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[Story]Tausend Jahre

Geduld ist ein Tugend ... und Tugenden habe ich reichlich :D
Ich finds in Ordnung, RL hat nunmal Vorrang ... aber wir sind halt alle so neugierig wie es weiter geht ;)
 
sehr interessant, obwohl ich überhaupt nicht auf fantasy und son kram stehe...

frag mal bei irgendeiner zeitung nach, ob sie die geschichte stückweise über wochen rausbringen
 
Bin gerade mit lesen fertig:

Eindrucksvoll!

Das ist eine sehr professionelle Schreibe!
Den Stil finde ich persönlich sehr fesselnd, das Düstere, Zynische liegt mir einfach.

Die Verschmelzung von Historie und Moderne, Technologie und Altbewehrtem, sowie das Einbeziehen des Lesers, der bei jedem neuen Absatz aufgefordert wird herauszufinden wessen Ich-Perspektive nun dargestellt ist (und damit schneller zu sein, als es im Text offensichtlich wird), machen deine Geschichte zu einem Leckerbissen, bei dessen Anblick man sich nur freut, dass es sowas kostenlos im Forum gibt!

Trotzdem gibts auch eine klitzekleine Kritik, vor allem an den früheren Kapiteln: Und zwar haben mich persönlich Begriffe wie "Fliegenschiss" und "pissen" in dem sonst sprachlich doch ziemlich anspruchsvollen und homogenen Text sehr gestört.
Das wars auch schon. Ich hoffe bald weiterlesen zu können!

mfg
Chris
 
Moin moin :>
@HeroMaker & chrischan: Danke für das Feedback und Lob, freut mich sehr.
Ich sitze gerade an der Fortsetzung. Wieder minimal mehr Zeit, mehr Zeit = Spaß, sollte also demnächst weitergehen.
Grüße, Reeba
 
Ein Lichtblick am Horizont. Was könnte es schöneres geben als das keimen neuer Hoffnung
ahhh jetzt werd ich scho sentimental :cry:

=)

ich drück die daumen für mehr zeitgewinn und dass es auf bald weitergeht

mfg Lord
 
Reeba schrieb:
Moin moin :>
@HeroMaker & chrischan: Danke für das Feedback und Lob, freut mich sehr.
Ich sitze gerade an der Fortsetzung. Wieder minimal mehr Zeit, mehr Zeit = Spaß, sollte also demnächst weitergehen.
Grüße, Reeba

Ah, ein Lichtblick am Ende eines laaaaangen Tunnels... =)
 
Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass ich in einem Tunnel ohne Strassen und Bahngleise befinde, wenn ich diesen Spruch aufsage. :>
 
