassin wieder auf und versetzte dem schnarchenden Amaion einen heftigen Fußtritt. Der murmelte etwas unverständliches, ohne wirklich aufzuwachen.
Morwen aber war verschwunden.
Das Fluchen der Assassin wurde lauter, und sie erweiterte den benutzten Wortschatz auf mindestens 3 Sprachen, die außer ihr keiner in dieser Welt beherrschte.
__„Micaya, Tochter der Verstoßenen, warum lässt Du Dich immer zum Deppen machen, der auf die anderen aufpasst, wenn die Blödsinn machen!“
Es gab keine Antwort darauf, selbst wenn jemand da gewesen wäre, der hätte antworten können.
Seufzend packte sie den schlafenden Necromancer am Arm und versuchte, ihn sich über sie Schulter zu laden.
Amaion war zu schwer.
Er hing da wie ein nasser Sack, und die kleine Assassin war außerstande den über einen Kopf größeren Mann zu bewegen.
Micaya sah sich hilfesuchend um.
Joreth.
Der musste ihr helfen können.
Leise begab sie sich in das Zimmer, was der ältere Necromancer mit Morwens Bruder teilte.
Sie packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn leicht.
Widerwillig schlug Joreth die Augen auf.
__„Was ist?“
__„Amaion. Kannst Du mir helfen, ihn ins Bett zu schaffen?“
Joreth verzog das Gesicht.
__„Soll der doch verrotten, wo er liegt!“
Damit drehte er sich zur Wand und zog die Bettdecke über den Kopf.
Micaya bemerkte eine Bewegung im anderen Bett.
Tscha hatte sich ein Stückweit aufgerichtet und musterte sie.
Hilfesuchend wandte sie sich an den jungen Druiden.
__„Kannst Du mir helfen? Amaion liegt draußen im Flur...“
Tscha nickte.
__„Geh schonmal vor, ich zieh mir nur kurz was an...“
Kurze Zeit später trat er auf den Flur.
Micaya kniete bei Amaion und hatte ihn in eine sitzende Position gezogen.
Der deutlich größere, kräftig gebaute Druide hatte keine Probleme, den knochigen Necromancer auf die Beine zu ziehen.
Irgendwas rumpelte sich im Ausrüstungszimmer.
Erschrocken lies Tscha los.
Amaion landete unsanft auf dem Fußboden.
Der Necromancer setzte sich auf und rieb sich den schmerzenden Schädel.
Dann stand er auf und ging – ohne eine Notiz von Tscha oder Micaya zu nehmen – mit dem konzentrierten, exakten Gang eines Betrunkenen in Richtung des Zimmers, das er mit Simon teilte.
Der Druide sah die Assassin an.
Sie ließ den Kopf hängen und wirkte daher noch kleiner als sowieso schon.
Tscha hatte das dringende Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, aber noch größer war seine Angst, dass sie über seine Reaktion lachen oder wütend sein könnte.
__„Er weiß, dass ich ihm sonst ins Gesicht springe. Er wird mir noch eine Weile aus dem Weg gehen, und ich ihm, wenn immer es möglich ist...“
Micaya rieb sich die Augen.
__„Einmal hat er es nicht getan. Ich...“ sie holte tief Luft, bevor sie fortfuhr, „Ich habe ihm eine Rippe gebrochen. Seitdem versucht er nichtmehr, mich anzufassen, solange ich mich nicht beruhigt habe...“
Alle Wut war verflogen.
Was blieb, war Resignation und Trauer.
Ein weiteres Poltern aus dem eigentlich leeren Zimmer erinnerte die Beiden daran, dass noch etwas gewesen war.
Leise begaben sie sich zu der fraglichen Tür.
Tscha warf unterwegs einen Blick durch die Tür, die Amaion offen stehengelassen hatte.
Der Necromancer lag auf seinem Bett und rührte sich nicht.
Das andere Bett war leer.
Schlagartig blieb Tscha stehen.
__„Was ist?“ flüsterte Micaya.
__„Simon ist weg!“
Seine Stimme klang bekümmert, als er fortfuhr.
__„Ich mache mir Sorgen...“
Wieder war etwas aus dem anderen Zimmer zu hören.
Micaya packte Tscha am Arm und zog ihn hinter sich her.
Ihr Griff war fest, fast brutal, und nicht mal sie selbst wusste dabei, ob sie nur ein wenig Halt suchte, oder ob sie durch den eisernen Griff versuchte, die angestaute Wut, die jetzt wieder hochzukochen begann, ein wenig abzuleiten.
Ruckartig öffnete sie die Tür, ohne aber dabei den Druiden loszulassen.
Durch die zugezogenen Vorhänge fiel nur wenig Licht herein, und die spärliche Beleuchtung des Flures reichte nicht aus, um mehr als ein wenig der durcheinandergewürfelten Gepäckberge zu erkennen.
Allerdings waren Micayas Augen ein wenig besser als die eines durchschnittlichen Menschen, daher konnte sie die erstarrten Umrisse zweier Personen erahnen.
Kraftlos fiel ihr Arm herab.
Tscha rieb die schmerzende Stelle.
Ein Teil von ihm wünschte sich, sie hätte nicht losgelassen.
__„Ich mag nicht mehr.“ murmelte Micaya. „Immer bin ich die blöde, die mit jedem Schritt in Ärger hereinstolpert...“
Müde lehnte sie ihren Kopf gegen die Wand.
__„Kann es nicht einmal jemand anders sein, könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?“
Sanft nahm Tscha die Assassin in den Arm.
Es erschien ihm plötzlich nicht mehr so wichtig, nachzusehen, was da los war.
