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Muchnara

Ich bin mal gespannt, ob die drei es auch wieder unerkannt von dannen schaffen. Sonderlich leise war die Aktion ja nicht unbedingt. :D
 
So habs jetzt auch gelesen - irgendwie fällt es mir schwer zu dem Kapitel etwas zu sagen. Ich sehe zwar die Handlungen aber verstehe sie nicht, verstehe die Gesamtsituation nicht. Wo ist der Zusammenhang? Nun ja ich bin gespannt auf die nächsten Kapitel und hoffe auf Klarheit :)

lg, Gandalf
 
Die einzenen Teile liegen recht weit auseinander, da kann man leicht den Faden verlieren. Ich plane zum nächsten Teil ein "Was bisher geschah" zu erstellen.
Bis dahin:
Farah wurde bei dem ersten Überfall, bei dem Samara gefangen genommen wurde, von einem Fremden verletzt. Samara bekam die Schuld dafür und wurde versklavt.
Dann wurde manchen Leuten, insbesondere den eingen Soldaten, Baragnars und Herl, die Wahrheit bekannt, und dass man das anhand der Verletzung beweisen kann:
- Samara wurde fälschlich des versuchten Kindesmordes verurteilt
- Die Beweise wurden gefälscht
- Aus den Umständen der Festnahme folgt, dass einer der Soldaten der Täter gewesen sein muss.
Daraufhin wurden die Baragnars erneut überfallen, und Farah wurde von Herl entführt, um mit diesem Beweis seine ehemaligen Auftraggeber, die Samara einfingen, zu erpressen. Sylissa war dagegen und wurde deswegen unsanft aus der Bande geworfen. Farahs Vater Keron und Samara verbünden sich mit Sylissa.
Wer in welcher Weise in Was verstrickt ist, ist absichtlich noch weitgehen offen. Nach dem momentanen Wissen (siehe zweitletzter Teil) hat Herl (und Sylissa) Samara zwar absichtlich in eine Falle laufen lassen, aber von einem Kindesmord ist nie die Rede gewesen. Also haben Herls Auftraggeber (die auch die Soldaten schickten) die Vereinbarung gebrochen. Warum sie das taten ist offen. Der letzte Teil sollte klar werden lassen, das Herls Auftraggeber offensichtlich über Einfluss verfügen und die ganze Sache mit Gewalt vertuschen wollen.
 
Personen:
Samara De Veracas (Aylene): Sie unterliegt dem Muchnara
Keron Baragnar: ein Bauer aus der Umheide
Sylissa Chamal: ehemaliges Mitglied von Askars Bande
Farah Baragnar: Kerons Tochter
Ragar Baragnar, Hilde Baragnar: Kerons Vater und Mutter
Janina Rhmal: Kerons ehemalige Frau
Askar Herl: Anführer einer Bande

Was bisher geschah:
Es ist früher Herbst in der Umheide, der unruhigen Grenzregion zum benachbarten Kinitat. Samara de Veracas und Keron Beragnar haben sich mit Syslissa Chamal auf der Suche nach Kerons Tochter Farah und ihres Entführers Askar Herl verbündet.

Samara ist eine ehemalige Offiziersanwärterin, die sich, enttäuscht von ihrer Armee, einer Widerstandsgruppe anschloss. Doch bereits bei ihrem ersten Einsatz, einem Brandanschlag auf den in der Umheide liegenden Bauernhof der Baragnars, wurde sie von Herl an die feindlichen Truppen verraten. Samara wurde gemäß der Muchnara, einem tradierten und von allen Völkern anerkannten Recht, versklavt und an die überfallene Familie ausgeliefert.
Obwohl bei dem Überfall das jüngste Mitglied der Familie, Farah, schwer verletzt worden war, behandelte man sie gut. Farah schloss sogar eine enge Freundschaft mit ihr. Doch dann erfolgte ein zweiter Überfall auf die Baragnars, bei dem Keron Eltern getötet und Farah entführt wurde. Samara und Keron nahmen die Verfolgung auf und trafen zuerst auf die Zauberin Sylissa Chamal. Sie, die damals in Herls Auftrag Samara verraten hatte, ist inzwischen ebenfalls von ihm ausgestoßen worden. Sylissa kann die Hintergründe der Entführung erhellen: Nicht Samara, sondern einer der sie auflauernden Soldaten habe damals Farah absichtlich verletzt. Diese Tat habe man dann mittels gefälschter Beweise Samara zugeschoben. Jetzt habe sich ergeben, dass man diese Fälschung anhand von Farahs Art der Verletzung beweisen könne. Deshalb habe Herl Farah entführt, um mit ihr als möglichem Beweis die eigentlich Schuldigen erpressen zu können.
Samara, Keron und Sylissa schlossen ein Zweckbündnis ab, zur Rettung von Farah und für Sylissas Rache an Herl.
Die Drei überschritten die Grenze von der Umheide zum Kinitat und hoffen hier auf die Unterstützung der Ordnungsmacht, aber stattdessen lauerten Soldaten ihnen in einem Dorf auf. Sie können zwar der Falle gewaltsam entrinnen, doch es ist ihnen nun offensichtlich geworden, dass man auf beiden Seiten der Grenze die Warheit mit allen Mitteln vertuschen will.

Sylissa will die Flucht durch die Klamm wagen ...

Muchnara 11
Die Klamm

Sie liefen auf dem gleichen Weg, über den sie gekommen waren, aus dem Dorf hinaus. Nachdem sie das Tal verlassen hatten, blieb Keron stehen.
„Wohin jetzt? Wo ist Askar Herls Versteck und wie weit ist es bis dort?“, fragte er und sah Sylissa an.
„Askars Versteck liegt hinter dem Wassergipfel“ Sylissa deutete in Richtung des großen Berges jenseits des Dorfes. „Der Weg dahin führt in einem großen Bogen südlich um den Berg herum. Wir müssten etwa den halben Weg bis zur Grenze zurückgehen, um ihn zu kreuzen.“
„Ein ziemlich großer Umweg“, meinte Keron.
„Ja, das sagte ich doch.“ Sie zuckte mit ihren Schultern. „Egal, wir können die Wege ohnehin nicht mehr benutzen.“
„Wegen der Soldaten?“
„Ja“, sie warf einen Blick zu Samara hinüber. „Insofern hat sich der Umweg gelohnt: In dem Haus konnten wir sie überraschen, was auf offenem Gelände nicht so einfach wäre.“
„Ich hätte nie gedacht, dass wir sie zum Feind haben“, meinte Samara.
„Ich auch nicht“, stimmte Sylissa zu. „Gleichgültig ja, aber nicht feindlich. Es ist schon seltsam, eine Sache mit einem offiziellen Hilfeersuchen vertuschen zu wollen.“
„Das ist doch jetzt egal!“, meinte Keron ungeduldig. „Wir müssen weiter!“
Sylissa nickte. „Ich weiß eine Abkürzung über die nördlich Flanke. Wir würden mindestens einen Tag einsparen, aber sie ist nicht ungefährlich.“
„Ich will so schnell wie möglich Farah befreien. Wir nehmen die Abkürzung.“
„Dann sind wir einer Meinung.“

Sylissa übernahm die Führung. Sie verließen den Weg nach links und stiegen die nördliche Hügelkette hinauf, die hier noch niedrig verlief. Oben lag eine Ebene, auf der ein leichter Dunstschleier lag, der die Sicht kaum beeinträchtigte. Keron sah, wie sie sich mit sanfter Steigung bis zum Fuß des Berges erstreckte, dann folgte er Sylissa und Samara, die bereits weitergelaufen waren.

Doch der Dunst verdichtete sich, wie bereits zuvor im Tal, wieder allmählich zu Nebel. Es erschien Samara, als wenn der Berg sich nicht nähern, sondern entfernen würde, bis sie plötzlich vor ihm stand. Nahezu ohne Übergang stieß er vor ihren Füssen aus der Ebene steil empor in den Himmel, wo er in den Nebel eintauchte. Samara wunderte sich über die Verwandlung des Berges. Hatte er sie aus der Entfernung betrachtet noch imponiert, so wirkte er aus der Nähe betrachtet nur noch abweisend. Wie sollten sie hier weiterkommen?
„Der Zugang liegt weiter im Süden“, meinte Sylissa und übernahm erneut die Führung.

Es war eine Klamm, eine schmale und tiefe Gasse, die von einem in ihm verlaufenden Bach im Verlaufe von vielen Jahrtausenden in den Fels geschnitten worden war.
„Dieses Flussbett führt bis zum Scheitelpunkt unseres Weges, der auf etwas mehr als halber Gipfelhöhe liegt“, erklärte Sylissa. „Dort befindet sich eine kleine Ebene. Wenn wir uns beeilen, können wir sie noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, und morgen könnten wir dann in das Tal auf der anderen Seite hinabsteigen.“ Sie deute demonstrativ auf den Zugang. „Aber die Klamm ist zu tief eingeschnitten, um sie unterwegs verlassen zu können. Wisst ihr, was das bedeutet?“
„Wenn der Bach plötzlich anschwillt, können wir ihm nicht ausweichen“, meinte Keron.
„Er ist dann kein Bach mehr, sondern eine reißende Flut“, erwiderte Sylissa. „Es darf nicht regnen, während wir da drin stecken.“ Sie sah kritisch nach oben in den Nebel. „Leider ist das hier eine sehr nasse Gegend.“
„Wird sie trockener, wenn wir hier warten?“

Sylissa sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, schüttelte ihren Kopf und betrat die Klamm. Am Anfang war sie sehr steil, und sie mussten mit Händen und Füßen klettern, wobei der glatte Stein ihnen nur schlechten Halt gab. Dann beschrieb die Klamm eine scharfe Kurve nach links, um in einem flacheren Winkel an der Wand entlang zu verlaufen. Ab hier benötigten sie ihre Hände nicht mehr zum Vorankommen.

Die Klamm verlor weiter an Steilheit, und Keron hatte bald seine liebe Mühe, der Zauberin zu folgen, die inzwischen in einer Mischung aus schnellem Gehen und Laufen das Flussbett heraufeilte. Manchmal blieb sie stehen und warte mit ungeduldigen Gesten auf ihn und Samara, doch stets enteilte sie erneut, bevor er sie erreichen konnte. Zunächst verspürte er nur Frustration über seine scheinbar vergeblichen Anstrengungen, dann staute sich immer mehr Zorn in ihm auf. Wie konnte diese Fremde ihn nur dermaßen vorführen, während sie sich selbst ausruhte?

Sylissa lief weiter an der Spitze. Ihr Atem keuchte und ihr Herz raste vor Anstrengung. Der ständige Wechsel zwischen Laufen und Warten zerrte besonders an ihren Kräften. Hatten die Beiden immer noch nichts von dem drohenden Unheil bemerkt, dass sie so trödelten? Da! Erneut ein Regentropfen, der ihr in das Gesicht schlug. Sie ballte die Fäuste und verschärfte das Tempo noch weiter. Behände sprang sie über lose Steine hinweg, dann über eine lose Felsplatte. Im Sprung drehte sie ihren Kopf zu ihren Begleitern und rief „Schneller!“

Es war ein weiter Satz, und sie hatte nicht die moosbewachsene Kuhle auf der anderen Seite von der Platte gesehen. Ihr rechter Schuh glitt auf dem glitschigem Belag nach unten weg. Alles geschah blitzschnell, ohne eine Chance, sich irgendwie abzufangen, und Sylissa fiel mit der vollen Wucht ihres Sprungs auf ihr Knie. Ein weiß blendender Schmerz schoss ihr durch das Bein hinauf in den Kopf und erstickte ihren Schrei zu einem dunklen Aufstöhnen.

Keron befand sich über zwanzig Schritte hinter Sylissa, als sie stürzte. Ein spontanes Gefühl der Befriedigung überkam ihn. Das war die gerechte Strafe für ihre Arroganz! Mit einem Grinsen lief er weiter: Jetzt würde er an ihr vorbeiziehen und den Spieß umdrehen können.

Doch Sylissa rührte sich nicht mehr. Selbst als er als er sie erreichte, war sie immer noch wie tot. Schlagartig verschwand jede Häme aus Kerons Gedanken und wurden durch Sorge ersetzt. Er hielt neben ihr an und beugte sich über sie:
„Sylissa?“, fragte er besorgt.