Neues Kapitel ist beim Betaleser - es kann sich also nur noch um Tage handeln :D
 
Dieses versprechen ist jetzt auch schon wieder 9 tage her =(

nja irgendwann wirds ja hoffentlich wieder weitergehn^^
 
Hier geht's weiter. Sorry, liebe Leser :>


********



VI. Von Angesicht zu Angesicht




Meine Erleichterung darüber, aus der Zitadelle hinausgekommen zu sein, wird mir schon auf den Stufen entrissen.
Vor mir der Platz. Die himmelhohen Häuserborten, sich gegenseitig in Glas und Metall widerspiegelnd. Die Reklamemonitore, freudige Gesichter, bunte Schriftzüge, unechte Stimmen, kaum zu verstehen, aber allgegenwärtig wie ein endloses Gebet. Ein Karussell aus Gleitern auf vier, fünf Flugebenen.
Widerwille, mich dort wieder hinein stürzen zu müssen, lässt mich stoppen. Gleichzeitig der Schub von hinten.
Ich bin als Erster gegangen, will verschwinden, ohne dass sie sehen können, wohin. Ich fliehe vor den Anderen.
Das Atma schläft jetzt. Fast fünf Stunden Zeit bis zum Schichtbeginn.
Am Rand der Freifläche, auf der die Zitadelle steht, hat ein bedauernswert an überkommenen Formen hängendes Stadtplanerhirn Bäume pflanzen lassen. Ihr rostfarbenes Metall glänzt – des Himmels wegen im Augenblick wie getrocknetes Blut.
In Scosglen waren die letzten echten Bäume, bevor die Ausbreitung der Todeszonen sie zermahlen hat, Rotbuchen. Aber ich bezweifle, dass diese Eisenstatuen hier, ihre monströsen Brüder, auch nur einen Menschen längs des Platzes daran erinnern.
Das Schicksal des westlichen Umlandes gehört nicht zu den Fakten, die noch auf Papier gedruckt werden. Die Informationstafeln, die von diesem Schicksal hätten berichten können, sind der Großen Bereinigung unter dem vorigen Hohen Rat Asanctars zum Opfer gefallen. Dazu noch die Tatsache, dass es zumindest im Westen kein Baum bis in die Gegenwart Sanktuarios geschafft hat. Grünpflanzen gibt es wohl, im Innern mancher Gebäude. Sumpfgras, Giftdolden. Nicht zu vergessen die Spaliere duldsamer Gewächse, die in Treibhäusern südlich der Stadt vor sich hin wuchern, um uns die Mägen zu füllen – oder die Adern.
Aber von den Bäumen sind nur noch eiserne Zerrbilder übrig.
Ich schaue an ihrem platt gepressten Rost hinauf.
Der Himmel kniet niedrig über der Stadt, warmes Grau, voller Regen. Unter den Eisenbäumen kein Schatten.
Trotzdem nähert sich ihnen niemand. Die Menschenströme ziehen vorbei. Sie, die überall hinpinkeln - gern in aller Öffentlichkeit -, Abfall zurücklassen, auch sich selbst, schlafend, berauscht, obszöne Sprüche über jede unbewachte Fläche kritzeln – hier wagen sie es nicht.
Ich kann mir darauf keinen Reim machen, doch heute, stelle ich fest, erfüllt es mich mit zufriedenem Grimm.
Die chaotischen Fließbewegungen der Menge tragen mich über eine Kreuzung – Platz und weiße Zitadelle versinken hinter mir -, dann nach links.
Camever greift in Sulaya über, oder andersherum. Verschränkte Finger arbeitsschweißiger Hände.
Wissen, was man zu tun hat, ist ein Segen.
Mir scheint, dass ich die zähe Geschäftigkeit rings um mich wieder begreife, mit der Verwunderung des wortlos Geduldeten.
Cismastücken nachjagen, Träume um das Auf und Nieder der Marktkurse weben, wartend auf Brosamen, die von den hohen Tischen herab rieseln. Eine notwendige Operation greifbar nah wähnen, denn ja, dein Sohn hat mit dem Kunststoffeinsatz in der Luftröhre bessere Chancen auf den Ausbildungsplatz bei der Polizeistreife, natürlich. Rechtzeitig nach Bara Illan umsiedeln, bevor die Bauvorhaben die Blocks rings um das rattenverseuchte Mietshaus einreißen und Platz schaffen für einen neuen Spiegel- oder Obsidianturm.
Ich habe zu leisten, was ich leisten kann.
Für achtundvierzig Stunden steht ein Plan. Oder etwas in der Art.
Dass uns die Maschinerie der Ordnungskräfte nicht mit ihren Suchtrupps und Gleitern in die Quere kommt, dafür sorgt Celeste. Sie wird schon wissen, welches Geflecht aus Vermutungen und gefälschten Hinweisen sie ihrem Obersten auftischen muss, damit er die Sporen ruhig hält.
Jeremiah bekleidet zwar keinen Posten, der offizielle Ermittlungen gestattet, aber er hat sich weit genug in ein Ohr am Geflüster seines Bezirks verwandelt, um den Brandschritten einer uralten Kreatur nachspüren zu können. Das ist seine Begabung: Den Betenden ihre Ängste und Gedanken aus der Seele zu wringen.
Ich denke, dass er diese Gabe hasst, dass sie ihn einsam gemacht hat, aber er wird sie nutzen.
Elisa und ich geben derweil die Söldner.
Sie begreift nicht, welche Freiheit das bedeutet. Sie lebt immer noch im Widerstreit mit ihrem Werdegang, seinen Vorteilen und Beschränkungen. Um auf höhere Stufen zu klettern, braucht es mehr, als die Schnellste der Schnellen zu sein, aber das Bewusstsein ihres Versagens an geistigen oder profanen Dingen ist ihr nie ausreichender Antrieb gewesen.
Vielleicht wurmt es sie darum so sehr, dass Stephen sie jetzt wieder befehligt. Doch ich wette, es hat auch persönliche Gründe.
Genauso wenig wie sie die Sinnlosigkeit ihrer Gewissenslast versteht, versteht sie, dass es sinnlos ist, Stephen zu bekämpfen.
Wo Hass nicht nur auf unfruchtbaren Boden fällt, sondern sein Objekt auch noch nährt, wendet er sich gegen dich. Darum lass es sein, Mädchen. Drück dich in den Hinterzimmern dieser Metropole herum, da findest du genug Lebendiges, das aufgeschlitzte Kehlen verdient. An Stephen änderst du nichts mehr - er ist, du musst schon entschuldigen, eine Nummer zu groß für dich.
Eine Straßenecke.
Weit auf die Gehsteige hinausgeschobene Körbe mit Wurzelzeug, Stoffballen, Kupfertassen, allem denkbaren Tand, dazwischen Stehtische winziger Tavernen, voll besetzt. Über Mohnschnaps, Bitterkaffee und dünnen Wein geduckte Buckel, Kapuzen, Kappen.
Aus dem verqualmten Dunkel der nächsten Taverne leuchtet ein Monitor. Er fesselt die Aufmerksamkeit der Morgengäste.
Ich bleibe stehen, werde von den Passanten gegen einen der Tische gedrängt, und sofort wächst aus dem Nichts eine Alte neben mir empor, schaut an mir hinauf, wartet.
„Einen Mohnschnaps.“ Ich gebe ihr zwei Cisma. „Behalt den Wechsel.“
Bis sie sich aus dem Inneren der Taverne wieder zu mir hinaus gearbeitet hat, bleibt mir Zeit, um die Vorgänge auf dem Monitor zu verfolgen. Zu viel Zeit.
Die Zuschauer begleiten das Geschehen mit Murren, rauem, anerkennendem Grunzen oder gebanntem Schweigen, je nach Stand des Zweikampfs.
Ierissea.
Ich kann das auf Steinen verspritzte Nass riechen, abgetragene Stiefel in Pfützen treten hören: Urin der Feigen, Blut der etwas Tapfereren. Schweiß, Not, Angst. Ein maskierter Namenloser bläst Zwiebelatem aus.
Hunderte von Meilen entfernt. Dutzende von Jahren vor dieser Übertragung.
„Geht doch nichts über die Arena von Ierissea“, sagt mein Tischnachbar, ein bulliger, vernarbter Kerl in einem Überwurf aus Kunstleinen. Er hustet, kippt sich Kaffee in den Schlund.
„Wahr“, pflichtet ihm eine Greisin bei, dürr und zäh wie eine Weidengerte, die auch an unserem Tisch steht. Ihr Gewand ist schmutzig grau und lässt dem Schnitt nach auf eine Seelenfängerin schließen – so nennt das niedere Asanctar die Kuppler einiger Sekten, die, aus verbotenen Glaubenszusammenschlüssen hervorgegangen, Arme, Obdachlose und Süchtige anwerben. Offiziell, um Gefolgsleute aus ihnen zu machen. Inoffiziell, um sie ihrer Herkunftsreste zu berauben und die dann vollends Haltlosen an Bordelle und Arbeiterzirkel weiter zu vermitteln.
„Wobei die guten Kämpfer heutzutage rar gesät sind“, fügt sie hinzu.
Sie bemerkt mich – kurze Pause und Werbeeinlage auf dem Monitor -, lächelt schlau und etwas zu wissend, prostet mir zu.
Ich erwidere das Lächeln. In diesem Augenblick stößt es mich nicht ab.
Wir trinken gleichzeitig.
Der Tod ist nicht hässlich, nur gottlos und verbittert. Hässlich ist einzig das Warten.
Ich muss mich nach einer Arena umsehen.
In einigen Vergnügungen, ganz allgemein im Wittern von Geheul und Blut und Wettbewerb, ist Sanktuario unsterblich. Daher muss sich niemand nur auf die Schaukämpfe aus Besiméra oder Ierissea beschränken, vorausgesetzt, er kann zehn, fünfzehn Cisma entbehren und weiß, wo er zu suchen hat.
Stephen, Jeremiah und Celeste lesen in diesen Stunden die Fäden auf – wie es jeder Puppenspieler in Asanctar tut. Kontakte, Besuche bei den richtigen Leuten, Bestechung, wohlgesetzte Drohungen.
Geschick ist gefragt. Oder Macht.
Mit beidem kann ich nicht dienen.
Zwei, drei Straßen weiter ist von Camevers Nachbarschaft kaum noch etwas zu bemerken. Aus den Fenstern vielstöckiger, meist rotbrauner Häuser hängt Wäsche. Neonbanner und Fahnenreihen spannen hier und dort fast ein Netz über die Straße – ein Umstand, der fast täglich zu Gleiterunfällen führt. Trotzdem bleiben die künstlichen Netze, wo sie sind.
Sulaya. Altes und Neues vermischt.
Stephen hat diesen Stadtteil nie angerührt.
Fünfzig Prozent aller Umbauten in Asanctar gehen auf das direkte Konto der 'Sutre'-Korporation: Umkrabbelt von Anwohnern wie von den Ameisen eines Baus, den man stört, hat sie unter dem Deckmantel des Ordnungsrats an den anderen sechzehn Stadtteilen herumgeflickt, und irgendeines der unterirdischen Gewölbe der städtischen Faktenbehörde enthält minutiöse Dokumentationen der Umbauten.
Schließlich muss so etwas ja seine Ordnung haben.
Und wer genau suchte, würde vielleicht sogar entdecken, dass 'Sutre' jedes Niederreißen alter Wohnblöcke, jede Sprengung nicht mehr ins Gesamtbild passender Brücken oder Türme, jede Kanalsanierung erstaunlich gründlich hat durchführen lassen. Die baulichen Maßnahmen, an denen die Firma nicht beteiligt war, gingen viel rascher vonstatten.
Das fällt natürlich niemandem auf.
Bevor der schlaue Prüfer oder Angestellte des Bauamtes genug Material zusammentragen kann, ist er schon vergreist und stirbt weg.
Höchstens seine Kinder wundern sich noch über einen seiner Sätze, eventuell nicht am Sterbebett, aber in einer der finalen Unterhaltungen geäußert: ,Die Stadt hat einen Plan.'
Haben sie Zeit, einer Marotte nachzuforschen? Der Alte ist immer ein Spinner gewesen, und so weiter. So wird ein Zipfel Wahrheit ins Grab gelegt – vielleicht sogar alle paar Dekaden einmal.
Die Stadt hat wirklich einen Plan.
Nach Jahrhunderten, wohlgemerkt, ist es mir aufgefallen, und auch nur im Delirium der selbstzerstörerischsten Langeweile. Ich glaube nicht, dass Stephen ahnt, wie viel ich von den Gebieten weiß, auf die er sich bereits in Jugendtagen spezialisiert hatte.
Ich bin nicht dumm.
Nur: Bücher, Papier, Informationen, sie halten mich nie lange fest. Das hat einen lächerlich einfachen Grund.
Nach dem Ende der Zeit, wie sie war, dem Ende unserer Zeit, der wahren - bevor sie zur Endlosigkeit wurde, Nebel einer Artenarmada, eines Generationenmotors -, standen Stephen und Jeremiah besser gerüstet in der Morgendämmerung.
