---> Up vom 10. 06. 2005
27. November, Vormittags
Gegen Mitternacht hatte das Unwetter etwas nachgelassen, und als die Gruppe am Morgen die Höhle verließ, schien es sich endgültig ausgetobt zu haben.
Der Tag war trüb und düster, und obwohl die Gewitterwolken sich verzogen hatten, war der Himmel grau verhangen - es wollte einfach nicht hell werden.
Die Luft war kühl, eine verschlafene Brise wehte über die Ebene und zarter Nieselregen erfüllte die Luft und durchfeuchtete sie bis auf die Knochen. Es schien, als sei das raue Unwetter ermüdet und würde die Welt nun bloß noch gelangweilt streifen.
Nach einem kurzen, schweigsamen Frühstück - keiner von ihnen hatte gut geschlafen, Sally überhaupt nicht - waren sie aufgebrochen. Melissa und Ronin hatten sich anhand der Karte und nur ihnen bekannter Bezugspunkte in der öden Landschaft orientiert und verkündet, dass sie ein Stück zurück und dann in eine andere Richtung gehen mussten, um nach Himmeltreu zu gelangen.
Als sie sich der Stelle näherten, an der sie am Vortag das Gewitter überrascht hatte, erblickte Sally jenen kahlen, verkohlten Baumstumpf wieder. Ein heißer Schmerz zuckte durch ihre Stirn, und plötzlich erkannte sie glasklar den Zusammenhang: Ihre schreckliche Vision von Gestern - es war hier geschehen! Jene Siedlung war genau hier gewesen, und das kleine, traurige Bäumchen war alles, was das schreckliche Massaker überlebt hatte... Sally stolperte über eine Unebenheit und als sie zu Boden sah, erkannte sie, dass es sich um einen Mauerrest handelte, der, von Wind und Wetter abgeschliffen, eben noch über die Erde ragte. Dort hatte also eines der Häuser gestanden... Sally sagte nichts, die Anderen hätten sie ohnehin nicht verstanden; doch eine bleierne Traurigkeit erfüllte sie, und das Gefühl, einen eisig brennenden Fremdkörper in der Stirn zu tragen, wurde für einen Moment schier unerträglich.
Sie gingen langsam und in gedämpfter Stimmung weiter, selbst Amandas munteres Geplapper über Magie und mystische Vorgänge war verstummt. Ronny trottete wie üblich still daher, nur als ein verirrter Vogel auf dem eiligen Weg in sein Nest über ihre Köpfe hinwegflog, sah er auf und lächelte schwach.
Die Ebene wurde nun immer häufiger von Hügeln und Baumgruppen durchbrochen, und schließlich kamen sie in einen regelrechten Wald. Hier begann auch ein Pfad, dem sie folgten.
Der Weg führte durch den Hain und auf der anderen Seite wieder hinaus. Als die Gruppe das trübe Graugrün der Bäume verließ, sahen sie in einiger Entfernung einen Palisadenwall aufragen, ähnlich dem des Lagers der Jägerinnen.
Doch als sie sich näherten, sahen sie, dass die Umzäunung wesentlich länger war und außerdem eine durchsichtige Kuppel aus seltsam tanzenden kleinen Lichtern den Ort überspannte. Es waren keinerlei Wachen aufgestellt, doch als Sally mit den anderen weiterging, spürte sie plötzlich ein intensives Kribbeln durch ihren Körper fließen. Melissa und Amanda keuchten kurz - anscheinend spürten sie es auch. Nur die beiden jungen Männer schienen nichts wahrzunehmen.
Das Kribbeln verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war, hinterließ jedoch das unangenehme Gefühl, irgendetwas (oder jemandem) völlig ausgeliefert gewesen zu sein.
Als sie die Palisade erreichten, öffnete sich ein bis dahin nicht sichtbares Tor im Holz, und eine hochgewachsene Frau trat heraus. Sie trug ein fließendes, silbernes Gewand, die Taille umgürtet mit feinsten Lederschnüren. Ihre hagere Gestalt war umhüllt von einem schwarzsamtenen Mantel, dessen silberverbrähmte Kapuze ihr Gesicht so überschattete, dass man es nicht erkennen konnte.
Die Frau blieb an der Stelle stehen, an der die funkelnde Lichtkuppel den Boden berührte und fragte mit glockenklarer Stimme, die bis in ihre Herzen zu dringen schien: "Nun - ihr seid also da. Das ist gut, wir hatten uns schon Sorgen gemacht... Doch wenngleich wir wussten, dass ihr kommen würdet, so muss ich euch doch bitten, die Prüfung abzulegen."
Die Gruppe begann zu raunen, und der eine oder andere entgeisterte Blick wurde gewechselt.
Sally, die nur noch Ruhe haben und die nagenden Schmerzen hinter ihrer Stirn vergessen wollte, trat vor und fragte leicht genervt: "Und was für eine Prüfung soll das bitte sein?"
Die Frau wandte ihr das verhüllte Gesicht zu und flüsterte: "Du bist diejenige, die ich seit Wochen in meinen Träumen sehe... Du sollst zuerst geprüft werden."
Sally wurde es fast zu bunt: Was interessierte sie, ob eine fremde Frau von ihr träumte?! Sie wollte die Andere anfahren, stellte jedoch verblüfft fest, dass sie nicht konnte: Die Worte wollten nicht über ihre Lippen kommen.
Die Frau winkte sie näher zu sich, und Sallys Körper gehorchte ohne ihr Zutun, bewegte sich bis zur glitzernden Grenze des Lichtschleiers. Die Frau fragte leise: "Ist dein Herz erfüllt mit Wahrheit und folgst du dem Licht?"
'O mann', dachte Sally, 'schon wieder so ein Geschwafel...'. Doch ihr Mund erwiderte mechanisch: "Ja." 'Was?!', dachte sie wütend, 'ich habe doch keine Ahnung, wer das hier ist und wer ihr das Recht gibt, mich irgendeiner dämlichen Prüfung zu unterziehen! Reiß dich zusammen und sag deine Meinung!!"
"Du kannst nur mit Ja oder Nein antworten", sprach die Frau und es klang, als würde sie lächeln. "Und bevor du fragst: Natürlich kann ich deine Gedanken lesen. Diese Gabe ist auch dir gegeben, doch du bist jung... Du wirst es erst lernen müsen. Doch nun tritt ein, denn deine Bestimmung hier erwartet dich."
