Ich muss mal nachrechnen, ob das mit dem Datum und den Jahreszeiten, die ich angegeben habe, überhaupt passt. Das müsste jetzt ca. Anfang Oktober sein.
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13 Darrel, 1084 Laurane; morgens
Daved genoss den Ritt. Über Nacht hatte sich das Wetter wieder beruhigt und an diesem Morgen schien die Sonne noch einmal angenehm warm auf das Land herunter. Vielleicht würde es einer der letzten schönen Tage vor dem Winter sein, aber Daved scherte sich nicht darum.
Natürlich waren sie nicht allein, Johann konnte sich als vermögender Mann von Adel nicht ohne Begleitung auf die Straße zu wagen. Doch die drei ernsten und schweigsamen Leibwächter hielten respektvoll Abstand – zwei der Männer ritten hinter ihnen, einer vor ihnen – sodass Johann und Daved ungestört sprechen konnten.
Der Mönch war unendlich dankbar, dass sein Freund das Thema des vergangenen Abends nicht wieder aufgenommen hatte. Stattdessen sprachen sie über die Vergangenheit, erzählten sich Anekdoten, lachten und scherzten Daved fühlte sich wohl wie schon seit vielen Läufen nicht mehr. Doch immer wieder spürte er das Pak, das ihm beim Ritt in die Seite schlug und ihn daran erinnerte, dass sein gegenwärtiges Selbst keinerlei Zusammenhang mit der Person in seinen Geschichten besaß.
Schließlich, als sie sich des Mittags zu einer Pause niederließen, holte Daved tief Luft und fragte, eine Hand auf der Tasche:
„Was werden uns die Magister wohl raten?“
Johann blickte ihn prüfend an.
„Was möchtest du, dass er uns rät?“, fragte er zurück.
Daved sah zur Seite. „Ich weiß es nicht. Wenn ich wüsste, was ich tun sollte, würde ich es tun. Mein einziger Einfall war es, dich aufzusuchen.“
Johann blickte nachdenklich auf sein Brot hinunter.
„Du weißt, ich verurteile dich nicht, mein Freund“, sagte er, die Worte offensichtlich sorgsam zurechtlegend, „aber warum hast du das Buch nicht zurückgegeben? Ich verstehe ja, dass du es im Affekt gestohlen hast, aber als du gesehen hast, welchen Schaden es anrichten kann...“, er seufzte schwer. „Warum hast du es nicht einfach liegen gelassen? Die Druiden hätten es sich genommen und wären wieder in ihr Land zurückgezogen.“
Daved verzog das Gesicht vor innerlichem Schmerz. Es war unangenehm, darüber nachzudenken.
„Ich konnte es nicht“, sagte er schließlich, „ich könnte es auch heute nicht.“ Es war nun echter Schmerz, den er fühlte. Sein Gewissen stach mit heißen Nadeln auf ihn ein, als würde er gerade einen geliebten Menschen verraten. „Ich will es nicht mehr“, flüsterte er mühsam, seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. „Ich will nicht mehr, dass es mich beherrscht.“ Jedes Wort kostete ihn unendliche Mühe, doch er war fest entschlossen, weiter zu sprechen. „Es bringt mich um. Ich werde sterben, wenn ich länger in seiner Nähe bin und doch kann ich es nicht weggeben.“
Daved sank kraftlos in sich zusammen, als wäre er nicht mehr als eine leere Hülle. Das Hämmern in seinem Kopf wurde unerträglich und ließ es ihm schwarz vor Augen werden.
Verzweifelt weinte der Mönch tränenlos. Die Hand, die tröstend auf seiner Schulter lag, fühlte er nicht. Den entschlossenen Blick in den Augen seines Freundes sah er nicht.
„Alef, was soll das, hm? Geh zu diesem bemalten Gecken und sag ihm, dass wir mehr wollen. Letztens haben wir doch auch so viel bekommen, warum ist das jetzt eingeteilt, hm? Ich habe Hunger! Alef, sag doch was! Hörst du mir überhaupt zu?“
Der Verurteilte ließ verzweifelt den Kopf hängen. Yasemina, die schon seit ihrer Ankunft in dieser Stadt stetig unzufriedener wurde, war am heutigen Morgen regelrecht unerträglich. Torwin hatte die Nahrungsmittel rationiert und die Eibenbacher, die direkt von der Milde des Fürsten abhängig waren, hatten am meisten darunter zu leiden.
