Hier geht's weiter. Sorry, liebe Leser :>
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VI. Von Angesicht zu Angesicht
Meine Erleichterung darüber, aus der Zitadelle hinausgekommen zu sein, wird mir schon auf den Stufen entrissen.
Vor mir der Platz. Die himmelhohen Häuserborten, sich gegenseitig in Glas und Metall widerspiegelnd. Die Reklamemonitore, freudige Gesichter, bunte Schriftzüge, unechte Stimmen, kaum zu verstehen, aber allgegenwärtig wie ein endloses Gebet. Ein Karussell aus Gleitern auf vier, fünf Flugebenen.
Widerwille, mich dort wieder hinein stürzen zu müssen, lässt mich stoppen. Gleichzeitig der Schub von hinten.
Ich bin als Erster gegangen, will verschwinden, ohne dass sie sehen können, wohin. Ich fliehe vor den Anderen.
Das Atma schläft jetzt. Fast fünf Stunden Zeit bis zum Schichtbeginn.
Am Rand der Freifläche, auf der die Zitadelle steht, hat ein bedauernswert an überkommenen Formen hängendes Stadtplanerhirn Bäume pflanzen lassen. Ihr rostfarbenes Metall glänzt – des Himmels wegen im Augenblick wie getrocknetes Blut.
In Scosglen waren die letzten echten Bäume, bevor die Ausbreitung der Todeszonen sie zermahlen hat, Rotbuchen. Aber ich bezweifle, dass diese Eisenstatuen hier, ihre monströsen Brüder, auch nur einen Menschen längs des Platzes daran erinnern.
Das Schicksal des westlichen Umlandes gehört nicht zu den Fakten, die noch auf Papier gedruckt werden. Die Informationstafeln, die von diesem Schicksal hätten berichten können, sind der Großen Bereinigung unter dem vorigen Hohen Rat Asanctars zum Opfer gefallen. Dazu noch die Tatsache, dass es zumindest im Westen kein Baum bis in die Gegenwart Sanktuarios geschafft hat. Grünpflanzen gibt es wohl, im Innern mancher Gebäude. Sumpfgras, Giftdolden. Nicht zu vergessen die Spaliere duldsamer Gewächse, die in Treibhäusern südlich der Stadt vor sich hin wuchern, um uns die Mägen zu füllen – oder die Adern.
Aber von den Bäumen sind nur noch eiserne Zerrbilder übrig.
Ich schaue an ihrem platt gepressten Rost hinauf.
Der Himmel kniet niedrig über der Stadt, warmes Grau, voller Regen. Unter den Eisenbäumen kein Schatten.
Trotzdem nähert sich ihnen niemand. Die Menschenströme ziehen vorbei. Sie, die überall hinpinkeln - gern in aller Öffentlichkeit -, Abfall zurücklassen, auch sich selbst, schlafend, berauscht, obszöne Sprüche über jede unbewachte Fläche kritzeln – hier wagen sie es nicht.
Ich kann mir darauf keinen Reim machen, doch heute, stelle ich fest, erfüllt es mich mit zufriedenem Grimm.
Die chaotischen Fließbewegungen der Menge tragen mich über eine Kreuzung – Platz und weiße Zitadelle versinken hinter mir -, dann nach links.
Camever greift in Sulaya über, oder andersherum. Verschränkte Finger arbeitsschweißiger Hände.
Wissen, was man zu tun hat, ist ein Segen.
Mir scheint, dass ich die zähe Geschäftigkeit rings um mich wieder begreife, mit der Verwunderung des wortlos Geduldeten.
Cismastücken nachjagen, Träume um das Auf und Nieder der Marktkurse weben, wartend auf Brosamen, die von den hohen Tischen herab rieseln. Eine notwendige Operation greifbar nah wähnen, denn ja, dein Sohn hat mit dem Kunststoffeinsatz in der Luftröhre bessere Chancen auf den Ausbildungsplatz bei der Polizeistreife, natürlich. Rechtzeitig nach Bara Illan umsiedeln, bevor die Bauvorhaben die Blocks rings um das rattenverseuchte Mietshaus einreißen und Platz schaffen für einen neuen Spiegel- oder Obsidianturm.
Ich habe zu leisten, was ich leisten kann.
Für achtundvierzig Stunden steht ein Plan. Oder etwas in der Art.
Dass uns die Maschinerie der Ordnungskräfte nicht mit ihren Suchtrupps und Gleitern in die Quere kommt, dafür sorgt Celeste. Sie wird schon wissen, welches Geflecht aus Vermutungen und gefälschten Hinweisen sie ihrem Obersten auftischen muss, damit er die Sporen ruhig hält.
