Paglim
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[Story] Noch ohne Titel leider
So, dagsche erstmal!
Ich bezweifel, dass sich irgendwer noch an mich erinnert, aber vor drei Jahren, hab ich hier meine Sha-Ira-Trilogie geschrieben und da ich jetzt endlich nach langer Pause wieder angefangen habe, zu schreiben, hab ich natürlich keine andere Wahl, als euch jetzt wieder mit meinem Geschribbsel zu belästigen
So genug der Vorrede, bitte schön! (übrigens, Kritik ausdrücklich erlaubt, versteht sich von selbst!)
Herzblut
Zum Kalender:
Entsprechend zu den 7 Heiligen besteht eine Woche (bzw. ein Heiligenlauf oder kurz Lauf) aus sieben Tagen, die jeweils einem Heiligen gewidmet sind.
Die Aspekte und die Anordnung im Heiligenlauf:
Mhril - Trauer/Buße
Sophia - Leben/Freiheit
Laurane - Wissen/Heilung
Oris - (ehrliche) Arbeit/Aufopferung
Minerva - Liebe/Treue
Darrel - (ehrlicher) Handel/Großzügigkeit
Rahl - Feiern/Kunst
Es gibt daher auch sieben verschiedene Zeitenrechnung. Die Gebräuchlichste und am weitesten Verbreitete ist diejenige nach Darrel. Da die Geschichte aber in einem Kloster der Laurane spielt, rechnen wir mit derjenigen Lauranes. Gerechnet wird immer vom Geburtsjahr an. Und von der Lauranerechnung auf die gebräuchliche Darrelrechnung zu kommen, müssen 314 Jahre abgezogen werden.
Jedes Jahr beginnt am Tag der Sommersonnenwende, also etwa am 21.6.
Da nach Ablauf von 52 Läufen meist einige Tage bis zur Sommersonnenwende übrig sind, werden diese "Sonnentage" speziell gefeiert. Astronomen verkünden, wie viele Tage bis zur Sonnenwendfeier, dem großen Abschluss der Sonnentage, verbleiben.
Ein Datum besteht aus dem Lauf und dem jeweiligen Tag, also beginnt ein neues Jahr mit 1 Mhril.
Die Geschichte beginnt am 2 Rahl 1084 Laurane, das entspricht etwa dem 4. Juli
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Kapitel 12-2
Kapitel 13
Kapitel 14
1
2 Rahl 1084 Laurane morgens
Sie kamen immer wieder.
Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie mit so fehlerloser Regelmäßigkeit auftraten, hatten sie in den vergangenen acht Jahren nichts von ihrem Schrecken verloren.
An jedem Rahl, oder genauer gesagt in der Nacht vom Darrel zum Rahl, kamen die Träume zu Khalid. Und jedes Mal, wenn sich der graue, friedliche Schleier von seinem inneren Auge hob, geriet er in Panik.
Verbissen hatte er sich in der Meditation geübt, der einzigen Art, seinen widerspenstigen, sich selbst peinigenden Geist zu bändigen. Und dennoch kamen sie immer wieder.
Es war nicht immer der gleiche Traum, das wäre nicht so schlimm gewesen, darauf wäre er vorbereitet. Doch die facettenreichen Schrecken seiner Erinnerung lieferten ihm immer neue Bilder, Bilder die er verzweifelt versuchte zu verdrängen.
Khalid war sich durchaus bewusst, dass er träumte und er wehrte sich verzweifelt gegen die Bilder, die sein Geist ihm sandte. Aber wie immer verlor er diesen Kampf.
Und während er im Traum wieder zum jungen Khalid wurde und das Trauma seiner Kindheit wieder und wieder erlebte, wälzte sich ein junger Mann im Novizentrakt des Lauranerklosters Eibenbach in seinem Bett hin und her, warf die leichte Sommerdecke durch die kleine Kammer und traf damit einen anderen Jungen, der bislang einen wesentlich ruhigeren Schlaf genossen hatte.
Seufzend zog sich Ludger die Decke vom Kopf und setzte sich auf. Sein Blick streifte das kleine Fenster. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und am Rahl durfte eigentlich jeder, der keine allzu wichtigen Aufgaben zu erfüllen hatte, schlafen so lange er wollte. Aber er kannte dies nun schon seit Jahren, sobald Khalid einmal zu träumen angefangen hatte, war es mit der Ruhe vorbei.
Verärgert und besorgt zugleich betrachtete Ludger seinen Zwillingsbruder, wie er schwitzend und nackt auf seinem Bett lag. Feine Tröpfchen hingen an seinen kurzen, nachtschwarzen Haaren oder liefen an seinem schlanken Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen herunter. Die tiefbraunen Augen, mit denen Khalid so manches Frauenherz schmelzen ließ – auch wenn ihn das nie sonderlich zu interessieren schien – waren fest zugekniffen und man konnte förmlich sehen, wie die Augäpfel darunter hin und her zuckten. Die Hände krallten sich tief in das Laken, während sein ganzer Körper vor Anspannung zitterte.
Ludger beeilte sich an das Bett seines Bruders zu treten und diesen wachzurütteln.
Schlagartig, als wäre es nur ein seidener Faden gewesen, der ihn in der Welt seiner Träume gefangen hielt, riss Khalid die Augen auf. Für einen Moment war der sechzehnjährige Novize orientierungslos, wähnte sich noch immer als kleiner Junge, gefesselt und sich auf die Lippen beißend, um nicht schreien zu müssen, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Aber dann sah er in das Gesicht seines Bruders, der sanft auf ihn herablächelte.
„Danke“, flüsterte der Junge und setzte sich frierend im Bett auf. Es war zwar bald Sommer, aber noch war es morgens sehr kalt in den Zimmern des Klosters und irgendwie schien ihm im Schlaf seine Decke abhanden gekommen zu sein.
Ludger nickte nur und setzte sich auf die Bettkante.
„War es schlimm?“
Khalid schlug die Augen nieder.
„Nicht schlimmer als sonst.“
Ludger setzte ein aufmunterndes Lächeln auf und fasste seinen Bruder bei der Schulter.
„Nun komm, wenn wir schon so früh auf den Beinen sind, sollten wir es zumindest auch nutzen und die ersten beim Frühstück sein. Es ist Rahltag, der schönste Tag der Woche, also genießen wir ihn!“
Während Ludger sich erhob und seine weiße Rahls-Tunika über den muskulösen Körper zog, lehnte Khlaid sich gegen die kalte Steinwand hinter seiner Pritsche und schlang die Arme um die Knie.
„Ich weiß nicht, lass mich doch den Rahl auf meine Art feiern, indem ich einfach im Bett bleibe. Das würde ihm mit Sicherheit auch gefallen.“
So wie jeder Tag der Woche, war auch der Rahltag einem der sieben großen Heiligen gewidmet, eben dem heiligen Rahl. Dieser hatte Zeit seines Lebens alle Annehmlichkeiten genossen, die dieses zu bieten hatte. Er war ein Liebhaber aller schönen Künste gewesen, sowie ein großer Gourmet und Freund von Festen, Wein und nicht zuletzt dem Liebesspiel. Aber war auch ein großer Verfechter des Lebens, hatte mit der Kraft seiner legendären Lieder unzählige Körper und Seelen geheilt und insgesamt nicht weniger als zweiundvierzig Kinder gezeugt.
Und so wurde dieser Heilige an jedem Rahl gefeiert. Nur wer es nicht vermeiden konnte, arbeitete an diesem Tag, man genoss sein Leben und widmete sich den Dingen, die einem am meisten am Herzen lagen. Außerdem war es Tradition, an diesem Tag die Kranken und Unglücklichen zu besuchen und ihnen kleine Geschenke zu machen, um ihr Leiden zu verringern. Und schlussendlich fand an jedem Rahltag irgendwo irgendein Fest statt, zu dem er nicht selten von seinem Bruder geschleift wurde.
Der Rahl war der beliebteste Tag der Woche und in vielen Städten der einzige, der noch nach alter Tradition gefeiert wurde.
Und für ihn und seinen Bruder war es früher immer wieder der schrecklichste Tag der Woche gewesen.
Doch davon schien Ludger heute nichts mehr zu wissen, so wie er auch keine Träume hatte. Obwohl sie beide dasselbe erlebt hatten, war sein Bruder irgendwie dazu in der Lage, die Erinnerung zu verdrängen. Khalid wünschte sich sehnsüchtig, das auch zu können.
„Unsinn!“, entgegnete Ludger nun, „Wir gehen jetzt zum Frühstück und danach gehen wir in die Stadt. Da werden wir dich schon ablenken können.“
Resigniert seufzte der Angesprochene, während sein Bruder aus der kleinen Holztruhe, die beider Habseligkeiten enthielt, ein einfaches Zopfband nahm und damit die langen dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz band. Ludger hatte die Haare und die helle Haut, sowie die feinen Gesichtszüge und die eisblauen Augen ihrer maza´alschen Mutter geerbt, hatte aber mittlerweile den kräftigen Körperbau ihres Vaters, während er, Khalid, das schwarze Haar und die dunkle Haut ihres südländischen Vaters hatte, dabei aber eher schmächtig und fast einen ganzen Kopf kleiner als sein Bruder war.
Dieser strich sich nun eine Strähne aus dem Gesicht, blickte zu ihm hinüber und fragte:
„Kann ich mich so sehen lassen?“
Gespielt skeptisch sah Khalid sich seinen Bruder von oben bis unten an. Er hatte nie verstanden, warum Ludger die Haare so lang trug. Er sagte zwar, er wolle die Zeit ihres Noviziats noch nutzen, denn als Akoluthen würden sie die Tonsur erhalten, die Haare kurz geschoren mit einem kahlen Kreis in der Mitte, aber für Khalid war es ganz und gar unverständlich, wie man bei klarem Verstand bleiben konnte, wenn man ständig damit beschäftigt war, sich die Haare aus dem Gesicht zu wischen.
Nun, bei seinem Bruder konnte man auch nicht wirklich von klarem Verstand reden.
Khalid grinste.
„Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir einen Eimer mitnehmen, nur für den Fall dass sich eine der Damen in der Stadt übergeben muss.“
Ludger lachte abfällig und warf ihm seine Tunika zu.
„Sei lieber froh dass Brudermord unter Strafe steht!“ entgegnete er, „Und jetzt bedecke dich bitte, ich möchte gleich gerne noch feste Nahrung zu mir nehmen können.“
Energisch wandte er sich um und machte sich daran, die kleine Kammer zu verlassen.
„Und um Himmels willen, wasch dich!“ rief er im Hinausgehen, „Du stinkst schlimmer als ein nasser Hund!“
*
Um die anderen Novizen nicht zu wecken, schlich Khalid so leise er konnte durch den in das orange-rote Licht der aufgehenden Sonne getauchten Gang, auf die steinerne Wendeltreppe an dessen Ende zu. Die Kammer, die er sich mit seinem Bruder teilte, lag in der zweiten Etage des vierstöckigen Gebäudes, in dem die gut fünfzig männlichen Novizen des Lauranerklosters lebten.
