Personen:
Samara De Veracas (Aylene): Sie unterliegt dem Muchnara
Keron Baragnar: ein Bauer aus der Umheide
Sylissa Chamal: ehemaliges Mitglied von Askars Bande
Farah Baragnar: Kerons Tochter
Ragar Baragnar, Hilde Baragnar: Kerons Vater und Mutter
Janina Rhmal: Kerons ehemalige Frau
Askar Herl: Anführer einer Bande
Was bisher geschah:
Es ist früher Herbst in der Umheide, der unruhigen Grenzregion zum benachbarten Kinitat. Samara de Veracas und Keron Beragnar haben sich mit Syslissa Chamal auf der Suche nach Kerons Tochter Farah und ihres Entführers Askar Herl verbündet.
Samara ist eine ehemalige Offiziersanwärterin, die sich, enttäuscht von ihrer Armee, einer Widerstandsgruppe anschloss. Doch bereits bei ihrem ersten Einsatz, einem Brandanschlag auf den in der Umheide liegenden Bauernhof der Baragnars, wurde sie von Herl an die feindlichen Truppen verraten. Samara wurde gemäß der Muchnara, einem tradierten und von allen Völkern anerkannten Recht, versklavt und an die überfallene Familie ausgeliefert.
Obwohl bei dem Überfall das jüngste Mitglied der Familie, Farah, schwer verletzt worden war, behandelte man sie gut. Farah schloss sogar eine enge Freundschaft mit ihr. Doch dann erfolgte ein zweiter Überfall auf die Baragnars, bei dem Keron Eltern getötet und Farah entführt wurde. Samara und Keron nahmen die Verfolgung auf und trafen zuerst auf die Zauberin Sylissa Chamal. Sie, die damals in Herls Auftrag Samara verraten hatte, ist inzwischen ebenfalls von ihm ausgestoßen worden. Sylissa kann die Hintergründe der Entführung erhellen: Nicht Samara, sondern einer der sie auflauernden Soldaten habe damals Farah absichtlich verletzt. Diese Tat habe man dann mittels gefälschter Beweise Samara zugeschoben. Jetzt habe sich ergeben, dass man diese Fälschung anhand von Farahs Art der Verletzung beweisen könne. Deshalb habe Herl Farah entführt, um mit ihr als möglichem Beweis die eigentlich Schuldigen erpressen zu können.
Samara, Keron und Sylissa schlossen ein Zweckbündnis ab, zur Rettung von Farah und für Sylissas Rache an Herl.
Die Drei überschritten die Grenze von der Umheide zum Kinitat und hoffen hier auf die Unterstützung der Ordnungsmacht, aber stattdessen lauerten Soldaten ihnen in einem Dorf auf. Sie können zwar der Falle gewaltsam entrinnen, doch es ist ihnen nun offensichtlich geworden, dass man auf beiden Seiten der Grenze die Warheit mit allen Mitteln vertuschen will.
Sylissa will die Flucht durch die Klamm wagen ...
Muchnara 11
Die Klamm
Sie liefen auf dem gleichen Weg, über den sie gekommen waren, aus dem Dorf hinaus. Nachdem sie das Tal verlassen hatten, blieb Keron stehen.
„Wohin jetzt? Wo ist Askar Herls Versteck und wie weit ist es bis dort?“, fragte er und sah Sylissa an.
„Askars Versteck liegt hinter dem Wassergipfel“ Sylissa deutete in Richtung des großen Berges jenseits des Dorfes. „Der Weg dahin führt in einem großen Bogen südlich um den Berg herum. Wir müssten etwa den halben Weg bis zur Grenze zurückgehen, um ihn zu kreuzen.“
„Ein ziemlich großer Umweg“, meinte Keron.
„Ja, das sagte ich doch.“ Sie zuckte mit ihren Schultern. „Egal, wir können die Wege ohnehin nicht mehr benutzen.“
„Wegen der Soldaten?“
„Ja“, sie warf einen Blick zu Samara hinüber. „Insofern hat sich der Umweg gelohnt: In dem Haus konnten wir sie überraschen, was auf offenem Gelände nicht so einfach wäre.“
„Ich hätte nie gedacht, dass wir sie zum Feind haben“, meinte Samara.