Der eigenartige Bann, der auf Sally gelegen hatte, fiel von ihr ab. Sie schüttelte sich kurz, und funkelnde Wassertropfen sprühten aus ihrem strubbeligen Haar. Dann sah sie fragend die Frau an. Die nickte und sprach: "Tritt nur ein, der Zauber wird dir nichts tun. Du bist hier willkommen!"
Sally machte zögernd einen Schritt durch den glänzenden Vorhang, und als nichts geschah, trat sie hindurch. Die Frau winkte sie durch das Tor, und als Sally zögerte, sagte sie etwas ungeduldig: "Nun vertrau mir doch, Kind. Denkst du, Akara würde dich in eine Falle laufen lassen? Geh hinein, ich werde die anderen prüfen und sicher kommen wir bald nach."
Sally nickte resigniert und trat durch das Tor. Vor ihr erstreckte sich ein weiter, gepflasterter Hof, in dessen Mitte sich eine kleine Kapelle erhob. Ringsum standen niedrige Gebäude aus weißem Stein, und der Platz war erfüllt von Leben: Menschen aller Hautfarben, Größen und jeden Alters liefen umher, standen in Grüppchen zusammen oder wanderten in Gespräche vertieft über den Platz. Sally kam sich auf einmal sehr klein und jung vor.
Aus einer nahen Gruppe löste sich ein Mann und kam lächelnd auf Sally zu. Er war in eine silberne Robe gekleidet, sein braungebranntes Gesicht war gütig und ein silbriger Haarkranz umstand seinen Kopf wie ein zerzauster Heiligenschein. Die Augen blitzten hell, und zahlreiche Fältchen zogen sich durch sein Gesicht - die meisten waren Lachfältchen.
Er reichte der verwirrten Sally die Hand und strahlte sie an. Dann sprach er herzlich mit kräftigem Bariton: "Sally! Da bist du ja. Wie schön, dass ihr trotz des Sturms so bald hergefunden habt - willkommen in Himmeltreu! Ich bin Cain - du weißt schon, der alte Knacker, den ihr holen sollt." Er zwinkerte ihr zu, und Sally war hin- und hergerissen zwischen Verwirrung und Dankbarkeit darüber, dass dieser Mensch halbwegs normal zu sein schien und anscheinend nicht vorhatte, sie mit Magie-Geschwafel zu überhäufen.
Cain lachte, und als Sally ihn fragend ansah, schmunzelte er: "Das ist nett von dir, aber ich fürchte, du wirst mich noch oft genug schwafeln hören... Doch nun komm, ich möchte dir eure Unterkunft für heute zeigen, und wenn der Rest deiner Gruppe da ist, wollt ihr sicher etwas essen - junge Leute haben ja einfach immer Hunger!"
Sally war noch recht irritiert davon, dass hier anscheinend jeder ihre Gedanken lesen konnte, unterdrückte jedoch die Fragen, die ihr in den Sinn kamen und folgte Cain.
Später betraten die anderen das Dorf und bestaunten alles - mit Ausnahme von Amanda, die einen hochroten Kopf hatte und vor Wut regelrecht zu kochen schien. Sally fragte sie verblüfft, was los sei, und sie knurrte: "Paah, diese blöde Prüfung... Sie", Amanda wies verächtlich auf die verhüllte Frau, die ebenfalls auf den Platz getreten war, "...meinte, in mir wäre zuwenig Ernst für die Magie. In mir!! Stell dir das mal vor!! Und sie würde ein Auge auf mich haben! Unverschämtheit!!!"
Sally musste sich ein Grinsen verkneifen. Ausgerechnet Amanda, die die Magie so sehr verehrte, hatte solch einen Dämpfer bekommen...
Cain trat zu ihnen, und nun stellte sich auch die Torwächterin endlich vor. Sie schlug ihre Kapuze zurück, und Sally schrak zusammen: Am Gesicht der Frau war weiter nichts ungewöhnliches. Sie war sicher jenseits der Fünfzig, und auch sie trug etliche Falten im Gesicht, war aber immer noch attraktiv. Doch ihre Augen... Sie waren eisblau und schienen direkt in Sallys Seele zu blicken.
Die Frau stellte sich ihnen als Sokara vor, Akaras Schwester. Eine Ähnlichkeit war nicht zu erkennen: Wo Akara dunkelhäutig und schwarzhaarig war, war Sokara blass und ihr Haar silberblond. Akara war gütig und weise, Sokara scharfsinnig und eher kühl...
Sokara lächelte und sagte: "Ja, ich weiß, wir sind ungleiche Schwestern. Aber wir teilen eine Seele. Kommt nun, ihr Kinder, wir wollen gemeinsam speisen. Ihr solltet euch heute Nacht gut ausruhen, damit ihr morgen rasch ins Lager zurückkehren könnt. Sally, du kommst bitte kurz mit mir!", fügte sie bestimmt hinzu.
Sally tat, wie ihr geheißen, nicht ohne einen fragenden Blick und ein Schulterzucken zu Melissa, die sie breit angrinste und mit den anderen Cain folgte.
Sokara führte Sally in ein Haus, in dem es kühl und dämmerig war. Sie nahmen an einem Tisch platz, und Sokara sagte: "Du bist sicher verwirrt, und ich spüre den Schmerz der Visionen in dir. Ich möchte dir helfen, sie zu beherrschen - dass ist mein Beitrag zu deinem Weg."
Sally nickte stumm - das Fragen war ihr vergangen, sie war dankbar, dass Sokara ihr helfen konnte. Die Schlaflosigkeit der letzten Nacht saß ihr noch in den Knochen.
Sokara beugte sich vor und legte Sally die Hände an die Schläfen. Dann murmelte sie: "Merke dir meine Worte: Kämpfe nicht gegen die Visionen. Nimm sie an, sie können dir helfen! Wenn du körperlichen Schmerz fühlst, dann hol die Stille aus deinem Innersten. Nein, frag nicht! Du musst das lernen. Finde die Stille in dir. Du musst sie wie einen Schleier über die Vision ausbreiten. Und in völliger Stille machst du den Schmerz hörbar, wie einen Schrei. Dann lässt du den Schrei schrumpfen und leiser werden, hüllst auch ihn in die Stille ein. Du wirst viel üben müssen, aber ich sehe in deinem Geist, dass du es kannst." Sally sah ihr in die Augen, und Sokaras Blick war wie ein kühler, stiller See. Sally tauchte ein in diesen See, nahm seine Kälte und legte sie wie ein Tuch auf ihre Stirn... Und der Schmerz ließ nach! Sie spürte, wie er verschwand...