Wie so oft streifte Khalid im Vorbeigehen ehrfürchtig über die alten Wände. Das gesamte Kloster war so wie es heute stand bereits vor über neunhundert Jahren erbaut worden.
Die heilige Laurane hatte es damals bauen lassen. Zu diesem Zeitpunkt hieß sie noch Laurane von Eibenbach und war Gräfin dieser Ländereien gewesen. Den Geschichtsbüchern zufolge hatte sie sich, nachdem ihr Mann in jungen Jahren am Wundfieber gestorben war, auf Pilgerfahrt begeben, mit dem festen Vorsatz, die Heilkunst zu erlernen, um anderen Menschen dieses Schicksal ersparen zu können.
Sie unternahm drei Fahrten, lernte zuerst in den rauen Ländern des Nordens die Kunst der Meditation, dann in den Universitätsstädten an der Westküste den Wert des Wissens und schließlich in der Wüste im Südosten die Macht der Heilung.
Nach ihrer Rückkehr legte sie ihr Amt als Gräfin nieder, baute auf den Länderein ihrer Villa das Kloster und gründete den Lauranerorden, zu dessen erster Äbtissin sie sich ernannte.
Dann rief sie Medici, Gelehrte und Schamanen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, auf dass sie ihr Wissen zusammentrügen. In den achtunddreißig Jahren ihres Vorsitzes sammelte sie eine stattliche Anzahl von Büchern und Schriftrollen aus allen Gebieten der Wissenschaften zusammen. Nach ihrem Tod war das Kloster von Eibenbach ein Zentrum des Wissens und ein Wallfahrtsort für alle, die nach Heilung oder Erleuchtung suchten.
Der Lauranerorden wuchs und Mönche und Nonnen der Laurane waren in jedem Dorf und jeder Stadt zu finden. Jedes Mitglied des Ordens machte in seinem Leben drei Pilgerfahrten, doch damals lebten nur die Wenigsten dauerhaft im Kloster selbst. Der Großteil zog über das Land oder lebte in Städten als Heiler oder Lehrer.
Doch seitdem war viel Zeit vergangen. Der Lauranerorden war noch immer einer der größten Orden der Westlande, aber die Verehrung der Heiligen nahm mehr und mehr ab und somit fanden sich auch immer weniger neue Novizen.
Khalid hatte die Geschichte, vor allem die der sieben Heiligen, intensiv studiert, nicht etwa, weil er sonderlich begierig nach Wissen wäre, sondern viel mehr da er bemerkt hatte, dass die Geschichte anderer Menschen ihn von seiner eigenen ein wenig ablenken konnte.
Vorsichtig öffnete der junge Novize die Vordertür und trat in den neuen Morgen hinaus.
Tief sog Khalid die Luft ein, sie schmeckte nach Sommer, und betrachtete die erwachende Welt um ihn herum.
Nur wenige Mönche und Nonnen waren bereits auf den Beinen und schlenderten über die kleinen angelegten Wege oder saßen den Sommermorgen genießend vor ihren Wohnhäusern.
Traditionsgemäß nahm jedes Ordensmitglied sich nach seiner zweiten Feuertaufe eines der freistehenden Häuser innerhalb oder außerhalb der Klostermauern. Da dem Orden kein Keuschheitsgelübde unterlag, war für viele ihre anschließende Pilgerfahrt auch die Suche nach dem geeigneten Ehepartner.
Da Ludger nirgends zu sehen war, machte sich Khalid auf den Weg zum Speisesaal, der nicht weit entfernt war von dem in der südöstlichen Ecke des Klosters liegenden Novizentrakt.
Dabei passierte er rechts von sich den dreizackigen Stern, das große Zentralgebäude, das, in der Mitte des Klosters liegend, die drei Pilgerfahrten Lauranes symbolisierte. Der nach Norden weisende Teil beherbergte die Kapelle und die Meditationsräume, im Südwestflügel lag die Bibliothek und das Scriptorium und im südöstlichen Gebäude schließlich befanden sich das Hospital und die Labore der Alchemisten.
Khalid ließ sich Zeit, ließ die Schatten der vergangenen Nacht durch die klare Luft und den Gesang der Vögel vertreiben.
Als er schließlich die große Messehalle erreichte, hatte er die dunklen Erinnerungen wieder in die hintersten Ecken seiner Gedanken gedrängt. Durch das offene Tor tretend öffnete sich vor ihm der gewaltige Speisesaal, in dem alle Mitglieder des Ordens, deren Angehörige und noch weit mehr Personen Platz hatten.
Im Moment saßen aber nur einige wenige Personen einzeln oder in kleinen Gruppen an den vielen und an einem von ihnen entdeckte Khalid seinen Bruder, der sich bereits mit einer enormen Menge an Brot, Käse, Braten und Eiern eingedeckt hatte.
„Hast du vor eine Armee zu versorgen?“
Ludger blickte überrascht auf, er hatte sein Kommen bislang noch gar nicht bemerkt.
„Ich will nur sicher gehen, dass wir noch genug abbekommen“, erwiderte er grinsend.
Khalid nahm neben ihm auf der langen Bank platz und griff nach dem Brot.
„Du wirst nicht glauben, wer letzte Nacht von seiner Pilgerfahrt zurückgekehrt ist!“ fuhr er fort, wartete aber gar nicht erst eine Antwort ab, „Daved ist wieder da! Ich wette, er hat eine Menge zu erzählen. Heute Abend wird ein Fest in Eibenbach gefeiert und er wird auch da sein. Ich bin gespannt, was er aus Rah´aleb zu berichten hat.“
Kopfschüttelnd betrachtete Khalid seinen Bruder, wie er strahlend eine knappe Wochenration Fleisch auf seinem Brot stapelte. Daved war einer der besten Schüler in allen Bereichen des Studiums gewesen und hatte vor kurzem seine Feuertaufe gehabt, woraufhin er zu seiner dritten und letzten Pilgerreise in die Wüstenstadt Rah´aleb aufgebrochen war. Viele vermuteten in Daved bereits den nächsten Abt und für Ludger war er ein großes Vorbild.
Dementsprechend konnte Khalid ihn nicht sonderlich leiden.
„Sehe ich das richtig, dass ich keine Chance habe, dich zu überzeugen, mich nicht zu zwingen, mitzukommen?“
Ludger biss ein großes Stück von seinem Brot ab und grinste ihn an.
„Keine Chance, kleiner Bruder“, antwortete er mit vollem Mund.
Mit einem ergebenen Seufzer fing Khalid an, sich sein Brot zu belegen und bereitete sich darauf vor, erneut all die großen Taten Daveds zu hören.
Er hatte im Gefühl, dass es ein langer Tag werden würde.
*
Sie verließen den Gebäudekomplex durch das große in der Südmauer liegende Tor, das die Wohntrakte der männlichen und weiblichen Novizen voneinander trennte.
Das Kloster lag auf einer Anhöhe direkt über dem Dorf Eibenbach, einem Ort von etwa fünfhundert Seelen, der am gleichnamigen Bach lag und seit Jahrhunderten von der Zusammenarbeit mit dem Lauranerkloster lebte.
Die beiden Brüder folgten dem gepflasterten Weg bergab, während Ludger munter erzählte und plauderte und sich dabei nicht daran störte, dass Khalid ihm nur mit einem halben Ohr zuhörte.
So vertieft war der Junge in seine Ausführungen über sein großes Vorbild, dass er gar nicht den Reiter bemerkte, der aus der anderen Richtung in gestreckten Galopp auf sie zu preschte. Vermutlich wäre er über den Haufen geritten worden, hätte Khalid ihn nicht rechtzeitig zur Seite gezogen.
Überrascht brach Ludger in seinen Ausführungen ab und gemeinsam betrachteten sie den Unbekannten, als dieser an ihnen vorbeistürmte. Vom Reiter selbst war nicht viel zu erkennen, außer, dass er von ziemlich großer Statur war. Doch der ganze Körper war in einen weiten Reiseumhang gehüllt und in der kurzen Zeit konnten sie auch nicht das Gesicht der Person sehen. Das Pferd allerdings gab ihnen mehr Hinweise über den unbekannten Reiter. Khalid erkannte an dem kräftigen Körperbau, dem dichten beschen Fell und der langen Mähne, dass es sich um eines der Hochlandpferde aus den Ländern des Nordens handeln musste.
„Wer war das?“, murmelte Ludger.
„Ich weiß nicht, aber er scheint aus dem Norden zu kommen.“
„Vielleicht ein Barbar?“
Khalid zuckte nur mit den Schultern. Die Barbaren lebten schon seit ewigen Zeiten in den rauen Ländern des Nordens. Sie bekämpften sich oft untereinander, hielten sich aber sonst vom Rest der Welt fern, solange man sich von ihnen fern hielt. Er konnte sich nicht erklären, was ein Barbar in ihrem Kloster suchen könnte.
„Nun“, fuhr Ludger fort, „wenn es etwas Wichtiges sein sollte, werden wir es wohl noch erfahren.“ Und damit setzte er seinen Weg fort. Zögernd und dem Reiter hinterher blickend, der in den Mauern des Klosters verschwunden war, folgte Khalid ihm. Er hätte zu gern herausgefunden, was es mit diesem Unbekannten auf sich hatte.
In Eibenbach hatten bereits die ersten Händler ihre Läden und Stände geöffnet. Auch wenn es Tradition war, am Rahl nicht zu arbeiten, so hatten doch in der letzten Zeit die meisten Geschäftsmänner erkannt, dass die Menschen an diesem Tag in weitaus freigebigerer Laune waren als sonst und verzichteten auf ihren Feiertag zu Gunsten der großen Gewinne, die sie am Rahl machen konnten.
Ludger schien den Unbekannten schon vergessen zu haben und schlenderte von Stand zu Stand, neugierig den Schmuck und Tand betrachtend. Dabei grüßte er so ziemlich alle Dorfbewohner, die ihm über den Weg liefen und hielt mit diesen und jenen ein kurzes Schwätzchen, bevor er wieder halb zu Khalid, halb zu sich selbst vor sich hin erzählte. Sein Bruder nickte zwischendurch an den passenden Stellen gelangweilt und war ansonsten mit den Gedanken weit entfernt.
Es drängte ihn, zum Kloster zurückzukehren und herauszufinden, was es mit dem mysteriösen Reiter auf sich hatte. Dabei überraschte ihn seine Neugier selbst. Es kam zwar nicht mehr oft vor, dass Fremde das Kloster besuchen, aber es kam vor und Khalid hatte sich sonst nie übermäßig für die Besucher interessiert.
So tief war der junge Novize in seine Gedanken versunken, dass er fast aufgeschrieen hätte, als Ludger ihn plötzlich fest am Arm packte.