„Ich auch nicht“, stimmte Sylissa zu. „Gleichgültig ja, aber nicht feindlich. Es ist schon seltsam, eine Sache mit einem offiziellen Hilfeersuchen vertuschen zu wollen.“
„Das ist doch jetzt egal!“, meinte Keron ungeduldig. „Wir müssen weiter!“
Sylissa nickte. „Ich weiß eine Abkürzung über die nördlich Flanke. Wir würden mindestens einen Tag einsparen, aber sie ist nicht ungefährlich.“
„Ich will so schnell wie möglich Farah befreien. Wir nehmen die Abkürzung.“
„Dann sind wir einer Meinung.“
Sylissa übernahm die Führung. Sie verließen den Weg nach links und stiegen die nördliche Hügelkette hinauf, die hier noch niedrig verlief. Oben lag eine Ebene, auf der ein leichter Dunstschleier lag, der die Sicht kaum beeinträchtigte. Keron sah, wie sie sich mit sanfter Steigung bis zum Fuß des Berges erstreckte, dann folgte er Sylissa und Samara, die bereits weitergelaufen waren.
Doch der Dunst verdichtete sich, wie bereits zuvor im Tal, wieder allmählich zu Nebel. Es erschien Samara, als wenn der Berg sich nicht nähern, sondern entfernen würde, bis sie plötzlich vor ihm stand. Nahezu ohne Übergang stieß er vor ihren Füssen aus der Ebene steil empor in den Himmel, wo er in den Nebel eintauchte. Samara wunderte sich über die Verwandlung des Berges. Hatte er sie aus der Entfernung betrachtet noch imponiert, so wirkte er aus der Nähe betrachtet nur noch abweisend. Wie sollten sie hier weiterkommen?
„Der Zugang liegt weiter im Süden“, meinte Sylissa und übernahm erneut die Führung.
Es war eine Klamm, eine schmale und tiefe Gasse, die von einem in ihm verlaufenden Bach im Verlaufe von vielen Jahrtausenden in den Fels geschnitten worden war.
„Dieses Flussbett führt bis zum Scheitelpunkt unseres Weges, der auf etwas mehr als halber Gipfelhöhe liegt“, erklärte Sylissa. „Dort befindet sich eine kleine Ebene. Wenn wir uns beeilen, können wir sie noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, und morgen könnten wir dann in das Tal auf der anderen Seite hinabsteigen.“ Sie deute demonstrativ auf den Zugang. „Aber die Klamm ist zu tief eingeschnitten, um sie unterwegs verlassen zu können. Wisst ihr, was das bedeutet?“
„Wenn der Bach plötzlich anschwillt, können wir ihm nicht ausweichen“, meinte Keron.
„Er ist dann kein Bach mehr, sondern eine reißende Flut“, erwiderte Sylissa. „Es darf nicht regnen, während wir da drin stecken.“ Sie sah kritisch nach oben in den Nebel. „Leider ist das hier eine sehr nasse Gegend.“
„Wird sie trockener, wenn wir hier warten?“
Sylissa sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, schüttelte ihren Kopf und betrat die Klamm. Am Anfang war sie sehr steil, und sie mussten mit Händen und Füßen klettern, wobei der glatte Stein ihnen nur schlechten Halt gab. Dann beschrieb die Klamm eine scharfe Kurve nach links, um in einem flacheren Winkel an der Wand entlang zu verlaufen. Ab hier benötigten sie ihre Hände nicht mehr zum Vorankommen.
Die Klamm verlor weiter an Steilheit, und Keron hatte bald seine liebe Mühe, der Zauberin zu folgen, die inzwischen in einer Mischung aus schnellem Gehen und Laufen das Flussbett heraufeilte. Manchmal blieb sie stehen und warte mit ungeduldigen Gesten auf ihn und Samara, doch stets enteilte sie erneut, bevor er sie erreichen konnte. Zunächst verspürte er nur Frustration über seine scheinbar vergeblichen Anstrengungen, dann staute sich immer mehr Zorn in ihm auf. Wie konnte diese Fremde ihn nur dermaßen vorführen, während sie sich selbst ausruhte?