Jeremiah bekleidet zwar keinen Posten, der offizielle Ermittlungen gestattet, aber er hat sich weit genug in ein Ohr am Geflüster seines Bezirks verwandelt, um den Brandschritten einer uralten Kreatur nachspüren zu können. Das ist seine Begabung: Den Betenden ihre Ängste und Gedanken aus der Seele zu wringen.
Ich denke, dass er diese Gabe hasst, dass sie ihn einsam gemacht hat, aber er wird sie nutzen.
Elisa und ich geben derweil die Söldner.
Sie begreift nicht, welche Freiheit das bedeutet. Sie lebt immer noch im Widerstreit mit ihrem Werdegang, seinen Vorteilen und Beschränkungen. Um auf höhere Stufen zu klettern, braucht es mehr, als die Schnellste der Schnellen zu sein, aber das Bewusstsein ihres Versagens an geistigen oder profanen Dingen ist ihr nie ausreichender Antrieb gewesen.
Vielleicht wurmt es sie darum so sehr, dass Stephen sie jetzt wieder befehligt. Doch ich wette, es hat auch persönliche Gründe.
Genauso wenig wie sie die Sinnlosigkeit ihrer Gewissenslast versteht, versteht sie, dass es sinnlos ist, Stephen zu bekämpfen.
Wo Hass nicht nur auf unfruchtbaren Boden fällt, sondern sein Objekt auch noch nährt, wendet er sich gegen dich. Darum lass es sein, Mädchen. Drück dich in den Hinterzimmern dieser Metropole herum, da findest du genug Lebendiges, das aufgeschlitzte Kehlen verdient. An Stephen änderst du nichts mehr - er ist, du musst schon entschuldigen, eine Nummer zu groß für dich.
Eine Straßenecke.
Weit auf die Gehsteige hinausgeschobene Körbe mit Wurzelzeug, Stoffballen, Kupfertassen, allem denkbaren Tand, dazwischen Stehtische winziger Tavernen, voll besetzt. Über Mohnschnaps, Bitterkaffee und dünnen Wein geduckte Buckel, Kapuzen, Kappen.
Aus dem verqualmten Dunkel der nächsten Taverne leuchtet ein Monitor. Er fesselt die Aufmerksamkeit der Morgengäste.
Ich bleibe stehen, werde von den Passanten gegen einen der Tische gedrängt, und sofort wächst aus dem Nichts eine Alte neben mir empor, schaut an mir hinauf, wartet.
„Einen Mohnschnaps.“ Ich gebe ihr zwei Cisma. „Behalt den Wechsel.“
Bis sie sich aus dem Inneren der Taverne wieder zu mir hinaus gearbeitet hat, bleibt mir Zeit, um die Vorgänge auf dem Monitor zu verfolgen. Zu viel Zeit.
Die Zuschauer begleiten das Geschehen mit Murren, rauem, anerkennendem Grunzen oder gebanntem Schweigen, je nach Stand des Zweikampfs.
Ierissea.
Ich kann das auf Steinen verspritzte Nass riechen, abgetragene Stiefel in Pfützen treten hören: Urin der Feigen, Blut der etwas Tapfereren. Schweiß, Not, Angst. Ein maskierter Namenloser bläst Zwiebelatem aus.
Hunderte von Meilen entfernt. Dutzende von Jahren vor dieser Übertragung.
„Geht doch nichts über die Arena von Ierissea“, sagt mein Tischnachbar, ein bulliger, vernarbter Kerl in einem Überwurf aus Kunstleinen. Er hustet, kippt sich Kaffee in den Schlund.
„Wahr“, pflichtet ihm eine Greisin bei, dürr und zäh wie eine Weidengerte, die auch an unserem Tisch steht. Ihr Gewand ist schmutzig grau und lässt dem Schnitt nach auf eine Seelenfängerin schließen – so nennt das niedere Asanctar die Kuppler einiger Sekten, die, aus verbotenen Glaubenszusammenschlüssen hervorgegangen, Arme, Obdachlose und Süchtige anwerben. Offiziell, um Gefolgsleute aus ihnen zu machen. Inoffiziell, um sie ihrer Herkunftsreste zu berauben und die dann vollends Haltlosen an Bordelle und Arbeiterzirkel weiter zu vermitteln.
„Wobei die guten Kämpfer heutzutage rar gesät sind“, fügt sie hinzu.
Sie bemerkt mich – kurze Pause und Werbeeinlage auf dem Monitor -, lächelt schlau und etwas zu wissend, prostet mir zu.
Ich erwidere das Lächeln. In diesem Augenblick stößt es mich nicht ab.
Wir trinken gleichzeitig.
Der Tod ist nicht hässlich, nur gottlos und verbittert. Hässlich ist einzig das Warten.
Ich muss mich nach einer Arena umsehen.