„Autsch! Willst du mir den Arm brechen?“
„Quengel nicht so rum, kleiner Bruder!“, gab Ludger flüsternd zurück, „Sieh doch!“
Er wies durch die Menge auf ein kleines fünfzehnjähriges Mädchen, das Khalid schon gut kannte. Innerlich stöhnte der junge Mann genervt auf. Dort hinten am Obststand war Marie, die älteste Tochter des Bauern Aleb und seiner Frau.
Ludgers Verhältnis zu Marie war seltsam. Dem Auge eines Unbekannten mochten die Beiden einem gewöhnlichen verliebten Paar gleichen, doch Khalid wusste es besser. Sie kannten das Mädchen schon seit ihrer Ankunft in diesem Kloster, doch sie war lange Zeit nicht mehr als eine flüchtige Bekannte für sie Beide gewesen. Denn seit jeher vertrauten sich Khalid und Ludger nur gegenseitig und hielten den Kontakt mit anderen Menschen so gering wie möglich. Nur durch ihre Beharrlichkeit war es Marie gelungen, zu Ludger durchzudringen und die Liebe in ihm zu wecken. Khalid war ihr sehr dankbar dafür, denn auch er konnte die Maske der Fröhlichkeit, die sein Bruder stetig trug, nicht immer durchschauen. Es war gut, dass er jemanden hatte, bei der er diese Maske ablegen konnte.
Allerdings zerrt Ludgers Verhalten in Maries Gegenwart auch ziemlich an seinen Nerven.
„Schnell Khalid, hast du ein paar Suons für mich?“
Seufzend kramte dieser ein paar Münzen aus seiner Tasche. Als Novizen hatten sie eigentlich kein Geld zur Verfügung, da sie im Kloster auch keins brauchten, aber er und sein Bruder halfen in ihrer Freizeit manchmal den Bauern auf den umliegenden Höfen und verdienten sich so eine Kleinigkeit. Unglücklicherweise blieb Khalid selten etwas von seinem Geld, weil sein Bruder ihn ständig anflehte, ihm etwas zu leihen, immer mit dem festen Vorsatz, es ihm so bald wie möglich zurückzuzahlen.
„Danke Bruderherz“, flüsterte Ludger nun, als Khalid ihm sieben Suons in die Hand drückte, „Du bist wirklich der Beste! Ich werde es dir so bald wie möglich zurückgeben.“
Gehetzt blickte er sich nun um, auf der Suche nach einem passenden Geschenk für seine Angebetete und fand schließlich einen Stand, an dem geschnitzte Holzfiguren angeboten wurden.
Nach kurzer Zeit entschied er sich für einen kleinen Schwan, kaufte ihn und kam strahlend zu seinem Bruder zurück.
„Der wird ihr doch mit Sicherheit gefallen, oder?“
Khalid besah sich das kleine Stück. Es war wirklich fein geschnitzt und gute Arbeit, aber schlussendlich doch nichts anderes als ein einfacher Holzschwan.
„Mit Sicherheit“, gab er zurück, „sofern sie auf unnützen Kram steht.“
„Du hast einfach nicht die geringste Ahnung von Frauen, Khalid!“
Damit zerrte er ihn am Arm hinüber zu Marie, die sich gerade einige Äpfel ausgesucht hatte. Khalid mochte die junge Frau. Unter dem langen blonden Haar steckte der wache Verstand eines aufgeweckten Mädchens, nur hatte sie leider einen grauenhaften Geschmack, was Männer betraf.
„Guten Morgen schöne Frau!“ säuselte Ludger nun, was leichte Übelkeit in seinem Bruder hervorrief. Die Angesprochene wandte sich um und lächelte sie ehrlich erfreut an.
„Guten Morgen ihr Beiden! Was macht ihr denn so früh hier?“
„Ach, wir genießen nur den schönen Morgen. Und was machst du?“
Innerlich rollte Khalid mit den Augen aufgrund dieser hoch niveauvollen Konversation.
„Ich habe nur ein paar Äpfel gekauft, meine Mutter und ich möchten für heut Nachmittag einen Kuchen backen. Hm, wieso kommt ihr denn nicht einfach mit? Der Kuchen dürfte auch noch für euch reichen und ihr könntet uns ein bisschen helfen!“
„Natürlich, ich komme gern mit!“ strahlte Ludger, während Khalid es genoss, Luft für seinen Bruder zu sein.
„Tut mir leid Marie“, warf er ein, „aber ich muss ablehnen. Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen heut Nachmittag. Wir sehen uns ja heut Abend auf dem Fest.“
Das Mädchen sah enttäuscht aus, während Ludger eher erleichtert schien. Auch Khalid war erleichtert über die Gelegenheit, seinen Bruder vorerst loszuwerden. Er würde Marie dafür irgendwie danken müssen.
„Schade!“, antwortete sie nun, „Dann also bis heut Abend. Wir heben dir ein Stück von dem Kuchen auf.“
„Ja, bis später kleiner Bruder,“ warf Ludger ein, ohne ihn anzublicken, schlang den Arm um Maries Hüfte und schlenderte mit ihr davon.
Khalid winkte ihnen hinterher. Endlich einmal war es nützlich, dass Ludger in Maries Anwesenheit ständig in anderen Sphären schwebte. So hatte er zumindest nicht nachgefragt, was das für Dinge waren, die er unbedingt erledigen musste.
Nachdem die beiden außer Sicht waren, stürmte der junge Mann, noch immer verwirrt über seine eigene Neugier, zum Kloster zurück.
Dort angekommen sah Khalid zuerst das Hochlandpferd, das in den Stallungen untergebracht war. So weit, so gut, aber wo würde er den Fremden finden können?
Und warum um alles in der Welt interessierte ihn das so? Er lebte seit Jahren gut damit, dass ihm so ziemlich alles gleichgültig war.
Gedankenverloren schlenderte Khalid eine Weile durch das Kloster und ließ seine Füße den Weg von alleine finden.
Entsprechend überrascht war er, als er sich plötzlich an der gegenüberliegenden Mauer des Klosters am Haus des Abtes wieder fand. Die herrschaftliche Villa, die einst von Laurane selbst bewohnt worden war, war nun das Zuhause des Abtes und seiner Frau. Außerdem befanden sich in dem Gebäude einige Ratssäle, Gemeinschaftsräume und vieles mehr.
Der Novize befand sich auf der Rückseite des Gebäudes in dem kleinen Gang zwischen der Villa und der Nordmauer des Klosters. Doch bevor er sich fragen konnte, warum er hier war, hörte er aus einem Fenster in der ersten Etage laute Stimmen herunterschallen.
Zuerst wunderte sich Khalid, dass er kein Wort verstand, bis er das Gesprochene als Raggaroth identifizierte, die Sprache der Barbaren, die er zwar erkennen, aber nicht verstehen konnte.
Was aber unmissverständlich war, war der Tonfall, in dem gesprochen wurde. Drei Personen, von denen er in zweien den Abt Feldokar und den frischgebackenen Mönch Daved erkannte und in der dritten den Fremden vermutete, schienen aufs heftigste über ein Thema zu streiten.
Worum auch immer es ging, was sich da oben gegenseitig an den Kopf geworfen wurde, war nicht gerade freundlich.
Doch Khalid sollte dem Gespräch nicht weiter folgen können, denn im nächsten Augenblick verstummten die Stimmen und er sah eine Gestalt auf das Fenster zukommen.
Mit dem Gefühl, ertappt worden zu sein, stürmte der junge Mann davon in Richtung des Novizenhauses.
Dieser Tag wurde immer verwirrender.
*
Schon seit gut einer Stunde lag Khalid auf der Pritsche in seiner Kammer und starrte unverwandt die Decke an, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen.
Langsam aber sicher kam immer mehr Lärm aus dem Dorf herausgeschallt. Es musste auf den Abend zu gehen, die Vorbereitungen für das Fest waren in vollem Gange.
Der Tag war wie im Fluge vergangen und die Erinnerungen des Novizen waren seltsam verschwommen. Er wusste noch genau, was er getan hatte, aber die Gründe für sein Verhalten waren ihm völlig schleierhaft.
Nachdem er sich von dem Schock erholt und sich selbst davon überzeugt hatte, nicht gesehen worden zu sein, war er einem inneren Drang folgend zu der Bibliothek, in der sich am heutigen Tag kaum jemand aufhielt, zumindest niemand in seinem Alter.
Derart bequemerweise unwillkommenen Fragen ausweichend hatte es ihn in den Bereich gezogen, in dem die Raggarsche Literatur untergebracht war – Bücher von den und über die Barbaren.
Es war nicht einfach gewesen, Schriftstücke zu finden, die auf Raggaroth verfasst waren, die Barbaren waren nicht gerade passionierte Schreiber. Als noch schwieriger stellte es sich heraus, Schriften aufzutreiben, zu denen es auch die entsprechende Übersetzung gab.
Nach wohl über einer Stunde, die er so suchend verbracht hatte, beschloss Khalid, genug gesammelt zu haben und zog sich mit den gefundenen Büchern in eine stille Ecke der Bibliothek zurück.
Von nun an hörte sein Zeitgefühl, wie auch sein bewusstes Denken, gänzlich auf. Der junge Mann stellte erst im Nachhinein fest, dass er wohl den ganzen Tag damit verbracht hatte, wie besessen die Bücher zu studieren und zu vergleichen, sich die Eigenarten des Raggaroths einprägend.
Pergament konnte Khalid sich nicht leisten, also wiederholte er jedes Wort immer und immer wieder, bis er es sich unauslöschlich eingebrannt hatte. Wort um Wort, Seite um Seite studierte er, bis ihm der Kopf platzen wollte von dem Übermaß an neuen Informationen.
Was die Arbeit nicht gerade erleichterte, war die Tatsache, dass es mehr als ein Dutzend verschiedener Stammesdialekte der Raggarschen Sprache gab und dass diese selbst keinen bindenden Regeln unterworfen zu sein schien.
Dennoch arbeitete er sich verbissen durch die Lektüre und machte keine Pause, nicht einmal, um etwas zu sich zu nehmen.
Als diese Raserei schließlich abebbte, war der junge Novize körperlich und geistig völlig erschöpft. Während er die Bücher an ihren Ursprungsort zurückbrachte, fragte sich Khalid beständig, was ihn denn nur in den vergangenen Stunden geritten haben mochte.
Auch nun, grüblerisch auf seinem Bett liegend, war er der Lösung noch keinen Schritt näher gekommen. Die Tatsache, dass er sein Verhalten nicht verstand, war nicht das einzige Problem, es machte noch dazu keinen erkennbaren Sinn.
Khalid hatte schon Interesse an den Wissenschaften, hatte aber nie das Verlangen gehabt, eine ihm fremde Sprache zu erlernen. Noch dazu würden sie Raggaroth neben anderen Sprachen schon in wenigen Monaten lernen, sobald nach der Feuertaufe die zweite Initiationsphase begann, die Ausbildung zum Mönch.
Dennoch, er hatte keine Möglichkeit gehabt, sich gegen diesen Drang zu wehren und trotz aller Verwirrung erschien es ihm noch immer gut und richtig, was er getan hatte.