Es verstrichen einige Atemzüge, bis sie sich rührte. Langsam stemmte sie sich mit den Armen hoch und kam mühsam in die Hocke, dann drückte sie sich mit dem unversehrten Bein hoch. Sie gab dabei keinen Laut von sich und blieb abgewendet, als wenn sie etwas verbergen wollte. Es war offensichtlich, dass ihre Zauberkräfte ihr dieses Mal nicht geholfen hatten. Keron und Samara standen unschlüssig daneben und sahen zu, wie Sylissa ihr Knie mit den Händen abtastete. Sie richtete sich ganz auf, blieb dabei immer noch von ihren Begleitern abgewendet.
„Wir müssen weiter!“, keuchte sie mit schmerzgefärbter Stimme. „Ich fürchte, es regnet gleich.“

Nur langsam konnte sie ein Bein nach vorne setzen. Sie blieb einen Moment lang mit geschlossenen Augen stehen, dann machte sie einen zweiten humpelnden Schritt, dieses Mal zur Seite, und stützte sich tief Atem holend mit beiden Händen gegen die Wand der Klamm. Sie ließ ihren Kopf nach vorne hängen und entlastete das verletzte Knie.
„Ich kann nicht. Geht alleine vor. Auf der anderen Seite des Berges findet ihr eine alleinstehende Hütte mit einem Schmied. Sagt ihm ich hätte blaue Augen, dann fragt ihn nach Askars Versteck.“
„Wir können dich doch nicht zurücklassen“, warf Samara ein.
„Doch“, erwiderte Sylissa und drehte ihr Gesicht der hageren Frau zu. „Es fallen schon die ersten Tropfen. In nicht einmal einer Stunde wird sich die Klamm in einen reißenden Fluss verwandelt haben, und so lange braucht ihr noch bis zum Ausstieg.“ Als Samara ihren Kopf schüttelte, drehte Sylissa ihren Kopf zu Keron. „Jetzt geht schon, ich hole euch schon wieder ein.“

Keron blickte nach oben und spürte, wie ihm Regentropfen auf das Gesicht fielen. Es waren noch wenige, doch sie waren typisch für den Anfang eines jener kräftigen Gusse, die er aus eigener Erfahrung kannte.
„Wir warten“, sagte er bestimmt.
„Wollt ihr auch draufgehen?“, schimpfte Sylissa.
Er griff nach ihrem Arm. „Komm, wir kühlen dein Knie im Bach.“

Sylissa schob Kerons Arm zur Seite.
„Ihr seid Idioten!“ fuhr sie ihn an und humpelte in die Mitte der Klamm, wo der Bach verlief. Äußerlich sah ihr Knie fast unversehrt aus, selbst die Abschürfungen an den Armen und Schienbeinen sahen beeindruckender aus, doch ihr Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel aufkommen, und die fest zusammengepressten Zähne und das scharfe Einziehen der Luft beim Eintauchen in das eiskalte Wasser ließen einem ihre Schmerzen ahnen.

Nach zehn Minuten wollte Sylissa ihr Bein stecken. Mit einem unterdrückten Laut brach sie den Versuch ab. Sie schlug mit der Faust in den Bach, das Wasser spritzte durch die Luft.
„Verdammt!“ Sie sah auf zu Keron und hielt demonstrativ ihre Hand in den inzwischen eingesetzten Regen. „Wenn ihr jetzt nicht lauft, ist es zu spät.“
„Nein! Samara hat dazu bereits alles gesagt“, erwiderte Keron und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir lassen dich nicht zurück.“

Nach über zwanzig Minuten versuchte Sylissa es erneut. Dieses Mal gelang es besser, mit angespanntem Gesicht konnte sie das Bein langsam strecken und beugen. Sie stand auf und belastete ihr Bein prüfend.
„Wir können weiter“, meinte sie knapp und machte die ersten, noch steif wirkenden Schritte.

Sylissa erholte sich erstaunlich gut, bereits nach einigen Dutzend Schritten erreichte sie wieder ein Tempo, dem Keron nur mit Mühe folgen konnte. Auch sah es über eine halbe Stunde lang so aus, als wenn der inzwischen kräftig gewordene Regen keine Auswirkungen auf den Fluss hätte. Doch dann fiel Keron sein lauter gewordenes Gluckern auf. Nahezu im gleichen Moment schwappte er aus seiner Rinne und fing an, sich über den Boden der Klamm auszubreiten. In Nu bedeckte das Wasser den gesamten Boden und stieg weiter an, um mit atemberaubender Geschwindigkeit Knöcheltiefe zu erreichen.

Bis jetzt hatte Keron sich die Gefahr nur abstrakt vorstellen können, aber ohne von ihr wirklich berührt zu werden. Nun spürte er, wie Angst in ihm hochkroch. Das Wasser begann, ihn zunehmend beim Laufen zu behindern, und wenn es weiter so schnell anstieg, würde es ihn auf dem abschüssigen und glatten Boden sehr bald wegreißen. Gehetzt sah er zu den Klammwänden und suchte nach einer Höhle oder wenigstem einem Vorsprung, doch er fand nur glatte Mauern. Da stieß er gegen Sylissa. Beide strauchelten, konnten sich aber wieder fangen.
„Sylissa, wie weit ist es noch?“
„Eine Viertelstunde“, war die atemlose Antwort, im Lauf über die Schulter geworfen. Sie sah wieder nach vorne. „Bei normaler Geschwindigkeit“, stieß sie aus. „Ihr Idioten!“

Samara war nicht entgangen, dass Sylissas Bewegungen seit ihrem Sturz ihre Leichtigkeit verloren hatten. Sie humpelte leicht und alles hatte etwas schmerzhaft Erzwungenes an sich. Zunächst hatte die Zauberin es noch ausgleichen können, doch der Raubbau an ihren Kräften forderte immer stärker seinen Tribut. Nun kam das immer stärker herabschießende Wasser dazu, dem sie mit ihrem zierlichen Körper am wenigsten entgegenzusetzen hatte. Sylissa wurde zuerst langsamer und schließlich ihr Laufen zum Gehen. Doch auch Samara und der vor ihr befindliche Keron bekamen immer mehr Schwierigkeiten.

Das Wasser stieg unerbittlich weiter und nahm an Wildheit zu. Die ersten Strudel zerrten an den Beinen, und wieder war es Sylissa, die davon am stärksten betroffen war. Sie musste immer öfter mit ihren Armen rudern, um das Gleichgewicht zu bewahren. Samara sah dem mit wachsender Sorge zu, bis Sylissa an einer Biegung von einer unerwarteten Welle beinahe umgerissen worden wäre. Samara eilte mit großen Schritten zu ihr. Keron folgte ihr. Sie packten Sylissa an den Armen und zogen sie mit sich. Es war in dem Durcheinander nicht zu bestimmen, ob sie sich gegen die Hilfe wehrte oder nicht, und es war ihnen auch gleichgültig.

Er schien sich seit einer Ewigkeit in dieser kalten Hölle zu befinden. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er den Arm hinter sich her. Dieser Arm und blendend glitzernde, jegliche Orientierung raubende, Helligkeit, das war die Welt, die er noch wahrnahm, alles andere war taub geworden von der saugenden Kälte des Wassers, das brausend um ihn herumtobte. Manchmal, wenn der Arm an ihm zerrte, entkamen seine Augen dem Glitzern und genossen ein dunkles Grau. Doch es war nur eine kurze Pause, bis sich sein Oberkörper wieder nach vorne warf, um den Arm weiter zu ziehen. Einmal fragte er sich, wie er sich noch fortbewegen konnte, so ganz ohne Beine. Ob er schwebte?

Mit einem Schlag war es vorbei. Des gewohnten Widerstandes beraubt stürzte er nach vorne und tauchte unter. Wild um sich schlagend schluckte er Wasser, bis er ebenso plötzlich wieder auf den Beinen stand, die er schon lange nicht mehr spürte. Neben sich bemerkte er eine strampelnde Bewegung, aus der eine schlanke Gestalt emporschoss.
„Aylene!“, entfuhr es ihm. Er versuchte, seine Benommenheit mit einem kräftigen Kopfschütteln zu vertreiben. Samara sah ihn fragend an, dann drehte sie ihren Kopf und suchte die Wasseroberfläche ab. Keron folgte ihren Blicken und entdeckte den nur eine Armspanne neben ihm treibenden Körper. Mit einem Fluch packte er ihn und zog ihn an sich.

Keron orientierte sich. Er stand bis zur Hüfte in einem kleinen Wasserbecken. Es war an zwei Seiten, vorne und links von ihm, von hochragenden Felswänden umgeben, an denen ungezählt viele kleinere Stürzbäche herabrannen. Hinter ihm befand sich eine Kerbe in der Beckenwand, durch die sich das Wasser in die Klamm stürzte. Zu seiner Verwunderung geschah das alles in vergleichbarer Ruhe, er verspürte nur einen sanft ziehenden Sog, und in der Luft lag ein vielstimmiges friedlich klingendes Gluckern. Rechts von ihm befand sich ein Ufer. Keron watete mit Sylissa auf den Armen zu ihm hin und legte sie dort ab.

Samara watete mit letzter Kraft aus dem See. Sie wankte zu der neben Keron am Boden liegenden Gestalt und versuchte, sich daran zu erinnern, was in einem solchen Fall zu tun war. Hatte sie es nie gelernt? Müde sank sie auf ihre Knie. Sie wollte sich mit einem Arm abstützen, doch er knickte ein. Nahezu besinnungslos kippte sie zur Seite.

Auch Keron konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Eine Windbö traf ihn und die Kälte ließ ihn erzittern. Seine Zähne klapperten laut und seine zuckenden Arme schienen seiner Kontrolle zu entgleiten, während er sich fragte, wo seine Beine geblieben waren. Träge meldete sich der Gedanke, sie wären vermutlich taub vor Kälte geworden. Schließlich sei Herbst, und das Wasser in der Klamm entsprechend kalt gewesen. Kein Grund zur Sorge, am besten solle er sich hinlegen und schlafen.
Nein! So denken Erfrierende!
Wie ein Blitz schoss Todesangst durch seinen Kopf. Mit plötzlicher Klarheit wusste er, was zu tun war. Er zerrte seinen Rucksack von den Schultern, riss ihn auf und zog eine Decke heraus. Erleichtert stellte er fest, dass sie nur an einer Ecke nass und ansonsten völlig trocken war.

Die Ebene grenzte an einer Seite an den Felswänden, die auch den See umgaben. Keron fand eine Einbuchtung in ihnen, die Schutz vor dem Regen bot, und legte in ihr die Decke auf den sandigen Boden. Dann lief er zurück zu Samara. Er zog die apathisch wirkende Frau vom Boden hoch und schüttelte sie.
„Samara!“, rief er eindringlich. „Wach auf!“
„Ja? ...“, stöhnte sie lang gezogen.
„Zieh deine nassen Sachen aus und lege dich in die Decke.“ Er deutete zu der Einbuchtung hinüber.
„Nein ... Ich will nicht!“
Er gab ihr eine Ohrfeige.
„Samara! Komm endlich zu dir! Du musst dich aufwärmen!“
„Das mache ich niemals freiwillig.“

Keron verlor die Geduld. Er packte Samara und zog an ihrer Kleidung. Als sie anfing, um sich zu schlagen, umklammerte er sie mit einem Arm und riss ihr mit dem anderen Arm das Hemd über den Kopf. Sie fing an zu schreien. Keron warf sie nach hinten auf den Boden. Er kniete sich auf ihren Bauch, öffnete den Gürtel ihrer Hose und zog ihr grob die Beinkleider herunter. Ihre Schreie und tretenden Beine machten ihn rasend, er warf die Hose fort und wollte ihr eine zweite Ohrfeige geben. Doch der Schlag ging daneben. Statt ihrer Backe traf seine Hand ihr Gesicht und ließ den Schrei in ein Wimmern ersterben. Blut lief aus ihrer Nase.

Entsetzt über sich selbst fuhr Keron hoch, doch es war zu spät. Samara hörte auf zu wimmern, drehte sich auf ihren Bauch und kroch auf die Decke zu. Es waren nur wenige Schritte bis zu ihr, doch sie kroch die Strecke entlang wie ein geprügelter Hund. Scham überschwemmte ihn. Am liebsten wäre er fortgelaufen, als sie die Decke erreichte und sich ihrer Schuhe und Unterkleidung entledigte. Er versuchte nicht hinzusehen, während er sie in die Decke einwickelte.

Sylissas Anblick erlöste ihn aus seinen Selbstvorwürfen. Die Zauberin war nach wie vor ohne Besinnung, und ihre blau angelaufenen Lippen und Augenlider wirkten alarmierend auf ihn. Dennoch zögerte er einen Moment, das Erlebnis mit Samara wirkte noch nach. Endlich kniete Keron sich neben sie auf den Boden und zerrte ihr den Rucksack vom Rücken. Er zog er ihr die Schuhe aus. Sie waren aus weichem Leder gefertigt und mit einer kräftig profilierten Sohle versehen. Dann öffnete er den Knoten ihres hellgrünen Brusttuchs und wickelte den tropfnassen Stoffstreifen von ihrem Oberkörper. Der Anblick ihrer Brüste löste ein Gefühl der Wärme in ihm aus, und Keron fragte sich, wohin seine Gedanken in einer solchen Lage abschweiften. Er knöpfte ihren Rock auf und zog ihn fort. Er konnte einen neugierigen Blick nicht vermeiden, bis erneut Scham seine Gedanken unterbrachen. Sie war dieses Mal frei von bitterer Schuld, stattdessen vermischt mit Versuchung. Keron rief sich zur Ordnung.
Sie ist nur eine kalte Hexe!
Er schob seine Arme unter Sylissas Leib und trug sie zur Decke. Samaras Anblick holte ihn wieder auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurück. Zu seiner Erleichterung rührte sie sich nicht, als er die Zauberin zu ihr in die Decke schob. Sanft streichelte er Samara über die Wange, dann stand er auf und ging zurück zu den beiden Rucksäcken.

