Naaa
Verstoßen
Es war die Hölle. Grelles Licht stach ihm in die Augen, fremde Gerüche, die ihn fast zum Würgen brachten, krochen in seine Nase und nie gehörte Geräusche lösten bei ihm den unwiderstehlichen Drang aus, die Elementarste aller Kampftaktiken, die seiner Art bekannt war, anzuwenden: Flucht.
Eigentlich war es noch schlimmer als die Hölle.
Mit brennenden Augen sah er, dass es den anderen seiner Sippe nicht besser ging. Da ertönte die krächzende Stimme des alten Schamanen: „NAAAA!“
Angst und Warnung vor dem Unbekannten, Zorn über die eigene Orientierungslosigkeit, Befehl zur Unterwerfung, Herausforderung an wen auch immer, all das und mehr war diesem Ruf zu entnehmen. Und doch hatte die vertraute Stimme etwas Beruhigendes, etwas, das Halt in dieser seltsam fremden Dimension gab.
Die anderen aus der Sippe schienen sich ebenfalls zu fangen und drängten erwartungsvoll um den Schamanen.
Der Alte schien zuerst unschlüssig zu sein, ging dann aber in seinem typisch watschelnden Gang mit entschlossenen Schritten auf einen dürren Busch zu. Ein kurzes „Na!“ schien Ausdruck für die Verärgerung über den Busch und die ganze Welt allgemein sowie Vorbereitung zu sein und dann schoss Feuer aus der Hand des Schamanen und setzte den Busch in Brand. „Naa!?“ schallte es triumphierend aus der Kehle des Alten und die Sippe stimmte mit ein.
Doch gleich scheuchte der Alte ihn und die anderen los, Brennmaterial zu sammeln, da der Busch schon wieder zu erlöschen drohte.
Kurze Zeit später sah man die Sippenmitglieder umherwuseln, teils um Feuerholz zu sammeln, teils um die nähere Umgebung zu erkunden. Die Gefallenen des Baal waren in Khanduras angekommen.
Bis vor kurzem waren sie noch in der Hölle, ihrer eigentlichen Heimat gewesen. Sie gehörten zu Baals Fußvolk, das als versteckte Reserve bei einer Rückkehr ihres Gebieters in die höllischen Gefilde als Bauernopfer die Gegner so lange hinhalten sollte, bis die eigentliche Streitmacht sich gesammelt hatte.
Dass sie wertlos in Baals Augen waren und nur als Kanonenfutter dienten, hatte ihn nicht weiter berührt. Er hatte miterlebt, wie Mephisto und Baal Hundertschaften von seinesgleichen aufeinander hetzten, nur um festzustellen, wer den Sieg davon tragen würde: unzählige Gefallen mit nur geringer Anzahl an Schamanen oder verhältnismäßig wenige Gefallene mit allerdings vielen wiederbelebenden Schamanen. Als die zwei Großen Übel sich genügend über die Schmerzens- und Todesschreie amüsiert hatten, hatte Diablo, der dritte Bruder der Großen Übel, die überlebenden Kämpfer von einer Armee Todesfürsten niedermetzeln lassen - weil er sich an der Todesfurcht der Gefallenen weiden wollte.
Er hatte nur überlebt, weil seine Art sich schon immer zur Flucht gewandt hatte, wenn ein überlegener Feind einem Mitstreiter das Leben nahm. Zwar konnten die Schamanen ihre erschlagenen Streiter wieder ins verhasste Leben zwingen, doch Feigheit war so wie der Hass auf alles Lebende ein ureigenster Wesenzug ihrer Art. Nur mit einer Übermacht an der Seite oder bei einem Angriff aus dem Hinterhalt überwog der Hass den Überlebensinstinkt.
Gegen Ende des Krieges der Niederen Übel gegen die drei Großen Übel war er mitsamt seiner Sippe erschaffen und mit dem höllischen Hass Baals getränkt worden. Seit der Vertreibung seines Herrn aus der Hölle waren Zeitalter vergangen, in denen wechselnde Herren, Flucht und immer wieder rivalisierende Streitereien mit anderen Dämonen sein Dasein bestimmten. Und immer wieder hatte ein Schamane ihn aufstehen lassen, immer wieder in dieses verfluchte Leben zurückgerufen, nachdem ein gezacktes Schwert, ein Stachel aus Eis oder ein Blitz seinen kleinen Körper durchdrungen hatte.
Doch sollte das Dunkle Exil enden, so würde seine Loyalität wieder Baal gehören und er würde ohne Zögern sich den Dämonen seiner zeitweiligen Herren entgegenwerfen – mit einer großen Schar Gefallener an seiner Seite, versteht sich. Vielleicht konnte er sich dabei sogar einen Namen machen; nur die bösartigsten und hinterhältigsten Gefallenen wurden unsterblich, indem sie einen Namen erhielten. Das war sein einzigstes Ziel, Unsterblichkeit jenseits der ewigen Höllenqualen.
Doch Baal war nicht zurückgekehrt, irgendetwas hatte Baal in dieser Menschenwelt festgehalten.
Andariel und Duriel, zwei der Niederen Übel, waren ebenfalls in die Menschenwelt gewechselt und hatten ihre Stellung unter den Drei wieder eingenommen, als offenbar wurde, dass die Fesseln von Diablo und Baal gesprengt waren und es nur noch eine Frage der Zeit war, wann die Rückkehr stattfinden würde und die Großen Drei ihre Herrschaft über die Hölle wieder einnehmen würden.
Und er war mitsamt seiner Sippe ebenfalls aus der Hölle in die Menschenwelt gerissen worden. Ob dies durch Andariel als Begleitung für sich, durch den erstarkenden Baal als Unterstützung bei seinen Plänen auf der irdischen Ebene oder durch Belial, einen weiteren aus dem Bund der Niederen Übel, aufgrund eines finsteren Planes geschehen war, wusste er nicht. Die einzige Chance, wieder in die vertraute Umgebung, die Hölle, zurückzukehren, war, Baal in dieser von grellem Sonnenlicht durchfluteten, von stinkenden Blumen bewachsenen und von grotesken Tieren bewohnten Welt zu finden und in seinem Gefolge heimzukehren.
Denn aus eigener Kraft konnte er nicht zurück, er war aus der Hölle verstoßen.