Der junge Mann wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als zu schlafen, doch die Angst vor dem Träumen hielt in wach. Der Rhal war noch nicht vorbei und so lange dieser andauerte, konnte er sich nicht sorgenfrei ausruhen.
Außerdem wäre sein Bruder wohl sehr enttäuscht, wenn er nicht bei dem Fest auftauchen würde und das galt es zu vermeiden, denn sonst würde er noch über Wochen hinweg davon zu hören bekommen.
Und möglicherweise war es tatsächlich eine Möglichkeit, das Chaos in seinen Gedanken zu vertreiben.
Wie ein Fisch im Wasser schwamm Khalid mit dem Strom von Menschen, die das Kloster in Richtung Eibenbach verließen. Die Geistlichen des Lauranerklosters waren Strebende nach Wissen und innerer Ausgeglichenheit, aber am Rhal suchten sie wie alle anderen nichts als Vergnügen und frönten allen Lustbarkeiten, auf die sie sonst verzichteten.
Im Vorbeigehen registrierte der junge Novize beiläufig, dass das Pferd des Unbekannten verschwunden war. Offensichtlich war der Mann wieder fort geritten. Das war ihm nur recht, vielleicht würde damit sein seltsamer Anfall vom vergangenen Nachmittag ein Einzelfall bleiben.
Die Sonne neigte sich gerade gen Horizont und nahm eine leicht orangerote Farbe an, als Khalid das Südtor passierte. An der Straße waren rechts und links Fackeln aufgestellt worden, die später in der Nacht entzündet werden und so den weniger nüchternen Mönchen einen sichereren Heimweg garantieren sollten.
Die Menschen aus dem Dorf waren äußert fleißig gewesen über den Nachmittag. Der Marktplatz war frei geräumt und ein großes Zelt aufgebaut worden. An die Häuser am Rand des Platzes waren bunte Girlanden gehängt worden, die nun über den Köpfen der Menge baumelten, die sich fröhlich schwatzend in oder vor dem Zelt befanden, aßen und tranken und sich in Stimmung für die bevorstehende Feier brachten.
Es würde nicht einfach werden, in diesem Gewimmel seinen Bruder zu finden.
Mühsam bahnte sich Khalid einen Weg durch die Menschenmasse und drang so bis zum Festzelt vor. Wenn Ludger hier war, dann war er dort zu finden, wo er schnell an Essen und Bier gelangen konnte.
Seine These sollte sich als richtig herausstellen. Mit einem Krug in der Hand und mit der anderen Marie im Arm haltend, stand Ludger am Rand des Zeltes unweit von der Bühne, auf der wohl später musikalische und andere künstlerische Darbietungen stattfinden würden.
„Da bist du ja endlich!“, warf sein Bruder ihm von weitem zu. „Was hast du die ganze Zeit gemacht?“
„Ich...war beschäftigt“, murmelte der Angesprochene, als er bei dem Paar angekommen war.
„Ich habe dir etwas mitgebracht, wie versprochen“, sagte Marie daraufhin und legte ihm ein Paket in die Hand, in dem sich wohl der frisch gebackene Apfelkuchen befand. Khalid fühlte, dass er noch warm war und rang sich ein lächeln ab.
„Hol dir doch ein Bier, Brüderchen“, schlug Ludger vor, was Khalid mit einem grimmigen Blick quittierte.
„Würde ich ja, aber mein Geld scheint heute morgen auf mysteriöse Weise verschwunden zu sein.“
„Oh…“ machte sein Bruder und zuckte mit den Schultern, woraufhin das Thema erledigt war.
Im nächsten Moment wurde es ruhig im Zelt, als der Abt Feldokar mit seiner Frau Rebecca die Bühne betrat. Die beiden Vorsteher des Lauranerkloster, die auch zeitgleich das Amt der obersten Richter für Eibenbach innehatten, waren besonders feierlich gekleidet.
Feldokar trug eine lange seidene Robe in strahlendem Weiß mit langen Ärmeln und am Saum eingestickten feinen Ornamenten. Sein grauer Bart war ordentlich gestutzt und gekämmt und um den Hals trug er ein Medaillon aus Silber in der Form eines dreizackigen Sterns, des Zeichens der Laurane.
Seine Frau trat in einem wallenden Kleid auf, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Sie bewegte sich viel graziler, als man ihr mit ihren dreiundsechzig Jahren zutrauen wurde und schenkte dem ein oder anderen beeindruckten Zuschauer ein freundliches Lächeln, während sie an der Seite ihres Gatten schritt. Khalid fiel vor allem das lange silbergraue Haar der Äbtissin auf, das kunstvoll und in mit Perlen besticktes Netz eingebunden war.
So angenehm dieser Anblick auch war, Khalid fühlte sich plötzlich ungemein unbehaglich, unterdrückte dieses Gefühl aber, stahl seinem Bruder der Krug aus der Hand und nahm einen Schluck, wofür er mit einem Schlag auf den Hinterkopf und einem bösen Blick belohnt wurde.
Doch bevor Ludger etwas dazu sagen konnte, hob Feldokar schon zu zeiner Rede an:
„Meine lieben Freunde, es ist mir eine wahre Freude, dass ihr so zahlreich erschienen seid, um mit uns diesen Rhal zu ehren und zu feiern!“
Das Bier rumorte in seinem Magen. Ein leichter Druck entstand in seinem Hinterkopf.
„Und es ist großartig, was die Helfer an diesem Nachmittag hier erreicht und aufgebaut haben.“
Applaus. Magenschmerzen. Der Druck wurde zum Hämmern.
„Des Weiteren möchte ich erwähnen, dass wir heute noch einen weiteren Grund zum Feiern haben. Einer unserer besten jungen Mönche, Daved, ist gestern Nacht wohlbehalten von seiner Fahrt zurückgekehrt!“
Noch mehr Applaus. Alles schien zu laut, verzerrt. Die Menschen wurden plötzlich verschwommen.
„Ich denke, er wird uns viel zu erzählen haben!“
Galle im Rachen. Keine Luft. Raus…
„Aber genug der Rede…“
Raus…
„…ich wünsche…“
Raus…
„…euch allen…“
Raus…
„…nun viel Vergnügen!“
RAUS!
Mit weichen Knien wandte Khalid sich um und verlor dabei beinah das Gleichgewicht. Beiläufig registrierte er, dass sein Bruder die Hand nach ihm ausstreckte und irgendetwas sagte, was aber nie in seinem Bewusstsein ankam.
Raus, nur raus!
Wie in Trance taumelte er auf die Zeltwand zu packte den Stoff und zog ihn hinauf, in selben Moment als Ludger ihn bei der Schulter fasste.
Gierig sog Khalid die frische Luft ein, es schien ihm, als hätte er noch nie so etwas Angenehmes geatmet.
Mit einer Kraft, von der er überrascht war, sie zu besitzen, riss sich der junge Mann von seinem Bruder los und stürmte aus dem Zelt, Ludger und Marie hinter ihm her.
Im selben Moment brach plötzlich schrecklicher Lärm hinter ihnen aus und sie sahen, wie das riesige Zelt langsam in sich zusammenbrach.
Nun regierte das Chaos.
Menschen schrieen wild durcheinander, als mehrere hundert Personen gleichzeitig unter dem Tuch hervorkommen wollten. Khalid schenkte dem Spektakel keine Beachtung und zerrte seine beiden Verfolger hinter sich her, unter einen nahe gelegenen Marktstand, wo er ihnen bedeutete, sich hinzulegen und still zu sein.
In diesem Augenblick fiel der Druck von dem Mönch ab, seine Sinne und Gedanken wurden wieder klar und reflexartig übergab er sich in eine Ecke des Standes.
Als Khalid seinen Magen wieder unter Kontrolle hatte, sah er, dass Ludger dazu ansetzte, irgendetwas zu sagen, aber der Novize verhinderte dies umgehend, indem er diesem die Hand auf den Mund legte und auf die entgegen gesetzte Seite des Platzes wies.
Mehrere Reiter, etwa ein Dutzend waren aus dem Schatten der Häuser aufgetaucht und traten in die Abendsonne. Khalid erkannte sie sofort. Die enorme Statur, in Felle gehüllt, die großen Pferde, das waren Barbaren aus Raggar. Von ihren Gesichtern war nichts zu sehen, sie trugen Masken in der Gestalt von Tierköpfen, Wölfen, Bären und anderen.
Da offensichtlich sie es gewesen waren, die die Halteseile des Zeltes durchtrennt und es so zum Einsturz gebracht hatten, vermutete der Novize, dass sich auf ihrer Seite des Platzes noch einmal ebenso viele Barbaren befinden mussten.
Die Menge auf dem Platz, die schon in Panik war, stob nun wild auseinander, als die Reiter sich in Richtung Kloster wandten und lospreschten. Doch obwohl die Krieger keine Rücksicht auf die Menschenmenge nahmen, sie griffen niemanden an oder legten Feuer oder ähnliches. Sie schienen ein bestimmtes Ziel zu verfolgen und das befand sich allem Anschein nach im Kloster.
Es waren etwa zwanzig Reiter, die sich schließlich vor dem Dorf zu einem Trupp zusammenfanden und die Straße hinaufstürmten. Doch bevor sie das Tor erreichten, hielten sie plötzlich seltsamerweise an, einige Pferde scheuten sogar.
Dann bemerkte Khalid es auch. Ein Rumoren ging durch die Erde, das in Bruchteilen von Sekunden stärker wurde und sie einem Beben anhob.
Entsetzt beobachtete er, wie auf dem Boden unter den Barbaren ein Riss in der Erde, einer Wunde gleich, aufklaffte und rasend schnell größer wurde.
Nun waren es die Reiter und vor allem ihre Pferde, die in Panik gerieten und die Flucht antraten.
Doch sie waren nicht schnell genug.
Ein Krieger nach dem anderen wurde mitsamt seinem Reittier in den Schlund gezogen, andere wurden von ihren Pferden abgeworfen.
Sie hatten keine Chance.
Nach Sekunden war kein Mitglied des Trupps mehr zu sehen. Sie alle waren in den Riss gestürzt, der nun wie das Maul eines gewaltigen Ungeheuers schien und nicht zu wachsen aufhören wollte.
Es war noch nicht vorbei. Nur wenige Augenblicke später erreichte die Grube die ersten Häuser des Dorfes, riss Gebäude und hilflos kreischende Menschen mit sich in die Tiefe.
Dann endlich schien der Hunger des Ungeheuers gestillt worden zu sein.
Langsam, viel langsamer als er entstanden war, schloss sich der Riss wieder und begrub so die Leichen derer, die er in den Tod gezogen hatte.
Khalid hörte das Kreischen der Menge nicht mehr, für ihn herrschte Stille, Todesstille.
Die Erde hatte ihre Wunde wieder geschlossen und machte den Anschein, als wäre nie etwas passiert.
Nur die Sonne weinte blutiges Licht und zeigte so das Dorf als das Schlachtfeld, das es nun war.