Aus Sylissas Rucksack ergoss sich zusammen mit allerlei Dingen ein Schwall Wasser. Seufzend suchte Keron in seinem Rucksack, wohl wissend hier nur noch eine kleine Decke finden zu können. Er zog sich aus und schlang sie um seine Hüfte, dann legte er sich neben seinen Begleiterinnen in den kalten Sand.

*​

Das Tappen von Füßen, vermischt mit Satzfetzen, ließen Keron erwachen. Murrend drehte er sich auf die Seite und zog er die Decke enger um sich.
„Wenn wir etwas absteigen, können wir trockenes Holz einsammeln und ein Feuer machen“, drang eine sachliche Stimme in sein Dösen ein.
„Es ist noch so früh“, knurrte er zurück.
„Etwa drei Stunden nach Sonnenaufgang“, kam es trocken zurück.

Keron drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Vor ihm standen Sylissa, die Arme in die Seiten gestützt, und Samara, mit einem Bündel Kleidern in den Händen.
„Bis zum Schmied ist es nicht sehr weit, doch wir sollten nicht trödeln“, erklärte Sylissa. „Die Zeit läuft immer nach vorne ab, verstehst du?“
„Hm ...“, knurrte Keron. Er fühlte sich wie zerschlagen, und als er sich aufrichteten wollte, zuckten Schmerzen durch seinen Oberkörper. Samara trat einen Schritt vor und reichte ihm den Arm zur Hilfe. Er griff zu. Mit einem erstaunlich kraftvollen Zug zog sie ihn in halb hoch. Er sah sie lächelnd an, und sie zwinkerte ihm kameradschaftlich zurück. Er entdeckte etwas Blut auf ihrem hellgrauem Hemd, und im selben Moment erinnerte er sich an den gestrigen Abend. Sie folgte seinem Blick.
„Ich habe mich gestern unvernünftig benommen“, sagte sie.
„Nein!“, entfuhr es Keron. „Bitte sage das nicht.“
Während Sylissa sich entfernte, reichte Samara ihm seine Kleider. Dabei berührte er absichtlich ihre Hand, drückte sie leicht und murmelte eine Entschuldigung. Samara nickte mit einem Lächeln.
„Ich habe sie so gut ich konnte ausgewrungen“, meinte sie. Sie wurde ernst. „Sylissa ist immer noch verletzt. Hoffentlich schafft sie es“, flüsterte sie.
„Ihr Hass auf Herl wird sie antreiben“, meinte Keron.
Samara sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts. Sie drehte sich um und folgte der Zauberin nach.

Keron wartete, bis beide Frauen außer Sicht waren, dann zog er die Decke zur Seite. Zu seiner Verwunderung lag er auf der kleinen Decke, während die große Decke, in der er am Abend die Frauen eingewickelt hatte, ihn bedeckt hatte. Er errötete bei dem Gedanken, dass ihn vermutlich die beiden Frauen nackt gesehen hatten, und freute sich zugleich über ihre Fürsorge. Er verspürte sogar etwas Stolz darüber. Dann nahm er seine Hose. Es kostete ihn Überwindung, in dieses klamme eiskalte Kleidungsstück zu steigen. Hastig, um sich kein zweites Mal überwinden zu müssen, zog er das Hemd an. Die Schuhe waren im Vergleich dazu kein Problem.

Samara und Sylissa warteten am anderen Ende der Ebene. Hier wuchsen einige verkrüppelte Bäume und Büsche, das erste armselige Grün seit einer kleinen Ewigkeit.
„Wenn die nicht so nass wären, würde ich sie anzünden“, rief Keron seinen Begleiterinnen launisch zu.
„Wie gesagt, nur etwas weiter unten finden wir genügend trockenes Holz“, erwiderte Sylissa. Sie setzte sich auf die Kante der Ebene und sprang sie hinab.

Samara und Keron sprangen hinterher. Die Kante lag mannshoch über einem Hang mit Büschen und Bäumen, die zwar ebenso klein, aber viel gerader, gewachsen waren wie die auf der Ebene befindlichen. Der Boden war mit zähem, kurz gewachsenem Gras bewachsen. Das Gefälle war an der Grenze dessen, was ein Wanderer noch gehen konnte, sie würden ihre Schritte bedachtsam setzen müssen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Keron stoppte fing sich an einem Baum ab. Er bemerkte, wie Samara rechts an ihm vorbeirutschte und sich dann ebenfalls an einem Baum festhielt. Die hagere Frau sah sich suchend um und stieg dann weiter ab zu Sylissa, die in einen Busch gestürzt war. Gespannt beobachtete Keron, wie Samara ihr half, aufzustehen. Nach einer kurzen Diskussion, die er nicht verstehen konnte, nahm Sylissa ihren Rucksack vom Rücken und reichte ihn Samara. Dann setzte die Zauberin sich in Bewegung. Keron ging zu Samara, die sich den Rucksack überstreifte.
„Ihr Knie? Soll ich ihr auch helfen?“, fragte er, es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage, und nickte in Richtung der forthumpelnden Sylissa.
„Es ist angeschwollen und muss sie höllisch schmerzen. Seltsam, das befriedigt mich nicht.“ Sie sah Keron an. „Nein, sie will keine Hilfe von uns.“
„Und der Rucksack?“, fragte Keron verwirrt.
„Sie hat ihn mir geschenkt.“ Samara grinste dünn.
„Kindisches Weib!“, entfuhr es Keron.

Mit rutschenden Schritten holte er zu Sylissa auf.
„Ich kann dich stützen“, bot er ihr an.
„Nein, ich komme schon zurecht“, lehnte sie ab und deutete stattdessen nach vorne. „Bis zu der Baumgruppe dort ist es nicht weit. Dort können wir unsere Sachen trocknen und ich werde mir einen Stock schnitzen.“
„Aber ...“
„Keine Sorge, wir werden keine Zeit verlieren. Bis zum Schmied schaffen wir es heute leicht. Bei ihm können wir uns dann vorbereiten, um Askar aufzusuchen.“
„Und dein Knie?“
„Es ist mein Knie. Und jetzt lass mich in Ruhe.“

Verärgert ließ Keron sie ziehen. Er blieb stehen, bis Samara ihn eingeholt hatte, und ging dann zusammen mit ihr weiter.
 
Wow - das ist ein sehr interessantes Update. Ist wirklich sehr gut geschrieben. Ich finde es nur seltsam, wie man so... engstirnig, stolz sein kann wie diese Zauberin... Na ja solche Menschen gibt es... Ich bin mal gespannt, wie es dazu gekommen ist.

lg, Gandalf
 
Für ein Buch reicht es nicht, Verfilmt könnte man sich das schon eher vorstellen.
Etwas vorhersehbar von der Handlung, aber sehr gut geschrieben.

Part I, der Anfangsdialog war etwas gekünstelt, und hat mich fast abgeschreckt, aber das hat sich gut entwickelt.

Namenslisten haben irgendwie was komisches am Anfang, man weiß dann schon zuviel, aber das ist meine Meinung, andere halten sie vielleicht für Notwendig.

Für mich fehlt ab und an etwas Hintergrundwissen zu den Charakteren, (Was passierte Samara also sie verhaftet wurde, was war bei der Folter?)
Damit jetzt anzufangen ist aber eindeutig zu spät, Rückblenden hätten über die ganze Story verteilt werden müssen, schreib einfach weiter so!

Kritik an den Charakteren gibt es nicht, Menschen sind halt mal seltsam.
 
Muchnara 12
Der Schmied

Missmutig warf Keron einen dicken Ast der auf dem Boden sitzenden Sylissa in den Schoß.
„Hier, nimm den oder wirf ihn weg“, knurrte er.
Sylissa hob den Ast auf und betrachtete ihn kritisch.
„Der ist gut genug“, meinte sie knapp und fing an, mit einem Messer seine Zweige zu entfernen.
Keron drehte sich mit einem stillen Seufzer zu Samara um. Die zuckte mit ihren Schultern.

Während Sylissa weiter an ihrem Stock herumschnitzte, suchten Keron und Samara Laub und Bruchholz zusammen. Bereits hier, nur knapp unterhalb des Grates, zeigte sich die Wetterscheide durch den Wassergipfel. Während es auf der anderen Seite stark geregnet hatte, war es hier absolut trocken geblieben. Sie warfen alles auf einen Haufen und zündeten ihn mit einem Feuerzeug an, das Sylissa am Gürtel trug. Keron und Samara stellten sich um die aufzüngelnden Flammen, die zum Tal hin von einem dichten Busch abgeschirmt wurden, und genossen die wachsende Hitze. Als das Holz zu knacken anfing, stemmte sich Sylissa auf ihrem inzwischen fertigen Stock in die Höhe und gesellte sich ebenfalls zu ihnen.
„Dem Schmied können wir vertrauen, ich kenne ihn schon länger. Er heißt Deogenes und wird uns helfen“, sagte sie und hielt ihre Schuhe näher an das Feuer. „Vor allem brauche ich einige Kräuter.“
„Für dein Knie?“
„Ja“, nickte sie. „Aber auch für Askar.“ Sie dehnte sich seufzend, um dann Keron und Samara ernst anzusehen. „In einem offenen Kampf würden wir unterliegen.“
„Was sollen wir dann machen?“, fragte Keron.
„Wir vergiften ihn, und dann soll er sein Leben gegen das von Farah eintauschen.“ Sylissa grinste matt. „Dafür brauche ich die Kräuter.“

*​

Der Abstieg in das Tal führte sie zu einem schmalen Pfad, der sich den Hang in unregelmäßigen Serpentinen hinabschlängelte. Die Steigung ließ immer weiter nach, bis der Weg geradlinig durch einen dichten Wald verlief. Sylissa konnte ihr verletztes Knie nicht beugen, so stützte sich bei jedem Schritt mit beiden Armen auf ihrem Stock ab, um dann das Bein nachzuziehen. Samara und Keron blieben hinter ihr. Beide waren noch nie auf der Rückseite des Wassergipfels gewesen und unterhielten sich leise über den verblüffenden Unterschied der Landschaft auf beiden Seiten des Berges, die hier nahezu paradiesisch wirkte.

Als der Wald vor ihnen heller zu werden schien, hob Sylissa den Arm. Keron und Samara hielten sofort an.
„Wir sind gleich da“, sagte Sylissa mit gedämpfter Stimme.
Sie atmete hörbar schwerer, und ihr Rücken glänzte vor Schweiß.
„Wartet hier, ich sehe nach, ob die Luft rein ist“, fügte sie hinzu und humpelte weiter.

Samara sah ihr nach, bis sie außer Sicht war, dann wandte sie sich Keron zu.
„Erstaunlich, dass sie es bis hier geschafft hat.“
„Manche Leute treibt der Hass mehr an als alles andere“, erwiderte Keron. Nachdenklich führte er hinzu: „Obwohl das für eine Zauberin ungewöhnlich sein soll. Angeblich soll es eine ihrer drei Haupttugenden sein, nicht dem Hass zu verfallen. Sie schwören es bei ihrer Vereidigung, hörte ich.“
„Du meinst das Promissum?“, fragte Samara.
„Dem was?“
„Promissum heißt ‚das Versprechen’ in ihrer alten Sprache. Das ist ihr Schwur gegen Neid, Gier, Hass und Unwissenheit. Nur wer ihn ablegt, darf als Kampfzauberin ihr Land verlassen.“
„Das mit der Unwissenheit höre ich zum ersten Mal. Es klingt sonderbar, von einer Kriegerin Bildung zu verlangen.“
„Es geht nicht um Bildung, sondern um den Missbrauch ihrer Kräfte.“
Ein leiser Ruf unterbrach ihr Gespräch. Sylissa winkte ihnen von einer Buschinsel aus zu.
„Sylissa unterliegt aber nicht mehr dem Promissum, denn sie ist eine Ausgestoßene“, raunte Samara noch, dann ging sie auf die Zauberin zu.