Sylissa lief weiter an der Spitze. Ihr Atem keuchte und ihr Herz raste vor Anstrengung. Der ständige Wechsel zwischen Laufen und Warten zerrte besonders an ihren Kräften. Hatten die Beiden immer noch nichts von dem drohenden Unheil bemerkt, dass sie so trödelten? Da! Erneut ein Regentropfen, der ihr in das Gesicht schlug. Sie ballte die Fäuste und verschärfte das Tempo noch weiter. Behände sprang sie über lose Steine hinweg, dann über eine lose Felsplatte. Im Sprung drehte sie ihren Kopf zu ihren Begleitern und rief „Schneller!“
Es war ein weiter Satz, und sie hatte nicht die moosbewachsene Kuhle auf der anderen Seite von der Platte gesehen. Ihr rechter Schuh glitt auf dem glitschigem Belag nach unten weg. Alles geschah blitzschnell, ohne eine Chance, sich irgendwie abzufangen, und Sylissa fiel mit der vollen Wucht ihres Sprungs auf ihr Knie. Ein weiß blendender Schmerz schoss ihr durch das Bein hinauf in den Kopf und erstickte ihren Schrei zu einem dunklen Aufstöhnen.
Keron befand sich über zwanzig Schritte hinter Sylissa, als sie stürzte. Ein spontanes Gefühl der Befriedigung überkam ihn. Das war die gerechte Strafe für ihre Arroganz! Mit einem Grinsen lief er weiter: Jetzt würde er an ihr vorbeiziehen und den Spieß umdrehen können.
Doch Sylissa rührte sich nicht mehr. Selbst als er als er sie erreichte, war sie immer noch wie tot. Schlagartig verschwand jede Häme aus Kerons Gedanken und wurden durch Sorge ersetzt. Er hielt neben ihr an und beugte sich über sie:
„Sylissa?“, fragte er besorgt.
Es verstrichen einige Atemzüge, bis sie sich rührte. Langsam stemmte sie sich mit den Armen hoch und kam mühsam in die Hocke, dann drückte sie sich mit dem unversehrten Bein hoch. Sie gab dabei keinen Laut von sich und blieb abgewendet, als wenn sie etwas verbergen wollte. Es war offensichtlich, dass ihre Zauberkräfte ihr dieses Mal nicht geholfen hatten. Keron und Samara standen unschlüssig daneben und sahen zu, wie Sylissa ihr Knie mit den Händen abtastete. Sie richtete sich ganz auf, blieb dabei immer noch von ihren Begleitern abgewendet.
„Wir müssen weiter!“, keuchte sie mit schmerzgefärbter Stimme. „Ich fürchte, es regnet gleich.“
Nur langsam konnte sie ein Bein nach vorne setzen. Sie blieb einen Moment lang mit geschlossenen Augen stehen, dann machte sie einen zweiten humpelnden Schritt, dieses Mal zur Seite, und stützte sich tief Atem holend mit beiden Händen gegen die Wand der Klamm. Sie ließ ihren Kopf nach vorne hängen und entlastete das verletzte Knie.
„Ich kann nicht. Geht alleine vor. Auf der anderen Seite des Berges findet ihr eine alleinstehende Hütte mit einem Schmied. Sagt ihm ich hätte blaue Augen, dann fragt ihn nach Askars Versteck.“
„Wir können dich doch nicht zurücklassen“, warf Samara ein.
„Doch“, erwiderte Sylissa und drehte ihr Gesicht der hageren Frau zu. „Es fallen schon die ersten Tropfen. In nicht einmal einer Stunde wird sich die Klamm in einen reißenden Fluss verwandelt haben, und so lange braucht ihr noch bis zum Ausstieg.“ Als Samara ihren Kopf schüttelte, drehte Sylissa ihren Kopf zu Keron. „Jetzt geht schon, ich hole euch schon wieder ein.“
Keron blickte nach oben und spürte, wie ihm Regentropfen auf das Gesicht fielen. Es waren noch wenige, doch sie waren typisch für den Anfang eines jener kräftigen Gusse, die er aus eigener Erfahrung kannte.
„Wir warten“, sagte er bestimmt.
„Wollt ihr auch draufgehen?“, schimpfte Sylissa.
Er griff nach ihrem Arm. „Komm, wir kühlen dein Knie im Bach.“
Sylissa schob Kerons Arm zur Seite.
„Ihr seid Idioten!“ fuhr sie ihn an und humpelte in die Mitte der Klamm, wo der Bach verlief. Äußerlich sah ihr Knie fast unversehrt aus, selbst die Abschürfungen an den Armen und Schienbeinen sahen beeindruckender aus, doch ihr Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel aufkommen, und die fest zusammengepressten Zähne und das scharfe Einziehen der Luft beim Eintauchen in das eiskalte Wasser ließen einem ihre Schmerzen ahnen.