"Nein!", keuchte Sokara plötzlich, Sally fuhr hoch und Sokaras Hände ließen sie los. Die Frau atmete schwer und sah Sally ängstlich und bestürzt an: "Das - das meinte ich nicht. Bei den Göttern, ich wusste ja nicht, was für eine Kraft in dir steckt... Aber merke dir eins: Ziehe niemals die Kraft eines anderen ab, das hat immer böse Folgen!"
Sally schämte sich, doch Sokara winkte ab: "Ist schon gut, es war nicht deine Schuld. Übe, was ich dir gesagt habe, dann wirst du den Schmerz bald selbst bezwingen können. Und nun", sie erhob sich und lächelte schwach, "lass uns essen gehen!"
Als sie abends in einem weichen Bett lag und Amanda und Melissa ruhig atmen hörte, fragte Sally sich, wie eine erfahrene und offensichtlich mächtige Magierin wie Sokara sie, Sally, fürchten konnte... Sie würde Cain morgen danach fragen. Und nach diesem Glitzerding, dass das Dorf umspannte. Und warum sie gewusst hatten, dass die Gruppe kommen würde. Und nach dem Rezept für diesen Braten, der war einfach göttlich gewesen... Und sie musste mit Ronin reden. Sally mochte ihn - doch seitdem sie ihn in der Schule so harsch abgefertigt hatte, war er meistens eher zurückhaltend... Die Schule... Wie lange schien es her zu sein, dass sie dort gelebt hatten! Aber Ronin... Sally musste oft an ihn denken... Ronin...
Und dann kam der Schlaf. Ruhiger, traumloser Schlaf, ohne Visionen und ohne Schmerz...
--->> Up vom 20. 06. 2005
28. November, Mittags
Sally erwachte, weil helles Sonnenlicht in ihr Gesicht schien und durch ihre Augenlider stach. So gut hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen! Sie stand auf, zog sich an - die Lederkleidung der Jägerinnen erschien ihr längst nicht mehr so lächerlich - und trat aus dem Haus. Der weite Platz war erfüllt mit Leben, genau wie Gestern. Sokara und Cain standen auf der anderen Seite und winkten Sally zu sich. Sie ging hinüber, und die Beiden fragten sie, wie es ihr ginge und ob sie Hunger habe... Sie hatte. Und wie!
Nachdem Sally mit den Anderen der Gruppe gegessen hatte - sie waren schon länger wach, und bis auf Amanda, die immer noch schmollte, alle guter Dinge - , begaben sie sich mit Cain und Sokara in Sokaras Haus, um sich zu beraten. Als sich alle gesetzt hatten, sagte Cain ohne Umschweife: "Sokara und ich standen letzte Nacht mit Akara in Verbindung. Sie berichtete, dass Lyssas Zustand unverändert schlecht, aber stabil ist. Außerdem beschlossen wir gemeinsam, nicht ins Lager zurückzukehren - wir werden uns direkt nach Merilan begeben."
Melissa rief: "Aber - aber wir müssen doch nach Lyssa sehen!", ,verstummte aber rasch wieder, als ihr klar wurde, wie töricht dieser Satz war: Akara konnte sich am besten um ihre Lehrerin kümmern.
Plötzlich ergriff Ronny das Wort: "Dann gehen wir also zur Konklave in Merilan. Aber brauchen wir nicht ein Losungswort, das Lyssa entfallen war?"
Nachdem sie den Schock über diesen für Ronnys Verhältnisse ungewöhnlich langen Satz überwunden hatte, erwiderte Sally: "Ja schon, aber sie sagte auch, dass ich die Losung wissen würde und -" "Ja klar, du bist ja sooo magisch, natürlich wirst du es wissen. DU weißt bestimmt alles, nur weil du so magisch bist!!", fuhr Amanda schnippisch dazwischen. Alle sahen sie erstaunt an, dann sagte Sokara ruhig: "Kind, auch du trägst Magie in dir. Aber durch deine romantischen Vorstellungen, die, mit Verlaub, leider nichts mit der Realität zu tun haben, verbaust du dir den Zugang zu deinen Kräften selber. Beruhige dich und lass deine Phantasien von der Magie los, dann wirst du deine eigene Kraft finden."
Amanda wurde puterrot im Gesicht, sagte aber nichts mehr. Cain lächelte vergnügt und meinte: "Ach, Kinder, wie erfrischend ihr doch seid! Ich schlage vor, ihr seht euch noch ein wenig hier im Dorf um, während ich alles vorbereite - und in zwei Stunden brechen wir dann nach Merilan auf. Einverstanden?"
"Einverstanden!", kam die Antwort im Chor.
Melissa, Sally und Amanda schlenderten durch die Straßen des Dorfes. Ronny und Ronin hatten eine Schänke entdeckt und beschlossen, dort etwas zu trinken.
Amanda hatte sich wieder beruhigt und beteuerte ständig, dass sie schon spüre, wie die wahre Magie in ihr wachse. Gerade wollte Sally sie anfahren, endlich mal still zu sein, da bogen sie um eine Ecke und standen in einer Gasse, die mit Geschäften gesäumt war. Sofort bekam Sally große Augen: Da, am Ende der Straße, sah sie deutlich das Schild eines Gothic-Ladens! Sie durchsuchte hastig ihre Taschen und stöhnte dann enttäuscht auf: "O mann! Ich habe ja gar kein Geld dabei..." Melissa nickte betrübt, und Amanda blickte nur sehnsüchtig in die Auslage eines Süßigkeitenladens.
Da trat vor ihnen Cain aus einem Geschäft, strahlte sie an und rief: "O, gut, ,dass ich euch treffe - verzeiht, ,ich bin einfach zu dusselig! Wie sollt ihr denn ohne Geld Vorräte kaufen..." Er zwinkerte ihnen wissend zu, kam näher und drückte jeder einen kleinen, prallen Lederbeutel in die Hand. "Nehmt nur, nehmt nur! Wir nehmen eure Dienste in Anspruch, schleifen euch von hier nach da - also können wir euch auch bezahlen!"