Khalid spürte, dass das noch nicht das Ende sein würde.
So, dagsche erstmal!
Ich bezweifel, dass sich irgendwer noch an mich erinnert, aber vor drei Jahren, hab ich hier meine Sha-Ira-Trilogie geschrieben und da ich jetzt endlich nach langer Pause wieder angefangen habe, zu schreiben, hab ich natürlich keine andere Wahl, als euch jetzt wieder mit meinem Geschribbsel zu belästigen
So genug der Vorrede, bitte schön! (übrigens, Kritik ausdrücklich erlaubt, versteht sich von selbst!)
Herzblut
Zum Kalender:
Entsprechend zu den 7 Heiligen besteht eine Woche (bzw. ein Heiligenlauf oder kurz Lauf) aus sieben Tagen, die jeweils einem Heiligen gewidmet sind.
Die Aspekte und die Anordnung im Heiligenlauf:
Mhril - Trauer/Buße
Sophia - Leben/Freiheit
Laurane - Wissen/Heilung
Oris - (ehrliche) Arbeit/Aufopferung
Minerva - Liebe/Treue
Darrel - (ehrlicher) Handel/Großzügigkeit
Rahl - Feiern/Kunst
Es gibt daher auch sieben verschiedene Zeitenrechnung. Die Gebräuchlichste und am weitesten Verbreitete ist diejenige nach Darrel. Da die Geschichte aber in einem Kloster der Laurane spielt, rechnen wir mit derjenigen Lauranes. Gerechnet wird immer vom Geburtsjahr an. Und von der Lauranerechnung auf die gebräuchliche Darrelrechnung zu kommen, müssen 314 Jahre abgezogen werden.
Jedes Jahr beginnt am Tag der Sommersonnenwende, also etwa am 21.6.
Da nach Ablauf von 52 Läufen meist einige Tage bis zur Sommersonnenwende übrig sind, werden diese "Sonnentage" speziell gefeiert. Astronomen verkünden, wie viele Tage bis zur Sonnenwendfeier, dem großen Abschluss der Sonnentage, verbleiben.
Ein Datum besteht aus dem Lauf und dem jeweiligen Tag, also beginnt ein neues Jahr mit 1 Mhril.
Die Geschichte beginnt am 2 Rahl 1084 Laurane, das entspricht etwa dem 4. Juli
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Kapitel 13
Kapitel 14
1
2 Rahl 1084 Laurane morgens
Sie kamen immer wieder.
Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie mit so fehlerloser Regelmäßigkeit auftraten, hatten sie in den vergangenen acht Jahren nichts von ihrem Schrecken verloren.
An jedem Rahl, oder genauer gesagt in der Nacht vom Darrel zum Rahl, kamen die Träume zu Khalid. Und jedes Mal, wenn sich der graue, friedliche Schleier von seinem inneren Auge hob, geriet er in Panik.
Verbissen hatte er sich in der Meditation geübt, der einzigen Art, seinen widerspenstigen, sich selbst peinigenden Geist zu bändigen. Und dennoch kamen sie immer wieder.
Es war nicht immer der gleiche Traum, das wäre nicht so schlimm gewesen, darauf wäre er vorbereitet. Doch die facettenreichen Schrecken seiner Erinnerung lieferten ihm immer neue Bilder, Bilder die er verzweifelt versuchte zu verdrängen.
Khalid war sich durchaus bewusst, dass er träumte und er wehrte sich verzweifelt gegen die Bilder, die sein Geist ihm sandte. Aber wie immer verlor er diesen Kampf.
Und während er im Traum wieder zum jungen Khalid wurde und das Trauma seiner Kindheit wieder und wieder erlebte, wälzte sich ein junger Mann im Novizentrakt des Lauranerklosters Eibenbach in seinem Bett hin und her, warf die leichte Sommerdecke durch die kleine Kammer und traf damit einen anderen Jungen, der bislang einen wesentlich ruhigeren Schlaf genossen hatte.
Seufzend zog sich Ludger die Decke vom Kopf und setzte sich auf. Sein Blick streifte das kleine Fenster. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und am Rahl durfte eigentlich jeder, der keine allzu wichtigen Aufgaben zu erfüllen hatte, schlafen so lange er wollte. Aber er kannte dies nun schon seit Jahren, sobald Khalid einmal zu träumen angefangen hatte, war es mit der Ruhe vorbei.
Verärgert und besorgt zugleich betrachtete Ludger seinen Zwillingsbruder, wie er schwitzend und nackt auf seinem Bett lag. Feine Tröpfchen hingen an seinen kurzen, nachtschwarzen Haaren oder liefen an seinem schlanken Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen herunter. Die tiefbraunen Augen, mit denen Khalid so manches Frauenherz schmelzen ließ – auch wenn ihn das nie sonderlich zu interessieren schien – waren fest zugekniffen und man konnte förmlich sehen, wie die Augäpfel darunter hin und her zuckten. Die Hände krallten sich tief in das Laken, während sein ganzer Körper vor Anspannung zitterte.
Ludger beeilte sich an das Bett seines Bruders zu treten und diesen wachzurütteln.
Schlagartig, als wäre es nur ein seidener Faden gewesen, der ihn in der Welt seiner Träume gefangen hielt, riss Khalid die Augen auf. Für einen Moment war der sechzehnjährige Novize orientierungslos, wähnte sich noch immer als kleiner Junge, gefesselt und sich auf die Lippen beißend, um nicht schreien zu müssen, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Aber dann sah er in das Gesicht seines Bruders, der sanft auf ihn herablächelte.
„Danke“, flüsterte der Junge und setzte sich frierend im Bett auf. Es war zwar bald Sommer, aber noch war es morgens sehr kalt in den Zimmern des Klosters und irgendwie schien ihm im Schlaf seine Decke abhanden gekommen zu sein.
Ludger nickte nur und setzte sich auf die Bettkante.
„War es schlimm?“
Khalid schlug die Augen nieder.
„Nicht schlimmer als sonst.“
Ludger setzte ein aufmunterndes Lächeln auf und fasste seinen Bruder bei der Schulter.
„Nun komm, wenn wir schon so früh auf den Beinen sind, sollten wir es zumindest auch nutzen und die ersten beim Frühstück sein. Es ist Rahltag, der schönste Tag der Woche, also genießen wir ihn!“
Während Ludger sich erhob und seine weiße Rahls-Tunika über den muskulösen Körper zog, lehnte Khlaid sich gegen die kalte Steinwand hinter seiner Pritsche und schlang die Arme um die Knie.
„Ich weiß nicht, lass mich doch den Rahl auf meine Art feiern, indem ich einfach im Bett bleibe. Das würde ihm mit Sicherheit auch gefallen.“
So wie jeder Tag der Woche, war auch der Rahltag einem der sieben großen Heiligen gewidmet, eben dem heiligen Rahl. Dieser hatte Zeit seines Lebens alle Annehmlichkeiten genossen, die dieses zu bieten hatte. Er war ein Liebhaber aller schönen Künste gewesen, sowie ein großer Gourmet und Freund von Festen, Wein und nicht zuletzt dem Liebesspiel. Aber war auch ein großer Verfechter des Lebens, hatte mit der Kraft seiner legendären Lieder unzählige Körper und Seelen geheilt und insgesamt nicht weniger als zweiundvierzig Kinder gezeugt.
Und so wurde dieser Heilige an jedem Rahl gefeiert. Nur wer es nicht vermeiden konnte, arbeitete an diesem Tag, man genoss sein Leben und widmete sich den Dingen, die einem am meisten am Herzen lagen. Außerdem war es Tradition, an diesem Tag die Kranken und Unglücklichen zu besuchen und ihnen kleine Geschenke zu machen, um ihr Leiden zu verringern. Und schlussendlich fand an jedem Rahltag irgendwo irgendein Fest statt, zu dem er nicht selten von seinem Bruder geschleift wurde.
Der Rahl war der beliebteste Tag der Woche und in vielen Städten der einzige, der noch nach alter Tradition gefeiert wurde.
Und für ihn und seinen Bruder war es früher immer wieder der schrecklichste Tag der Woche gewesen.
Doch davon schien Ludger heute nichts mehr zu wissen, so wie er auch keine Träume hatte. Obwohl sie beide dasselbe erlebt hatten, war sein Bruder irgendwie dazu in der Lage, die Erinnerung zu verdrängen. Khalid wünschte sich sehnsüchtig, das auch zu können.
„Unsinn!“, entgegnete Ludger nun, „Wir gehen jetzt zum Frühstück und danach gehen wir in die Stadt. Da werden wir dich schon ablenken können.“
Resigniert seufzte der Angesprochene, während sein Bruder aus der kleinen Holztruhe, die beider Habseligkeiten enthielt, ein einfaches Zopfband nahm und damit die langen dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz band. Ludger hatte die Haare und die helle Haut, sowie die feinen Gesichtszüge und die eisblauen Augen ihrer maza´alschen Mutter geerbt, hatte aber mittlerweile den kräftigen Körperbau ihres Vaters, während er, Khalid, das schwarze Haar und die dunkle Haut ihres südländischen Vaters hatte, dabei aber eher schmächtig und fast einen ganzen Kopf kleiner als sein Bruder war.
Dieser strich sich nun eine Strähne aus dem Gesicht, blickte zu ihm hinüber und fragte:
„Kann ich mich so sehen lassen?“
Gespielt skeptisch sah Khalid sich seinen Bruder von oben bis unten an. Er hatte nie verstanden, warum Ludger die Haare so lang trug. Er sagte zwar, er wolle die Zeit ihres Noviziats noch nutzen, denn als Akoluthen würden sie die Tonsur erhalten, die Haare kurz geschoren mit einem kahlen Kreis in der Mitte, aber für Khalid war es ganz und gar unverständlich, wie man bei klarem Verstand bleiben konnte, wenn man ständig damit beschäftigt war, sich die Haare aus dem Gesicht zu wischen.
Nun, bei seinem Bruder konnte man auch nicht wirklich von klarem Verstand reden.
Khalid grinste.
„Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir einen Eimer mitnehmen, nur für den Fall dass sich eine der Damen in der Stadt übergeben muss.“
Ludger lachte abfällig und warf ihm seine Tunika zu.
„Sei lieber froh dass Brudermord unter Strafe steht!“ entgegnete er, „Und jetzt bedecke dich bitte, ich möchte gleich gerne noch feste Nahrung zu mir nehmen können.“
Energisch wandte er sich um und machte sich daran, die kleine Kammer zu verlassen.
„Und um Himmels willen, wasch dich!“ rief er im Hinausgehen, „Du stinkst schlimmer als ein nasser Hund!“
*
Um die anderen Novizen nicht zu wecken, schlich Khalid so leise er konnte durch den in das orange-rote Licht der aufgehenden Sonne getauchten Gang, auf die steinerne Wendeltreppe an dessen Ende zu. Die Kammer, die er sich mit seinem Bruder teilte, lag in der zweiten Etage des vierstöckigen Gebäudes, in dem die gut fünfzig männlichen Novizen des Lauranerklosters lebten.