Nach zehn Minuten wollte Sylissa ihr Bein stecken. Mit einem unterdrückten Laut brach sie den Versuch ab. Sie schlug mit der Faust in den Bach, das Wasser spritzte durch die Luft.
„Verdammt!“ Sie sah auf zu Keron und hielt demonstrativ ihre Hand in den inzwischen eingesetzten Regen. „Wenn ihr jetzt nicht lauft, ist es zu spät.“
„Nein! Samara hat dazu bereits alles gesagt“, erwiderte Keron und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir lassen dich nicht zurück.“
Nach über zwanzig Minuten versuchte Sylissa es erneut. Dieses Mal gelang es besser, mit angespanntem Gesicht konnte sie das Bein langsam strecken und beugen. Sie stand auf und belastete ihr Bein prüfend.
„Wir können weiter“, meinte sie knapp und machte die ersten, noch steif wirkenden Schritte.
Sylissa erholte sich erstaunlich gut, bereits nach einigen Dutzend Schritten erreichte sie wieder ein Tempo, dem Keron nur mit Mühe folgen konnte. Auch sah es über eine halbe Stunde lang so aus, als wenn der inzwischen kräftig gewordene Regen keine Auswirkungen auf den Fluss hätte. Doch dann fiel Keron sein lauter gewordenes Gluckern auf. Nahezu im gleichen Moment schwappte er aus seiner Rinne und fing an, sich über den Boden der Klamm auszubreiten. In Nu bedeckte das Wasser den gesamten Boden und stieg weiter an, um mit atemberaubender Geschwindigkeit Knöcheltiefe zu erreichen.
Bis jetzt hatte Keron sich die Gefahr nur abstrakt vorstellen können, aber ohne von ihr wirklich berührt zu werden. Nun spürte er, wie Angst in ihm hochkroch. Das Wasser begann, ihn zunehmend beim Laufen zu behindern, und wenn es weiter so schnell anstieg, würde es ihn auf dem abschüssigen und glatten Boden sehr bald wegreißen. Gehetzt sah er zu den Klammwänden und suchte nach einer Höhle oder wenigstem einem Vorsprung, doch er fand nur glatte Mauern. Da stieß er gegen Sylissa. Beide strauchelten, konnten sich aber wieder fangen.
„Sylissa, wie weit ist es noch?“
„Eine Viertelstunde“, war die atemlose Antwort, im Lauf über die Schulter geworfen. Sie sah wieder nach vorne. „Bei normaler Geschwindigkeit“, stieß sie aus. „Ihr Idioten!“
Samara war nicht entgangen, dass Sylissas Bewegungen seit ihrem Sturz ihre Leichtigkeit verloren hatten. Sie humpelte leicht und alles hatte etwas schmerzhaft Erzwungenes an sich. Zunächst hatte die Zauberin es noch ausgleichen können, doch der Raubbau an ihren Kräften forderte immer stärker seinen Tribut. Nun kam das immer stärker herabschießende Wasser dazu, dem sie mit ihrem zierlichen Körper am wenigsten entgegenzusetzen hatte. Sylissa wurde zuerst langsamer und schließlich ihr Laufen zum Gehen. Doch auch Samara und der vor ihr befindliche Keron bekamen immer mehr Schwierigkeiten.
Das Wasser stieg unerbittlich weiter und nahm an Wildheit zu. Die ersten Strudel zerrten an den Beinen, und wieder war es Sylissa, die davon am stärksten betroffen war. Sie musste immer öfter mit ihren Armen rudern, um das Gleichgewicht zu bewahren. Samara sah dem mit wachsender Sorge zu, bis Sylissa an einer Biegung von einer unerwarteten Welle beinahe umgerissen worden wäre. Samara eilte mit großen Schritten zu ihr. Keron folgte ihr. Sie packten Sylissa an den Armen und zogen sie mit sich. Es war in dem Durcheinander nicht zu bestimmen, ob sie sich gegen die Hilfe wehrte oder nicht, und es war ihnen auch gleichgültig.
Er schien sich seit einer Ewigkeit in dieser kalten Hölle zu befinden. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er den Arm hinter sich her. Dieser Arm und blendend glitzernde, jegliche Orientierung raubende, Helligkeit, das war die Welt, die er noch wahrnahm, alles andere war taub geworden von der saugenden Kälte des Wassers, das brausend um ihn herumtobte. Manchmal, wenn der Arm an ihm zerrte, entkamen seine Augen dem Glitzern und genossen ein dunkles Grau. Doch es war nur eine kurze Pause, bis sich sein Oberkörper wieder nach vorne warf, um den Arm weiter zu ziehen. Einmal fragte er sich, wie er sich noch fortbewegen konnte, so ganz ohne Beine. Ob er schwebte?