Hinter der Buschinsel öffnete sich die Landschaft zu einem weiten Tal. Die Schmiede war in der Wiesenlandschaft gut zu erkennen, lag aber noch mehr als eintausend Schritte entfernt.
„Woher weißt du, dass es keine Falle ist?“, fragte Keron misstrauisch.
„Ich habe mit Deogenes einige geheime Zeichen vereinbart“, antwortete Sylissa.
„Du kennst ihn schon länger?“, fragte Keron.
„Schon immer ...“, antwortete sie und prüfte den Sitz ihres Haares. Plötzlich unterbrach sie sich und packte wieder den Stock mit beiden Händen. Sie warf Keron und der auf der anderen Seite neben ihr gehenden Samara einen ernsten Blick zu. „Das ist geheim, selbst Askar weiß nichts davon. Ich habe es euch nur verraten, weil es nicht anders ging.“

Beim Näherkommen hörten sie ein plätscherndes Knarren. Die Schmiede hatte an der Seite ein Wasserrad, das von einem kleinen Bach angetrieben wurde. Das Rad schien altersschwach zu sein und gab dem emsig strömendem Wasser nur mit stockendem Knarren nach. Dann erklang das dumpfe Hämmern von Eisen. Sylissa legte ihren Zeigefinger gegen die Lippen, straffte sich und schritt ihrer Verletzung zum Trotz betont gleichgültig um die Hauskante.
„Dein Wasserrad knarrt. Und du willst ein Schmied sein?“

Samara sah, wie der Mann seinen schweren Hammer auf den Amboss legte und sich langsam umdrehte. Er war bereits älter, sichtlich über fünfzig, doch von aufrechter Gestalt und mit breiten Schultern. Mit einem offenen Lächeln ging er auf Sylissa zu, die ihn mit strahlend blauen Augen anlächelte, und umarmte sie mit seinen kräftigen Armen.
„Heh! Nicht so fest!“, protestierte Sylissa schwach.
„Ach was!“, dröhnte er dumpf und hob sie hoch, um sie wie ein Kind umherzuschaukeln. „Seit wann so empfindlich?“ Er sah zu Samara und Keron hinüber. „Wen hast du da mitgebracht?“ Er stellte Sylissa wieder auf ihre Füße und ließ sie los.
„Wir arbeiten zusammen“, antwortete sie. „Du kannst ihnen vertrauen.“
„Das sind nicht zufällig Farahs Vater und Samara?“ Er grinste über Sylissas Gesichtsausdruck. „Ich weiß alles über die Sache mit Askar.“
„Du hast wohl überall deine Nase drin stecken?“
„Nicht unbedingt die Nase.“ Deogenes Grinsen wurde breiter. „Eine von Askars leichten Mädchen ist hier vorbeigekommen und hat sich bei mir ausgeweint.“
Sylissa lachte. „Armer Askar. Jetzt verlassen ihn auch die Huren.“
„Ja“, er klopfte ihr kräftig auf die Schulter. „Seine Bande löst sich immer weiter auf.“ Er wurde ernst. „Aber sie ist immer noch stark.“
„Ich weiß, mit roher Gewalt kommen wir nicht zum Ziel. Aber ich habe bereits einen Plan. Ich brauche dafür Geposporen und ...“
„Du brauchst zuerst ein Bett“, unterbrach Deogenes sie sanft aber bestimmt. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drehte sie in Richtung des Hauseingangs. „Leg dich hin, ich kümmere mich um unsere Gäste.“
Sylissa sträubte sich noch etwas, doch Deogenes schob sie weiter zur Tür.

„Was ist mit ihrem Bein passiert?“, fragte Deogenes, nachdem Sylissa im Gebäude verschwunden war.
„Sie ist in der Klamm auf das Knie gestürzt“, antwortete Keron.
„Ihr seid durch die Klamm gelaufen?“ Er schüttelte den Kopf. „Das war bestimmt Sylissas Idee. Um diese Jahreszeit riskiert das kein normaler Mensch.“
„Wir haben es überlebt.“
Der Schmied lachte. „Ihr gefallt mir! Kommt, ich mache uns etwas zu essen, dabei können wir uns unterhalten.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Geposporen ... woher sollte ich dieses Teufelszeug denn haben?“, murmelte er und ging in das Haus.

Im Haus bot er Keron und Samara zwei Plätze an einem großen Tisch an. Der Raum erinnerte Keron an die Küche seiner Eltern, er war ebenfalls groß und strahlte jene unerklärliche Aura aus, die jene Räume charakterisierten, die wirklich bewohnt wurden. Kaum waren seine Gedanken in die Vergangenheit abgeglitten, da brachte ihn ein erhaschter Blick in den linken Nebenraum, aus dem Deogenes einen weiteren Stuhl herbeiholte, zurück in die Gegenwart. Er schien allerlei merkwürdige Behälter aus Glas und anderen, ebenfalls exotisch erscheinenden, Materialien zu beherbergen. Der Schmied ging anschließend in die Küche und kam mit einem Laib Brot und einem Schmalztopf zurück zum Tisch.
„Sylissa schläft“, meinte er und schnitt eine dicke Scheibe Brot ab. Er reichte sie Samara und deutete auf das Schmalz. „Nur zu! Leider habe ich nichts Besseres da, doch es ist frisch.“ Er schnitt weitere Scheiben ab und forderte Keron auf, sich ebenfalls zu bedienen.

Sie aßen zunächst schweigend, bis Keron endlich seine Scheu vor dem fremden Mann überwinden konnte.
„Hat dieses Mädchen euch etwas über meine Tochter erzählt?“, fragte er.
„Sie wusste nicht viel darüber“, antwortete Deogenes. „Nur, dass Herl sie in einen geschlossenen Wagen gesperrt hat und außer sich selbst Niemanden zu ihr lässt.“
Keron wurde blass.
„Sie meinte, er sei misstrauisch geworden, vor allem gegenüber seinen eigenen Leuten. Es wäre zu bösen Streitereien gekommen, und schließlich wäre die Stimmung unerträglich geworden. Deswegen wäre sie auch abgehauen“, erzählte der Schmied weiter.

Samara bemerkte, wie betroffen Keron war. Sie wollte ihm etwas Beruhigendes sagen, fürchtete jedoch, er könne ihre eigenen Ängste durchschauen, und so alles nur noch schlimmer machen. Sie dachte noch nach, als sich die rechte Tür öffnete und Sylissa hereinhumpelte. Sie machte einen sehr erschöpften Eindruck auf sie, offensichtlich kamen jetzt, wo die Anspannung nachließ, ihre Strapazen verstärkt zum Durchbruch.
„Was willst du denn hier?“, fragte Deogenes sie tadelnd.
Die Zauberin warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und setzte sich neben ihm an den Tisch.
„Ich kann nicht schlafen“, meinte sie. „Zuerst müssen wir die Befreiung planen.“
„Du kannst es nicht erwarten?“, fragte Samara.
„Nein, das kann ich nicht. Und du solltest es auch nicht. Spätestens der Hinterhalt sollte deutlich gemacht haben, wie gefährlich die Lage ist. Ich verstehe zwar nicht, wieso die Grenzkommandanten dermaßen plump handeln, anstatt alles möglichst geräuschlos zu vertuschen, doch wenn Askar davon erfährt, könnte er die Nerven verlieren.“
„Du meinst, er könnte endgültig untertauchen?“
Sylissa nickte. „Genau.“
„Dann könnest du dich nicht mehr rächen.“

Sylissas Augen blitzten grünlich auf. „Ja!“, fuhr sie Samara an. „Wenn dieser Blödmann abhaut, ist alles verloren.“ Verärgert schlug sie auf den Tisch. „Jetzt hört doch endlich auf zu fressen! Jemand muss das Lager ausspionieren, und ...“
„Jetzt beruhige dich wieder“, unterbrach Deogenes sie sanft. „Du bist doch sonst auch vernünftig.“
Sie sah ihn erst verärgert, dann fragend an.
„Das Freudenmädchen ist in der letzten Nacht geflohen“, erklärte Deogenes. „Sie hat mir über das Lager mehr erzählt, als jeder von uns ausspionieren könnte. Und bis Morgen haben wir noch genügend Zeit, uns vorzubereiten.“ Er schob ihr das Brot zu. „Mit leerem Magen kann man nicht denken. Du musst ausgeruht sein, sonst machst du noch einen Fehler, den du dir nicht verzeihen würdest.“

*​

Nach der kleinen Mahlzeit half Keron dem Schmied bei seiner Arbeit. Er trieb mit den Beinen zwei Blasebälge an, um die Glut in der Esse weiter anzuheizen. Die Anstrengungen des Vortages steckten ihm noch gehörig in den Knochen und der beständige Wiegetritt schmerzte in den Oberschenkeln, doch es half ihm, seine Anspannung abzubauen. Um sich noch mehr von den Sorgen um seine Tochter abzulenken, ließ er sich erneut Sylissas Erklärungen während des Essens durch den Kopf gehen.

Sylissa hatte ihnen während des Essens ihren Plan erklärt, und er war allen einleuchtend vorgekommen. Nur an einer Stelle hatte es eine Auseinandersetzung gegeben, als Samara feststellte, dass Keron das gesamte Risiko tragen müsse. Er hatte den aufkommenden Streit zwischen den beiden Frauen beendet, indem er behauptet hatte, er wolle es so, denn nur so könne er seinen Stolz als Vater bewahren.
„Immer diese Streiterei!“, knurrte er unbewusst.
„Frauen sind nun mal so“, antwortete der Schmied und unterbrach sein Hämmern.
„Leider“, seufzte Keron. „Dabei könnte eine ehrliche Entschuldigung viel helfen.“
„Ihr meint Sylissa?“, fragte Deogenes. Als Keron sichtlich zögerte, machte er eine zustimmende Geste. „Nehmt es nicht persönlich. Sylissa hält Entschuldigungen für leeres Geschwätz.“
„Ihr scheint sie sehr gut zu kennen.“
„Wir sind mehr als nur Freunde.“ Er lachte, als Keron ihn anstarrte. „Nein, nicht so. Ich könnte ihr Vater sein.“
„Aber Ihr müsst zugeben, dass es nach mehr als nur einer Freundschaft aussieht, wenn man euch Beide zusammen sieht.“
„Das ist es auch.“ Er wandte sich wieder seinem Werkstück zu.

Samara machte sich währenddessen in der Küche nützlich und bereitete ein kräftiges Essen vor. Deogenes hatte ihr ein Huhn gegeben, welches sie rupfte und ausnahm, um es in einem Topf kochen zu können. Das Gewissen plagte sie, ein solches Mahl zuzubereiten, während Farah in irgendeinem Karren litt, doch Deogenes hatte sie darum gebeten.

„Du bereitest ein kleines Festmahl vor?“, sagte Sylissas Stimme hinter ihr.
Samara drehte sich um. Sie hatte die Zauberin trotz ihres Humpelns nicht bemerkt.
„Deogenes hat mich darum gebeten“, erklärte sie.
Sylissa sah sie einen Moment nachdenklich an und nickte. „Ja, das dachte ich mir.“ Sie stellte ihren Stock in eine Ecke und zog sich einen Stuhl heran, auf den sie sich schwerfällig setzte.
„Deinem Knie geht es nicht gut?“, fragte Samara und sah kritisch Sylissa an. Ihr Gesicht war von einer tiefen Erschöpfung gezeichnet, die in den letzten Stunden nicht abgenommen, sondern noch gewachsen zu sein schien. Samara fragte sich, ob das sichtlich angeschwollene Knie die einzige Ursache dafür war.
„Morgen musst du mir den Rücken freihalten, Samara. Ich muss mich ganz auf Askar konzentrieren können, dabei kann ich nicht gleichzeitig auf die Umgebung achten, verstehst du?“, sagte Sylissa, ohne auf die Frage einzugehen.
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
Sylissa schien den Worten nachzulauschen, als ob sie nach einem Vorwurf darin suchte, den sie erwartet hätte. Mit einem unmerklichen Nicken zog sie zwei kleine Fläschchen aus einer ihrer Rocktaschen und stellte sie auf den Tisch. „Dies ist das Gegenmittel für die Geposporen. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber wir könnten sie ebenfalls abbekommen. Die Anderen habe ich bereits damit versorgt.“

Die Fläschchen waren aus Glas und enthielten eine blaue Flüssigkeit. Sylissa bemerkte Samaras misstrauischen Blick.
„Eine für dich und eine für mich. Suche die heraus, die ich trinken soll“, forderte sie Samara auf.
Die nahm eines der Fläschchen, zog den Korken heraus und trank sie in einem Zug aus.
„Eigentlich hättest du mich zuerst trinken lassen müssen“, meinte Sylissa und trank das andere Fläschchen leer.
Samara zuckte mit ihren Schultern. „Sag mir lieber, was für ein Gift diese Geposporen sind.“
„Es sind Pilzsporen. Wenn man sie einatmet, entwickeln sie sich zu Fadenpilzen, die den ganzen Körper durchwachsen. Das Opfer stirbt schließlich einen grässlichen Tod, der Tage andauert.“
Samara erblasste.
„Das ist teuflisch!“, stieß sie hervor. „Genügt es dir nicht, Askar einfach zu töten?“, fragte sie verächtlich.