Wie so oft streifte Khalid im Vorbeigehen ehrfürchtig über die alten Wände. Das gesamte Kloster war so wie es heute stand bereits vor über neunhundert Jahren erbaut worden.
Die heilige Laurane hatte es damals bauen lassen. Zu diesem Zeitpunkt hieß sie noch Laurane von Eibenbach und war Gräfin dieser Ländereien gewesen. Den Geschichtsbüchern zufolge hatte sie sich, nachdem ihr Mann in jungen Jahren am Wundfieber gestorben war, auf Pilgerfahrt begeben, mit dem festen Vorsatz, die Heilkunst zu erlernen, um anderen Menschen dieses Schicksal ersparen zu können.
Sie unternahm drei Fahrten, lernte zuerst in den rauen Ländern des Nordens die Kunst der Meditation, dann in den Universitätsstädten an der Westküste den Wert des Wissens und schließlich in der Wüste im Südosten die Macht der Heilung.
Nach ihrer Rückkehr legte sie ihr Amt als Gräfin nieder, baute auf den Länderein ihrer Villa das Kloster und gründete den Lauranerorden, zu dessen erster Äbtissin sie sich ernannte.
Dann rief sie Medici, Gelehrte und Schamanen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, auf dass sie ihr Wissen zusammentrügen. In den achtunddreißig Jahren ihres Vorsitzes sammelte sie eine stattliche Anzahl von Büchern und Schriftrollen aus allen Gebieten der Wissenschaften zusammen. Nach ihrem Tod war das Kloster von Eibenbach ein Zentrum des Wissens und ein Wallfahrtsort für alle, die nach Heilung oder Erleuchtung suchten.
Der Lauranerorden wuchs und Mönche und Nonnen der Laurane waren in jedem Dorf und jeder Stadt zu finden. Jedes Mitglied des Ordens machte in seinem Leben drei Pilgerfahrten, doch damals lebten nur die Wenigsten dauerhaft im Kloster selbst. Der Großteil zog über das Land oder lebte in Städten als Heiler oder Lehrer.
Doch seitdem war viel Zeit vergangen. Der Lauranerorden war noch immer einer der größten Orden der Westlande, aber die Verehrung der Heiligen nahm mehr und mehr ab und somit fanden sich auch immer weniger neue Novizen.
Khalid hatte die Geschichte, vor allem die der sieben Heiligen, intensiv studiert, nicht etwa, weil er sonderlich begierig nach Wissen wäre, sondern viel mehr da er bemerkt hatte, dass die Geschichte anderer Menschen ihn von seiner eigenen ein wenig ablenken konnte.
Vorsichtig öffnete der junge Novize die Vordertür und trat in den neuen Morgen hinaus.
Tief sog Khalid die Luft ein, sie schmeckte nach Sommer, und betrachtete die erwachende Welt um ihn herum.
Nur wenige Mönche und Nonnen waren bereits auf den Beinen und schlenderten über die kleinen angelegten Wege oder saßen den Sommermorgen genießend vor ihren Wohnhäusern.
Traditionsgemäß nahm jedes Ordensmitglied sich nach seiner zweiten Feuertaufe eines der freistehenden Häuser innerhalb oder außerhalb der Klostermauern. Da dem Orden kein Keuschheitsgelübde unterlag, war für viele ihre anschließende Pilgerfahrt auch die Suche nach dem geeigneten Ehepartner.
Da Ludger nirgends zu sehen war, machte sich Khalid auf den Weg zum Speisesaal, der nicht weit entfernt war von dem in der südöstlichen Ecke des Klosters liegenden Novizentrakt.
Dabei passierte er rechts von sich den dreizackigen Stern, das große Zentralgebäude, das, in der Mitte des Klosters liegend, die drei Pilgerfahrten Lauranes symbolisierte. Der nach Norden weisende Teil beherbergte die Kapelle und die Meditationsräume, im Südwestflügel lag die Bibliothek und das Scriptorium und im südöstlichen Gebäude schließlich befanden sich das Hospital und die Labore der Alchemisten.
Khalid ließ sich Zeit, ließ die Schatten der vergangenen Nacht durch die klare Luft und den Gesang der Vögel vertreiben.
Als er schließlich die große Messehalle erreichte, hatte er die dunklen Erinnerungen wieder in die hintersten Ecken seiner Gedanken gedrängt. Durch das offene Tor tretend öffnete sich vor ihm der gewaltige Speisesaal, in dem alle Mitglieder des Ordens, deren Angehörige und noch weit mehr Personen Platz hatten.
Im Moment saßen aber nur einige wenige Personen einzeln oder in kleinen Gruppen an den vielen und an einem von ihnen entdeckte Khalid seinen Bruder, der sich bereits mit einer enormen Menge an Brot, Käse, Braten und Eiern eingedeckt hatte.
„Hast du vor eine Armee zu versorgen?“
Ludger blickte überrascht auf, er hatte sein Kommen bislang noch gar nicht bemerkt.
„Ich will nur sicher gehen, dass wir noch genug abbekommen“, erwiderte er grinsend.
Khalid nahm neben ihm auf der langen Bank platz und griff nach dem Brot.
„Du wirst nicht glauben, wer letzte Nacht von seiner Pilgerfahrt zurückgekehrt ist!“ fuhr er fort, wartete aber gar nicht erst eine Antwort ab, „Daved ist wieder da! Ich wette, er hat eine Menge zu erzählen. Heute Abend wird ein Fest in Eibenbach gefeiert und er wird auch da sein. Ich bin gespannt, was er aus Rah´aleb zu berichten hat.“
Kopfschüttelnd betrachtete Khalid seinen Bruder, wie er strahlend eine knappe Wochenration Fleisch auf seinem Brot stapelte. Daved war einer der besten Schüler in allen Bereichen des Studiums gewesen und hatte vor kurzem seine Feuertaufe gehabt, woraufhin er zu seiner dritten und letzten Pilgerreise in die Wüstenstadt Rah´aleb aufgebrochen war. Viele vermuteten in Daved bereits den nächsten Abt und für Ludger war er ein großes Vorbild.
Dementsprechend konnte Khalid ihn nicht sonderlich leiden.
„Sehe ich das richtig, dass ich keine Chance habe, dich zu überzeugen, mich nicht zu zwingen, mitzukommen?“
Ludger biss ein großes Stück von seinem Brot ab und grinste ihn an.
„Keine Chance, kleiner Bruder“, antwortete er mit vollem Mund.
Mit einem ergebenen Seufzer fing Khalid an, sich sein Brot zu belegen und bereitete sich darauf vor, erneut all die großen Taten Daveds zu hören.
Er hatte im Gefühl, dass es ein langer Tag werden würde.
*
Sie verließen den Gebäudekomplex durch das große in der Südmauer liegende Tor, das die Wohntrakte der männlichen und weiblichen Novizen voneinander trennte.
Das Kloster lag auf einer Anhöhe direkt über dem Dorf Eibenbach, einem Ort von etwa fünfhundert Seelen, der am gleichnamigen Bach lag und seit Jahrhunderten von der Zusammenarbeit mit dem Lauranerkloster lebte.
Die beiden Brüder folgten dem gepflasterten Weg bergab, während Ludger munter erzählte und plauderte und sich dabei nicht daran störte, dass Khalid ihm nur mit einem halben Ohr zuhörte.
So vertieft war der Junge in seine Ausführungen über sein großes Vorbild, dass er gar nicht den Reiter bemerkte, der aus der anderen Richtung in gestreckten Galopp auf sie zu preschte. Vermutlich wäre er über den Haufen geritten worden, hätte Khalid ihn nicht rechtzeitig zur Seite gezogen.
Überrascht brach Ludger in seinen Ausführungen ab und gemeinsam betrachteten sie den Unbekannten, als dieser an ihnen vorbeistürmte. Vom Reiter selbst war nicht viel zu erkennen, außer, dass er von ziemlich großer Statur war. Doch der ganze Körper war in einen weiten Reiseumhang gehüllt und in der kurzen Zeit konnten sie auch nicht das Gesicht der Person sehen. Das Pferd allerdings gab ihnen mehr Hinweise über den unbekannten Reiter. Khalid erkannte an dem kräftigen Körperbau, dem dichten beschen Fell und der langen Mähne, dass es sich um eines der Hochlandpferde aus den Ländern des Nordens handeln musste.
„Wer war das?“, murmelte Ludger.
„Ich weiß nicht, aber er scheint aus dem Norden zu kommen.“
„Vielleicht ein Barbar?“
Khalid zuckte nur mit den Schultern. Die Barbaren lebten schon seit ewigen Zeiten in den rauen Ländern des Nordens. Sie bekämpften sich oft untereinander, hielten sich aber sonst vom Rest der Welt fern, solange man sich von ihnen fern hielt. Er konnte sich nicht erklären, was ein Barbar in ihrem Kloster suchen könnte.
„Nun“, fuhr Ludger fort, „wenn es etwas Wichtiges sein sollte, werden wir es wohl noch erfahren.“ Und damit setzte er seinen Weg fort. Zögernd und dem Reiter hinterher blickend, der in den Mauern des Klosters verschwunden war, folgte Khalid ihm. Er hätte zu gern herausgefunden, was es mit diesem Unbekannten auf sich hatte.
In Eibenbach hatten bereits die ersten Händler ihre Läden und Stände geöffnet. Auch wenn es Tradition war, am Rahl nicht zu arbeiten, so hatten doch in der letzten Zeit die meisten Geschäftsmänner erkannt, dass die Menschen an diesem Tag in weitaus freigebigerer Laune waren als sonst und verzichteten auf ihren Feiertag zu Gunsten der großen Gewinne, die sie am Rahl machen konnten.
Ludger schien den Unbekannten schon vergessen zu haben und schlenderte von Stand zu Stand, neugierig den Schmuck und Tand betrachtend. Dabei grüßte er so ziemlich alle Dorfbewohner, die ihm über den Weg liefen und hielt mit diesen und jenen ein kurzes Schwätzchen, bevor er wieder halb zu Khalid, halb zu sich selbst vor sich hin erzählte. Sein Bruder nickte zwischendurch an den passenden Stellen gelangweilt und war ansonsten mit den Gedanken weit entfernt.
Es drängte ihn, zum Kloster zurückzukehren und herauszufinden, was es mit dem mysteriösen Reiter auf sich hatte. Dabei überraschte ihn seine Neugier selbst. Es kam zwar nicht mehr oft vor, dass Fremde das Kloster besuchen, aber es kam vor und Khalid hatte sich sonst nie übermäßig für die Besucher interessiert.
So tief war der junge Novize in seine Gedanken versunken, dass er fast aufgeschrieen hätte, als Ludger ihn plötzlich fest am Arm packte.
„Autsch! Willst du mir den Arm brechen?“
„Quengel nicht so rum, kleiner Bruder!“, gab Ludger flüsternd zurück, „Sieh doch!“
Er wies durch die Menge auf ein kleines fünfzehnjähriges Mädchen, das Khalid schon gut kannte. Innerlich stöhnte der junge Mann genervt auf. Dort hinten am Obststand war Marie, die älteste Tochter des Bauern Aleb und seiner Frau.