Mit einem Schlag war es vorbei. Des gewohnten Widerstandes beraubt stürzte er nach vorne und tauchte unter. Wild um sich schlagend schluckte er Wasser, bis er ebenso plötzlich wieder auf den Beinen stand, die er schon lange nicht mehr spürte. Neben sich bemerkte er eine strampelnde Bewegung, aus der eine schlanke Gestalt emporschoss.
„Aylene!“, entfuhr es ihm. Er versuchte, seine Benommenheit mit einem kräftigen Kopfschütteln zu vertreiben. Samara sah ihn fragend an, dann drehte sie ihren Kopf und suchte die Wasseroberfläche ab. Keron folgte ihren Blicken und entdeckte den nur eine Armspanne neben ihm treibenden Körper. Mit einem Fluch packte er ihn und zog ihn an sich.
Keron orientierte sich. Er stand bis zur Hüfte in einem kleinen Wasserbecken. Es war an zwei Seiten, vorne und links von ihm, von hochragenden Felswänden umgeben, an denen ungezählt viele kleinere Stürzbäche herabrannen. Hinter ihm befand sich eine Kerbe in der Beckenwand, durch die sich das Wasser in die Klamm stürzte. Zu seiner Verwunderung geschah das alles in vergleichbarer Ruhe, er verspürte nur einen sanft ziehenden Sog, und in der Luft lag ein vielstimmiges friedlich klingendes Gluckern. Rechts von ihm befand sich ein Ufer. Keron watete mit Sylissa auf den Armen zu ihm hin und legte sie dort ab.
Samara watete mit letzter Kraft aus dem See. Sie wankte zu der neben Keron am Boden liegenden Gestalt und versuchte, sich daran zu erinnern, was in einem solchen Fall zu tun war. Hatte sie es nie gelernt? Müde sank sie auf ihre Knie. Sie wollte sich mit einem Arm abstützen, doch er knickte ein. Nahezu besinnungslos kippte sie zur Seite.
Auch Keron konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Eine Windbö traf ihn und die Kälte ließ ihn erzittern. Seine Zähne klapperten laut und seine zuckenden Arme schienen seiner Kontrolle zu entgleiten, während er sich fragte, wo seine Beine geblieben waren. Träge meldete sich der Gedanke, sie wären vermutlich taub vor Kälte geworden. Schließlich sei Herbst, und das Wasser in der Klamm entsprechend kalt gewesen. Kein Grund zur Sorge, am besten solle er sich hinlegen und schlafen.
Nein! So denken Erfrierende!
Wie ein Blitz schoss Todesangst durch seinen Kopf. Mit plötzlicher Klarheit wusste er, was zu tun war. Er zerrte seinen Rucksack von den Schultern, riss ihn auf und zog eine Decke heraus. Erleichtert stellte er fest, dass sie nur an einer Ecke nass und ansonsten völlig trocken war.
Die Ebene grenzte an einer Seite an den Felswänden, die auch den See umgaben. Keron fand eine Einbuchtung in ihnen, die Schutz vor dem Regen bot, und legte in ihr die Decke auf den sandigen Boden. Dann lief er zurück zu Samara. Er zog die apathisch wirkende Frau vom Boden hoch und schüttelte sie.
„Samara!“, rief er eindringlich. „Wach auf!“
„Ja? ...“, stöhnte sie lang gezogen.
„Zieh deine nassen Sachen aus und lege dich in die Decke.“ Er deutete zu der Einbuchtung hinüber.
„Nein ... Ich will nicht!“
Er gab ihr eine Ohrfeige.
„Samara! Komm endlich zu dir! Du musst dich aufwärmen!“
„Das mache ich niemals freiwillig.“
Keron verlor die Geduld. Er packte Samara und zog an ihrer Kleidung. Als sie anfing, um sich zu schlagen, umklammerte er sie mit einem Arm und riss ihr mit dem anderen Arm das Hemd über den Kopf. Sie fing an zu schreien. Keron warf sie nach hinten auf den Boden. Er kniete sich auf ihren Bauch, öffnete den Gürtel ihrer Hose und zog ihr grob die Beinkleider herunter. Ihre Schreie und tretenden Beine machten ihn rasend, er warf die Hose fort und wollte ihr eine zweite Ohrfeige geben. Doch der Schlag ging daneben. Statt ihrer Backe traf seine Hand ihr Gesicht und ließ den Schrei in ein Wimmern ersterben. Blut lief aus ihrer Nase.