Und mit diesen Worten schlenderte er vergnügt die Straße entlang davon. Die drei Mädchen standedn einen Moment lang wie angewurzelt da, dann öffnete Amanda zögernd ihren Beutel - und brach in Freudenschreie aus: "Wow! Juhu! Das - das ist ja irre viel!!"
Nun hielt es auch Sally und Melissa nicht mehr: Sie öffneten ihre Beutel und bestaunten die Goldmünzen, die darin lagen. Goldmünzen! 'Als Kind bekam ich im Monat vier Silberlinge Taschengeld - und nun das!!', dachte Sally begeistert.
Sie sahen sich kurz an
"Schokolade!"
"Klamotten!
"Waffen!"
Sie lachten, nachdem sie alle drei gleichzeitig gerufen hatten, was sie als nächstes vorhatten. Dann trennten sie sich und stoben los, um einzukaufen...
Als sie sich eine Stunde später alle am Brunnen auf dem großen Platz trafen, staunten Ronny und Ronin, die nun auch jeder ein pralles Ledersäckchen am Gürtel trugen, nicht schlecht: Amanda kaute und stopfte sich ununterbrochen Bonbons in den Mund, die "Daf befte, waf if je gegeffen habe!" seien; Melissa polierte unablässig einen glänzenden, stählernen Cestus, in dessen Armriemen mehrere glitzernde Edelsteine eingelassen waren und der von einem rötlichen Glühen umgeben war. Auf die Frage, was es damit auf sich habe, erwiderte sie: "Oh, ich kann ihn noch nicht benutzen - dafür muss ich noch üben, meinte der Schmied. Aber ich musste ihn einfach haben!!"
Und Sally fühlte sich einfach pudelwohl: Endlich trug sie wieder Schwarz! Sie hatte eine schwarze Wildlederhose erstanden (genau so eine, um die sie Melissa immer beneidet hatte), die seitlich geschnürt wurde. Dazu einige herrliche Tops, von denen sie nun eins mit Spitzen an den Armausschnitten trug, auf dem vorne stand: "Schlag mich ruhig...", und hinten: "...wenn du das Echo verträgst!"
Außerdem trug sie neue, schwarze Stiefel, diverse Nietenarmbänder und in der schwarzen Tasche, die sie trug, befanden sich ein Sortiment Nagellacke (Darunter auch ein "Glow in the Dark"-Lack), verschiedene Schminkutensilien und einiges zur Haarpflege.
Als Cain und Sokara eintrafen, verabschiedeten sie sich und brachen auf; seltsamerweise war das Wetter außerhalb der magischen Barriere ganz anders als drinnen: Es regnete, und der Himmel war düster. Sokara sagte zum Abschied: "Passt gut auf euch auf - und Sally, denke an das, was ich dir gesagt habe!" Sally nickte artig, fühlte sich aber im Moment nicht im entferntesten magisch oder mystisch. Die Visionen, ihre merkwürdigen Kräfte - all das war jetzt weit weg, sie war einfach nur Sally.
28. November, Nachts
Nach stundenlangem Wandern durch die Ebene von Tamph-Quala, die sie bereits auf dem Weg zum Lager der Jägerinnen durchquert hatten, waren sie am Abend auf eine Hügelkuppe gelangt, von der aus sie im schwindenden, trüben Tageslicht im Tal die glitzernden Lichter einer großen Stadt erblickt hatten. Melissa hatte Cain gefragt, warum Akara und die Schwestern vom verborgenen Auge nicht in Merilan Zuflucht gesucht hatten. Er hatte erwidert: "Nun, es ist eine Assassinenstadt - die Jägerinnen wären dort nur bedingt willkommen; außerdem sind sie stolz, sie nehmen Hilfe nur an, wenn es wirklich nicht anders geht."
Nun hatten sie die Stadt fast erreicht, und bereits von außen verlangte sie ihnen Respekt ab: Die hohen, abweisenden Mauern, auf deren Zinnen sicher unzählige Attentäterinnen verborgen Wache hielten, und die schweren, eisernen Tore erweckten den Eindruck einer wahren Festung.
Sie kamen an das Haupttor, an dessen Seiten große Pechfackeln in schmiedeeisernen Halterungen brannten und hin und wieder, wenn ein Regentropfen die Flammen traf, leise zischten.
Als sie sich dem Tor näherten, blieb Sally plötzlich abrupt stehen. Ihr Haar schien zu knistern, ihre Wangen brannten, und sie spürte unbändige Hitze in sich aufsteigen. Eine leise Stimme zischte dicht an ihrem Ohr: "Ja! Hier bist du richtig. Dies ist dein wahres Heim!". Die Stimme kam ihr bekannt vor, doch sie konnte sie nicht einordnen. Erneut hörte sie es: "Geh hinein... Dein Blut ist der Schlüssel. Die Losung... Denk an die Losung, und an dein Blut..."
Dann verklang die Stimme. Der Rest der Gruppe hatte nun ebenfalls angehalten und sah Sally erwartungsvoll an. Cain trat zu ihr und raunte: "Nun, junge Assassinenschülerin, weißt du die Losung?"
"Ja", erwiderte Sally, selbst etwas überrascht. Dann ging sie wie mechanisch zum Tor und schlug dreimal kraftvoll mit dem eisernen Klopfer in Form zweier gekreuzter Klauenwaffen dagegen.
Eine Luke üffnete sich, und ein schmales, blasses Gesicht, umrahmt von kurzem, braunem Haar, erschien.
"Losung?", fragte eine barsche Stimme.
'Jetzt kommt's drauf an', dachte Sally, plötzlich unsicher. Mit leicht zittriger Stimme sagte sie: "Mein Blut ist der Schlüssel."
"Was sucht dein Blut hier?"
"Es folgt dem Weg der Theleopathen."
"Was ist der Weg der Theleopathen?"
"Der Weg meines Blutes, denn mein Ursprung ist hier."
Die Worte waren auf einmal nur so aus ihr herausgesprudelt und hatten ihr anerkennende Blicke vom Rest der Gruppe eingebracht.