Ludgers Verhältnis zu Marie war seltsam. Dem Auge eines Unbekannten mochten die Beiden einem gewöhnlichen verliebten Paar gleichen, doch Khalid wusste es besser. Sie kannten das Mädchen schon seit ihrer Ankunft in diesem Kloster, doch sie war lange Zeit nicht mehr als eine flüchtige Bekannte für sie Beide gewesen. Denn seit jeher vertrauten sich Khalid und Ludger nur gegenseitig und hielten den Kontakt mit anderen Menschen so gering wie möglich. Nur durch ihre Beharrlichkeit war es Marie gelungen, zu Ludger durchzudringen und die Liebe in ihm zu wecken. Khalid war ihr sehr dankbar dafür, denn auch er konnte die Maske der Fröhlichkeit, die sein Bruder stetig trug, nicht immer durchschauen. Es war gut, dass er jemanden hatte, bei der er diese Maske ablegen konnte.
Allerdings zerrt Ludgers Verhalten in Maries Gegenwart auch ziemlich an seinen Nerven.
„Schnell Khalid, hast du ein paar Suons für mich?“
Seufzend kramte dieser ein paar Münzen aus seiner Tasche. Als Novizen hatten sie eigentlich kein Geld zur Verfügung, da sie im Kloster auch keins brauchten, aber er und sein Bruder halfen in ihrer Freizeit manchmal den Bauern auf den umliegenden Höfen und verdienten sich so eine Kleinigkeit. Unglücklicherweise blieb Khalid selten etwas von seinem Geld, weil sein Bruder ihn ständig anflehte, ihm etwas zu leihen, immer mit dem festen Vorsatz, es ihm so bald wie möglich zurückzuzahlen.
„Danke Bruderherz“, flüsterte Ludger nun, als Khalid ihm sieben Suons in die Hand drückte, „Du bist wirklich der Beste! Ich werde es dir so bald wie möglich zurückgeben.“
Gehetzt blickte er sich nun um, auf der Suche nach einem passenden Geschenk für seine Angebetete und fand schließlich einen Stand, an dem geschnitzte Holzfiguren angeboten wurden.
Nach kurzer Zeit entschied er sich für einen kleinen Schwan, kaufte ihn und kam strahlend zu seinem Bruder zurück.
„Der wird ihr doch mit Sicherheit gefallen, oder?“
Khalid besah sich das kleine Stück. Es war wirklich fein geschnitzt und gute Arbeit, aber schlussendlich doch nichts anderes als ein einfacher Holzschwan.
„Mit Sicherheit“, gab er zurück, „sofern sie auf unnützen Kram steht.“
„Du hast einfach nicht die geringste Ahnung von Frauen, Khalid!“
Damit zerrte er ihn am Arm hinüber zu Marie, die sich gerade einige Äpfel ausgesucht hatte. Khalid mochte die junge Frau. Unter dem langen blonden Haar steckte der wache Verstand eines aufgeweckten Mädchens, nur hatte sie leider einen grauenhaften Geschmack, was Männer betraf.
„Guten Morgen schöne Frau!“ säuselte Ludger nun, was leichte Übelkeit in seinem Bruder hervorrief. Die Angesprochene wandte sich um und lächelte sie ehrlich erfreut an.
„Guten Morgen ihr Beiden! Was macht ihr denn so früh hier?“
„Ach, wir genießen nur den schönen Morgen. Und was machst du?“
Innerlich rollte Khalid mit den Augen aufgrund dieser hoch niveauvollen Konversation.
„Ich habe nur ein paar Äpfel gekauft, meine Mutter und ich möchten für heut Nachmittag einen Kuchen backen. Hm, wieso kommt ihr denn nicht einfach mit? Der Kuchen dürfte auch noch für euch reichen und ihr könntet uns ein bisschen helfen!“
„Natürlich, ich komme gern mit!“ strahlte Ludger, während Khalid es genoss, Luft für seinen Bruder zu sein.
„Tut mir leid Marie“, warf er ein, „aber ich muss ablehnen. Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen heut Nachmittag. Wir sehen uns ja heut Abend auf dem Fest.“
Das Mädchen sah enttäuscht aus, während Ludger eher erleichtert schien. Auch Khalid war erleichtert über die Gelegenheit, seinen Bruder vorerst loszuwerden. Er würde Marie dafür irgendwie danken müssen.
„Schade!“, antwortete sie nun, „Dann also bis heut Abend. Wir heben dir ein Stück von dem Kuchen auf.“
„Ja, bis später kleiner Bruder,“ warf Ludger ein, ohne ihn anzublicken, schlang den Arm um Maries Hüfte und schlenderte mit ihr davon.
Khalid winkte ihnen hinterher. Endlich einmal war es nützlich, dass Ludger in Maries Anwesenheit ständig in anderen Sphären schwebte. So hatte er zumindest nicht nachgefragt, was das für Dinge waren, die er unbedingt erledigen musste.
Nachdem die beiden außer Sicht waren, stürmte der junge Mann, noch immer verwirrt über seine eigene Neugier, zum Kloster zurück.
Dort angekommen sah Khalid zuerst das Hochlandpferd, das in den Stallungen untergebracht war. So weit, so gut, aber wo würde er den Fremden finden können?
Und warum um alles in der Welt interessierte ihn das so? Er lebte seit Jahren gut damit, dass ihm so ziemlich alles gleichgültig war.
Gedankenverloren schlenderte Khalid eine Weile durch das Kloster und ließ seine Füße den Weg von alleine finden.
Entsprechend überrascht war er, als er sich plötzlich an der gegenüberliegenden Mauer des Klosters am Haus des Abtes wieder fand. Die herrschaftliche Villa, die einst von Laurane selbst bewohnt worden war, war nun das Zuhause des Abtes und seiner Frau. Außerdem befanden sich in dem Gebäude einige Ratssäle, Gemeinschaftsräume und vieles mehr.
Der Novize befand sich auf der Rückseite des Gebäudes in dem kleinen Gang zwischen der Villa und der Nordmauer des Klosters. Doch bevor er sich fragen konnte, warum er hier war, hörte er aus einem Fenster in der ersten Etage laute Stimmen herunterschallen.
Zuerst wunderte sich Khalid, dass er kein Wort verstand, bis er das Gesprochene als Raggaroth identifizierte, die Sprache der Barbaren, die er zwar erkennen, aber nicht verstehen konnte.
Was aber unmissverständlich war, war der Tonfall, in dem gesprochen wurde. Drei Personen, von denen er in zweien den Abt Feldokar und den frischgebackenen Mönch Daved erkannte und in der dritten den Fremden vermutete, schienen aufs heftigste über ein Thema zu streiten.
Worum auch immer es ging, was sich da oben gegenseitig an den Kopf geworfen wurde, war nicht gerade freundlich.
Doch Khalid sollte dem Gespräch nicht weiter folgen können, denn im nächsten Augenblick verstummten die Stimmen und er sah eine Gestalt auf das Fenster zukommen.
Mit dem Gefühl, ertappt worden zu sein, stürmte der junge Mann davon in Richtung des Novizenhauses.
Dieser Tag wurde immer verwirrender.
*
Schon seit gut einer Stunde lag Khalid auf der Pritsche in seiner Kammer und starrte unverwandt die Decke an, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen.
Langsam aber sicher kam immer mehr Lärm aus dem Dorf herausgeschallt. Es musste auf den Abend zu gehen, die Vorbereitungen für das Fest waren in vollem Gange.
Der Tag war wie im Fluge vergangen und die Erinnerungen des Novizen waren seltsam verschwommen. Er wusste noch genau, was er getan hatte, aber die Gründe für sein Verhalten waren ihm völlig schleierhaft.
Nachdem er sich von dem Schock erholt und sich selbst davon überzeugt hatte, nicht gesehen worden zu sein, war er einem inneren Drang folgend zu der Bibliothek, in der sich am heutigen Tag kaum jemand aufhielt, zumindest niemand in seinem Alter.
Derart bequemerweise unwillkommenen Fragen ausweichend hatte es ihn in den Bereich gezogen, in dem die Raggarsche Literatur untergebracht war – Bücher von den und über die Barbaren.
Es war nicht einfach gewesen, Schriftstücke zu finden, die auf Raggaroth verfasst waren, die Barbaren waren nicht gerade passionierte Schreiber. Als noch schwieriger stellte es sich heraus, Schriften aufzutreiben, zu denen es auch die entsprechende Übersetzung gab.
Nach wohl über einer Stunde, die er so suchend verbracht hatte, beschloss Khalid, genug gesammelt zu haben und zog sich mit den gefundenen Büchern in eine stille Ecke der Bibliothek zurück.
Von nun an hörte sein Zeitgefühl, wie auch sein bewusstes Denken, gänzlich auf. Der junge Mann stellte erst im Nachhinein fest, dass er wohl den ganzen Tag damit verbracht hatte, wie besessen die Bücher zu studieren und zu vergleichen, sich die Eigenarten des Raggaroths einprägend.
Pergament konnte Khalid sich nicht leisten, also wiederholte er jedes Wort immer und immer wieder, bis er es sich unauslöschlich eingebrannt hatte. Wort um Wort, Seite um Seite studierte er, bis ihm der Kopf platzen wollte von dem Übermaß an neuen Informationen.
Was die Arbeit nicht gerade erleichterte, war die Tatsache, dass es mehr als ein Dutzend verschiedener Stammesdialekte der Raggarschen Sprache gab und dass diese selbst keinen bindenden Regeln unterworfen zu sein schien.
Dennoch arbeitete er sich verbissen durch die Lektüre und machte keine Pause, nicht einmal, um etwas zu sich zu nehmen.
Als diese Raserei schließlich abebbte, war der junge Novize körperlich und geistig völlig erschöpft. Während er die Bücher an ihren Ursprungsort zurückbrachte, fragte sich Khalid beständig, was ihn denn nur in den vergangenen Stunden geritten haben mochte.
Auch nun, grüblerisch auf seinem Bett liegend, war er der Lösung noch keinen Schritt näher gekommen. Die Tatsache, dass er sein Verhalten nicht verstand, war nicht das einzige Problem, es machte noch dazu keinen erkennbaren Sinn.
Khalid hatte schon Interesse an den Wissenschaften, hatte aber nie das Verlangen gehabt, eine ihm fremde Sprache zu erlernen. Noch dazu würden sie Raggaroth neben anderen Sprachen schon in wenigen Monaten lernen, sobald nach der Feuertaufe die zweite Initiationsphase begann, die Ausbildung zum Mönch.
Dennoch, er hatte keine Möglichkeit gehabt, sich gegen diesen Drang zu wehren und trotz aller Verwirrung erschien es ihm noch immer gut und richtig, was er getan hatte.