Entsetzt über sich selbst fuhr Keron hoch, doch es war zu spät. Samara hörte auf zu wimmern, drehte sich auf ihren Bauch und kroch auf die Decke zu. Es waren nur wenige Schritte bis zu ihr, doch sie kroch die Strecke entlang wie ein geprügelter Hund. Scham überschwemmte ihn. Am liebsten wäre er fortgelaufen, als sie die Decke erreichte und sich ihrer Schuhe und Unterkleidung entledigte. Er versuchte nicht hinzusehen, während er sie in die Decke einwickelte.
Sylissas Anblick erlöste ihn aus seinen Selbstvorwürfen. Die Zauberin war nach wie vor ohne Besinnung, und ihre blau angelaufenen Lippen und Augenlider wirkten alarmierend auf ihn. Dennoch zögerte er einen Moment, das Erlebnis mit Samara wirkte noch nach. Endlich kniete Keron sich neben sie auf den Boden und zerrte ihr den Rucksack vom Rücken. Er zog er ihr die Schuhe aus. Sie waren aus weichem Leder gefertigt und mit einer kräftig profilierten Sohle versehen. Dann öffnete er den Knoten ihres hellgrünen Brusttuchs und wickelte den tropfnassen Stoffstreifen von ihrem Oberkörper. Der Anblick ihrer Brüste löste ein Gefühl der Wärme in ihm aus, und Keron fragte sich, wohin seine Gedanken in einer solchen Lage abschweiften. Er knöpfte ihren Rock auf und zog ihn fort. Er konnte einen neugierigen Blick nicht vermeiden, bis erneut Scham seine Gedanken unterbrachen. Sie war dieses Mal frei von bitterer Schuld, stattdessen vermischt mit Versuchung. Keron rief sich zur Ordnung.
Sie ist nur eine kalte Hexe!
Er schob seine Arme unter Sylissas Leib und trug sie zur Decke. Samaras Anblick holte ihn wieder auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurück. Zu seiner Erleichterung rührte sie sich nicht, als er die Zauberin zu ihr in die Decke schob. Sanft streichelte er Samara über die Wange, dann stand er auf und ging zurück zu den beiden Rucksäcken.
Aus Sylissas Rucksack ergoss sich zusammen mit allerlei Dingen ein Schwall Wasser. Seufzend suchte Keron in seinem Rucksack, wohl wissend hier nur noch eine kleine Decke finden zu können. Er zog sich aus und schlang sie um seine Hüfte, dann legte er sich neben seinen Begleiterinnen in den kalten Sand.
*
Das Tappen von Füßen, vermischt mit Satzfetzen, ließen Keron erwachen. Murrend drehte er sich auf die Seite und zog er die Decke enger um sich.
„Wenn wir etwas absteigen, können wir trockenes Holz einsammeln und ein Feuer machen“, drang eine sachliche Stimme in sein Dösen ein.
„Es ist noch so früh“, knurrte er zurück.
„Etwa drei Stunden nach Sonnenaufgang“, kam es trocken zurück.
Keron drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Vor ihm standen Sylissa, die Arme in die Seiten gestützt, und Samara, mit einem Bündel Kleidern in den Händen.
„Bis zum Schmied ist es nicht sehr weit, doch wir sollten nicht trödeln“, erklärte Sylissa. „Die Zeit läuft immer nach vorne ab, verstehst du?“
„Hm ...“, knurrte Keron. Er fühlte sich wie zerschlagen, und als er sich aufrichteten wollte, zuckten Schmerzen durch seinen Oberkörper. Samara trat einen Schritt vor und reichte ihm den Arm zur Hilfe. Er griff zu. Mit einem erstaunlich kraftvollen Zug zog sie ihn in halb hoch. Er sah sie lächelnd an, und sie zwinkerte ihm kameradschaftlich zurück. Er entdeckte etwas Blut auf ihrem hellgrauem Hemd, und im selben Moment erinnerte er sich an den gestrigen Abend. Sie folgte seinem Blick.
„Ich habe mich gestern unvernünftig benommen“, sagte sie.