Nun schloss sich die Klappe wieder, und ein Torflügel schwang lautlos auf. Sie traten ein, nickten der Torwächterin zu und machten sich auf den Weg zum Zentrum der mächtigen, alten Assassinenstadt Merilan.
---> Up vom 23. 06. 2005
29. November, Morgens
Der Morgen graute bereits, als sie vom Torplatz aus der Allee folgten. Diese Alle führte wie ein Ring einmal durch die ganze Stadt, wobei sie das Stadtzentrum umschloss und zahlreiche kleinere Straßen und Gassen von ihr abzweigten.
Später erfuhren sie, dass der Platz am Haupttor "Platz der Synth'Y'Thain" hieß und einem alten, mächtigen Assassinenorden gewidmet war.
Nun jedoch wanderten sie durch die Stadt und wurden Zeugen eines erstaunlichen Morgenerwachens: Während zahlreiche Geschäfte wie Schmiede, Gerber, Schmuckhändler, Bäcker und ähnliche gerade öffneten und ihre Läden für das Tagesgeschäft vorbereiteten, schlossen ebensoviele Häuser nun ihre Pforten. Da war die Schänke, deren Inhaber gerade die letzten Gäste nach draußen beförderte. Einige aufreizend gekleidete Mädchen lungerten vor einem großen, kitschig verzierten Gebäude herum und machten Ronin schöne Augen, als eine streng aussehende Frau aus dem Haus schoss und sie hineinscheuchte.
Schließlich führte Cain sie nach links in eine kleinere Straße, und bald gelangten sie auf einen weiten Platz, bei dem es sich offensichtlich um den Marktplatz der Stadt handelte: Etliche Händler waren eifrig damit beschäftigt, mit ihren Gehlifen oder allein ihre Stände, Zelte und Unterstände aufzubauen. Auslagen wurden hergerichtet, die Gewürzhändler hängten Bündel duftender Kräuter an die hohen Querstangen ihrer Stände, eine alte Frau kochte Eintopf in einem mächtigen Kessel. Hier und da wurde bereits mit frühen Kunden verhandelt, Lehrlinge wurden gelobt oder getadelt und die Kassen wurden mit besorgter Miene unter den Verkaufstischen verstaut.
Sie verließen den Marktplatz in Richtung des Zentrums auf einer recht breiten Straße, die direkt auf ein mächtiges, ummäuertes Bauwerk in einiger Entfernung zuführte. Hinter den Mauern waren einige Turmspitzen zu sehen, in den verlassen scheinenden Wachhäuschen links und rechts neben dem Tor blitzte hin und wieder das verräterische Funkeln metallener Waffen auf: Die Assassinen waren auch innerhalb ihrer eigenen Stadt immer misstrauisch und auf der Hut.
Die Gruppe blieb am Beginn der Straße stehen und sah sich um: Links und rechts erhoben sich zwei gewaltige, gemauerte Türme. Gerade tasteten sich einige zarte Sonnenstrahlen am Himmel empor und versprühten einen sanften, rosigen Lichtschimmer auf die hohen, verglasten Fenster der beiden Türme. Viel beeindruckender jedoch war für die Gruppe junger Menschen, die da neben ihrem weisen Weggefährten im frischen Morgenwind stand, dass die Türme fast vollkommen identisch waren in Bauart, Farbe der Steine - sie waren weiß-grau meliert - , Größe und Form; doch etwas unterschied sie unverwechselbar voneinander: Der linke Turm war von einem feinen, dunstigen Schimmer bläulichen Lichtes umgeben, das um Tür und alle Fenster herum fast unsichtbar wurde.
Sein Gegenstück auf der anderen Straßenseite hingegen war über und über mit komplizierten Runen übersäht, die hin und wieder golden aufglühten, so als liefe ein ständiger Schauer über das Bauwerk.
Sally schielte zu Amanda hinüber, und wie erwartet stand ihre Freundin - 'Tatsächlich', dachte Sally, 'wir sind inzwischen Freundinnen geworden...' - mit Tränen der Rührung in den Augen da und konnte sich an soviel Magie auf einmal garnicht sattsehen.
Melissas Blick traf Sally, und beide grinsten kurz. Ronny spähte in den Himmel und betrachtete fasziniert zwei Schwalben, die hoch oben ihre kleinen, verspielten Kreise zogen.
Sally sah verstohlen zu Ronin hinüber - und erstarrte fast unter der Kälte seines Blickes. Sie versuchte ein Lächeln, doch er wandte sich ab und tat so, als interessiere ihn nichts mehr als Cains silberbehaarter Hinterkopf.
'Verdammt', dachte Sally traurig, 'wie kriege ich das nur wieder hin... Ich mag ihn so sehr, aber... Ach mist.' Sie kickte wütend ein kleines Steinchen weg, das sie plötzlich unheimlich aufregte, wie es so unbeteiligt am Boden lag. 'Ätsch', triumphierte Sally in Gedanken boshaft, 'jetzt hat sich's was mit deinem schönen Steinleben.'
Gerade wollte sie sich den nächsten Stein vorknöpfen, da wandte Cain sich plötzlich zu ihr um und sah sie durchdringend mit seinen hellen Augen an; er schüttelte leicht den Kopf, und Sally begnügte sich damit, sich darüber zu ärgern, dass sie sein Gedankenlesen nicht verhindern konnte.
Endlich, die Sonnenstrahlen hatten bereits viel Kraft gewonnen und es wurde immer heller, sagte Cain: "Nun, ich denke, ihr habt genug gestaunt. Der linke ist der Turm der Seher, der rechte der der Magier - vielleicht dürft ihr sie später einmal besichtigen. Aber jetzt sollten wir endlich in die Kaserne gehen, vor deren Eingang wir hier herumstehen."
Er lächelte vergnügt, und mit Cain an der Spitze gingen sie auf das Tor zu. Dort angekommen, traten aus den kleinen Wachhäuschen lautlos einige schwer gerüstete und bewaffnete Frauen hervor. Die offensichtliche Anführerin der kleinen Garde trat vor. Sie war eine vollschlanke, kurvige Frau - Amanda sah sie bewundernd an - , trug als Attentäterin natürlich Schwarzes Leder und war mit einigen Waffengurten ausgerüstet, an denen zahlreiche stählerne Wurfsterne, Phiolen mit vermutlich giftigem Inhalt und ein gefährlich langer Dolch befestigt waren. Am rechten Unterarm war mit kompliziert anmutendem Gurtzeug eine lange, scharfe Klinge befestigt, die außen weit über den Handrücken ragte und grünlich glitzerte.