Ich musste den Gebrauch des Wortes in Schrift und Wirkung erst erlernen – als es schon zu spät war. Denn ohne einen Daseinssinn verfällt das Ansammeln von Wissen zu einer Mechanik, die sich höchstens noch selbst zelebrieren kann. Stephen und Jeremiah haben das Lernen im Blut. Die Mechanik, die Sinnlosigkeit, ist diesen Männern nicht bewusst genug, um sie zu zerstören.
Da wo ich herkomme, hat der Mensch kein Schriftgut gebraucht. Was wert war, erinnert zu werden, wurde weitererzählt.
Vielleicht habe ich nur zufällig richtig gelegen mit meiner Entscheidung, zuerst in den Papieren der Bautätigkeit seiner Firma nach einem Ansatz zu suchen. Stephen hat mir keine Wahl gelassen. Denn wie stellt man es an, ein Monstrum zu begreifen, das stetig in Bewegung bleibt, das von Gegner bis Freund alle Verkleidungen nutzt, das mit der Zeit kontinuierlich unantastbarer geworden ist?
Man verschafft sich Zutritt zu irgendeinem ganz beliebigen Ort, der Spuren des Monstrums – gewachsene Macht zu Lasten der Unauffindbarkeit – bewahrt. Sagen wir, zu einem behördlichen Keller, so alt, dass die letzte große Reinigung ihn übersehen hat, so unwichtig inzwischen, dass ihn niemand ernstlich bewacht. Dort beginnt man zu suchen. Stapel um Stapel, Schrank um Schrank, Stunde um Stunde, notfalls über Wochen.
Zeit ist wahrhaftig nicht das Problem.
,Die Stadt ist ewig'.
Keine Ahnung, welchem unserer seidengewandeten Räte dieser Satz eingefallen ist, aber es kann nur in einem Moment fröhlichen geistigen Stupors gewesen sein. Asanctar hat mehrere Schöpfer, und auch wenn eine einzelne Kreatur dem akkumulierten Wahn und Wirken Sanktuarios nicht den Rang abläuft: Einer der Schöpfer ist ein Mensch.
Stephen bleibt des Nachts keinesfalls da oben in seinem Turm. Das glaubt nur, wer ihm seine in Eleganz und Gleichgültigkeit ausgedrückte Erschlaffung abkauft.
Er hat sich Tunnel durch Asanctar gegraben, von Anfang an. Kanäle durch Boden und Stein, durch Fleisch und Geist der Bewohner, und ich denke, er wird sie jetzt wieder betreten.
Links von mir eine Taverne.
Der Eisenwolf ist eines der urwüchsigsten Sauflöcher Sulayas: Erstaunliche einhundertzweiundachtzig Jahre alt, gegründet anlässlich der wiederholten Errettung des Viertels vor den Abrissfahrzeugen der Stadt.
Kurastis betreiben die Taverne. 'Sutre' hält seine Hand über sie, darum findet man hinter der gewaltigen, passend zum Namen eisernen Eingangstür ein Haus, das nicht nur Alkohol und Drogen verkauft.
Ich trete ein.
Das Taverneninnere besteht aus einem einzigen Raum, groß wie eine Halle, niedrig und dunkel. Fenster gibt es nicht, Licht nur von mattgelben Röhren her, die tief über der Bar und ein paar Tischen hängen. Die Bar ist das Zentrum, ein geschlossenes Viereck mit zum Block zusammengesetzten Metallschränken in der Mitte.
Alles im Eisenwolf, Theke, Mobiliar, Kundschaft, wirkt rostig, fleckig, mit hell polierten Flächen dazwischen.
Es ist eine Art abgenutzter Lebendigkeit, durch die das Grün und Braun der Hafenanlagen Kurasts hindurch leuchtet – jenes Bereichs, den die 'Eisenwölfe' vor dem Urwald verteidigen konnten. Sie waren damals fernab der Heimat der einzige Menschenschlag, dem ich mich verwandt gefühlt habe: Leicht ehrenhafter als Söldner, aber fast rechtlos in einer Tempel- und Handelsgesellschaft.
Von ihnen ist nur der Name übrig. Die Gestalten, die mir aus dem Halbdunkel entgegen starren oder mit sacht knackenden Fäusten meinen Weg zur Theke belagern, haben mit dem alten Sanktuario nichts mehr gemein. Sie sind eine untadeligere Züchtung – die Reinform der Gewaltbereitschaft, ohne Klassenzugehörigkeit, ohne Motiv.
Im Eisenwolf wird Musik gespielt, doch nur sehr leise, sodass ich die Entfernung zur Theke beinahe in einem allgemeinen Schweigen hinter mich bringe.
Viele dieser Gestalten werden bald sterben. Durch den Alkohol, durch eine von Stephens teerschwarzen Substanzen, oder in einer Prügelei.
Hier finden allabendlich Prügeleien statt, und von einer Brutalität, die andernorts schon zur Schließung der betreffenden Taverne geführt hätte.
Die Männer im Eisenwolf wissen nichts mehr von der Bedeutung dieses Namens. Über dreißig Generationen nach dem Kurast unter Mephisto, nach der Bande, die erbittert versuchte, der Übermacht des Erzdämons wenigstens Bettelkämpfer und Kräutermännlein entgegen zu stellen, hat Ashearas Geist sich verflüchtigt.
Die Welt ist wieder auf käufliche Soldaten und versprengte Kriegsfürsten angewiesen.
Erneut läuft sie solange weiter, bis der dämonische Überraschungseffekt sie lahmlegt.
Sumpfgifte stehen immer noch hoch im Kurs.
Frauen sind wieder dort, wo sie zu Ashearas Zeit waren, und nur eine Handvoll Ausnahmen bestätigt die Regel, wird hart dafür zur Kasse gebeten, so wie es damals mit der ehemaligen Hauptmannstochter geschah.
Ich stoppe an der Bar.
Der hiesige Getränkemeister taxiert mich ab. Dann nickt er mir zu: So einer bist du also.
Ich nicke zurück.
Er beugt sich über die rostfarbene Theke. „Du hast Glück. Unten im Keller. Sie machen gerade eine Pause. Ist wohl einer nicht mehr aufgestanden, eh he.“ Sein Atem riecht nach Wein. „Wenn du dich beeilst...“
„Danke“, sage ich.
„Durch die Tür da, und dann -“
„Spar dir die Erklärungen, Kurasti“, unterbreche ich ihn. Feindseligkeit: Die Vorstufe der notwendigen Aggressivität. „Ich kenne den Weg.“
Ich lege ihm das Cisma-Stück auf die Theke und gehe längs der Bar in den Hinterbereich.
Ein Rückraum, in dem sich ein Mitarbeiter, ein viel zu junges Mädchen auf dem Schoß, fettiges Fleisch schmecken lässt. Als ich vorbeikomme, legt er dem Mädchen vorsorglich – um Besitzverhältnisse klar zu machen – eine Hand auf den Schenkel, hebt ein Schnapsglas zum Mund, trinkt, während seine Augen mich kritisch verfolgen.
Eine Eisentür, eine Treppe. Elektronische Musik schlägt mir von unten entgegen, und, was wichtiger ist, die schweißsatte Luft einer Arena.
Sie halten Ierissea und Besiméra durch ihre Monitore auf Abstand, dulden aber, dass sie in die Gedärme ihrer Stadt eingezogen sind, bescheidener, aber nicht weniger hochgeschätzt.
,Wir könnten den alten Haudegen auf Asanctar loslassen', hat Stephen gesagt, ,zusehen, wie er es ausräuchert. Und ich wäre bestimmt nicht der Einzige, der seine helle Freude daran hätte.'
Geronnener Hass. Das, was sich so sauer in der Brust festsetzt.
Wir dürften gar nicht hier sein. Nach der Errettung Sanktuarios hätten wir abtreten müssen.
Wir sind die Ahnen, die gezwungen werden, zu bezeugen, wie ihre Nachkommen versagen.
Aus einer weiteren Tür am Fuß der Treppe tritt mir ein Mann entgegen, dürr, blass, unbarmherzig, trotz der klebrigen Wärme, die hier unten herrscht, in hautenges Leder gekleidet. Sein Kopf ist schmal und kahlrasiert. Das linke Auge fehlt.
„Bleib stehen“, sagt er. Seine Stimme übertönt die Musik kaum, aber er macht sich nicht die Mühe, sie zu heben. „Arme hoch. Gut.“
Ich werde begutachtet.
„Waffen?“, will er wissen.
Mein Handgewehr und das Kurzmesser nimmt er gleichmütig entgegen.
„Kein Waffeneinsatz. Heute haben wir Faustkämpfe“, leiert er dann die Arenabestimmungen herunter. „Hose, Gürtel, Stiefel, weiter nichts. Lass deine Klamotten bei Méyu. Versteckte Messer oder ein sonstiger Mist, und du bist dran. Machst du Ärger, kommst du hier nicht lebend raus. Verstanden?“
„Verstanden.“ Ich senke die Arme.
„Du warst schon einmal im Barbarenstall“, mustert der Türwächter mich. So nennen einige Menschen Asanctars das Hochsicherheitsgefängnis, das steht, wo meine Klasse früher ihre Hochburg und Heimstatt hatte. „Das ist gut, dann weißt du ja, wie die Regeln lauten. Hier läuft es ähnlich wie dort.“
Wir starren uns für Sekunden an.
„Oben“, sagt er langsam, „ist nichts mehr übrig. Den Gipfel der Welt haben sie abgesperrt.“
Dann, durch Jahrhunderte hindurch, ohne auf etwas so Flüchtiges wie Sympathie angewiesen zu sein, reichen wir uns die Hand. Seine ist kalt, mager und krank.
„Ich hätte dich fast nicht erkannt“, höre ich mich sagen.
Im Hintergrund pulst die Musik, wechselt, pulst weiter.
Der Mann öffnet mir die Tür.
„Liefere ihnen einen guten Kampf.“ Er zögert, fügt dann hinzu: „...Bruder.“
Mein Gehirn würgt noch an der unvorhergesehenen Begegnung – die ersten Schritte in den Kampfkeller hinein tue ich ohne Gefühl oder Geistesgegenwart. Geräusche, Körper und Bewegungen drängen so plötzlich an mich heran, dass ich meine Gereiztheit nicht eigens anstacheln muss.
Auch der Keller gleicht eher einer kleinen Halle. Berücksichtigt man die einigermaßen leere Taverne oben, lässt die erstaunliche Anzahl von Menschen hier unten nur den Schluss zu, dass die Treppe nicht der einzige Zugang zur Eisenwolf-Arena sein kann.
Musik, hundert Stimmen und weniger konstante, aber einprägsame Laute verkleistern sich zu einem gierigen Lärm – oder ich höre es so, weil ich es will.
Ab hier wird nicht mehr viel gesprochen. Meine Wahrnehmung zerfällt.
Fetzen. Plötzlich ist mein Oberkörper nackt. Billiges Öl.
Fetzen. Hände klatschen mir aus dem Menschenkorridor auf den Leib. Mienen zwischen Kennergehabe und Schaulust. Ich bin ihr Stellvertreter, schleppe all die bösen Gefühle, die sie verleugnen, in den Ring.
Fetzen. Zehn, zwanzig gestaffelte Reihen von Gesichtern. Geldstücke wandern zu Wettenreglern. Stimmen finden in einen Takt.
Mein Opponent ist fast so breit wie hoch. Anders als ich hat er schon gekämpft: Seine Fäuste sind mit verfärbten Binden umwickelt.
An Ungerechtigkeiten stört sich niemand. Wer hier in den Ring geht – einen simplen, nicht abgesperrten Platz inmitten der Zuschauer -, bleibt solange dort, bis er freiwillig aufgibt.
Der Schiedsrichter ist nur dazu da, Teilnehmer mit einem Betäubungsstock auszuschalten, falls sie doch Messer oder Faustringe in den Beinkleidern versteckt haben.
Bevor wir aufeinander zu stürmen, lächle ich mein Gegenüber an.
Er versteht es.
Von irgendwo her sieht vielleicht der Türwächter zu. Wenn ich Asanctar retten will, wird es wegen Leuten wie ihm sein. Wenn.
Der Gegner zielt auf meinen Magen.
Der Schlag rutscht ab, durch das Öl. In einer Halbdrehung aus der Taille heraus haue ich ihm die Linke, auf die er nicht geachtet hat, direkt ins Maul, die Füße leicht versetzt.
In der Menge ein schönes, dunkles Gesicht. Stephen? Ich suche, erwarte fast, ihn wirklich dort zu sehen, wie damals im Lager seines Heerverbands, lächelnd, interessiert, während ich einen seiner Soldaten verprügele. Nur einer unter sechs Hauptleuten, aber schon so stolz und frech und grausam wie der Kriegsfürst, der Tage später aus ihm werden soll.
Mein Gegner stolpert.
Gebrüll ringsum verschluckt sein Keuchen, das Splittern seines Kiefers. Ein blutunterlaufener, fassungsloser Blick.
Er hat keine Chance.
Ich schlage ihn mit einer älteren Kraft. Ich schlage ihn ohne Rücksicht auf Ehre. Ich schlage ihn stellvertretend für ganz Asanctar.
So nimmt der erste Kampf seinen Lauf, und man kann wirklich nicht behaupten, er sei fair.