Der junge Mann wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als zu schlafen, doch die Angst vor dem Träumen hielt in wach. Der Rhal war noch nicht vorbei und so lange dieser andauerte, konnte er sich nicht sorgenfrei ausruhen.
Außerdem wäre sein Bruder wohl sehr enttäuscht, wenn er nicht bei dem Fest auftauchen würde und das galt es zu vermeiden, denn sonst würde er noch über Wochen hinweg davon zu hören bekommen.
Und möglicherweise war es tatsächlich eine Möglichkeit, das Chaos in seinen Gedanken zu vertreiben.
Wie ein Fisch im Wasser schwamm Khalid mit dem Strom von Menschen, die das Kloster in Richtung Eibenbach verließen. Die Geistlichen des Lauranerklosters waren Strebende nach Wissen und innerer Ausgeglichenheit, aber am Rhal suchten sie wie alle anderen nichts als Vergnügen und frönten allen Lustbarkeiten, auf die sie sonst verzichteten.
Im Vorbeigehen registrierte der junge Novize beiläufig, dass das Pferd des Unbekannten verschwunden war. Offensichtlich war der Mann wieder fort geritten. Das war ihm nur recht, vielleicht würde damit sein seltsamer Anfall vom vergangenen Nachmittag ein Einzelfall bleiben.
Die Sonne neigte sich gerade gen Horizont und nahm eine leicht orangerote Farbe an, als Khalid das Südtor passierte. An der Straße waren rechts und links Fackeln aufgestellt worden, die später in der Nacht entzündet werden und so den weniger nüchternen Mönchen einen sichereren Heimweg garantieren sollten.
Die Menschen aus dem Dorf waren äußert fleißig gewesen über den Nachmittag. Der Marktplatz war frei geräumt und ein großes Zelt aufgebaut worden. An die Häuser am Rand des Platzes waren bunte Girlanden gehängt worden, die nun über den Köpfen der Menge baumelten, die sich fröhlich schwatzend in oder vor dem Zelt befanden, aßen und tranken und sich in Stimmung für die bevorstehende Feier brachten.
Es würde nicht einfach werden, in diesem Gewimmel seinen Bruder zu finden.
Mühsam bahnte sich Khalid einen Weg durch die Menschenmasse und drang so bis zum Festzelt vor. Wenn Ludger hier war, dann war er dort zu finden, wo er schnell an Essen und Bier gelangen konnte.
Seine These sollte sich als richtig herausstellen. Mit einem Krug in der Hand und mit der anderen Marie im Arm haltend, stand Ludger am Rand des Zeltes unweit von der Bühne, auf der wohl später musikalische und andere künstlerische Darbietungen stattfinden würden.
„Da bist du ja endlich!“, warf sein Bruder ihm von weitem zu. „Was hast du die ganze Zeit gemacht?“
„Ich...war beschäftigt“, murmelte der Angesprochene, als er bei dem Paar angekommen war.
„Ich habe dir etwas mitgebracht, wie versprochen“, sagte Marie daraufhin und legte ihm ein Paket in die Hand, in dem sich wohl der frisch gebackene Apfelkuchen befand. Khalid fühlte, dass er noch warm war und rang sich ein lächeln ab.
„Hol dir doch ein Bier, Brüderchen“, schlug Ludger vor, was Khalid mit einem grimmigen Blick quittierte.
„Würde ich ja, aber mein Geld scheint heute morgen auf mysteriöse Weise verschwunden zu sein.“
„Oh…“ machte sein Bruder und zuckte mit den Schultern, woraufhin das Thema erledigt war.
Im nächsten Moment wurde es ruhig im Zelt, als der Abt Feldokar mit seiner Frau Rebecca die Bühne betrat. Die beiden Vorsteher des Lauranerkloster, die auch zeitgleich das Amt der obersten Richter für Eibenbach innehatten, waren besonders feierlich gekleidet.
Feldokar trug eine lange seidene Robe in strahlendem Weiß mit langen Ärmeln und am Saum eingestickten feinen Ornamenten. Sein grauer Bart war ordentlich gestutzt und gekämmt und um den Hals trug er ein Medaillon aus Silber in der Form eines dreizackigen Sterns, des Zeichens der Laurane.
Seine Frau trat in einem wallenden Kleid auf, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Sie bewegte sich viel graziler, als man ihr mit ihren dreiundsechzig Jahren zutrauen wurde und schenkte dem ein oder anderen beeindruckten Zuschauer ein freundliches Lächeln, während sie an der Seite ihres Gatten schritt. Khalid fiel vor allem das lange silbergraue Haar der Äbtissin auf, das kunstvoll und in mit Perlen besticktes Netz eingebunden war.
So angenehm dieser Anblick auch war, Khalid fühlte sich plötzlich ungemein unbehaglich, unterdrückte dieses Gefühl aber, stahl seinem Bruder der Krug aus der Hand und nahm einen Schluck, wofür er mit einem Schlag auf den Hinterkopf und einem bösen Blick belohnt wurde.
Doch bevor Ludger etwas dazu sagen konnte, hob Feldokar schon zu zeiner Rede an:
„Meine lieben Freunde, es ist mir eine wahre Freude, dass ihr so zahlreich erschienen seid, um mit uns diesen Rhal zu ehren und zu feiern!“
Das Bier rumorte in seinem Magen. Ein leichter Druck entstand in seinem Hinterkopf.
„Und es ist großartig, was die Helfer an diesem Nachmittag hier erreicht und aufgebaut haben.“
Applaus. Magenschmerzen. Der Druck wurde zum Hämmern.
„Des Weiteren möchte ich erwähnen, dass wir heute noch einen weiteren Grund zum Feiern haben. Einer unserer besten jungen Mönche, Daved, ist gestern Nacht wohlbehalten von seiner Fahrt zurückgekehrt!“
Noch mehr Applaus. Alles schien zu laut, verzerrt. Die Menschen wurden plötzlich verschwommen.
„Ich denke, er wird uns viel zu erzählen haben!“
Galle im Rachen. Keine Luft. Raus…
„Aber genug der Rede…“
Raus…
„…ich wünsche…“
Raus…
„…euch allen…“
Raus…
„…nun viel Vergnügen!“
RAUS!
Mit weichen Knien wandte Khalid sich um und verlor dabei beinah das Gleichgewicht. Beiläufig registrierte er, dass sein Bruder die Hand nach ihm ausstreckte und irgendetwas sagte, was aber nie in seinem Bewusstsein ankam.
Raus, nur raus!
Wie in Trance taumelte er auf die Zeltwand zu packte den Stoff und zog ihn hinauf, in selben Moment als Ludger ihn bei der Schulter fasste.
Gierig sog Khalid die frische Luft ein, es schien ihm, als hätte er noch nie so etwas Angenehmes geatmet.
Mit einer Kraft, von der er überrascht war, sie zu besitzen, riss sich der junge Mann von seinem Bruder los und stürmte aus dem Zelt, Ludger und Marie hinter ihm her.
Im selben Moment brach plötzlich schrecklicher Lärm hinter ihnen aus und sie sahen, wie das riesige Zelt langsam in sich zusammenbrach.
Nun regierte das Chaos.
Menschen schrieen wild durcheinander, als mehrere hundert Personen gleichzeitig unter dem Tuch hervorkommen wollten. Khalid schenkte dem Spektakel keine Beachtung und zerrte seine beiden Verfolger hinter sich her, unter einen nahe gelegenen Marktstand, wo er ihnen bedeutete, sich hinzulegen und still zu sein.
In diesem Augenblick fiel der Druck von dem Mönch ab, seine Sinne und Gedanken wurden wieder klar und reflexartig übergab er sich in eine Ecke des Standes.
Als Khalid seinen Magen wieder unter Kontrolle hatte, sah er, dass Ludger dazu ansetzte, irgendetwas zu sagen, aber der Novize verhinderte dies umgehend, indem er diesem die Hand auf den Mund legte und auf die entgegen gesetzte Seite des Platzes wies.
Mehrere Reiter, etwa ein Dutzend waren aus dem Schatten der Häuser aufgetaucht und traten in die Abendsonne. Khalid erkannte sie sofort. Die enorme Statur, in Felle gehüllt, die großen Pferde, das waren Barbaren aus Raggar. Von ihren Gesichtern war nichts zu sehen, sie trugen Masken in der Gestalt von Tierköpfen, Wölfen, Bären und anderen.
Da offensichtlich sie es gewesen waren, die die Halteseile des Zeltes durchtrennt und es so zum Einsturz gebracht hatten, vermutete der Novize, dass sich auf ihrer Seite des Platzes noch einmal ebenso viele Barbaren befinden mussten.
Die Menge auf dem Platz, die schon in Panik war, stob nun wild auseinander, als die Reiter sich in Richtung Kloster wandten und lospreschten. Doch obwohl die Krieger keine Rücksicht auf die Menschenmenge nahmen, sie griffen niemanden an oder legten Feuer oder ähnliches. Sie schienen ein bestimmtes Ziel zu verfolgen und das befand sich allem Anschein nach im Kloster.
Es waren etwa zwanzig Reiter, die sich schließlich vor dem Dorf zu einem Trupp zusammenfanden und die Straße hinaufstürmten. Doch bevor sie das Tor erreichten, hielten sie plötzlich seltsamerweise an, einige Pferde scheuten sogar.
Dann bemerkte Khalid es auch. Ein Rumoren ging durch die Erde, das in Bruchteilen von Sekunden stärker wurde und sie einem Beben anhob.
Entsetzt beobachtete er, wie auf dem Boden unter den Barbaren ein Riss in der Erde, einer Wunde gleich, aufklaffte und rasend schnell größer wurde.
Nun waren es die Reiter und vor allem ihre Pferde, die in Panik gerieten und die Flucht antraten.
Doch sie waren nicht schnell genug.
Ein Krieger nach dem anderen wurde mitsamt seinem Reittier in den Schlund gezogen, andere wurden von ihren Pferden abgeworfen.
Sie hatten keine Chance.
Nach Sekunden war kein Mitglied des Trupps mehr zu sehen. Sie alle waren in den Riss gestürzt, der nun wie das Maul eines gewaltigen Ungeheuers schien und nicht zu wachsen aufhören wollte.
Es war noch nicht vorbei. Nur wenige Augenblicke später erreichte die Grube die ersten Häuser des Dorfes, riss Gebäude und hilflos kreischende Menschen mit sich in die Tiefe.
Dann endlich schien der Hunger des Ungeheuers gestillt worden zu sein.
Langsam, viel langsamer als er entstanden war, schloss sich der Riss wieder und begrub so die Leichen derer, die er in den Tod gezogen hatte.
Khalid hörte das Kreischen der Menge nicht mehr, für ihn herrschte Stille, Todesstille.
Die Erde hatte ihre Wunde wieder geschlossen und machte den Anschein, als wäre nie etwas passiert.
Nur die Sonne weinte blutiges Licht und zeigte so das Dorf als das Schlachtfeld, das es nun war.
Khalid spürte, dass das noch nicht das Ende sein würde.
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