„Nein!“, entfuhr es Keron. „Bitte sage das nicht.“
Während Sylissa sich entfernte, reichte Samara ihm seine Kleider. Dabei berührte er absichtlich ihre Hand, drückte sie leicht und murmelte eine Entschuldigung. Samara nickte mit einem Lächeln.
„Ich habe sie so gut ich konnte ausgewrungen“, meinte sie. Sie wurde ernst. „Sylissa ist immer noch verletzt. Hoffentlich schafft sie es“, flüsterte sie.
„Ihr Hass auf Herl wird sie antreiben“, meinte Keron.
Samara sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts. Sie drehte sich um und folgte der Zauberin nach.
Keron wartete, bis beide Frauen außer Sicht waren, dann zog er die Decke zur Seite. Zu seiner Verwunderung lag er auf der kleinen Decke, während die große Decke, in der er am Abend die Frauen eingewickelt hatte, ihn bedeckt hatte. Er errötete bei dem Gedanken, dass ihn vermutlich die beiden Frauen nackt gesehen hatten, und freute sich zugleich über ihre Fürsorge. Er verspürte sogar etwas Stolz darüber. Dann nahm er seine Hose. Es kostete ihn Überwindung, in dieses klamme eiskalte Kleidungsstück zu steigen. Hastig, um sich kein zweites Mal überwinden zu müssen, zog er das Hemd an. Die Schuhe waren im Vergleich dazu kein Problem.
Samara und Sylissa warteten am anderen Ende der Ebene. Hier wuchsen einige verkrüppelte Bäume und Büsche, das erste armselige Grün seit einer kleinen Ewigkeit.
„Wenn die nicht so nass wären, würde ich sie anzünden“, rief Keron seinen Begleiterinnen launisch zu.
„Wie gesagt, nur etwas weiter unten finden wir genügend trockenes Holz“, erwiderte Sylissa. Sie setzte sich auf die Kante der Ebene und sprang sie hinab.
Samara und Keron sprangen hinterher. Die Kante lag mannshoch über einem Hang mit Büschen und Bäumen, die zwar ebenso klein, aber viel gerader, gewachsen waren wie die auf der Ebene befindlichen. Der Boden war mit zähem, kurz gewachsenem Gras bewachsen. Das Gefälle war an der Grenze dessen, was ein Wanderer noch gehen konnte, sie würden ihre Schritte bedachtsam setzen müssen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
Keron stoppte fing sich an einem Baum ab. Er bemerkte, wie Samara rechts an ihm vorbeirutschte und sich dann ebenfalls an einem Baum festhielt. Die hagere Frau sah sich suchend um und stieg dann weiter ab zu Sylissa, die in einen Busch gestürzt war. Gespannt beobachtete Keron, wie Samara ihr half, aufzustehen. Nach einer kurzen Diskussion, die er nicht verstehen konnte, nahm Sylissa ihren Rucksack vom Rücken und reichte ihn Samara. Dann setzte die Zauberin sich in Bewegung. Keron ging zu Samara, die sich den Rucksack überstreifte.
„Ihr Knie? Soll ich ihr auch helfen?“, fragte er, es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage, und nickte in Richtung der forthumpelnden Sylissa.
„Es ist angeschwollen und muss sie höllisch schmerzen. Seltsam, das befriedigt mich nicht.“ Sie sah Keron an. „Nein, sie will keine Hilfe von uns.“
„Und der Rucksack?“, fragte Keron verwirrt.
„Sie hat ihn mir geschenkt.“ Samara grinste dünn.
„Kindisches Weib!“, entfuhr es Keron.
Mit rutschenden Schritten holte er zu Sylissa auf.
„Ich kann dich stützen“, bot er ihr an.
„Nein, ich komme schon zurecht“, lehnte sie ab und deutete stattdessen nach vorne. „Bis zu der Baumgruppe dort ist es nicht weit. Dort können wir unsere Sachen trocknen und ich werde mir einen Stock schnitzen.“
„Aber ...“
„Keine Sorge, wir werden keine Zeit verlieren. Bis zum Schmied schaffen wir es heute leicht. Bei ihm können wir uns dann vorbereiten, um Askar aufzusuchen.“
„Und dein Knie?“
„Es ist mein Knie. Und jetzt lass mich in Ruhe.“
Verärgert ließ Keron sie ziehen. Er blieb stehen, bis Samara ihn eingeholt hatte, und ging dann zusammen mit ihr weiter.