Der Mittag vergeht mit der Sondierung der Lage. Zuvorderst müssen wir wissen, wie viel seit der Entdeckung des Opfers zu den Fußtruppen Asanctars und ihren Vorgesetzten durchgesickert ist.
Ich habe sie über die Zeit beobachtet.
In den oberen Rängen genauso korrupt wie die Ordnungsgremien, denen sie untersteht, stützt sich die Polizei insgesamt auf sehr gewöhnliche, sehr arbeitsame Menschen. Sie dürfen nicht zu gebildet und nicht aus den oberen Bevölkerungsschichten sein. Bildung brütet kritisches Denken aus, familiäre Beziehungen erschweren das Herumschubsen der Mitarbeiter.
Es sind einfache Leute. Ach, gehen wir noch einen Schritt weiter: Gute Leute. Wie rührend.
Trotzdem haben wir sie aus dem Weg zu halten.
Diablo gehört uns. Das Vorrecht der Älteren.
Ich spreche mit zwei Obersten der Stadtviertel Sulaya und Kehjaun – die zusammen mit Camever und Am'Ashwa das Zentrum bilden -, um zu erfahren, ob ihre Reviere auf das Ereignis reagieren.
Beide sind nicht erfreut über meinen Besuch.
Der Hinweis auf Kontakte zum Ordnungsrat zerstreut ihre Bedenken schnell. Ich deute an, der tote Imbissangestellte sei in etwas verwickelt gewesen, habe verdeckt für Stellen gearbeitet, die ich leider nicht nennen darf.
Die Obersten wollen gar nicht wissen, was für Stellen das sind. Sie wollen auch nicht wissen, wer ich bin.
Sie strahlen Erleichterung aus, als ich mich verabschiede – und einen solchen Mangel an Bereitschaft, mir hinterher zu schnüffeln, dass ich Asanctar für sein Überleben bis hierher fast bewundern möchte.
Als ich aus der Wachstube trete, ruft sich die nächste Aufgabe in Erinnerung.
Ich bin dafür schon im richtigen Viertel.
Kehjaun ist der schmutzige kleine Nacheiferer Sulayas. Dasselbe, was man dort findet – Vergnügungsstätten, Tavernen, Märkte, gedrungene Tempel und eine übertriebene Anzahl winziger Läden -, findet man auch hier, aber schäbiger, verschwiegener. Die Umsätze werden nicht so regelmäßig gemacht, sind im Grunde jedoch ähnlich hoch. Denn Kehjaun verkauft die wirklich wertvollen Dinge.
Ausgestopfte, manchmal sogar lebende Kreaturen einer vergessenen Ära. Nicht zugelassene chirurgische Eingriffe. Bis zur Unkenntlichkeit abgegriffene Bücher und Pergamentrollen. Echte Stoffe, namentlich Seide. Pflanzenreste. Tiegel voller Fette und Öle in tausend Formen und Abwandlungen. Und natürlich Drogen.
Das sind die Zutaten, die auf gewisse Lebewesen eine größere Anziehungskraft ausüben als Geld, Alkohol oder käufliche Liebe.
Die Lebewesen umkreisen Kehjauns Gassengeflecht, tagsüber wie nachts, wagen nach oft wochenlanger Planung und Verwirrung den Vorstoß in einen der vollgestopften Läden, in eine der ausgesucht versteckten Bars.
Sie sind Sanktuarios wahre und letzte Chronisten. Warum das Los auf sie fällt, weiß der Himmel.
Kriege und 'Säuberungen' sind viele Male über Asanctar hinweg gefegt. Ganze Clans: Getötet, samt der Kinder und Kindeskinder. Ganze Verkaufshäuser: Geschlossen, die Angestellten verhaftet, auf ewig verschwunden. Ganze Berufszweige: Für illegal erklärt, ausgelöscht – besonders jene, die irgendetwas mit Papier oder Tinte oder, später, Buchdruck zu tun hatten.
Mit einigen Tempeln war man ähnlich gründlich.
Dennoch haben Chronisten überdauert, unfreiwillige Abgesandte eines Gestern, ohne eine Idee, ob das, was sie in Kopf oder Blut tragen und das nicht einmal Wissen genannt werden kann, der Wirklichkeit entspricht.
Wir Fünf, wir lieben sie. Jeder auf seine Weise. Wen wundert das?
Zehn Jahre auf der Flucht vor der eigenen Welt, oft in Armut und ohne einen Mitmenschen, an den man sich wenden könnte, sind eine lange Zeit. Siebzig, achtzig Jahre reichen für den Hopser über die Schwelle zum Wahnsinn.
Und tausend Jahre?
Ich warte bis zur Dämmerung. Sie fällt in Asanctar immer rasch, eine verfrühte, unnatürliche Angelegenheit infolge der Luftverschmutzung und der dichten Bebauung. Ich verbringe die Stunden bis dahin allein, ohne Kontakt zu Informationsquellen oder Bekannten, in einer sympathisch schäbigen, halbdunklen Taverne.
Das Personal beäugt mich nervös. Augenscheinlich sind ihnen Fremde, die sich über Stunden hinweg an zwei Karaffen Reiswein festhalten und das schwache Treiben im einzigen Raum beobachten, nicht geheuer.
Schließlich nähert sich der Wirt meinem Tisch, ein Wischtuch in den Händen. Er hat Angst, aber er hält sich wacker.
„Ich muss Euch bitten, zu gehen“, murmelt er befangen.
An der Bar verfolgen zwei Frauen – Gemahlin und Tochter sicherlich – unsere Begegnung.
„Warum?“ Ich lächle in sein glänzendes Gesicht hinauf. „Das Stillsitzen und Genießen deiner Gastfreundschaft ist doch nicht verboten?“
Das Wischtuch wird zerdrückt. „Das nicht“, sagt er, „nur... Ihr vertreibt mir die Kundschaft.“
„Tatsächlich?“ Ich werfe einen demonstrativen Blick auf die anderen drei Gäste, die verteilt im Tavernenraum hocken und nicht die geringste Notiz von mir nehmen.
Dann lehne ich mich zurück.
Sekundenlanges Schweigen. Der arme Wirt schwitzt.
„Ich muss Euch wirklich darum ersuchen -“, startet er einen neuen Versuch.
„Und ich muss dich wirklich darum ersuchen, mich hier sitzen zu lassen“, unterbreche ich ihn liebenswürdig. „Keine Sorge, in einer halben Stunde bin ich weg. Bis dahin“, ich lege ein Fünfzig-Cisma-Stück auf den Tisch, „geh deiner Arbeit nach, guter Mann.“
Seine Brust hebt sich unter einem tiefen, bebenden Atemzug.
„Ich bin nicht bestechlich“, löst er dann den Blick von dem kleinen Silberblock.
Mein Lächeln verbreitert sich ohne mein Zutun.
„Lobenswert.“ Ich leere die zweite Karaffe Reiswein in den Holzbecher. Der Wirt schaut zu, milde verzweifelt jetzt. „Wie heißt diese Straße? Travincalgasse, richtig? Das ist ein ehrwürdiger Name.“
„Nun -“
„Den Männern, die wöchentlich in deiner Taverne vorbei schauen, sagt er wahrscheinlich nichts. Eine Schande. Und eine Schande, in größerem Zusammenhang gesprochen, dass sie dir die Kasse leerräumen.“ Meine Linke schiebt ihm die Karaffe zu. „Na, vielleicht nicht ganz, aber die Hälfte dürfte es schon sein.“
Allmählich begreift er. Schwer zu sagen, ob das Blut, das ihm ins Gesicht schießt, Scham oder Empörung bedeutet. Hilflosigkeit bedeutet es so oder so.
„Ich will dir nichts“, sage ich gedämpft. „Vielleicht kannst du mir helfen. Um meine achtbaren Absichten zu unterstreichen, bitte ich dich sogar darum. Sieh dir das an.“
Ich breite drei Fotografien auf dem Tisch aus.
Die Obersten der Polizeireviere waren nicht in der Lage, sie mir zu verwehren.
„Kennst du eine dieser Personen?“, frage ich, ignoriere das Zwicken in meiner Magengrube. Als der Wirt nicht sofort antwortet, füge ich hinzu: „Und spiel mir nicht den ahnungslosen Bürger. Kehjaun weiß um seine Besucher.“
Nach einem viel sagenden Zögern deutet er mit dem Wischtuch auf das mittlere Foto.
„Der“, brummt er. Meine nächste Frage voraus ahnend, konkretisiert er: „Der ist regelmäßig in dieser Gegend. Im Jasmintempel.“
„Gut“, sammle ich die Aufnahmen ein. „Du kannst jetzt weiterarbeiten.“
Der unterschwellige Befehl – er hat verstanden, wo sein Platz ist – wirkt: Der Wirt zieht sich an die Bar zurück. Von Kopf bis Fuß ein innerhalb seiner Sphäre geschlagener Mann, was ich durchaus bedaure.
Aber in Anbetracht einer gewichtigeren Bedrohung müssen erpresserische Maßnahmen hingenommen werden, und Asanctar wird die Demütigung kaum sonderlich spüren. Es ist viel zu gewöhnt an Demütigungen.
Ich halte mein Versprechen und verlasse die Taverne zwanzig Minuten später. Allerdings nicht ohne einen letzten disziplinarischen Akt.
An der Bar weicht die Tochter des Wirts nicht schnell genug zurück, um mir zu entwischen. Ihre Hand auf der Theke festzuhalten, ist unnötig – meine Präsenz erledigt das. Ihr Vater sieht vom entgegengesetzten Ende der Theke aus zu, wunderbar ohnmächtig, so ohnmächtig, dass es mich kitzelt. Eine winzige Entschädigung für Jahrzehnte des Versteckspielens.
Die Anderen würden es verstehen, egal wie angestrengt jeder von ihnen an den guten Menschen glauben will, der überdauert hat.
Die junge Frau ist dunkel, schlank, eckig. Sie gefällt mir, auch, weil ihre weit aufgerissenen Augen trotz aller Beklemmung angriffslustig bleiben.
„Du kannst deinem Vater versichern, dass er auf die Schutzgeldeintreiber nicht mehr warten muss“, sage ich zu ihr.
Anfangs keine Antwort. Doch dann, bemüht, mir Paroli zu bieten, nicht zu zeigen, wie sehr ich sie anwidere, meint sie: „Wir brauchen Eure 'Hilfe' nicht. Ihr seid nicht besser als die Geldeintreiber.“
Normalerweise würde ich dem nicht widersprechen.
Heute sage ich: „Doch. Viel besser.“
Misstrauen durch und durch, huscht ihr Blick zwischen meinen Augen hin und her.
„Manchmal denke ich noch“, bringt sie heraus, „jemand wie Ihr würde das verstehen. Versetzt Euch in meine Lage. Frau, und -“
„Und?“
„Und Kurasti.“ Steif, gegen einen Widerstand, den sie nicht erfasst, tritt sie von der Theke zurück.
Ich denke, dass mein Lächeln die Ewigkeit nicht unbeschadet hinter sich gebracht hat, denn seine Wirkung verfehlt, was ich beabsichtige. Die Wirtstochter erbleicht.
„Wir sind alle Kurastis“, wende ich mich zum Gehen. „Offensichtlich oder nicht.“
Draußen empfängt mich der verhuschte Betrieb Kehjauns, gedämpfte Farben, omnipotenter Stein, ausgehöhlt von Nischen, in denen Asanctar wohnt, handelt, einer weiteren Nacht entgegen quillt. Kehjaun ist zu eng und verwinkelt für Gleiter. Eine leise und umso drohendere Gereiztheit beherrscht die Atmosphäre. Fressen oder gefressen werden.
Eigentlich sollte man sich genau hier ein Apartment kaufen. So nah am aufrichtigen Puls Sanktuarios schläft es sich bestimmt sehr gut.
Ich lasse mich zum Schein treiben, neugierig, ob der Glaube ans Schicksal, an Bestimmung mehr ist als der Schrei einer nackt ausgezogenen Menschheit. Und siehe da, ich lande quasi automatisch in einer weiteren Gasse, grünlich von Neonschildern der hiesigen Lokale beleuchtet.
Mein Herz schlägt langsamer. Der Körper unterwirft sich der Konzentration. Mit nervlicher Anspannung hat sie beinahe nichts zu tun.
Der Jasmintempel entpuppt sich als Parodie auf seinen eigenen Namen. Im Inneren nichts von Blüten oder Heiligkeit, nur eine Sammlung matt strahlender Lichtröhren in Form einer Dolde – nicht einmal Jasmin, aber gut, die Erinnerung an dieses Gewächs ist längst verschüttet.
Ein großer Raum, nachlässig geordnete Sitzbänke an niedrigen Tischen. Ungefähr ein Dutzend Kunden und vier Angestellte.
Wenn ich vermeiden will, Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, bleibt nur ein Lockvogel.
Ich.
Ein Platz an einem der unbesetzten Tische ist schnell gefunden, das Glas Mohnschnaps schnell geordert. Die Bedienung und der Umgangston im Jasmintempel sprechen Bände, vornehmlich darüber, dass es sich hierbei um einen Wartesalon für zwielichtige Existenzen handelt. Allein in den ersten fünfzehn Minuten darf ich Zeuge dreier Begegnungen sein, die Drogen- oder Menschenhandel zum Inhalt haben – mit einer Schlampigkeit abgewickelt, wie es sie nur auf neutralem Boden gibt.
Perfekt. Hier bin ich goldrichtig.
Ich kopiere den Habitus der anderen Gäste und hülle mich, wenn auch weniger ernsthaft als sie, in Unnahbarkeit. Gleichzeitig entriegele ich einen Fenstermechanismus in mir. Er ist festgerostet, es braucht ein bisschen Zeit. Ich rutsche tiefer in die Sitzpolster, schließe die Augen.
Mauern, Menschen und Straßen sind nichts. Die fähige Elite in Asanctar liest ihre Opfer aus dem Chaos der Materie heraus: Jäger verbotener Klasse im Walddickicht, abgerichtet auf ein einziges unbedachtes Lebenszeichen der Beute.
Sie operieren im Rahmen einer sorgsam bewahrten Schattenidentität, an der langen Leine der asanctarianischen Räte. Man muss ihnen Zeit einräumen. Ihre Profession ist bedroht: Sie waren sehr effektiv.
Daher, reichhaltig, verführerisch unverblümt, sollte ich Erfolg haben. Bald.
Ich liefere mich einer Welt aus, die ihren Grundfesten das Wasser abgegraben hat, überzeugt, alles Übel müsse den Bereichen entspringen, die sich durch Städtebau und Gleichmacherei weder kontrollieren noch auslöschen lassen. Es hat Erklärungsversuche gegeben, aber die Wissenschaft war dem Ordnungsdrang unterlegen.
Also die Idee: Wenn wir die Verhältnisse schon nicht klären, so bleibt uns doch, die Quellen zu beseitigen. Ganz geringe Quellen. Gemeinden, Haushalte, Einzelne. Die abschließende Politur waren die Edikte – ironischer Weise nicht von Paladinen, sondern von Menschen verfasst, deren Lebenswelt knietief im Verbotenen verankert war.
War – und ist.
Hier haben wir uns schuldig gemacht, alle Fünf. Den Umschwung der Gesellschaft hinsichtlich einer Akzeptanz des Übernatürlichen zu beeinflussen, wurde versäumt.
Und umso belustigender gestaltet sich, wie ich im Hier und Jetzt ein Fenster meiner Seele aufstoße, hoffend, betend, dass die Weisheit mehrerer Klassen – an denen ich mich im Übrigen versündige – als ein einziger Ruf aus mir herausströmt.
Komm. Ich lege eine Hand auf die Fotografien in meiner Brusttasche, schließe die andere um das Glas.
Komm. Ich laufe nicht weg.
Asanctar ist so ungeheuerlich gewachsen. Türme, Fabriken, Empfangshallen, Tempel, Gemächer. Es muss schrumpfen. Unsertwegen.
Und er kommt.
Mein Vorteil besteht in meiner räumlichen Position. Die Gestalt, die den Jasmintempel betritt, sieht sich fast zwanzig potentiellen Verdächtigen gegenüber, abgelenkt durch die anwesenden Frauen – weil Frauen seit jeher Hauptträgerinnen dieses Erbes waren -, beschäftigt mit der Einschätzung der Lage.
Ich wittere den verwunderten Hunger des Gegners. So eine rücksichtslose Machtdemonstration ist ihm sicher seit Jahren nicht untergekommen.
Dementsprechend verhält er sich vorsichtig. Ein mittelgroßer, völlig unauffälliger Mann, dringt er, in einen schwarzen Leinenüberwurf mit passender Haube gekleidet, in den Barraum vor. Er sucht sich einen Platz, versinkt in Schatten, wartet.
Gehe ich hinaus, auf die Gasse oder in einen der Lagerräume des Lokals? Oder bleibe ich sitzen und locke ihn noch ein wenig?
Mir ist klar, wie kindisch ich mich aufführe, dem Ernst der Sache gar nicht angemessen, aber daran ist meine uralte Arroganz schuld, und Arroganz war schon immer mein größter Fehler.
Ich entscheide mich für einen Mittelweg. Kurz, doch zielgerichtet werfe ich den Köder aus, ihm direkt vor die Füße. Er versteift sich alarmiert, ich fühle es.
Er erhebt sich. Ein fast nicht wahrnehmbarer Blick durch den Raum – ja, sein Gegner ist definitiv hier, und entweder unvorsichtig oder auf Konfrontation aus -, dann schleicht er zur Rückseite, schlüpft durch eine angelehnte Tür.
Der Jasmintempel untermalt den ersten Akt mit modernen Klängen, die gerade in Mode sind und Gelassenheit suggerieren. Meine Gefechtsbereitschaft windet sich darunter entlang wie eine Kanalratte.
Ich stehe auf und gehe ihm nach. Noch ist es unpersönlich. Aber nicht lange: Mein Schicksal ist zu eng mit dem wenigstens zweier weiterer Klassen verknüpft, und ich kann auf negative Gefühle zurückgreifen, die in dieser Stadt ihresgleichen suchen.
Jenseits der Tür ein Korridor. Rechts und links verlassene Garderoben. Jedes hier aufgehängte Gewand, jeder Stein im Gemäuer des Gebäudes wirft die Spur des Feindes zurück.
Es wird still. Der Jasmintempel verkommt zum Vorhof eines Schlachtfeldes. Das Eingreifen ahnungsloser Asanctarianer müssen wir nicht fürchten. Notfalls sind sie schnell beseitigt.
Der nächste Raum ist tatsächlich ein Lager: Groß, zwielichtig und unzureichend erhellt von ein paar Fenstern, vollgestellt mit Kisten.
Er steht am anderen Ende. Zwischen uns etwa zehn Meter.
Ich schließe die Tür.
„Ah“, kommt eine dünne, windige Stimme aus seiner Richtung. „Du weißt Bescheid.“
„Sicher“, entgegne ich. „Ich habe gerufen. Du hast geantwortet.“
Meine Erwiderung trifft ihn unvorbereitet. Für gewöhnlich attackieren entblößte Opfer sofort, oder sie fliehen.
„Eure Art ist so gut wie ausgestorben“, sagt er. „Jede Herausforderung gleicht daher einer Kampfansage – tapfer, das muss man euch lassen. Tapfer und hirnverbrannt.“
Zeit, ihn zu verwirren. Hat irgendjemand einen fairen Kampf verlangt?
„Vielleicht solltest du dich versichern, mit wem du es zu tun hast“, lege ich die Hände, die er eventuell erkennen kann, vor dem Schritt zusammen. „Eure Mission tappt seit Jahrzehnten im Dunkeln. Was, wenn ich hier bin, um dich zu überprüfen? Vertraust du deinen Auftraggebern?“
Schweigen.
Dann sagt die Kontur am anderen Ende des Lagers: „Ich weiß nicht, worauf du anspielst.“
„Doch, ich denke schon“, sage ich. „Der Rat zur Beseitigung illegaler magischer Aktivitäten ist ständig in Gefahr, von innen ausgehöhlt zu werden. Man droht Leuten wie dir. Hält sie klein. Ohne Rücksicht auf ihre Treue zum System.“
„Unsinn.“ Gesammelte Aufmerksamkeit. Darin, pestschwarz, der Zweifel.
„Ihr steht unter Beobachtung. Andauernd. Hat man jemandem wie dir je dasselbe bezahlt wie einem gewöhnlichen Handlanger?“
Wieder Schweigen. Ich kann hören, wie seine Überzeugung rieselt: Nachgebender Verputz im Gemäuer.
Ich wage vier, fünf Schritte. Soll er mich ruhig richtig sehen.
Ein surrendes Klicken aus seiner Richtung. Eine Handfeuerwaffe wird geladen.
„Diese Stadt“, sagt er schließlich flach, „ist verflucht. Korrupt. Wenn du einer von uns bist, weißt du, warum.“
Ich schweige.
Sutre“, kommt es mir entgegen. „Die Firma observiert all unsere Aktivitäten.“
Spätestens jetzt müsste ich lachen. Ich halte mich zurück, mache noch einen Schritt – in einen Lichtfleck hinein.
Sutre ist wirklich ein Problem“, gebe ich zu. „Aber ich fürchte, dafür sprichst du mit dem Falschen, mein Freund.“
Er reagiert mit bewundernswerter Geschwindigkeit.
Zwei Entladungen. Zwei Kugeln treffen mich in die Brust.
Der Einschlag wirft mich fast um. Ich verdanke es nur einem Kistenstapel, dass ich nicht falle. Heiß explodierender Schmerz, Organe, die sich geschockt verkrampfen, zerfetzte Muskeln und Knochen. Ich schleudere die Empfindung in den Äther Asanctars, den vier Menschen entgegen, die mir noch geblieben sind. Es tut wirklich weh.
Der Sucher lädt nach, horcht auf mein Stöhnen.
Ich gebe es ihm. Das zumindest hat er sich verdient.
Doch als ich mich vom Kistenstapel löse, eine Hand am durchweichten Jackett, geht ihm sein Triumph verloren. Seine Waffe, Kind der Moderne, ist ziemlich wirkungslos gegen Tyraels Geschenk.
Die Projektile zwängen sich aus meinem Fleisch. Eines davon prallt im Herabfallen gegen mein Handgelenk, während ich Luft einsauge, ein Monster nach Heerscharen von Monstern.
Noch zwei Schritte. Dass ich dabei taumele, nimmt ihrer Wirkung wenig.
Der Sucher hebt die Waffe, doch sie zittert. Er ist sprachlos. Und mich regiert jetzt der angestachelte Hass ganzer Klassen.
Ich habe sie nicht beschützt. Ich war ihnen kein Vater. Umso glühender räche ich sie.
Der dritte Schuss verfehlt meine rechte Schulter.
Wir sind allein in diesem Lagerraum, in der dämmernden Stadt. Niemand wird uns richten.
„Bleib stehen!“, platzt mein Gegenüber heraus.
Ich bleibe nicht stehen. Ich will wissen, was er noch zu bieten hat.
Die Vermutung, dass die Bluthunde der asanctarianischen Obrigkeit die Fähigkeiten ihrer Opfer absorbiert haben, bestätigt sich – der Jäger des Systems bedient sich derer, die er jagt.
Mitten in einem Schritt trifft mich, einer hastigen Geste vorgelagert, ein Kältezauber.
Meine Haut knistert – flüchtige, verheißungsvolle Todeskälte -, aber ich wehre ihn ab.
Wenn dieser Sucher die Elite seiner Profession ist, bin ich der Abgesandte aller Klassen, denn die Zeit hat für mich gearbeitet.
Er weicht zurück.
Bis ich ihn erreiche, feuert er zwei Blitzzauber und – worauf ich gewartet habe – einen Fluch auf mich ab. Nicht sehr sorgfältig. Nicht sehr gut recherchiert. Schade.
Wir treffen aufeinander, zwei Teilnehmer einer Überraschungsschlacht. Alles ist dreckig, improvisiert, ehrvergessen, die reine Not.
Der Sucher flieht zur Hintertür des Lagerraums. Sie ist verriegelt. Dort wirbelt er herum, wirft alle Vorsicht über Bord, sendet mir ein bleiches Gebilde entgegen: Einen zackigen Ball aus Knochen, und ich weiß, wie verzweifelt er ist, wenn er diesen Zauber bemüht, der nahen Kreaturen Knochenteile aus dem Leib reißt. Irgendwo im Umkreis von etwa fünfzig Metern stirbt jemand ganz plötzlich und elend.
„Komm her.“ Ich greife mir seinen Kragen. „Meine eigene Magie verwendest du gegen mich. Das ist nicht nur dumm, das ist ein Affront.“ Er ist mir so nah, dass ich sein Gesicht deutlich sehe: Blass, intelligent, fleckig vor Angst.
Eine seiner Schusswaffen poltert zu Boden, als ich ihn hochhebe und gegen die verschlossene Tür drücke. Füße treten vergeblich.
„Du widerlicher Hund.“ Knöchel bohren sich in einen Hals. Keuchen. „Du hast deinen letzten Magier umgebracht, Sucher.“
Pupillen, geweitet. Der winzige Funke darin benötigt kein seitlich einfallendes Licht.
„Du“, würgt er. „Du bist es. Du lebst noch. Sie hatten Recht!“
Ich lasse ihn langsam zugrunde gehen, im Vollbewusstsein meiner Macht, den Opponenten eine Handbreit vor mir, sodass sich seine Qualen durch die Fäuste, mit denen ich ihn an die Tür presse, übertragen. Er leidet, er wehrt sich mit aller Bitterkeit, auf die ich gewettet habe, während sein Körper in Zeitlupe zerplatzt, zerfällt, schmilzt.
„Ich bin es“, sage ich in das blutleere Antlitz. „Ich bin Sutre.
Elisa.
Gut, dass du mich nicht siehst.