Micaya lies es geschehen, dass der Mann sie an sich zog und ihr über die kurzgeschnittenen Haare streichelte.
__„Micaya, beruhige Dich. Ich glaub nicht, dass da irgendetwas ist, was so schlimm ist.“
Die zwei Gestalten standen nach wie vor reglos in der Dunkelheit.
Die Assassin warf nochmal einen Blick in das Zimmer.
__„Ich mache die Vorhänge jedenfalls nicht auf...“
Mit einem Mal fiel ihr auf, wie sie hier stand, an einen anderen Mann gelehnt als den, mit dem sie seit Jahren alles teilte. Fast widerwillig riss sie sich los.
__„Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist...“
Tschas war vollkommen durcheinander.
Diese Frau war alles, was er sich je erträumt hatte – und noch viel mehr.
Er würde alles für sie tun, das wusste er, aber genauso konnte er fühlen, dass sie das nicht sah...
Er schüttelte sich, um einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen.
__„Ich geh runter, kann eh nicht mehr schlafen.“
Micaya nickte.
__„Ich glaub, ich komm mit. Bin einfach zu wach...“
__„Micaya?“
Joreth trat aus der Tür des Zimmers, das er mit Tscha teilte.
Er sagte etwas in einer Sprache, die der Druide nicht kannte.
Micaya senkte den Kopf und antwortete leise in der gleichen Sprache.
Der Necromancer nahm sie kurz in den Arm, dann verschwand er im Zimmer und kam mit einem nach Kräutern duftenden Beutel zurück.
__„Ich glaub, ich brauch jetzt auch einen Tee...“
Er gab Micaya den Beutel, die damit loszog, um den Wirt zu suchen.
Tscha verzog das Gesicht.
__„Nein, Du hast gar kein Interesse an ihr...“
Joreth sah den Druiden scharf an.
__„Sie ist immer noch mit meinem Bruder liiert. Und sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert, ohne gleich irgendwelche Vorteile daraus ziehen zu wollen.“
Als Micaya sich dem Tisch näherte, wo die beiden Platz genommen hatten, sah sie aus den Augenwinkeln eine Gestalt.
_Hallo, Kleines...
__„Was willst Du hier?“
Tscha und Joreth sahen Micaya ein wenig verwirrt an.
_Sie sehen mich nicht.
Micaya verzog das Gesicht.
_Warum versuchst Du immer wieder, mich in Verlegenheit zu bringen, Bink? Reicht es Dir nicht, was ich sonst an Problemen habe?
Der Deín lächelte schwach.
_Ich wollte nur nachsehen, ob Du den weißhaarigen Narren endlich abgeschossen hast.
Joreth und Tscha wunderten sich über Micayas wütenden Blick.
_Du versuchst immer noch, mich zu Gwyn zurückzutreten. Ich hab Dir gesagt, solange er sich nicht ausdrücklich entschuldigt...
Der Deín lachte, selbst für Micaya lautlos.
_Kleines, ich mag alt sein, aber dumm bin ich nicht. Du hast hier genügend passende Kandidaten um Dich herum, und wenn mein Sohn seinen Mund nicht auf bekommt ist er selber schuld. Im Übrigen...
Bink musterte erst Tscha, dann Joreth genauer
_Nimm den Druiden, er ist mein, und ich mag ihn. Der andere ist zu sehr wie Gwyn.
Bink grinste und wich leichtfüßig aus, als Micayas Hand zu einer schallenden Ohrfeige ausholte. Joreth, der die plötzliche Bewegung der Assassin beobachtet hatte, runzelte die Stirn.
Der Deín winkte Micaya noch einmal zu und verschwand.
Tscha, der nachdenklich in Richtung Treppe gesehen hatte, runzelte plötzlich die Stirn.
__„Warum bist Du überhaupt aufgestanden, Micaya?“
Die Angesprochene verzog schmerzlich das Gesicht.
__„Ich hab was gehört, und Deine Schwester war nicht in ihrem Bett. Ich dachte, ich sollte vielleicht mal nachsehen, und da bin ich über Amaion gestolpert – und ich wäre fast hingefallen...“
Sie nahm einen Schluck Tee und verzog das Gesicht.
Joreth zog die Schultern hoch.
__„Bisschen zu viel Johanniskraut, ich gebs zu, aber die Inwerminze war alle...“
Tscha schüttelte den Kopf.
__„Aber wo ist sie hingegangen? Und wo in aller Welt ist Simon abgeblieben?“
Micaya, die sich wieder an ihrer Teetasse festgehalten hatte, bekam einen heftigen Hustenanfall.
Joreth klopfte ihr auf den Rücken, nahm sich eine Tasse Kaffee und machte sich auf den Weg zur Treppe.
__„Ich geh meinen Bruder wecken.“
Amaion hatte für die Versuche Seines Bruders, ihn zum aufstehen zu bewegen, nur ein ärgerliches grummeln übrig.
Dieser war ein wenig genervt, als er aus dem Zimmer trat.
Eine ein wenig verwirrt und ängstlich wirkende Morwen lief an ihm vorbei zur Treppe.
Joreth seufzte und schnupperte an der Kaffeetasse.
Das Gebräu roch wirklich nicht sonderlich appetitlich. Ob das Amaion abgeschreckt hatte?
Er drückte Simon, der grad im Weg stand, die Tasse in die Hand und ging wieder die Treppe hinunter, um die Taverne auf direktem Weg zu verlassen.
Vielleicht ließ sich ja einer der örtlichen Händler aus dem Bett treten und zum Glücksspiel überreden, das war einigermaßen geeignet, um ein Wenig Ablenkung zu bekommen...