Die Gefährtinnen der Frau waren ähnlich ausgestattet. Die Anführerin musterte die Gruppe der Neuankömmlinge kalt unter schwarzen Ponyfransen hervor und versetzte schließlich schroff: "Ach, du bist das, Cain. Was willst du denn mit diesen Kindern hier? Du weißt sicher, dass wir jemanden erwarten, also hoffe ich für dich, dass du sie uns nicht als Schützlinge andrehen willst!"
Cain kicherte verhalten, wurde aber rasch wieder ernst und antwortete: "Lyssandra! Schön, dich wieder zu sehen. Nun, als Theleopathin solltest du eigentlich wissen, dass diese 'Kinder', wie du sie nennst, diejenigen sind, die ihr erwartet! Also, sei bitte so freundlich und bring uns zu Yrina, ja?"
Lyssandra starrte Cain einen Moment lang feindselig an, dann knurrte sie: "Du weißt genau, dass ich nicht soweit sehen kann! Aber weil du es bist - glaub mir, wenn es nach mir ginge, würde ich euch achtkantig aus der Stadt werfen! Doch ich will keinen Ärger, soll Yrina sich doch selbst mit euch herumschlagen. Also, kommt mit."
Sie gab den anderen Assassinen ein kurzes Zeichen, und sie zogen sich wieder in die Wachhäuschen zurück, lautlos wie Schatten im immer heller werdenden Tageslicht.
Etwas verdattert über den seltsamen Wortwechsel zwischen Cain und Lyssandra folgte die Gruppe den beiden gehorsam durch das schwarze Stahltor ins Innere der Kaserne.
Innerhalb der hohen, abweisenden Mauern befand sich fast eine eigene, kleine Stadt: Zahlreiche Gebäude waren entlang des Walls gebaut worden und Cain erklärte ihnen im Vorbeigehen leise, worum es sich handelte. Da gab es lange, niedrige Wohnkomplexe, Küchengebäude, zwei große Trainingshallen, eine Kapelle, Waffen-und Geräteschuppen und natürlich das erhabene, schwarzmarmorne Haupthaus, in dem sich alles Wissen und die gesamte Macht und Organisation der Assassinenstadt ballten: Dies war das Herzstück Merilans, und seine Bewachung wurde dem mehr als gerecht. Rings um das Gebäude waren unzählige schwarzgekleidete Kriegerinnen postiert, hin und wieder sah man auch einige mit Schwertern oder Lanzen bewaffnete Männer, die allerdings etwas verloren wirkten und hektisch hin- und herliefen.
Lyssandra blieb am Eingang des kleinen Palastes stehen und sagte kühl: "Da wären wir. Cain, du kennst ja die Prozedur... Ich gehe wieder auf meinen Posten, wenn es dir recht ist." Der letzte Satz troff nur so von beißender Ironie, und nach einem kurzen Kopfnicken entfernte sich die grimmige, untersetzte Assassine.
Cain rieb sich vergnügt die Hände und raunte mit listigem Lächeln: "So, jetzt passt mal gut auf, was so ein alter Kerl wie ich noch alles kann!"
Er ging festen Schrittes auf die Wachen an der Haupteingangstür zu und sprach kurz mit ihnen. Sie nickten, warfen der Gruppe knappe Blicke zu und traten beiseite. Melissa, Amanda, Ronny, Ronin und Sally folgten Cain unsicher. Der aber schien genau zu wissen, was er tat:
Er trat vor und legte seine Hände auf die dunkle Eichentür. Sofort fuhren einige tentakelartige, glatte Schlangen aus dem Holz und wanden sich um Cains Handgelenke, wobei sie zischend ihre Köpfe hoben. Keine der Wachen schien es zu interessieren.
Sally und die anderen waren sowohl fasziniert als auch wie gelähmt vor Schreck: Diese - Wesen schienen direkt aus dem Holz gewachsen zu sein und wirkten irgendwie...unecht.
Cain lachte zu ihrem Entsetzen auf und meinte: "Nein, also so etwas, wie einfallsreich - seht ihr, das Haus testet mich. Aber das haben wir gleich." Er murmelte etwas, blies auf die Schlangen und sie fuhren sofort zurück, um wieder mit der Tür zu verschmelzen.
Cain stieß mühelos die Tür auf und winkte den anderen, ihm zu folgen. Verwirrt gehorchten sie und betraten die kühle, einschüchternd hohe Eingangshalle des Machtzentrums von Merilan.
Drinnen führte eine breite Treppe, deren Stufen aus blankpoliertem, dunklem Holz waren, nach oben; außerdem zweigten einige Gänge und Türen von der Halle ab, und aus einer von ihnen trat nun eine beeindruckende Frau, die ihnen lächelnd entgegen eilte: Sie war recht groß und recht schlank. Ihr Gesicht war...nun, mittelalt; die schwarzen Augen blickten freundlich, doch konnten sie sicher auch jenen typisch stechenden Blick annehmen, der die meisten Assassinen auszeichnete. Die vollen Lippen und hohen Wangenknochen machten sie attraktiv, und ihr feines, nussbraunes Haar fiel in weichen Locken auf die Schultern.
Die Frau trug eine schlichte, hellgraue Hose aus weichem Stoff und dazu eine dunkelblaue Tunika, die von einem schlichten Ledergürtel in der Taille gehalten wurde und gut zu ihrem dunkel-exotischen Teint passte.
Weiche Lederstiefel rundeten die harmonische Erscheinung ab. Das Außergewöhnliche an der Frau, die wohl Yrina sein musste, war die unsichtbare Aura von Macht und grenzenlosem Selbstvertrauen, die sie umgab.
Nun umarmten Yrina und Cain einander mit der Herzlichkeit langjähriger Freundschaft. Daraufhin nahm Yrina die Gruppe in Augenschein, stellte sich vor und meinte mit samtener Stimme: "Ich verstehe eure Verwirrung; dies alles ist sehr viel für euch, aber glaubt mir, hier seid ihr sicher und werdet genug Zeit haben, um euch auszuruhen, zu fragen-", sie zwinkerte Sally schelmisch zu, "und zu verstehen, warum ihr so wichtig seid!"