Ich lasse den toten Sucher liegen. Einer weniger.
In der Vorbereitung schlagen wir kleine Schlachten.
 
Wieder einmal ein exzellentes Kapitel.

Der Stil ist immer noch etwas gewöhnungsbedürftig für mich, aber das soll dich nicht stören.

Die wechselnden Ich-Perspektiven machen es mir etwas schwer zu verstehen um wen es sich handelt.

In diesem Kapitel sind nur Raoul, Celeste und Stephen in Aktion, richtig?
 
Sehr schön. Asanctar -- der Name ist wirklich gut gewählt ;) Man riecht fast den Verfall, der aus allen Poren trieft. (Kommt mit Musik vom Blade Runner-OST übrigens noch besser rüber :D)

Die Erzählerwechsel kommen in der Tat ziemlich hart, sind ja fast schon filmische Schnitte. Da muß man beim Lesen schon etwas auf der Hut sein. Ich finde es allerdings schon noch "zumutbar" :)
 
Juhu es geht weiter :D, leider grade keine Zeit zum lesen, morgen werde ich es mir mal durchlesen :top:
 
Klasse, es geht weiter!
Habs erstmal an meine E-Mail auf Arbeit geschickt..morgen werde ich ja wohl Zeit haben zu lesen...
Und dafür braucht man viiiiiiieel Zeit und Ruhe, um jede Formulierung, jedes Bild für sich zu sehen und zu genießen ;)
 
sehr schöne story kann ich nur weiterempfehlen :angel:

viel spass beim lesen
 
Ihr Lieben, vielen Dank für eure Rückmeldungen soweit. Im letzten Kapitel 'sprechen' nur Raoul und Stephen - Segans Vermutung (durch einen scheinbaren Szenenwechsel beim Kopieren in Word ausgelöst/bestärkt, wie er mir PMt hat) auf Celeste hat mich insofern gefreut, als die ersten Sätze des Abschnitts natürlich in die Irre führen sollten.
Schön, dass Perspektive und Such-Spiel nach gerade erzählendem Char kein Problem sind. Meldet euch aber bitte, wenn das der Fall sein sollte.
LG und schönen Sonntag, Reeba
 
Hallo Reeba,

Habe mich extra registriert, um mal mein Lob für die sehr guten Stories auszusprechen. Habe schon Gipfel der Welt und Saqquara mitverfolgt, und bin auch von dieser Geschichte restlos begeistert.

In diesem Sinn, vielen Dank für den erstklassigen Lesestoff.
Weiter so!
:top:

Gruß
questor1
 
Wirklich spitze die Story, nur weiterzuempfehlen!
Hf beim Lesen

Gruß
spliffmaster
 
Ein Hallo an die drei Neuen:>
Und weiter im Text.