Sylissas wurde nicht, wie von Samara erwartet, zornig. Stattdessen sah sie Samara lange an, bis sie zu einer Antwort ansetzte.
„Askar wäre leicht zu töten. Ich könnte mich zum Beispiel zusammen mit einem Söldner an sein Lager anschleichen und aus dem Hinterhalt erledigen. Ich kenne Amazonen, die für Gold jeden töten würden.“ Sie holte etwas Atem. „Aber, falls du es vergessen haben solltest, wir haben eine Abmachung: Ihr helft mir bei Askar, und ich helfe euch bei Farah.“ Sylissa stand auf. „Ich halte immer mein Wort“, sagte sie, während sie die Küche wieder verließ.
 
Gefällt mir wieder gut dein Update. Als Frage stellt sich bei mir gerade nur, was die beiden wirklich für ein Verhältniss zueinander haben - ich tippe auf Vater oder Onkel... Ich freue mich auf die nächste Fortsetzung

lg, Gandalf
 
Gute Frage, doch wie üblich kann ich sie nicht beantworten. Viel Spass mit dem zweitletzten Teil.

Muchnara 13
Die Botschaft

Keron sah nachdenklich auf die kleine Holzschachtel in seinen Händen. Mit dieser Tat würde er endgültig eine Grenze überschreiten. Geposporen waren eine geächtete Waffe, ein Mittel, wie es nur gewissenlose Verbrecher verwendeten, und auf das der Tod durch Rädern stand. Das hatte Sylissa ihm gesagt. Sie hatte aber auch gesagt, sie wüsste keine andere Möglichkeit, Farah lebend zu befreien. Trotz des kurzen Streits hatte selbst Samara dem letztlich zustimmen müssen. Außerdem war eine Rückkehr in ein normales Leben ohnehin nicht möglich. Man würde weiterhin versuchen, Farah und alle Mitwisser auszuschalten, und solange er nicht einmal wusste, wer „man“ war, solange würde er fliehen müssen.

Er schob all diese Gedanken beiseite. Das hatte Zeit bis danach. Jetzt war die Frage: Würde dieser Askar Herl auf den Trick hereinfallen? Wenn er ihn durchschaute, dann war alles vorbei. Wenigstens hatte Herl ihn nie gesehen, doch er war nur ein Bauer, der solche Taten nicht gewohnt war. Hatte er tatsächlich die Nerven? Seine Hände zitterten bereits jetzt.
„Willst du wirklich Nichts haben?“, hörte er Sylissa fragen.

Keron drehte sich zu ihr um. Gelassen stand die schwarzhaarige Frau da, lediglich ihre grauen Augen wirkten nicht so kühl wie sonst.
„Du sagtest, es würde mich auch benommen machen. Das will ich nicht.“
„Leider haben alle Beruhigungsmittel diese Nebenwirkung“, meinte Sylissa.
„Dann geht es nicht.“
Sie seufzte. „Na schön! Aber vergess den Trank nicht.“
„Ja, ja, wegen der Sporen. Sie könnten sonst meinen Schutz durchdringen“, erwiderte Keron etwas gereizt. „Ich geh jetzt, ehe du mich noch totredest.“
Er stapfte davon.

Samara sah ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand. Dann drehte sie sich zu Sylissa um.
„Danke, dass du ihm den Trank noch einmal aufgedrängt hast“, meinte sie zu der Zauberin.
„Er ist wichtig, wie du selbst meintest.“
„Er könnte dir egal sein.“
„Meinst du? Ist er aber nicht, Samara.“
Samara zuckte mit ihren Schultern. „Na schön, dann gehe ich jetzt auf meinen Posten. Ich werde aufpassen, während du mit Askar verhandelst.“

Keron verließ den Wald und betrat ein flaches Tal. In einiger Entfernung war ein kegelförmiger Hügel zu sehen. Er rief sich Sylissas Beschreibung wieder in Erinnerung, wonach sich hinter einem auffälligen Hügel das Lager befinden solle. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, während er weiter auf den Hügel zuging.

Der Aufstieg war anstrengend. Keron blieb kurz unterhalb der Kuppe stehen, um Atem zu holen. Doch sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen und seine Hände fingen wieder an zu zitterten. Keron fing an zu bereuen, Sylissas Mittel abgelehnt zu haben. So könnte er unmöglich vor Herl treten, er müsse zurück und Sylissa um einen Beruhigungstrank bitten.
„He du!“
Tief erschrocken zuckte er zusammen.
„Bleib stehen!“, rief die Stimme drohend.

Schwere Schritte näherten sich von der Seite. Keron bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, der Schmerz lenkte ihn ab, dann drehte er sich langsam der Stimme zu. Es waren zwei Männer, die mit gezogenen Schwertern auf ihn zueilten. Als sie vor ihm stehen blieben, fiel ihm ihre uneinheitliche Ausrüstung auf. Keine Frage, das waren keine Soldaten. Der eine von ihnen war ein gedrungen wirkender vierschrötiger Kerl, der ihn finster aus seiner schäbigen Metallrüstung heraus anstarrte, der andere trug nur ein Kettenhemd über seinen baumlangen feingliedrigen Körper.

„Bist du einer der Unterhändler?“, fragte der größere der Beiden. Seine Stimme klang sanfter als die seines Begleiters, der ihn angerufen hatte, doch auch sein Ton ließ nur eine Antwort zu.
„Er sieht eher wie ein Bauer aus, der sich verlaufen hat“, warf der Gedrungene spöttisch ein.
„Das geht euch nichts an!“, entfuhr es Keron. „Bringt mich sofort zu Askar Herl.“

Keron war über sich selbst erstaunt. Natürlich hatte Sylissa ihm gesagt, er würde auf Wachen treffen, und natürlich hatten sie die passende Begrüßung eingeübt, doch er hatte zu keinem Zeitpunkt daran geglaubt, sie auch im Ernstfall über die Lippen zu bekommen. Und jetzt war es wie von selbst geschehen. Sie hatte Recht gehabt, die Anspannung würde seine Nervosität besiegen.

„Also seid Ihr kein Bauer?“, fragte er Große verunsichert.
„Wohl kaum. Bringt ihr mich jetzt endlich zu Herl?“
„Natürlich, mein Herr. Folgt mir.“
Der Mann steckte sein Schwert weg und machte eine einladende Geste. Keron folgte ihm, der andere Mann blieb zurück.
Oben auf der Hügelkuppe angekommen deutete der Wächter auf eine Ansammlung von kastenförmigen Wagen, die in einigen hundert Schritten Entfernung im Halbkreis aufgestellt waren. „Dies ist unser Lager.“
„Ich kenne es bereits“, erwiderte Keron.
„Wirklich?“, fragte der Fremde erstaunt.
„Wie wäre ich sonst hierher gekommen? Wir kennen dieses sogenannte Versteck schon lange.“

Der Wächter drehte sich sichtlich verärgert ab und eilte den Hügel hinab zum Lager. Keron atmete erleichtert auf. Dieser Mann würde ihn nun in Ruhe lassen. Wie erstaunlich einfach es war, den Gegner mit frecher Anmaßung zu überrumpeln.

Sie gingen nur einen Handbreit entfernt an einem der Wagen vorbei. Aus der Nähe betrachtet machten er einen abgenutzten Eindruck. Der grüne Anstrich blätterte an vielen Stellen ab, und einige Lücken zwischen den Brettern waren mit Moos gestopft worden. Plötzlich fragte sich Keron, ob in diesem Wagen Farah sei. Unwillkürlich blieb er stehen und suche mit den Augen die Holzwand nach einer offenen Lücke ab. Er entdeckte ein Astloch.

Das Schlagen einer Tür riss ihn aus seinem Gedanken. Kalter Schreck überfiel ihn, beinahe einen Fehler begangen zu haben. Er ging weiter und bog um den Wagen herum.

Die Wohnwagen umstanden kreisförmig einen kleinen Platz, auf dem die Wiese völlig zertrampelt war. Einige liegende Baumstämme dienten als Sitze um eine in der Mitte befindliche Feuerstelle. Sie war erloschen, und Asche und angekohlte Holzreste lagen überall auf dem grauen Sand verstreut herum. Doch all diesen Zeichen intensiver Nutzung zum Trotz wirkte der Platz wie ausgestorben. Ein Hauch von Trostlosigkeit streifte Keron. Hier mochte einst ausgelassen gefeiert worden sein, doch nun lag über allem eine gespenstische Stille.

Wieder erklang eine Tür. Keron drehte seinen Kopf dem Geräusch zu und sah, wie aus einem links gegenüberliegenden Karren zwei Männer traten. Es waren der Wächter und ein mittelgroßer, kräftig wirkender Mann mit kurzen schwarzen Haaren. Keron fühlte, wie Zorn in ihm hochschoss.
„Ihr wolltet mich sprechen?“, rief der Mann ihm zu.
„Seid Ihr Askar Herl?“, fragte Keron mit wutgefärbter Stimme zurück.
Herl stutzte ob des aggressiven Tonfalls, beherrschte sich aber sofort wieder. „Was wollt Ihr?“
„Ich soll euch eine Botschaft bringen.“ Keron unterdrückte seine Wut und hob seine Holzschachtel hoch. „Sie befindet sich in dieser versiegelten Schachtel. Bitte lest sie und gebt mir Eure Antwort in ihr ebenso versiegelt zurück.“
„Eine versiegelte Nachricht?“, wunderte sich Herl. „Wer schickt Euch?“
„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte Keron, er hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt und ärgerte sich über seinen Ausrutscher. Wie oft hatte Samara ihm eingehämmert, dass er seine Gefühle unterdrücken müsse, wolle er nicht alles gefährden? Er müsse unbedingt die überlegene Arroganz eines wichtigen Gesandten zeigen. „Wir wollen alles möglichst verschwiegen regeln.“

Askar kam auf Keron zu und beäugte ihn misstrauisch. „Ich soll mit jemandem verhandeln, der unerkannt bleiben will? Und wie sollen wir über etwas verhandeln, was Ihr nicht kennt?“
„Ich weiß sehr wohl, worum es geht“, meinte Keron leise und schielte an Herl vorbei zu dem stehen gebliebenen Wächter. „Man sagte mir, es sei ein Angebot, dass Ihr nicht ablehnen könntet.“
Herl zog plötzlich die Augenbrauen hoch und grinste. „Gute Verkleidung, mein Lieber.“ Er deutete mache eine einladende Armbewegung hin zu seinem Wagen. „Kommt mit, wir besprechen alles unter vier Augen.“

Das Innere des Wohnwagens glich einer kleinen Holzhütte. Keron sah in seiner Mitte einen Tisch mit zwei Bänken, die in der Nacht als Betten zu dienen schienen. Erstaunt bemerkt er die zahlreichen Bücherregale, die so gar nicht in sein Bild des gewissenlosen Banditen passten. Sein Blick schweifte über die Bücher. Eines davon fiel ihm durch seinen blauen Ledereinband auf. Neugierig geworden las er den in dunkelroten Lettern auf dem Buchrücken eingeprägten Titel: Muligan
„Das ist nicht mein Buch“, kommentierte Herl und zog es aus dem Regal. Er wog es nachdenklich in seinen Händen. „Kennt Ihr es?“
„Nein, ich habe nie davon gehört.“
Herl sah ihn verwundert an. „Seltsam, ein so geschickter Agent des Fürsten, und Ihr kennt nicht diese Sage? Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der Zauberinnen.“
„Wir sollten zur Sache kommen.“
„Sicher.“

Herl stellte das Buch zurück und wischte ein Staubkorn von seinem Rücken. Dann deutete er auf die Bank unterhalb des Regales und setzte sich selbst auf die gegenüberliegende Seite. Keron schob in einer ihm unerklärlichen Scheu das Bettzeug weiter zur Seite und nahm Platz. Seine Finger spielten unbewusst mit der Schachtel, während er Herl ansah. Er erinnerte ihn zunehmend an manche Bauern, die er auf dem Markt kennengelernt hatte: Es war schwer sie zu mögen und noch schwerer, sie nicht zu mögen.

„Ich nehme an, Ihr seid in Alles eingeweiht?“, fragte Herl ihn.
„In Einiges, aber nicht in Alles. Ich hätte einige Fragen“, erwiderte Keron spontan und legte den Finger auf den Auslöser.
„Ihr habt Fragen?“ Herl machte eine auffordernde Geste. „Na schön, fragte nur.“
„Weshalb habt Ihr Hilde und Ragar umgebracht?“, stieß Keron scharf hervor.

Herls Gesicht zeigte Überraschung und Ärger zugleich. Er beugte sich nach vorne und fragte: „Ihr meint die Eltern von dem Kind? Wie sind tot?“
„Ja!“
„Aber nicht durch mich.“ Eine Zornesfalte entstand über seiner Nase. „Soll das ein Trick sein, um den Preis zu drücken?“
„Ihr leugnet es? Wer soll es dann gewesen sein?“
„Keine Ahnung! Wir haben den Mann niedergeschlagen und die Frau gefesselt, aber umgebracht haben wir sie nicht. Versucht nicht, es mir in die Schuhe zu schieben.“ Er lehnte sich zurück und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Das ist eine meiner Bedingungen. Ich habe keine Lust, für die Taten eines Anderen meinen Kopf hinzuhalten.“
„Aber Farah habt Ihr geraubt.“ Er drückte den Auslöser.