Die Gruppe nickte einmütig, völlig überwältigt von den Erfahrungen der letzten Zeit. Cain flüsterte Yrina etwas zu, woraufhin die Assassinenmeisterin nickte und sprach: "So, und nun werden wir erst einmal frühstücken. Kommt mit!"
Sie schlossen sich den beiden bereitwillig an, und staunend und neugierig durchquerten sie das riesige Gebäude, dessen Geheimnisse ihnen in der nächsten Zeit viel beibringen und zeigen würden - wenn auch nicht immer das, was sie erwarten mochten.
--> Up vom 28. 06. 2005
Achtung, Zeitsprung!
12. Juni, Vormittags
Sally ging gerade hinüber zum Trainingsplatz, als ein Bote vom Osttor aus der Kaserne entgegeneilte und der jungen Assassine, vor Anstrengung keuchend, einen versiegelten Brief übergab. Sie nickte ihm zu und öffnete den Brief, ohne ihren Weg zu unterbrechen. Er war von Amanda:
"Liebe Sally!
Es ist einfach fabelhaft hier, Yrinas Entscheidung, mich herzuschicken, war goldrichtig!"
Sally hielt kurz inne und erinnerte sich grinsend an jenen stürmischen Abend im Dezember... Sie saßen am Feuer in Cains Quartier. Bis jetzt waren Amanda, Melissa, Sally, Ronin und Ronny vollauf damit beschäftigt, tagsüber den harten Drill der Assassinen auszuhalten und sich abends bei Cain mit dem Studium der Theleopathie zu befassen.
Doch an diesem Abend war etwas anders: Yrina, die sie seit dem Abendessen am Tag ihrer Ankunft kaum noch zu Gesicht bekamen, hatte ihren Besuch angekündigt.
Als sie eintraf, eröffnete sie der Gruppe, dass sie getrennt werden sollten - was alle zunächst mit stummem Entsetzen hörten, waren sie doch inzwischen zu einem vertrauten Team zusammengewachsen. Doch Yrina zu widersprechen - noch dazu, wenn selbst Cain schwieg und sehr ernst war! - , wäre ihnen nie in den Sinn gekommen.
Yrina hielt ihnen einen langen Vortrag über die Kraft des Einzelnen und die Notwendigkeit objektiven Denkens, aber überzeugen konnte sie keinen von ihnen. Dann teilte sie ihnen mit, wozu jeder von ihnen laut den Sehern im Turm bestimmt sei...
"Das Leben hier kam mir erst sehr langweilig und viel zu streng vor, aber seit ich den Kampf üben darf, macht es richtig Spaß! Heute gab Yschandril mir ein seltsames Buch, er meinte, es sei sehr wichtig für meine Ausbildung..."
Sally setzte sich auf eine Bank an der Seite der Trainingsplatzbegrenzung und runzelte die Stirn. War es beabsichtigt, dass sie alle heute diese Bücher bekamen?! Amandas Brief war durch den Boten nicht länger als eine Stunde unterwegs gewesen, Melissa hatte ihr ebenfalls eine Botschaft zukommen lassen - sie war im Moment im Magierturm - , auch sie hatte eines bekommen: In Blau stand darauf "Magie, Klauenbeherrschung und Führungsqualitäten".
Ronin, der wie ein Besessener Tag und Nacht trainierte, hatte ihr über Cain (der dabei geheimnisvoll glächelt hatte) mitteilen lassen, dass er nun ebenfalls im Besitz eines solchen Buches sei - es war ebenfalls ledergebunden, jedoch stand darauf in rot geschrieben: "Klauenhämmer, Feuerschreie und Sprungattacken" - und Ronny, mit dem Sally am Morgen in telepathischem Kontakt gestanden hatte, hatte in seinem Hain auch ein Buch erhalten - Leder, in grün beschriftet mit "Naturkräfte, tierische Begleiter und Verwandlung".
Sie selbst hatte ihres - ein kleines Büchlein, auf dem in schwarz-goldenen Lettern "Fähigkeiten, Fertigkeiten und Theleopathie" gedruckt war - heute morgen von Lyssandra erhalten, jener mürrischen Assassine, die nun ihre Lehrerin und auch gute Freundin war. Als Sally fragte, was es damit auf sich habe, hatte Lyssandra nur kryptisch geantwortet: "Nun, warte nur bis heute Abend!"
"Und weißt Du was? Ich kann es kaum glauben, aber heute Abend soll ich tatsächlich zu euch kommen, um mit euch zu essen und irgendetwas furchtbar wichtiges zu besprechen!! Eigentlich darf ich das gar nicht verraten, aber ich konnte nicht anders..."
Sallys Herz machte einen kleinen Hüpfer: Wie schön! Wenn Amanda zu Besuch kam, würden bestimmt alle da sein - Sally war sicher, dass hier ein Zusammenhang mit diesen seltsamen Büchern bestand.
"Dieses Buch ist so wunderschön, es ist aus Leder und es steht in silberner Schrift darauf: 'Ehre, Auren und Paladinkodex'! Ach, Sally, es ist ja so aufregend!"
Die junge Theleopathin lächelte. Sie konnte sich Amanda lebhaft vorstellen, wie sie auf- und abhüpfte und sich über ein hübsch verziertes Buch freute.
Was Sally sich nicht hatte vorstellen können, war, wie sehr Menschen sich im Laufe eines halben Jahres verändern können - innerlich wie äußerlich.
Nachdem sie den ganzen Tag mit Lyssandra immer und immer wieder geübt hatte, ihre Klauenwaffen nur mithilfe ihrer Gedankenkraft wahlweise zu erhitzen, zu vereisen, zu vergiften oder elektrisch aufzuladen - mit mehr oder weniger großem Erfolg - , kam Sally in der Abenddämmerung in die Schülerunterkünfte, um zu duschen.