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VII. Metamorphose





Unter dem Hospital ist es kalt. Eisaggregate in den Wänden halten die Temperatur konstant auf vier, fünf Grad über dem Gefrierpunkt.
Froh, die Robe gegen einen Anzug vertauscht zu haben, schaue ich an Reihen und Reihen flacher Metallkisten entlang.
Es ist nur eine Übergangsstation. Trotzdem stößt sie mich ab, die Funktionalität dieses Kellers, und erinnert mich daran, welcher Geist hier regiert.
Ich habe eine Weile nicht mehr an den Zwist gedacht. Er ist zu selbstverständlich geworden.
Nach der Erlösung der Welt hat eine seiner zwei Klassen den Osten aufgegeben. Es war die Konsequenz einer schon lange vorher bemerkbaren Glaubensspaltung. Unter der Bedrohung – zugunsten gemeinsamen Handelns – noch verdrängt, hatte sie plötzlich die Kraft, beide Klassen davon zu überzeugen, ein Land wie Kehjistan könne für das Licht und für den Götterkult unmöglich groß genug sein.
Anfangs: Eine gemächliche Trennung. Ein langsamer Auszug. Nicht unbedingt in bestem Einvernehmen, aber ohne schwere Verluste auf beiden Seiten. Die Entfremdung vervollkommnet haben Kriege, dann die Zeit und letztlich der Erfolg, der dem alten Osten auf der anderen Meeresseite, zu der er seinen ehemaligen Nachbarn hinterher gereist ist, beschieden war.
Paladine und Nekromanten vertragen sich nicht.
So einfach ist das.
Asanctar hat keine Friedhöfe. Wer stirbt, wird verbrannt – auch die, die hier aufgebahrt liegen.
„Kwarang, sagtet Ihr?“, holt mich die Stimme des Alten aus meiner Betrachtung des Leichenkellers.
„Ja. Jamal Kwarang. Er müsste gestern Mittag eingeliefert worden sein.“
„Was von ihm übrig ist“, brummt der Hospitalangestellte. „Was hofft Ihr da noch zu sehen, he? Seine Familie wollte ihn schon abholen.“ Damit er endlich die nächste Welt betreten kann, fügt eine griesgrämige Miene hinzu.
„Zeig ihn mir“, sage ich knapp.
Er gehorcht, lässt seinen Unmut aber deutlich durchblicken, murmelt etwas von Behinderung und rechtschaffenen Leuten, die man bei ihrer Arbeit stört – gerade laut genug, damit ich ihn höre.
Bei einer der Metallkisten angelangt, hebt er den Deckel ab.
Ich bin etwas abseits stehen geblieben.
„Da“, sagt der Alte.
„Geh. Ich brauche etwas Zeit.“
„Wofür?“ Er mustert mich feindselig. „Ihr seid kein Ostler.“
Hast du eine Ahnung. Ich rühre mich nicht vom Fleck, werfe meine gesammelte Autorität über die gebückte, graue Gestalt. Aber es ist, als ob dieser kalte Raum unter der Erde mich demütigen will: Wo früher Spaliere von Soldaten auf einen simplen Blick hin niederzuknien bereit waren, fährt ein Hospitalangestellter die ganze Ignoranz und Unempfindlichkeit seiner Ära gegen mich auf.
„Da gibt's gar nichts zu glotzen“, verharrt er demonstrativ am Bleisarg, der ihm anders als mir bis zur Brust geht. „Meint Ihr, Euer hübscher Anzug macht mir Angst? Ihr könnt schon von Glück sagen, dass man Euch überhaupt Zutritt gewährt hat. Ihr seid nicht von der Polizei.“ Allmählich, beflügelt vom eigenen Mut, wird er lauter. „Ihr seid auch nicht vom Rat für Hygiene, das hätte ich gemerkt, und ich denke nicht daran, zuzusehen, wie Ihr Euch an einem Eingelagerten zu schaffen macht. Ich werde -“
„Du musst gar nichts mit ansehen“, falle ich ihm, die Zähne zusammengepresst, ins Wort. „Geh einfach.“
Er geht.
Weit wird er sich nicht entfernen, wird bei seinem Tisch am Eingang Wache schieben, vielleicht sogar darauf hoffen, dass sich hier irgendetwas Übernatürliches oder wenigstens Ungesetzliches abspielt. Auch der Grund, aus dem er mich unmöglich hat abwimmeln können, ersäuft vorübergehend in Nebensächlichkeit.
Unbeabsichtigt haben sich meine Hände zu Fäusten geschlossen. Nicht fest. Die Lähmung überwiegt die Anspannung. Kränklich kühles Licht hockt auf den Oberkanten der offenen Metallkiste.
Die Wahrheit zu ignorieren, ist immer eine Option.
Ein Teil von mir will sich umdrehen und gehen, mit verschlossenen Augen in das Auf und Ab der Jahrhunderte zurückkehren. Ein Teil von mir ist halb einverstanden damit, dass Stephen und Celeste sich eventuell täuschen – im zweifachen Sinn des Wortes, weil sie die Absurdität unseres Daseins nicht mehr ertragen können. Er leckt sich sogar die Lippen bei dieser Vorstellung, dieser Idee verheerender Risse im Panzer der Widersacher.
Der Rest weiß sehr genau, dass ich mir etwas vormache. Die Fotografien, die fehlende Verbindung des Vorfalls zu Asanctars am besten gehüteten und seltensten Straßenkämpfen, das andauernde Ziehen im Unterleib – sie sind getreuliche Kundschafter. Und die Berechnungen stimmen in der Tat. Eine schlaflose Nacht über eng beschriebenen Notiztafeln hat ausgereicht.
Wie begierig mein Ich an Pflichtbewusstsein, Verwandtschaftsillusionen und schierem Tatendrang hängt – am besten aller Bilder meiner Selbst -, oder an der Idee davon, an dieser Idee, wird mir erst klar, als ich in die Kiste schaue.
Ich sehe so etwas nicht zum ersten Mal.
Allerdings ist die letzte Begegnung eine Weile her.
Daher wahrscheinlich mein automatisches Luftholen, die beschämende Reaktion der Blase. Vor den entweihten Tempeln von Kurast, vor Harrogath, unter dem Weltensteinturm – Namen, Stromschläge in meiner Schädeldecke – haben sich Männer vieler Weltteile, die Elite ihrer Herkunft, in die Hose gemacht. Und ich bin jetzt nicht weit davon entfernt.
Also gibt es doch ein Drüben, ein Anderes, ein Gegenüber, an das die Seele sich nicht gewöhnt.
Im Bleisarg liegen die Überreste eines jungen Mannes.
Ich weiß, das es so ist – erkennen ließe sich da nichts mehr, weder Alter noch Geschlecht noch Mensch. Nur ein erstarrtes Gebilde schwarzer Knochen, ein monströses Skelett, versteinert von einer Sekunden währenden Feuersbrunst. Schädel, Wirbelsäule, Rippenkorb, Beckenknochen sind noch übrig, auch die oberen Glieder, aber alles plattgewalzt, wie zermalmt.
Dazwischen eine Unmenge dickerer Brocken, auch staubfeine Asche. Ein Polizeimitarbeiter war fleißig, hat Rückstände von Haut und Fleisch aufgelesen.
Ich lege die Rechte auf die Sargkante, atme tief ein. Eine Weile her.
Geruch erkalteter Schlacke, wie man sie am Fuß großer Vulkane findet: Der Abgesang auf eine ungeheure Hitze.
Wenn der innerliche Kontakt zu unseren einstigen Erzgegnern es halbwegs unbeschadet ins Heute geschafft hat, muss da abgesehen von Tod und Elend noch etwas zu spüren sein. Ich strecke, festgehalten von der rechten, die andere Hand aus, gegen jeden Ekel, und fasse mitten in Jamal Kwarangs sterbliche Überreste.
Ich habe zu beten vergessen. Ich hätte für eine barmherzige Offenbarung beten sollen. Zu spät.
Hier, zwischen den gekühlten Materialien einer neuen Welt, springt mir aus der Asche eine breite, gewölbte Stirn entgegen.
Ausladende Hörner.
Glutaugen aus Kinderalpträumen.
Unhörbar und unsichtbar für das Gebäude und seine Angestellten um uns herum sperrt er seinen Rachen auf. Mir zuliebe. Der Tisch und der Bleisarg wackeln.
Reihen roter Zähne öffnen sich. Gestern. Kurz vor Sonnenaufgang.
Hallo, Sanktuario.

Er ist es. Es scheint, er hat der Palette seiner Charaktereigenschaften, wenn man so sagen will, mittlerweile Humor hinzugefügt: Die grimmige Belustigung der Meistermarionette, die ein höherer Wille, dem nicht einmal sie etwas anhaben kann, zurück auf die Bühne zerrt, wo alle Anderen schon warten – auf die Neuauflage einer alten Geschichte.
Was hast du dir dabei gedacht, ,Herr des Schreckens'? Deine Rückkehr beweist die Sinnlosigkeit unserer Existenz – und die Sinnlosigkeit der deinen.
Er ist es, und Sinnlosigkeit sagt ihm ungefähr soviel wie Menschlichkeit oder Gnade. Nämlich nichts.
Abscheu eilt an mir hinauf, Ekel der Sorte, die Schweißausbrüche und den Fall in den jämmerlichsten kleinen Kern des eigenen Daseins nach sich zieht. Davon, die verkohlten Gebeine des Imbissangestellten vollends zu schänden, indem ich mich auf sie erbreche, kann ich mich mit Mühe abhalten. Der Alte da hinten hätte was zu staunen.
Und bei der Vorstellung, auf wessen Tisch ein etwaiger Bericht letzten Endes landen würde – auf dem Tisch des Mannes, in dessen Hospital ich stehe -, findet mich meine Beherrschung wieder, zusammen mit einem Gutteil des Zorns.
Paladine und Nekromanten vertragen sich nicht.
Mein Schwächeanfall von vor einigen Monaten war genug der Herabwürdigung. Weiter darf ich es – ohne die Chance der Selbstentleibung, ohne Chance auf Flucht, wie alle von uns -, nicht kommen lassen.
Ich richte mich auf. Vor mir im Sarg: Nur ein Toter.
Die Bestie wird wissen, dass wir wieder auf sie warten. Sie wird in einer gänzlich fremden Welt nach Vertrautem suchen, nach Gegnern und Verrätern. Nach einem gelben Leuchten: Dem Lockmittel ihrer Widersacher.