Irritiert starrte Keron auf die Schachtel. Sylissa hatte ein Pulver gemischt, und Deogenes einen Mechanismus aus Federn und Feuerstein gebaut, der es entzünden sollte. Die Explosion, wie sie es nannten, sollte niemanden verletzen, sondern lediglich die Schachtel platzen lassen und die in ihr enthaltenen Sporen in einer Wolke verteilen. Doch Nichts war geschehen.

Herl lachte über Kerons verstörtes Gesicht auf. „Schwierigkeiten mit dem Verschluss?“ Er lehnte sich über den Tisch und nahm ihm die Schachtel aus der Hand. Er betrachtete sie im Licht des hinter ihm befindlichen Fensters.
„Richtig, so heißt das Mädchen“, sagte er, halb vom Studium der Schachtel abgelenkt. „Und wer am meisten bietet, der bekommt es.“ Er fing an, an dem Behälter zu drücken und zu ziehen. „Komm schon ... aha ...“ Er klappte den Deckel auf.

Es klang wie ein heiseres Husten, als die Ladung explodierte. Keron hatte schon befürchtet, auch der zweite Mechanismus, der durch das Öffnen ausgelöst werden sollte, könnte versagen, doch jetzt war der gesamte Raum von den grau schimmernden Sporen erfüllt. Auch hatte der Knall ihn wieder zum ursprünglichen Plan zurückgebracht, den er durch seine Fragerei wieder einmal gefährdet hatte. Beherrscht zog er das Fläschchen aus seiner Tasche, zog den Korken heraus und trank sie in einem Zug leer.

„Was soll das!“, schrie ihn Herl an. „Eine Eurer blöden Sicherheitsmaßnahmen?“
„Nein, das ist von Sylissa.“ Ihm wurde schlagartig übel. Irritiert sah er zum Fenster, in dessen Licht die Sporen wild herumwirbelten.
„Sylissa? Du meinst Sylissa, die Zauberin? Die ist tot. Verstehst du! Tot!“
„Sie ...“, stammelte Keron und rutschte vom Stuhl.

Herl sprang hoch. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen. Einer seiner Männer blickte fragend in den Wagen.
„Was ist passiert?“, fragte der Mann.
„Raus!“, schrie Herl ihn an und eilte zur Tür. Er riss sie dem verblüfften Mann aus der Hand und schlug sie krachend zu. Dann wirbelte er herum und kniete sich neben Keron auf den Bretterboden. Mit einem geübten Griff an den Hals stellte er fest, dass er bewusstlos war. Hastig durchsuchte er dessen Taschen, fand aber nur einige malunische Kupfermünzen, die er wütend in eine Ecke warf. Er hob die Schachtel vom Boden auf. „Neumodischer Bombenkram“, fluchte er vor sich hin. Er lachte. „Aber so leicht geht es nicht.“ Er fing an, sie genauer zu untersuchen.

Es war eine aufwendige Konstruktion. Von außen war es eine dieser gewöhnlichen kleinen Kistchen, in denen Tabak verkauft wurde. Doch im Inneren befand sich ein zweiter Behälter, der völlig aus Eisenblech gefertigt war. Er hatte oben einen an Scharnieren befestigten Deckel, der aufgeklappt war und ein Ballon aus Leder quoll aus ihm heraus. Es sah aus, als wenn dieser Ballon sich mit einem Schlag aufgeblasen und dadurch den Deckel aufgedrückt hätte. Herl lachte wieder, allmählich wich der Schreck von ihm. Keine Frage, eigentlich hätte der Druck den Behälter in Splitter zerlegen sollen, die ihn Gesicht und Hals zerschneiden sollten. Das war typisch für die Agenten der Fürsten: Verliebt in komplizierte Spielereien zu sein, wo ein simpler Pfeil aus dem Hinterhalt völlig genügen würde. Er drehte die Schachtel um, und polternd fiel der innere Behälter auf den Tisch. Ein gefaltetes Stück Papier segelte hinterher.

Herl starrte auf das Papier. Es war sorgfältig gefaltet, geradezu pedantisch, wie er es nur von einem Menschen kannte: Sylissa. Zögernd nahm er es auf und entfaltete das Blatt. Die vertraute Handschrift ließ den letzten Zweifel schwinden:


Lieber Askar,
wenn alles so ablief wie geplant, dann hast du dich soeben mit Geposporen infiziert. Wir haben uns früher manchmal darüber unterhalten, wenn es uns nach einem gemeinsamen Grusel zumute war. Erinnerst auch du dich noch an unsere Unterhaltungen? Dir hat an diesen Sporen immer gefallen, dass man sie einatmet. Und mir, dass nur Zauberinnen ein Gegenmittel herstellen können.
Vielleicht solltest du diese seltene und empfindliche Art nicht so leichtfertig ermorden lassen. Und wenn doch, dann wenigstens erfolgreich.
Eigentlich sollte ich dich verrecken lassen, aber mir ist mein Leben wertvoller als Deines. Ich will nicht von den Menschen gejagt werden für Verbrechen, die ich nie begangen habe. Daher verlange ich von dir das Mädchen, damit ich es zurückgeben kann. Bringe es zu mir, und du bekommst das Gegenmittel.
Der Bote kann dir nichts verraten. Er hat eine Droge genommen, die ihn zuerst ohnmächtig und dann völlig teilnahmslos macht. Sie wirkt länger als die Geposporen bräuchten, um dich zu töten.
Östlich von deinem Lager befindet sich ein großer Hain. Einer deiner Männer soll den Boten zu ihm bringen. Wenn das geschehen ist, werde ich dich dort erwarten, um den Austausch durchzuführen.
Tricksereien würde ich mir an Deiner Stelle verkneifen. Ich würde sie bemerken und dann verlieren wir Zeit. Genauer gesagt verlierst du deine Zeit. Geposporen wirken langsam, aber sicher. In wenigen Stunden werden deine Fingerspitzen anfangen zu kribbeln. Wenn man dann etwa einen Tag später erblindet ist, bleiben vielleicht noch zwei weitere, aber reichlich unangenehme, Tage. Das wünsche ich Niemandem, auch dir nicht.
Askar, warum musste es so weit kommen?
Sylissa


Totenblass ließ Herl das Blatt sinken. Er kannte Sylissa zu gut, um nur eine Sekunde an der Wahrhaftigkeit des Textes zweifeln zu können.
„’Lieber Askar ...’ Du heuchlerische Hexe“, presste er durch seine Zähne. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, einmal, zweimal, dreimal.
„Dreckiges Weib! Rachsüchtige Hexe! Man sollte dich pfählen und häuten!“
Unbeherrscht warf er den Tisch um. Das Krachen und Scheppern verschaffte ihm Erleichterung, seine Gedanken kehrten zurück zum Problem. Zuerst öffnete er die beiden Fenster und sah zu, wie die Sporen auf dem Raum geweht wurden. Dann hob er die Schachtel auf und strich mit dem Finger über seine Innenseite. Im Licht glänzte seine Fingerkuppe in einer nie zuvor gesehenen, aber in einigen Berichten beschriebenen Weise. Er leckte er mit der Zunge darüber, und der als moderig beschriebene Geschmack brachte die letzte Gewissheit. Eine tief empfundene persönliche Bitterkeit erfüllte ihn. Er drängte sie in den Hintergrund und sank mit einem ärgerlichen Schnaufen auf seine Bank zurück. Ungewollt horchte er in sich hinein. Kribbelten die Fingerspitzen bereit? Er schalt sich einen Narren. So schnell würde es nicht anfangen. Doch es blieb ihm dennoch keine Zeit.
Gut, Sylissa, gut. Diese Runde mag an dich gehen, aber irgendwann kriege ich dich.

Entschlossen stand Herl auf und ging zur Tür. Er stieß sie auf und wartete ab, bis der Wind die letzten Sporen aus seinem Karren geweht hatte. Dann packte er Keron unter die Achseln und zog ihn heraus. Zwei seiner Männer sahen ihm dabei neugierig zu, darunter jener, der ihn vorhin gestört hatte. Sie wagten aber nicht, zu fragen.

Herl ließ Keron auf den sandigen Boden vor der Stiege zu seinem Wagen sinken. „Fasom! Samos! Los, kommt her!“, rief Herl den Männern zu.
Die Beiden kamen näher.
„Ist das der Unterhändler?“, fragte Fasom jetzt. „Was ist mit ihm los?“
„Er wollte mich mit einer Droge hereinlegen.“ Herl zwang sich zu einem Grinsen. „Doch ich habe unsere Becher vertauscht und ihn das eigene Zeug trinken lassen. Macht ihn mit einem Eimer kalten Wassers munter, dann bringt ihn zum Hain im Osten.“ Er sah Fasom und Samos streng an. „Dort sollen seine Verbindungsleute warten. Ich will wegen dieses Blödmanns nicht die Verhandlungen gefährden. Also lasst ihn in Ruhe und meidet auch die Anderen. Nur hinbringen, ablegen und dann sofort zurück zum Lager. Ist das klar?“
„Ja, Askar“, antwortete Fasom verunsichert. Er blickte an Herl vorbei in dessen offenstehenden Wagen.
„Wir bekamen Streit, als er die Vertauschung bemerkte“, sagte Herl. „Daher auch der Lärm.“
„Ach so war das.“ Fasom nickte langsam. „Gut, wir bringen den Unterhändler zurück.“

Herl sah zu, wie Samos Wasser über den Fremden kippten. Der zuckte zusammen und schlug prustend die Augen auf. Niemand lacht!, dachte Herl und sah mit unbewegtem Gesicht zu, wie sie den Mann vom Boden hochzogen. Wie einen Betrunkenen mussten sie ihn an den Armen nehmen und mit sich ziehen. Fluchend über dessen Teilnahmslosigkeit schritten sie davon in Richtung des Hains. Herl schätzte, dass sie etwa eine Stunde mit dieser Last benötigen würden. Das sollte für seinen Plan genügen. Er ging zurück zu seinem Wagen, holte eine Flasche aus einem kleinen Wandschrank und ging zu Farahs Wagen.

Lediglich die ersichtlich hastig zugenagelten Fenster hoben Farahs Wagen von den anderen ab. Herl sah sich sichernd um. Wie erwartet war Niemand zu sehen, seine Leute waren entweder fort oder auf Wache. Er nahm den Schlüssel von seinem Gürtel und sperrte ein schweres Schloß auf, das die Tür zusätzlich versperrte. Aus dem Inneren schlug ihm eine Wolke schlechter Luft entgegen, die ihn würgen ließ. Wie konnte ein Mensch nur so schnell so viel Gestank erzeugen, fragte sich Herl.

Das Mädchen kauerte wie immer in der gegenüberliegenden Ecke, die Knie fest mit beiden Armen an den Körper gepresst. Nur kurz blitzten ihre Augen auf, warfen ihm einen ängstlichen Blick zu, dann senkte sie wieder ihren Kopf. Er trat näher, zog die Flasche aus der Tasche und tröpfelte etwas von ihrem Inhalt auf ein Taschentuch. „Ich bring dich hier weg“, sagte er. „Dazu musst du schlafen, Kleine. Es wird nicht weh tun, das verspreche ich dir.“
Farah sah auf, und Herl glaubte, sie wäre seit Monaten in Gefangenschaft und nicht erst seit zwei Tagen. „Wo ist Keron?“, fragte sie mit einem Schluchzen.
„Keron? Wer soll das sein?“
„Mein Vater. Lass ihn zu mir. Bitte!“ Sie fing an zu weinen.

Herl starrte das Mädchen an. Es sah sie zum ersten Mal weinen, seit er es entführt hatte. Er stopfte das sein Taschentuch zurück in die Hosentasche und hob das Kind vom Boden hoch, wobei ihre Fußkette leise klirrte. Es wehrte sich nicht gegen seinen Griff, im Gegenteil, einer der kleinen Hände krallte sich Halt suchend in den Stoff seines Hemdes. Herl wollte es in einem Impuls an näher sich ziehen, ließ es dann aber doch sein. Stattdessen versuchte er zu lächeln, was ihm misslang. „Ich will dir nichts böses, Kind. Vielleicht verstehst du eines Tages, weshalb ich dich eingesperrt habe“, sagte er mit rauer Stimme.
Farah ließ sein Hemd los und blickte an ihm vorbei. Schließlich stellte er sie auf ihre Beine und zog das Tuch erneut aus der Tasche.
„Ich will nur deine Angst betäuben“, sagte er und presste ihr das Tuch auf das Gesicht. Ihr entsetzter Blick ließ seinen Griff verkrampfen, hart gruben sich seine Hände in ihren Arm, bis der kleine Körper endlich erschlaffte. Mit einer Verwünschung legte er Farah auf den Boden und öffnete ihre Fußkette. Er zögerte, als er den blutig aufgescheuerten Knöchel sah, kopfschüttelnd strich er mit einem Finger über ihn. Seine Züge verhärteten sich wieder, und mit einem Ruck hob er Farah auf, um sie aus dem Wagen zu tragen.