Nachdem sie sich unter der heißen Brause entspannt und ihre Muskeln gelockert hatte, trat Sally im Umkleideraum vor den hohen Spiegel, den sie zu Anfang immer so gehasst hatte. Einmal mehr war sie verblüfft darüber, wie stark ihr Körper sich verändert hatte, seit sie so hart trainierte: Zwar waren ihre Hüften immer noch knabenhaft schmal und ihre Brüste recht klein, doch ihr gesamter Leib war muskulös und geschmeidig. Ihr Haar - 'Na, lassen wir das', dachte Sally und fuhr mit den Fingern durch die nun raspelkurzen, endlich ordentlich schwarz gefärbten Strähnen.
Sally schlüpfte in ihre übliche Freizeitkleidung: Schwarze Unterwäsche, schwarze, enge Jeans und heute ein schwarzes Top mit der Aufschrift "Assassins have more Fun!", dazu bequeme Turnschuhe und silberne Totenkopf-Ohrringe (Das Stechen der Ohrlöcher mit einer heißen Dolchspitze hatte entsetzlich wehgetan, aber es hatte sich gelohnt!).
Sally ging hinüber zum Haupthaus, unter dessen Türen heimeliger Lichtschimmer die beginnende Dunkelheit durchdrang. Es musste schon sehr spät sein, wenn es bereits dunkel wurde - Sally beeilte sich, obwohl sie instinktiv wusste, dass sie ohnehin die Letzte in der Runde sein würde. Das war nunmal ihr Schicksal.
Nun, da sie die große Halle betrat, die mit Kerzen erleuchtet und in deren Mitte ein langer, festlich gedeckter Tisch aufgestellt worden war, staunte Sally nicht schlecht:
Da war Amanda, die kaum wieder zu erkennen war. Füllig wie eh und je, doch um einiges besser proportioniert, stand sie selbstsicher und ruhig neben Cain und unterhielt sich leise mit ihm. Sie trug braune Lederhosen, ein passend geschnürtes Mieder mit Metallbeschlägen auf Schultern, Rücken und Bauch. Um die Hüfte hatte sie einen Schwertgurt angelegt, in dessen Scheide eine lange Klinge mit verziertem Griff steckte.
Amandas Gesicht war ebenmäßiger geworden, und dezentes Make-Up betonte ihre hübschen Züge. Das blond-goldene Haar war durch einen schmalen silbernen Reifen aus dem Gesicht genommen und fiel in weichen Wellen Amandas Rücken hinab.
Ein Stück von Cain und Amanda standen Ronin und Ronny, ebenfalls in ein Gespräch vertieft: Der ehemalige Barbar, den Sally hin und wieder von weitem sah, wenn er auf den Übungsplatz außerhalb der Stadt ging, hatte sich auch verändert. Er trug eine geschnürte, graue Stoffhose und eine schlichte, weiße Tunika, die ihm ein merkwürdig sanftes Aussehen verlieh. Sein ehemals kahler Kopf war inzwischen von kurzem, dunkelblondem Haar bedeckt. In seinem Gürtel steckten ein Paar Lederhandschuhe, daneben eine Phiole mit roter Flüssigkeit und ein geradezu unanständig riesiger Hammer aus Metall, dessen Kopf sich zur Spitze hin in zwei scharfe, klauenartige Ausbuchtungen spalt.
Als Sallys Blick zu Ronny wanderte, erkannte sie ihn kaum wieder: Das braune Haar war zu einer wilden Mähne geworden, die braunen Augen blitzten listig. Unter der engen Fellweste spannten sich starke Muskeln, um die ebenfalls beachtlichen Oberarme trug er feine Lederbänder. Seine Hose war schlicht und ledern, weiche Stiefel schützten seine Füße und im Hüftgurt fand sich ein Sortiment knöcherner Dolche und diverser Lederbeutel.
Sally wandte ihren Blick wie benommen Melissa zu, die sie ebenfalls seit der gemeinsamen Grundausbildung vor einigen Monaten kaum noch sah und wenn, dann nur von ferne. Die Assassinenschülerin, die zur Zeit die Kunst der Magie erlernte, trug ihr schwarzes Haar nun schulterlang, die Stirn schmückte ein glitzerndes Diadem. Über die Brust war eine Art grüner Seidenstoff kompliziert so gewickelt, dass sich ein anmutig wirkendes Oberteil ergab. Melissa trug einen kurzen, grün-samtenen Wickelrock mit goldenen Zierborten und hellbraune Lederstiefel. In der rechten Hand hielt sie selbstsicher einen langen, stabilen Holzstab, der bläuliches Licht verströhmte - doch am feinen, geflochtenen Gürtel war eine schimmernde Klauenwaffe befestigt.
Melissas ebenmäßige Züge strahlten eine Reife aus, die ihre knapp achtzehn Lebensjahre Lügen strafte. Jetzt wandte sie Sally ihren glühenden Bernsteinblick zu, strahlte sie an und kam auf sie zu: "Sally - wie siehst du denn aus? Hast du dich nicht in Schale geworfen? Na, egal. Dieser Abend ist sehr wichtig für uns alle... Komm mit, ich helfe dir, dich umzuziehen!" Sally ließ sich verwirrt und willenlos mitziehen, vorbei an den Anderen, die ihr vergnügt zunickten. Melissa schleifte Sally durch eine Tür am Kopfende des Saales und dann eine Treppe hinauf in ein kleines Gemach, in dem lediglich ein breiter Tisch stand. Darauf lag, ziemlich einsam, ein schwarz-rotes Kleiderbündel, bei dessen Anblick Sallys Herz höher schlug: Klamotten! Ja, vielleicht war das unreif von ihr - aber zur Hölle, sie wurde nächste Woche erst achtzehn!
Als sie fertig war, trug Sally eine rote, enge Hose, die mit schwarzen Lederriemen umgürtet war. Dazu ein schwarzes, anschmiegsames Mieder, über dem ein enges, silbrig-feingliedriges Kettenhemd lag.
Schwarze Lederstiefel und ein silberner Gürtel, an dem eine Klaue und ein Arsenal Wurfsterne befestigt waren, rundeten das Outfit ab - Sally fühlte sich wunderbar.
Doch als sie die Treppe hinabstiegen und sich wieder in den Saal begaben, begannen ihre inzwischen gut ausgebildeten theleopathischen Sinne zu arbeiten und Sally fragte sich, was der Anlass dieser Veranstaltung war.
Irgendetwas sagte ihr, dass dieser Abend erneut ihrer aller Leben verändern würde...