Einem Freund gleicht die Stadt noch am ehesten zwischen Dämmerung und Dunkelheit.
Der sonst so beängstigende Moloch wirkt, wenn die Lampions der Tavernen aufflammen und die glatten Oberflächen, Glas, Metall, im Graurot des Abends ihre Spiegelkraft einbüßen, zahmer. Fast wie ein Ort, an dem es sich leben lässt.
Sogar aus dem Rausch preisgünstiger Drogen heraus betrachtet, gewinnt das Treiben in den Straßen etwas schicksalhaft Unbedrohliches: Schulterzuckende Unausweichlichkeit, Bande zwischen allem und jedem.
Die höchsten Etagen, denkt es sich in solchen seltenen Stunden von ganz unten aus, sind dann auch nur Plateaus zufälliger Felsgebilde, an denen ein bisschen herum gemeißelt wurde. Das Unten versteht die Sorgen und Nöte des Oben – Einsamkeit, Langweile, Überdruss -, und es versteht sie wirklich, auch wenn beide Seiten, daraufhin angesprochen, es lieber abstreiten.
Ein Mann sitzt im Dreck. So und nicht anders muss man die Pfütze unter der Hinterseite seiner in einen langen, schwarzen Mantel gewickelten Gestalt nennen: Abwässer, Urin, Rostlachen und Substanzen fraglicher Herkunft. Sie sind, was sie sind, Drogen hin oder her.
Im Grunde ist er sich dessen bewusst. Er würde auch aufstehen und sich woanders hinhocken.
Aber heute war kein guter Tag.
Scheiß auf die Götter, er ist nicht mehr jung. Trotzdem, und trotz einer dieser neumodischen Krankheiten, die sie ihm in einem der Gemeinwohl-Hospitäler attestiert haben – und an der etwas dran sein muss, weil er sie fühlen und sehen kann -, findet er, dass er sich für seine über fünfzig Jahre wacker gehalten hat.
Mit Lochfraß im Gebein geht er hin, liefert sich den Passanten aus, die Hand aufgehalten. Das ist schon so lange so, dass es seinen verbliebenen Stolz hat vernarben lassen. Meist funktioniert es.
Manchmal weht in seine Tage noch ein trockener, heißer Wind, von dem er gar nicht weiß, woher er kommt. Das endet dann regelmäßig auf einer der zentralen Straßen Sulayas und in einem hellen Raum, wo ihm Uniformierte zunicken, die ein wenig der Müdigkeit, die er kennt, ausstrahlen. Vielleicht ist sie ansteckend.
,Je Je' nennen sie ihn. Anfangs, an besseren Tagen, hat er sich dagegen gewehrt. An Tagen besonders heißen Windes hat er ihnen sogar erklärt, dass sein richtiger Name Jerihin lautet und, laut Aussage eines dieser Spinner aus den Ost-Kräuterläden, früher Name eines Fürsten unten im Süden war.
Aber solche Tage verlieren sich. Heute wendet er nichts mehr ein, wenn die Uniformierten Sachen zu ihm sagen wie: ,Schon wieder bei uns, Je Je? Wie geht's denn den alten Knochen? oder ,Sobald wir mit dem Papierkram fertig sind, bringen wir dich nach Hause, Je Je.'
Er hat kein Zuhause, und er weiß, dass die Freundlichkeit der Polizisten von Sulaya nicht länger warm hält als ein Stoß heißer Luft aus einem Straßenschacht.
Heute allerdings würde er einen trockenen Stuhl auf dem Revier und egal was für flüchtige Wärme mit Kusshand entgegen nehmen.
Shiladdigh erweitert die Venen und stimuliert einige Organe. Das Blut fließt schneller, trägt mehr Sauerstoff. Euphorie, Stamina, Gefühle der Energie und Zufriedenheit sind die Folge, bei Gesunden zudem gesteigerte körperliche Leistungsfähigkeit. Der Verwender der Droge braucht weniger Schlaf, kann, was auch immer er gerade tut, heftiger, besser und länger tun – darum ist das unscheinbare graue Puder bei der Oberklasse so beliebt.
Es ist die alte Droge der Assassinen, auch wenn Asanctar das nicht mehr weiß. Gelegentlich und richtig dosiert genommen, halten sich Folgeschäden in Grenzen. Sind tolerierbar im Austausch für so viel glühende Lebendigkeit.
Kein Mensch aus den Kreisen des Mannes, der im Dreck sitzt, wird je seine Hände auf sauberes Shiladdigh legen. Was die gepanschten Versionen der Droge mit dem Körper anstellen, klingt unschön und fühlt sich noch unerfreulicher an.
Davon kann er ein Lied singen. Oder mehrere. Er beugt sich zwischen seinen hohen, spitzen Knien nach vorn und spuckt Schleim auf den nassen Beton.
Er ist sich heute nicht sicher, wer er ist. Er hat ein Feuerrad in der Brust und Gelee im Unterbauch.
Es ist finster, es riecht nach Rost und Öl, daran allein liest er ab, dass er sich auf dem – nächtlichen – großen Schrottplatz in Sulayas Hinterhof befindet.
Er denkt, dass er gern sterben würde.
Wozu die Sache noch hinauszögern? Ihm scheint, er hat alles erlebt, und die Dinge, die er nicht erlebt hat, bleiben unerreichbar.
Regenwasser rinnt durch das Gerippe eines Gleiters, tropft ihm auf die Glatze. Selbstmitleid gehört nicht zu seinem Repertoire noch klar umrissener Gefühle. Er hat lange genug mitgetanzt, das ist alles.
Es wird still.
Die Wärme, die zu ihm dringt, endlich, ist nicht flüchtig. Sie ist gleichmäßig. Beziehungsweise, ungefähr auf Höhe seines Gesichts, seiner geschlossenen Augen, kommt sie in Schüben. Ein rhythmischer, eigenartig riechender Takt.
,Je Je' lässt die Seiten seines Mantels los, den er zuvor mit beiden Händen an der Brust zusammengezogen hat. Auch die Membran um seinen kranken Unterleib lässt er los, ergibt sich in die Fehlfunktion der Organe, ohne Scham, zum ersten Mal seit fünfzig Jahren, und öffnet die Augen.
Jemand im Pantheon der östlichen Götter muss ihn erhört haben.
Sein Tod hockt vor ihm und schaut ihn an.
Er ist nicht überrascht, höchstens von den Maßen des Dings, das sich durch die Schrottkorridore zu ihm heranbewegt hat. Es sperrt jegliches Restlicht, das kleine Quadrat dunkel violetten Himmels über und jenseits von Sulayas Häuptern, vollständig aus.
Trotzdem ist es nicht ganz finster.
Der Tod, begreift ,Je Je', hat sein eigenes Licht mitgebracht. Da er ihn nicht verärgern will, tut er, als treibe ihm der Gestank nicht die Tränen in die Augen, reißt selbige auf und schaut zurück, andachtsvoll, träumerisch beinahe, in Wahrheit deliriös.
Eine gewaltige Stirn, so lang wie sein Arm, wiegt sich sacht von rechts nach links, um Zentimeter nur, wie eine Schlange, die dem hypnotischen Starren des Beschwörers folgt, und mit der Stirn wiegen sich schenkeldicke Hörner, gedreht, gedrechselt, zerschunden vom Fall in den Abgrund. In den Augen leben mehrere Schichten: Ihr Zentrum ist eine in hundert Rottönen kaum erkennbare rote Pupille, aber darunter gleitet Orange in flüssiges Gold, wieder und wieder, aufgebrochen von blasig explodierender Glut.
,Je Je's' Knie fallen zur Seite. Er kann sie nicht mehr in eine aufrechte Position zwingen, so entsetzt und entzückt ist er.
Sie halten langsame, stumme Zwiesprache, sie Beide.
Ich glaube... Warte. Ich glaube, ich habe dich irgendwo schon einmal gesehen.
Das kann sein,
bläst der Atem, Mensch. In deinen Träumen vielleicht.
Wie kurios,
meint ,Je Je'.
Dann stirbt er, denn die Klaue, die aus der Finsternis vor dem Schrottplatz kommt und ihn, sterbend, an ihren Besitzer heranhebt, ist zu aufgeladen mit zerstörerischer Magie und Hitze. Nach so langer Ruhezeit muss man ihr das vielleicht nachsehen.
Bevor er das Diesseits verlässt, begegnet der Obdachlose doch noch der Angst.
Er lernt, dass die Zwiesprache mit diesem Wesen immer nur dem Wesen dient, niemals dem Gegenüber. Er lernt durch einen kleinen Blick auf das Morgen, was all den Menschen dieser Stadt, die Uniformierten und seine Leidensgefährten eingeschlossen, blüht. Und er lernt, dass die Bestie ihn noch nicht ruhen lassen wird.
Dich kann ich gebrauchen.
So drückt sie es aus.




Asanctar verfügt über mehr Augen als die Summe derjenigen seiner Einwohner: Elektronische Augen, Kameras über den Toren der großen Banken, Erfassungsfenster an den Unterseiten der Überwachungsgleiter. Die Stadt ist viel zu ausgedehnt, um sie insgesamt auf Monitore zu bringen, aber einige für wichtig erachtete Bereiche stehen als mehr oder weniger bewegte Bilder in speziellen Räumen.
Von alldem weiß die Bestie wenig, während sie Vor- und Nachteile ihrer Lage abwiegt.
Sie ahnt, dass sie sich in den sehr begrenzten Verstecken Asanctars regenerieren, aber nicht auf den Platz und die Ungestörtheit verlassen kann, die sie braucht.
Der Steingarten rings um sie her ist bis in den letzten Winkel mit Menschen vollgestopft.
Sobald sie sich zu unbedacht bewegt, kratzen die Stacheln ihres Rückenpanzers schon dem nächsten Menschlein durchs Gesicht, das sich zufällig aus einem Hinterhoffenster beugt. Unter ihr ist der Boden der Stadt ausgehöhlt, ja, doch bevor sie sich dazu entschließen muss, in einen Keller oder Tunnel hinab zu kriechen, hat sie eine Idee.
Im Rahmen dieser Idee, heraus getröpfelt aus der Erinnerung an Vorgänge, die die letzte 'Geburt' der Bestie begleitet haben, tötet sie den zweiten Bürger, der ihr begegnet.
Er ist krank, er hat nicht die Kraft, sich durch Wüsten und überwucherte Tempelbezirke zu schleppen. Und anders als der Wanderer trägt er keine Bürde mit sich herum. Der rote Steinsplitter ist dahin.
Den schlaffen Leib in der Klaue, zögert die Bestie. Doch warum den damaligen Prozess nicht umkehren, warum nicht abwandeln, was die vergebliche Opferbereitschaft eines Helden sie gelehrt hat?
Während sie so dasitzt, ähnelt sie in ihrer kurzen Unentschlossenheit, ohne es zu wissen, den Millionen ihrer potentiellen Opfer. Auch sie haben solche Einfälle, bei denen unklare Vorstellungen, nicht Wissen, eine Rolle spielen.
Weiteres Ausweichen, Kuschen vor einer rein zahlenmäßigen Übermacht, um nicht aufzufallen – intolerabel.
Außerdem: Da hat doch etwas überdauert.
Etwas Vertrautes.
Letztes Mal war es plötzlich da, die verbissen aus Bewohnern einer ganzen Welt zusammen gestoppelte Waffe. Diesmal erkennt die Bestie es sofort wieder.
Ihre Unentschlossenheit verfliegt.
Sie macht sich schmal, wechselt in einen Bereich zwischen Gedankenebene und Gegenständlichkeit – einen Bereich, von dem Sanktuario kaum noch weiß, dass er existiert -, verwandelt sich in einen lichtgefüllten Schemen ihrer selbst. Durch einen Riss, den ihr Zugriff am Körper des Opfers hinterlassen hat, betritt sie das menschliche Gehäuse.
Sie muss sich in dieser Stadt bewegen können. Nur das zählt. Dass ihre Mitmenschen unversehrt, angepasst, dem Auge angenehm seien, erwartet die Stadt gar nicht.
Diablo dehnt sich behutsam innerhalb der Grenzen der Hülle.
Eine fünffingrige Hand schwebt durch seinen neuen Gesichtsbereich, zieht goldene Schleifen und Bänder hinter sich her. Er steht auf. Die Füße tragen. Leidlich. Stoff hängt an ihm herunter, ölig feucht teilweise.
Er streicht durch die Feuchtigkeit, registriert das Gefühl der Berührung von Haut und Wasser. Das Wasser verdampft ein wenig zu schnell, als er es zwischen den Fingerspitzen zerreibt.
Ewig wird dieser Körper nicht halten, und täuschen kann er nur die, die nicht zu genau hinsehen.
Der Mann steht volle drei Minuten reglos da. Dann tastet er die Taschen seines Mantels ab.
Unter anderem findet er eine Art dünnes, dunkles, zweigeteiltes Visier, setzt die Sonnenbrille auf, lächelt. Rein probehalber.
Die wenigen Freunde oder Schlafgenossen, Mitbettelbrüder des Mannes wären verdutzt, sähen sie ihn jetzt: Hochgewachsen, zu seiner früheren Größe aufgerichtet und im Besitz einer gar nicht so unbeachtlichen Körperkraft. Nur das linke Bein zieht er noch nach.
Er geht los, hinaus aus dem Gewirr aufgestapelter Gleiter und Eisenstreben, hinein in die Straßen der Stadt.