Alef hatte Yasemina bereits die Hälfte seines Brotes abgegeben, doch das Mädchen war nich immer hungrig und machte seinem Unmut lautstark Luft
Die Stimmung am Tisch war allgemein recht ähnlich, auch wenn Yasemina dennoch aufgrund ihrer Ausbrüche hervorstach. Man maulte halblaut über die schlechte Behandlung, wobei man dezent darüber hinwegsah, dass den Eibenbachern ohnehin nur Asyl gewährt worden war. Im Augenblick waren sie auch kaum in der Lage, sich für die Hilfe zu revanchieren, da die meisten Kyntesern sich schlicht weigerten, Eibenbacher als Arbeitskräfte zu beschäftigen.
Auch der Angriff auf Bruder Benjamin wurde diskutiert. Die Reaktionen reichten von Besorgnis über Unruhe und Angst hin zu ungezügelter Wut gegen die gewalttätigen Stadtbewohner.
Alef bevorzugte das erste dieser Gefühle. Er konnte es den Kyntesern nicht einmal überl nehmen, wie sie sich verhielten, auch wenn er sie tief im Innern als ausgesprochen dumm bezeichnete.
Die Zukunft erschien ihm an diesem Morgen sehr düster. Sie saßen wie in einem Hexenkessel umzingelt von Feinden, zunächst von den eigentlichen Bewohnern der Stadt und dann von den Belagerern vor den Toren und konnten in keine Richtung ausweichen. Diese Burg war ihr Kerker geworden, wie die Stadt der Kerker der Kynteser war.
Als das karge Mahl beendet worden war, erhob sich Rebecca und blickte auffordernd in die Runde. Sofort kehrte Schweigen ein.
„Meine lieben Freunde“, begann sie und ihre Stimme war ruhig und gemessen wie immer, „unsere Prüfungen sind noch nicht vorüber. Schwere Zeiten neigen dazu, schwerer zu werden immer dann, wenn man denkt, dass man den Tiefpunkt erreicht hat. Aber wir wollen nicht verzweifeln in dieser Stunde der Not, denn Laurane ist mit uns und hat uns diese Zuflucht gegeben, in der wir sicher sind. Dennoch möchte ich euch ermahnen, niemals alleine die Burg zu verlassen, auch nicht zu zweit, sondern nur in der Gruppe. Gebt auch besonders Acht auf unsere Frauen und Kinder und seid immer bereit, euch verteidigen zu müssen. Und nun seid gewiss, dass Laurane...“
Weiter kam sie nicht, denn im gleichen Augenblick zersprang ein Tonkrug auf dem Tisch mit lautem Krachen. Im nächsten Moment stöhnte einer der Anwesenden überrascht auf und hielt sich die Hand an die Schläfe. Plötzlich regneten kleine Steine durch die Fenster auf die Eibenbacher, die erschrocken aufsprangen und Deckung suchten, hernieder. Alef stürzte mit Yasemina an der Hand im Gegensatz zu den meisten anderen in Richtung der Fenster, statt sich von ihnen zu entfernen. An die Wand gepresst wartete er ab, die das Bombardement für kurze Zeit nachließ und blickte, die Hand schützend vor das Gesicht haltend hinaus.
Etwa zehn Personen standen in dem wenige Schritt tiefer liegenden Hof, die meisten von ihnen sammelten gerade am Boden Munitionsnachschub. Als sie sein Gesicht erblickten, grölten sie, zeigten mit den Fingern auf ihn und eröffneten das Feuer, so dass Alef schnell wieder in Deckung gehen musste. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie Soldaten herbeieilten.
„Verschwindet, ihr mönchischen Bastarde!“, tönte es von den Angreifern.
„Abschaum!“
„Hunde!“
„Ihr habt die Barbaren hierher gelockt! Sie sind nur wegen euch hier!“
„Verschwindet und gebt uns unsere Stadt zurück!“
Kurz darauf hörte der Angriff auf, als die Soldaten dienstbeflissen die Männer und Frauen aus der Burg vertrieben. Alef sank erschöpft an der Wand zu Boden.Der Saal war übersät mit kleinen Steinen, einige Eibenbacher hatten blaue Flecken oder kleine Schnittwunden davongetragen und die Panik stand ihnen deutlich in die Augen geschrieben.
Was noch? Was musste noch passieren? Warum waren sie verflucht?
Alef verschränkte die Arme auf den angezogenen Beinen und bettete den Kopf darin. Wenn er doch nur nach Hause gegangen wäre...