Im Hintergrund des Lagers stand unverändert jener Handkarren mit der Holzkiste, in der er das Kind versteckt und hierher verschleppt hatte. Herl legte Farah wieder hinein und verschloss den Deckel. Erneut blickte er sich sichernd um, dann packte er die Karrengriffe. Es würde ein anstrengender Weg werden, zumal er einen Umweg nehmen musste, um nicht seinen eigenen Leuten zu begegnen.
 
Spannend :top: wie immer. :D
Soll das wirklich der Vorletze Teil sein? Genung offene Fragen sind da allemale drinn für noch einige Folgen. z. B. was die Jägerinnen so gefährlich machte, dass sie algemein verfolgt wurden. Und ob das vererbar ist oder Ausbildung. Fara sollte irgendwann doch noch etwas anderes als ein Opfer sein.

LG
Othin
 
Danke für das Lob :D.
Geplant war die Geschichte als Einleitung in eine größere Geschichte, mit einer älteren, aber nicht erwachsenen, Farah in der Hauptrolle. Dabei wäre auch das Volk der Jägerinnen, die man sich zwischen Druiden und Amazonen vorstellen kann, vertieft worden. Gefährlich waren die nie, aber sie gaben für die Mächtigen einen guten Sündenbock ab.
 
Muchnara 14
Das Treffen im Hain

Kaum waren die beiden Männer wieder verschwunden, da sprang Samara von dem Baum herunter und rannte los.

Sie hatte beobachtet, wie die beiden Männer, die sie als Mitglieder von Askars Bande wiedererkannt hatte, Keron wie einen hoffnungslos Betrunkenen an den Armen haltend und ziehend in den Hain geführt hatten. Fluchend über die Anstrengung hatten sie ihn dort auf den Boden fallen lassen, und, nachdem sie ihm noch schnell zwei verstohlene Fußtritte gegeben hatten, waren sie wieder verschwunden.

Nun eilte Samara zu Keron und kniete sie sich neben ihm auf den feuchten Waldboden.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie vor Anspannung atemlos.
„Alles in Ordnung“, echote er tonlos.
Samara versuchte ihm in die Augen zu sehen, fand aber nur Blicklosigkeit. Beunruhigt packte sie ihn an seinen Schultern und schüttele sie. Sein Kopf schlenkerte haltlos umher.
„Keron! Keron, ich bin es, Samara. Wach doch wieder auf!“
„Wach doch wieder auf“, wiederholte er.

Gemächliche Schritte raschelten hinter Samara durch das Laub.
„Lass es gut sein“, klang Sylissas kühle Stimme auf. „Die Droge wirkt wie genau so wie gewollt. In einigen Stunden wird er sich davon erholt haben.“
Samara sah zu ihr hoch. Die Zauberin schien ihr abweisender als je zuvor, ihr Gesicht drückte keinerlei Gefühl aus, was von den abweisend blickenden grauen Augen nochmals unterstrichen wurde.
„Willst du ihm nicht das Gegenmittel geben?“, fragte Samara.
Sylissa zog ihre Augenbrauen hoch. „Ich dachte, du wolltest es so.“
„Ja, damit er aus Askars Lager lebend wieder herauskommt. Er hätte sonst bestimmt die Nerven verloren. Jetzt braucht er es nicht mehr.“
„Es wäre besser, wenn er weiter benommen bleibt. So kann er die Verhandlung mit Askar nicht stören.“
„Aber wir können ihn doch nicht ausschließen, wenn es um seine eigene Tochter geht.“
„Askar ist bestimmt bewaffnet, und wenn Keron die Beherrschung verliert und ihn angreift, dann wird er sich wehren. Willst du das riskieren?“

Samara dachte eine Zeit lang nach.
„Sylissa, habe ich dein Wort, dass du Farah nicht für deine Rache opferst?“, fragte sie dann.
„Natürlich hast du das.“
„Gut, dann soll es so sein. Auch wenn es ihm nicht gefallen wird.“
„Ich werde ihm sagen, dass es meine Entscheidung war“, sagte Sylissa.
„Nein“, erwiderte Samara. „Es war mein Vorschlag, ihm den Trank zu geben.“
„Lass uns später darüber streiten,“ meinte Sylissa. „Jetzt sollten wir auf Askar warten.“

*​

Sylissa sah es jetzt auch. Noch war es nur eine undeutliche Kontur in der Ferne, die sich langsam durch die große Ebene auf den Hain zubewegte, doch sie wurde allmählich größer. Das konnte nur Askar sein.

Sie fragte sich, wie Samara ihn bereits hatte bemerken können, als er noch in der Buschlandschaft jenseits der Ebene gewesen sein musste. Während ihrer Bandenzeit waren ihr solche hellseherischen Fähigkeiten nie an Samara aufgefallen. Ganz im Gegenteil, damals hatte sie unsicher und ungeschickt auf sie gewirkt. Das war nun nicht mehr so. Keine Frage, irgendwie hatte sie während ihrer Zeit bei den Baragnars viel hinzugelernt.

Die Kontur löste sich in zwei Teile auf. Es war ein Mann, der einen Karren hinter sich herzog.
„Askar ist erschöpft und gereizt“, sagte Samaras Stimme neben ihr.
„Natürlich ist er wütend. Das ist nicht schwer zu erraten.“
„Ich rate nicht, ich sehe es. Er ist gereizt, aber nicht wütend.“
„Wie kannst du seine Stimmung so genau erkennen?“, fragte Sylissa etwas ungläubig und drehte ihren Kopf zu Samara.
„Daran, wie er die Füße auf den Boden setzt und mit den Armen am Wagen zerrt.“ Sie lächelte versonnen. „Meine Lehrerin wollte immer wissen, wie dick die Luft war, wenn sie etwas ausgefressen hatte.“
„Du wirst sie zurückbekommen“, meinte Sylissa sachlich. „Wenn du dich an unsere Verabredung hältst.“

Herl erreichte die Bäume und stellte den Karren ab. Es hatte ihm stärker als erwartet zugesetzt, ihn die ganze Strecke über querfeldein ziehen zu müssen. Nach Atem ringend stützte er sich mit beiden Armen auf der Ladefläche ab, und fragte sich, ob es die anfängliche Wut oder das Alter war, was ihn so erschöpft hatte. Mit einem Kopfschütteln unterbrach er diesen Gedankengang und stemmte sich hoch. Er öffnete er die Kiste. Die holprige Fahrt hatte Farah umhergeworfen, jetzt lag sie mit seltsam verrenkten Gliedern in der Kiste. Herl starrte sie an, dann richtete er ihre Arme und Beine gerade. Anschließend stemmte er die Karrengriffe nach oben, um die Kiste langsam von der Ladefläche rutschen zu lassen. Plötzlich entglitt ihm die Kiste, und mit einem dumpfen Poltern fiel sie das letzte Stück herunter und Farah rollte aus ihr heraus.

„Sie lebt bestimmt noch“, meinte Sylissa, während Samara nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. „Bleib hier und passe auf die Umgebung auf“, erinnerte sie Samara an die Absprache und stand auf. Mit betont gelassen wirkenden Schritten ging sie auf Herl zu.

Sylissa zwängte sich durch eine Strauchreihe und trat absichtlich auf einen trockenen Zweig. Das scharfe Knacken ließ Herls Kopf in ihre Richtung rucken.
„Du scheinst meine Botschaft erhalten zu haben, Askar“, rief sie ihm zu und ging weiter.
„Bleib stehen!“, rief Herl zurück und zückte ein Messer. „Und versuche nicht, mich mit einem deiner Zauber anzugreifen. Ich kenne sie und würde das Kind sofort abstechen.“
„Damit wäre Niemandem geholfen“, erwiderte Sylissa. Sie hob demonstrativ ihre Unterarme mit nach vorne weisenden Handflächen hoch und ging weiter.

Erst zwei Schritte vor Herl blieb sie stehen.
„So sieht man sich wieder, Askar“, begrüßte sie ihn mit ironischer Stimme.
„Leider, du hinterhältige Hexe.“
„Du nennst mich eine Hexe?“
„Was bist du denn sonst, wenn du mit den hinterhältigsten Giften gegen mich vorgehst, die es gibt?“ Er deutete mit dem Zeigefinger anklagend auf sie. „Geposporen sind geächtet, man wird dich für dieses Verbrechen bis an das Ende der Welt jagen.“
„Nur, wenn man davon erfährt“, erwiderte Sylissa kühl. „Dann könnte man mich aber auch nach dem Grund für meine Tat fragen.“
Herl winkte ab. „So kommen wir nicht weiter, Sylissa“, sagte er. „Lass uns besser zum Geschäft kommen. Du kannst das Kind für das Gegenmittel bekommen.“

Sylissa ging noch einen Schritt auf Herl zu und ließ langsam ihre Arme herabsinken.
„Ich hätte nie gedacht, dass du so weit gehen würdest“, meinte sie leise. „Mich wegen eines Streits ermorden lassen wollen.“
„Ich konnte es mir nicht bieten lassen, vor meinen Männern so beschimpft zu werden. Du bist mir eine gute Kämpferin gewesen, sogar die Beste von uns, aber ich bin auch dein Anführer gewesen.“
„Nicht mehr? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie es war?“
„Natürlich erinnere ich mich daran. Es ist niemals mehr gewesen, und jetzt ist es Vergangenheit.“

Sylissas Augen verloren ihr Grün und sie senkte ihren Kopf. „Wirklich nicht? Warum?“, flüsterte sie.
„Ich könnte es dir sagen, Sylissa, doch es wäre sinnlos. Es gibt Dinge, die man selbst herausfinden muss, und dies gehört dazu.“
„Ist es wirklich sinnlos?“
Herl fasste ihr vorsichtig unter das Kinn und hob den gesenkten Kopf an, bis er ihr in die grauen Augen blicken konnte, in denen es blau schimmerte.
„Schwer ja, aber nicht sinnlos“, flüsterte Herl mit versöhnlicher Stimme.

Ein bedrückendes Schweigen entstand.
„Gibst du mir jetzt das Gegenmittel?“, fragte Herl schließlich.
Sylissa nickte. „Ja, das Gegenmittel gegen das Kind“, sagte sie mit brüchiger Stimme, dann straffte sich ihr Körper wieder. „Du hast ihr doch nichts angetan?“, fragte sie mit wieder fester gewordener Stimme.
„Natürlich nicht! Ich habe sie auch vor meinen Männern beschützt. Sie ist doch noch ein Kind.“
„Jetzt tue nicht so unschuldig. Du hast ihre Großeltern ermordet, und als Nächstes hättest du sie an den Meistbietenden ausgeliefert, auch wenn es einer von denen ist, der sie beseitigen würde.“
„Das mit den Großeltern hat dieser vorgebliche Bote auch schon behauptet. Wir waren es aber nicht. Als wir mit dem Kind gingen, lebten noch alle.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Dann lass es halt sein“, meinte Herl gereizt. „Mit dem Mädchen hast du Recht, ich hätte das getan. Sie ist doch sowieso tot.“
Herl hob abwehrend die Hände, als Sylissas Augen grün aufblitzten. „Hör mir zu!“, rief er beschwichtigend. „Du kennst die Hintermänner nicht, ich aber schon.“
„Wer sind sie?“, fragte Sylissa scharf. „Der Kommandant der Garnison in der Umheide oder der im Kinitat?“
„Es sind beide!“ Er nickte bekräftigend, als Sylissa ihn überrascht ansah. „Die Soldaten, die damals Samara in der Scheune festnahmen, kamen zwar alle aus der Umheide, doch der Überfall war zuvor mit beiden Kommandanten verabredet worden.“
„Welchen Sinn soll das ergeben?“
Herl zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Bei dem Handel um das Kind ging es nur noch darum, ob die Fürsten von der ganzen Sache erfahren sollten oder nicht. Dann würden sicherlich die Köpfe der Kommandanten rollen.“ Er holte Atem. „Aber auch dann würde es vertuscht werden. Du siehst, egal wer das Kind bekommt, es wird immer sterben müssen. Sie werden es überall suchen, im Kinitat und in der Umheide, und sie werden es finden.“
„Das werden wir sehen“, sagte Sylissa und ging an Herl vorbei zum Karren. Sie kniete sich neben der ohnmächtigen Farah und drehte sie auf den Rücken. Mit einigen Griffen prüfte sie ihre Atmung.