Nach der Begegnung mit dem Gestern fällt es mir schwer, rechtzeitig zum Schichtbeginn im Shangri aufzukreuzen. Der Dämmer der Gewohnheit ist unterbrochen, ein über Jahre bekämpfter Widerwille hebt witternd den Kopf und blinzelt ins Licht.
Ich beeile mich mit dem Umziehen. Wenn ich die peinliche Kluft meines Broterwerbs länger ansehe, bringe ich es nicht über mich, sie anzulegen. In der Kabine: Kaum Platz, ein paar 'persönliche' Dinge - die ich nur hingehängt habe, weil die anderen Tänzerinnen es so machen -, und die Frage: Warum?
Selbst wenn die Zeiten schlecht sind, warum? Den Anderen graust es vor der Antwort auf diese Frage genauso wie mir. Jeremiah, der sich in die Hallen seiner Sekte eingepfercht hat, Raoul, der Rausschmeißer, Celeste, einfache Streifenpolizistin. Und ich: Tänzerin und Edelhure.
Die eventuelle Wachsamkeit unserer Umwelt ist keine Entschuldigung, sie lässt sich umgehen, ausmanövrieren. Stephen ist der lebende Beweis dafür. Stephen, der Einzige, an dem alles echt ist bis auf den Namen, anders herum als bei uns.
Auch wenn man unsere gesellschaftliche Tauglichkeit, unsere Anpassungsfähigkeit anhand der Klassen verschieden bewertet, bleibt die Tatsache des Zeitfaktors – und mit ihr die Frage.
Ich fürchte, unsere Berufe sprechen für sich. Die stolz betonten Eigenschaften jeder Klasse verkommen vor dem Hintergrund unseres Aussterbens zu Schwächen, zu zivilisationsresistenten Krankheiten, selbst wenn sie uns vielleicht nur in die Selbstkasteiung und nicht gleich in den Abgrund geschickt haben.
Doch Diablo ist zurück.
Mit ihm könnte sich alles zum Guten wenden. Oder nicht?
Das Ausharren als Laufbursche könnte in diesem neuen Licht aussehen wie das vornehme Warten einer Wache. Pflichtvergessenheit über mehrere Jahrhunderte hinweg, Donnerwetter. Keine Klagen, und ganz geschickt gewählt, die Verkleidung als Durchschnittsbürger.
Gelingt es uns, den großen Bösen ein zweites Mal zu töten, wird niemand danach fragen, wie wir die tausend Jahre verbracht haben, und falls doch, wiegt die Endtat die Zwischenmisere auf.
Ich weiß, dass wir darauf hoffen.
Das Shangri empfängt mich mit seinem üblichen Sechsuhr-Betrieb. Ich bemerke an die dreißig Gäste, lose über Bar, Hocker und Wandtische verteilt, und an mir eine fast euphorische Gelassenheit. Vorgeschmack auf die Jagd, Vorgeschmack auf Absolution.
Auf dem Weg zur Umkleide habe ich Aseem nicht gesehen, jetzt bedeutet mir sein kahler Schädel, dass ich zur Theke kommen soll.
Ein dort über Rauchlikör hängender Gast wendet schläfrig den Kopf zu mir.
„Was gibt's, Aseem?“, lehne ich mich über die Theke. Obwohl ich auf der Fußstütze stehe, bin ich ein Stück zu kurz geraten. Die Thekenkante drückt sich in meinen schwarzledernen Busen.
Der Gast lächelt der Thekenkante selig und dümmlich zu.
„Zehn Minuten zu spät“, putzt Aseem ein Glas.
„Ich weiß. Tut mir leid, atiti.“ Ich sehe das kleine Lächeln, das über Aseems ruhiges Gesicht huscht, verwundert über meine heitere Stimmung und das Kosewort ,Brüderchen.'
„Macht ja nichts“, nimmt er sich das nächste Glas vor. „Musst heute sowieso nicht rauf.“
,Rauf' bedeutet: Auf die Tanzfläche.
„Was? Wieso nicht?“ Ich klebe noch am Tresen, doch meine Hochstimmung schwindet zugunsten einer seltsamen Empfindung versäumter Wachsamkeit.
Aseems Augen sind runde, teebraune Kugeln.
Verständigung ohne Worte. Sicher, ich habe ihm vor Langem die Erlaubnis erteilt.
„Wer?“, frage ich, schärfer als beabsichtigt.
„Der da.“ Aseem weist mit dem Kinn auf eine der Ecken. „Du weißt, du kannst ablehnen.“
„Schon in Ordnung, Aseem.“ Ich klopfe ihm sacht auf den rechten Unterarm, steige von der Fußstütze und schreite auf meinen verdammten hohen Hacken in die angezeigte Ecke, wo ein einzelner Mann an einem Tisch sitzt.
Er hält ein bisschen Abstand zu den anderen Gästen und hat einen Arm lässig über die Rücklehne der Eckbank gelegt, in die er sich fläzt. Also keine aufwändigen Aufwärmtaktiken, das hier ist Selbstbewusstsein, sind zwei Seiten, die sich nichts vormachen müssen.
Ein Dutzend Schritte nach dieser Feststellung erkenne ich ihn.
Aus meinem Missmut wird Ärger.
Lakaien zu schicken ist das Eine. Diese Art, mir auf die Pelle zu rücken, geht entschieden zu weit.
Ich bleibe vor dem Ecktisch stehen. Ich bin so wütend, dass ich nicht sprechen kann: Meine Stimme würde zittern.
Stephen lächelt an mir hinauf.
„Setz dich doch“, sagt er. Eine entsprechende Handbewegung.
„Verzieh dich“, bringe ich zwischen mahlenden Zähnen hervor. „Raus hier.“
Andere würden zumindest ihrer Lässigkeit verlustig gehen: So viel Charisma habe ich noch. Stephens Lächeln verbreitert sich.
„Ich habe dich gekauft.“ Schalk tanzt in seinen Augen. Sehr tief darunter Stahlhärte. „Tausend Cisma, ein großzügiges Angebot. Für die ganze Nacht.“
„Aseem gibt dir das Geld zurück“, atme ich durch verengte Nasenflügel.
Sich teilende Lippen legen blendend weiße Zähne frei. So jung war er zuletzt unter dem Arreat.
„Gar nicht neugierig“, hält er den Kopf schief, „warum ich hier bin?“
Die Beharrlichkeit, mit der er meine Drohungen ignoriert. Die kürzlich geteilten Geheimnisse. Seine Meisterschaft darin, selbst mir das neckische Kind zu verkaufen, dem man nicht böse sein kann, das ohne Argwohn spielt, fasziniert von den eigenen Ideen. Was davon mein Hinterteil letztlich auf die gegenüberliegende Sitzbank bewegt, weiß ich nicht.
Sekunden später stellt eine der Kellnerinnen des Shangri ein buntes Getränk vor mir ab.
Stephen schaut sich an, wie meine Wut zu brodeln aufhört. Zopf und Sonnenbrille fehlen heute. Das nackenlange, lockige Haar ist längs des Kopfes streng zurückgestrichen, das Jackett seines graugrünen Anzugs klafft dank seiner Sitzhaltung an der Brust ein Stück auseinander.
Diese Aufmachung bringt ihn überall hinein, wohingegen mich meine Lederbänder auf Sulaya festlegen, auf die Shangris unter den Tavernen.
„Also?“, verschränke ich die Arme vor der Brust.
Er rührt sich für ein paar Sekunden nicht. Die Amüsiertheit über meine Wut ist unverändert, und er hat irgendetwas vor, etwas innerhalb seiner erdentrückten Dimensionen. Doch es gibt Kontraste: Trotz des eleganten Aufzugs hat er die zweite Gesichtsrasur versäumt und jetzt, wie viele Männer seines Weltteils, Schatten auf dem braunen Gesicht. Unter dem Hauch Duftwasser riecht er nach Straße.
Plötzlich verstehe ich den fiebrigen Glanz um den gesamten Stephen.
„Wen hast du umgebracht?“ Meine Finger schließen sich um das Glas.
„Einen Sucher“, sagt er. „Den Anzug von heute Früh muss ich wegwerfen, fürchte ich.“
Die Information nistet sich automatisch in mir ein, hindert mich nicht am Weitersprechen. Zum Glück.
„Du hast dich schick gemacht“, nicke ich mit gehobenen Brauen zu seinem Oberkörper hin. „Ein Sucher, meine Gratulation. Aber die Garderobe ist doch bestimmt nicht gewählt, um ein Stück Schlachtvieh zu feiern?“
Gestern im Turm hat es wenigstens noch winzige Reaktionen gegeben, Blinzeln, Pausen, sich verdichtende Gefühlsauren. Heute pralle ich komplett an Stephen und seiner offenbar blendenden Laune ab.
„Nein“, sagt er. Dann: „Was weißt du über das Indramsâta?“
Wieso?,
liegt mir auf der Zunge. Aber eine alte Angewohnheit, immer gut informiert zu erscheinen, antwortet für mich.
„Ursprünglich ein Fest für Balai, den ,Harmoniebringer', einen der jüngeren Kurastischen Götter“, runzle ich die Stirn. „Eher aber eine Pflichtveranstaltung der Stadträte. Die oberen Fünftausend geben sich die Ehre. Händeschütteln, Geschäftspalaver, Politik. Und eine Art Heiratsmarkt.“
„Bravo.“ Stephen lobt mich absichtlich, weil er weiß, wie mich das ärgert. Er lehnt sich nach vorn, stützt die Ellbogen auf den Tisch und faltet die Hände. „Getreu des Interesses an wohlwollenden Beziehungen lädt der Oberste Rat jedes Jahr Asanctars Firmengrößen ein. Auch an Sutre ergeht jährlich eine Einladung.“ Ein Zwinkern. „Bisher hat die Korporation sich elegant gedrückt – oder einen Stellvertreter geschickt.“
Du hast dich gedrückt“, konkretisiere ich.
„Natürlich.“
„Dieses Jahr willst du selbst hingehen.“ Ich verstehe. Daher die halb offizielle Kleidung. „Wegen Diablo. Ein paar Weichen stellen, die Ratsmitglieder aushorchen.“
Stephen schmunzelt. Das bläuliche Licht des Shangri zeigt mir seine Züge: Die mandelförmigen Augen, die schmale Nase, den Bartstoppelschatten auf der unteren Gesichtshälfte. Er schweigt und fixiert mich.
„Moment“, sage ich. „Nein.“
„Wie schnell kannst du dir etwas Schickes anziehen?“
„Du willst, dass ich dich begleite?“ Ich starre ihn an.
„Dein Auffassungsvermögen war auch schon mal besser“, entgegnet er. Sanfter Spott. „Also? Los, Elisa. Den Schaltenden und Waltenden auf die Finger schauen, vorzügliches Essen, Asanctar in Reinkultur. Das müsste dir doch gefallen.“
Irgendwo in meiner Gesichtsmuskulatur formt sich ein Lächeln – die Empfindung ist umso irritierender, als mein Ärger und mein Hass bis auf den gebotenen Rest tatsächlich verebben. Ich brauche ein paar Sekunden für die Entscheidung.
Schließlich stehe ich auf.
„Fein, meinetwegen. Aber“ - denn Stephen macht eine Bewegung, wie um etwas einzustreuen - „nicht wegen der tausend Cisma. Die kannst du dir sonst wohin stecken. Ich denke an die Mission, verstanden?“ Das erste Schmunzeln, das ihm gewachsen ist, glückt mir. „Und wie du dich vor den Stadtoberhäuptern zum Affen machst, mit einer kleinen gekauften Begleitdame, die dir am Arm hängt – ich nehme an, das Am-Arm-Hängen ist fester Bestandteil der Sache?“
„Sicher“, sagt er. „Teil des Spiels.“
„- die dir am Arm hängt, das lasse ich mir nicht entgehen.“ Die Lederbänder haben mich nie weniger beschämt. „Ich ziehe mich um. Gib mir eine Viertelstunde.“
Stephen lehnt sich wieder in die Sitzbank zurück. „Ich warte.“
 
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