„Es scheint tatsächlich nicht sinnlos zu sein“, hörte sie Herl sagen.
„Sie scheint unversehrt zu sein“, meinte Sylissa und stand wieder auf. Sie griff in ihre Tasche und holte ein Fläschchen hervor. Kurz nahm ihr Gesicht den Ausdruck äußerster Konzentration an, und der blaue Inhalt glomm auf. Sie reichte es Herl. „Trink das Gegenmittel, solange es wirksam ist.“
Herl nahm es entgegen, zog den Korken mit den Zähnen heraus und kippte die Flüssigkeit in einem Zug herunter. „Schmeckt süß“, kommentierte er.
„War außer dir und Keron jemand dabei, als die Sporen aus der Schachtel geschleudert wurden?“, fragte Sylissa.
„Keron? Der Bote war der Vater von dem Mädchen?“
„Ja. Keron, Samara und ich sind jetzt zusammen.“
Herl grinste. „Du und Samara? Kaum zu glauben.“ Er wurde wieder ernst. „Nein, nur ich und dieser Keron waren in meinem Wohnwagen, als die Schachtel explodierte. Warum ist das wichtig?“
„Die Sporen verlieren am Tageslicht innerhalb von wenigen Augenblicken ihre Wirksamkeit. Damit sind deine Männer außer Gefahr.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber deine ehemaligen Partner werden hinter euch her sein, so wie hinter uns. Du solltest wissen, dass sie uns in dem Dorf jenseits des Wassergipfels bereits aufgelauert hatten. Ich musste zwei von ihnen töten.“
„Danke für deine Warnung, Sylissa.“ Er lächelte leicht. „Es ist wirklich nicht sinnlos ... Mit den Kommandanten werde ich mich einigen können, es sind Geschäftsleute. Ich werde ihnen erzählen, dass Farah geflohen ist. Sie werden einsehen, dass es ihnen keinen Vorteil einbringt, wenn sie mich töten. Doch euch werden sie weiter verfolgen wollen.“
„Du auch?“
„Nein, selbst wenn sie mich dafür bezahlen würden.“ Er lächelte jetzt. „Der Weg hierher war lang, da konnte ich über alles nachdenken. Ich bin wütend, aber nicht so sehr auf dich, sondern mehr auf mich. Lass uns unseren Streit beenden, er führt zu nichts Gutem mehr.“
„Du machst es dir etwas zu einfach. Wie soll ich vergessen, dass du mich ermorden lassen wolltest?“
Herl verzog sein Gesicht. „Weil du das so einmalig ruhig sagen kannst. Du kannst nichts damit gewinnen, wenn du mich weiter verfolgst.“
„Das ist mir zu wenig. Nur wenn du allen erzählst, du hättest Farah beseitigt, weil dir die Sache zu heiß geworden sei, dann werde ich dich in Ruhe lassen.“
„Das ist mir zu riskant.“
„Wir werden uns verbergen.“
„Es scheint dir wirklich wichtig zu sein?“
„Sine qua non, mein Lieber.“
Herl lächelt überraschend. „Das freut mich für dich! Abgemacht!“ Er löste einen Lederbeutel von seinem Gürtel. „Hier hast du etwas Gold, damit ihr besser untertauchen könnt.“ Er drückte den Beutel in Sylissas Hand, lachte über ihr verblüfftes Gesicht und drehte sich um. Weiter lachend verließ er den Hain.

Sylissa schüttelte ihren Kopf und gab das Zeichen für die wartende Samara. Stumm sah sie zu, wie die hagere Frau herbeieilte und sich sofort um Farah kümmerte, wobei sie das Kind mit nervösen Händen auf Verletzungen hin absuchte.
„Beruhige dich, Samara!“, rief Sylissa schließlich. „Farah ist in Ordnung. Sie stinkt zwar schlimmer als ein Tier, doch ansonsten ist ihr nichts geschehen.“ Sie wartete, bis Samara zu ihr hin sah. „Ich kenne das Mittel, das Askar verwendet hat. Es wirkt einen knappen halben Tag lang, danach wacht man mit leichten Kopfschmerzen auf.“
„Kannst du ihr nichts geben?“
„Dazu müsste sie schlucken können.“ Sylissa lächelte leicht. „Hab Geduld!“ Aber ich werde mich jetzt um Keron kümmern. Bleib du inzwischen bei Farah.“

Nach einigen Minuten kam Sylissa zusammen mit Keron zurück. Es sah seltsam aus, wie sie den viel größeren und schwereren Mann wie ein Kind an einer Hand führte. Er konnte nur mit Mühe gehen und wirkte noch sehr abwesend, doch als er seine Tochter auf dem Boden liegend sah, kam Leben in sein starres Gesicht.
„Farah!“, flüsterte er kaum hörbar und kniete sich seitlich neben sie. Sanft fuhren seine Fingerkuppen über das blasse Gesicht. Er lächelte offen und eine Träne rollte über seine Wange.
„Sie wird bald zu sich kommen“, meinte Samara.
„Ja ... Ich spüre, dass es ihr gut geht. Und sie kann auch uns spüren.“ Er sah kurz zu Samara auf. „Verstehst du? Sie ist wie Janina.“ Er sah wieder zu seinem Kind herab und flüsterte erneut.

Samara versuchte Kerons Worte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht. Sie waren nicht nur zu undeutlich, sondern schienen ihr auch in einer fremden Sprache zu sein.
„Komm“, forderte Sylissa sie auf und zog an ihrem Hemd. „Lass die Beiden alleine.“
Im ersten Moment wollte Samara der Zauberin widersprechen, doch dann nickte sie und stand auf.

Etwas Abseits lehnte Sylissa sich an einen Baum. Ihr Gesicht war wie gewohnt undurchdringlich, doch ihre Augen strahlten in einem tiefen Blau.
„Ich habe einiges von eurem Gespräch mitbekommen“, meinte Samara. „Warum hast du nicht gleich gesagt, was du wirklich willst?“, fragte sie.
„Hättest du es geglaubt?“
Samara schüttelte den Kopf. „Nein, wahrscheinlich nicht.“
Sylissa nickte nachdenklich. „Ich habe es selbst nicht geglaubt.“ Sie reagierte auf Samaras verwunderten Blick mit einer wegwischenden Geste. „Dann hätte es nur noch mehr Misstrauen eingebracht, und dies hätte uns letztlich Zeit gekostet. Die Zeit war viel knapper, als du und Keron auch nur ahnten. Askar konnte sich jeden Moment mit seinen Auftraggebern einigen, oder, was am wahrscheinlichsten gewesen war, sie könnten sein Lager finden. Dann wäre Farah verloren gewesen.“ Bevor Samara etwas erwidern konnte, sah Sylissa an ihr vorbei in Kerons Richtung. „Keron wird in einer halben Stunde wieder völlig normal sein“, meinte sie und sah wieder zu Samara. „Er kann dann Farah auf den Karren legen und zusammen mit uns zu Deogenes zurückkehren.“
„Damit würden wir den Schmied in die Sache hineinziehen.“
„Warum glaubst du, solltest du das Huhn zubereiten? Ihr könnt so lange bei uns bleiben, wie ihr wollt.“
„Unsere Vereinbarung ist zu Ende, wir wollten uns nach Farahs Befreiung trennen.“
„Bestehst du darauf?“
Samara schüttelte nachdenklich ihren Kopf. „Nein, wenn Keron zustimmt, können wir zusammenbleiben.“

*​

„Wie geht es ihr?“, fragte Sylissa am Fuß der Treppe wartend.

Samara stieg die letzten Stufen beschwingt herab.
„Sie schläft jetzt. Das Bad hat sie weiter erschöpft, doch es ist jetzt eine gute Erschöpfung, wenn du verstehst.“
Sylissa fasste sich an das Kinn. „Ich denke schon. Dann können wir uns jetzt um dich kümmern.“
„Was meinst du damit?“
„Komm mit nach draußen, Deogenes will dir etwas zeigen.“

Es war inzwischen Nacht geworden. Die Kohlen in der Esse, vor der Deogenes mit verschränkten Armen wartete, glommen nur noch düster. Als er Samara erblickte, hob er seine rechte Hand. Zwischen seinen kräftigen Fingern hielt einen kleinen Stift.
„Der sollte echt genug aussehen, oder?“
Samara nahm den Stift und betrachtete ihn im Licht einer der umstehenden Fackeln.
„Was soll das sein? Ist das ein Niet?“
Deogenes lachte leise. „Du kannst ihn als Einzige nicht sehen. Es ist der Niet, der deinen Sklavenring verschließt.“ Er bemerkte, wie Samara sich an ihren Ring aus Kupfer fasste, der um ihren Hals lag. „Gemäß dem Muchnara muss er beim Tod eines Sklaven zurückgegeben werden. Um Betrug auszuschließen, darf er dabei nicht geöffnet sein.“ Er verzog angewidert sein Gesicht. „Kein schöner Gedanke, aber ein wirksamer. Damit er auch funktioniert, ist der Ring mit einem besonderen Niet verschlossen, in dessen Kopf das Siegel des Fürsten eingeprägt ist.“

Samara sah den Niet jetzt noch einmal an und entdeckte zahlreiche feine Linien, die in einem komplizierten Muster seinen pilzförmigen Kopf überzogen.
„Du hast das Siegel des Fürsten gefälscht?“
„Nein, mit meinen dicken Fingern könnte ich das nicht. Sie war es.“ Er deutete auf Sylissa, die mit einem Lächeln einen Stempel hochhielt. „Sie hat einen Monat daran gearbeitet.“
Samara starrte die Zauberin mit offenem Mund an. „Einen Monat?“
„Das ist kurz im Vergleich zu der Zeit, die ich brauchte, um ein Muster vom Siegel aufzutreiben.“
„Aber ...“
„Jetzt rede nicht herum. Der Ring muss ab, um unsere Tarnung zu ermöglichen. Also lege deinen Hals auf den Amboss und halte still. Deogenes darf den Ring nicht beschädigen, wenn er ihn öffnet.“
„Und was ist mit Keron?“
„Der freut sich darüber“, klang dessen dunkle Stimme hinter ihr auf.
Samara drehte sich zu ihm um. „Du hasst davon gewusst?“
„Seit heute Morgen, doch man bat mich, es bis jetzt zu verschweigen.“
„Ja“, warf Sylissa ein. „Du solltest einen klaren Kopf behalten.“

Als Samara sich vor dem Amboss auf die Knie begab und ihren Hals auf ihn legen wollte, drängen sich wieder die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft im Kerker nach vorne. Ihr Körper erstarrte eine Handbreit über dem Amboss und fing an zu zittern.
„Du musst sie festhalten“, forderte Sylissa Keron auf.
„Das kann ich nicht.“
„Du siehst doch, dass sie es alleine nicht schafft. Sie braucht deine Hilfe.“
Keron zögerte immer noch, dann legten sich seine Hände um den Ring. Samaras Körper verkrampfte sich, als er sie auf den Amboss drückte. Deogenes nahm trat heran, tauschte einen Blick mit Keron aus, dann fing er an, den Nietkopf abzufeilen. Das schabende Kratzen der Feile vermischte sich mit dem fast unhörbaren Stöhnen Samaras.
„Mach schnell“, bat Keron.
„Natürlich“, knurrte der Schmied, „es ist unerträglich.“

Nach einer halben Stunde halfen sie Samara, aufzustehen. Ihr Gesicht war von tiefer Erschöpfung gezeichnet, und in ihren Augen spiegelte sich das erfahrene Leid wieder.
Diogenes packte mit beiden Händen an den Ring. Begleitet von einem trockenen Knacken sprang der Niet heraus. Er zog weiter am Ring und bog ihn vorsichtig auf. Nach einem prüfenden Blick drückte Deogenes ihn in Samaras Hände.
„Schau ihn dir noch einmal an“, forderte Keron sie auf. „Morgen wird Deogenes ihn herrichten und später in der Umheide in irgendeiner Garnison abgeben. Dann wird Aylene für immer Tod sein.“
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, stammelte Samara.
„Ich hoffe, mit Aylene werden auch ihre Erinnerungen sterben“, meinte Sylissa. Sie wischte sich über ihre blauen Augen und räusperte sich. „Jetzt müssen wir nur noch unser Aussehen verändern, dann werden wir einigermaßen sicher sein.“
„Wie sollen wir das machen?“
„Ich schneide meine Haare ab und du lässt deine etwas länger wachsen. Außerdem kann ich unsere Augenfarben verändern. Damit werden sie nicht rechnen.“ Sie lachte über Kerons Blick. „Keine Sorge, das ist nicht von Dauer. Farah wird ihre schönen grünen Augen wieder zurückbekommen.“

ENDE​
 
Oh ein Happy End - hätte ich wirklich nicht erwartet, dass es so ausgeht. Fand ich nett, dass die Zauberin so über ihren Schatten gesprungen ist. Gibt es noch einen Nachfolger zu der Geschichte?

lg, Gandalf
 
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