In einigen Vergnügungen, ganz allgemein im Wittern von Geheul und Blut und Wettbewerb, ist Sanktuario unsterblich. Daher muss sich niemand nur auf die Schaukämpfe aus Besiméra oder Ierissea beschränken, vorausgesetzt, er kann zehn, fünfzehn Cisma entbehren und weiß, wo er zu suchen hat.
Stephen, Jeremiah und Celeste lesen in diesen Stunden die Fäden auf – wie es jeder Puppenspieler in Asanctar tut. Kontakte, Besuche bei den richtigen Leuten, Bestechung, wohlgesetzte Drohungen.
Geschick ist gefragt. Oder Macht.
Mit beidem kann ich nicht dienen.
Zwei, drei Straßen weiter ist von Camevers Nachbarschaft kaum noch etwas zu bemerken. Aus den Fenstern vielstöckiger, meist rotbrauner Häuser hängt Wäsche. Neonbanner und Fahnenreihen spannen hier und dort fast ein Netz über die Straße – ein Umstand, der fast täglich zu Gleiterunfällen führt. Trotzdem bleiben die künstlichen Netze, wo sie sind.
Sulaya. Altes und Neues vermischt.
Stephen hat diesen Stadtteil nie angerührt.
Fünfzig Prozent aller Umbauten in Asanctar gehen auf das direkte Konto der 'Sutre'-Korporation: Umkrabbelt von Anwohnern wie von den Ameisen eines Baus, den man stört, hat sie unter dem Deckmantel des Ordnungsrats an den anderen sechzehn Stadtteilen herumgeflickt, und irgendeines der unterirdischen Gewölbe der städtischen Faktenbehörde enthält minutiöse Dokumentationen der Umbauten.
Schließlich muss so etwas ja seine Ordnung haben.
Und wer genau suchte, würde vielleicht sogar entdecken, dass 'Sutre' jedes Niederreißen alter Wohnblöcke, jede Sprengung nicht mehr ins Gesamtbild passender Brücken oder Türme, jede Kanalsanierung erstaunlich gründlich hat durchführen lassen. Die baulichen Maßnahmen, an denen die Firma nicht beteiligt war, gingen viel rascher vonstatten.
Das fällt natürlich niemandem auf.
Bevor der schlaue Prüfer oder Angestellte des Bauamtes genug Material zusammentragen kann, ist er schon vergreist und stirbt weg.
Höchstens seine Kinder wundern sich noch über einen seiner Sätze, eventuell nicht am Sterbebett, aber in einer der finalen Unterhaltungen geäußert: ,Die Stadt hat einen Plan.'
Haben sie Zeit, einer Marotte nachzuforschen? Der Alte ist immer ein Spinner gewesen, und so weiter. So wird ein Zipfel Wahrheit ins Grab gelegt – vielleicht sogar alle paar Dekaden einmal.
Die Stadt hat wirklich einen Plan.
Nach Jahrhunderten, wohlgemerkt, ist es mir aufgefallen, und auch nur im Delirium der selbstzerstörerischsten Langeweile. Ich glaube nicht, dass Stephen ahnt, wie viel ich von den Gebieten weiß, auf die er sich bereits in Jugendtagen spezialisiert hatte.
Ich bin nicht dumm.
Nur: Bücher, Papier, Informationen, sie halten mich nie lange fest. Das hat einen lächerlich einfachen Grund.
Nach dem Ende der Zeit, wie sie war, dem Ende unserer Zeit, der wahren - bevor sie zur Endlosigkeit wurde, Nebel einer Artenarmada, eines Generationenmotors -, standen Stephen und Jeremiah besser gerüstet in der Morgendämmerung.
Ich musste den Gebrauch des Wortes in Schrift und Wirkung erst erlernen – als es schon zu spät war. Denn ohne einen Daseinssinn verfällt das Ansammeln von Wissen zu einer Mechanik, die sich höchstens noch selbst zelebrieren kann. Stephen und Jeremiah haben das Lernen im Blut. Die Mechanik, die Sinnlosigkeit, ist diesen Männern nicht bewusst genug, um sie zu zerstören.
Da wo ich herkomme, hat der Mensch kein Schriftgut gebraucht. Was wert war, erinnert zu werden, wurde weitererzählt.
Vielleicht habe ich nur zufällig richtig gelegen mit meiner Entscheidung, zuerst in den Papieren der Bautätigkeit seiner Firma nach einem Ansatz zu suchen. Stephen hat mir keine Wahl gelassen. Denn wie stellt man es an, ein Monstrum zu begreifen, das stetig in Bewegung bleibt, das von Gegner bis Freund alle Verkleidungen nutzt, das mit der Zeit kontinuierlich unantastbarer geworden ist?
Man verschafft sich Zutritt zu irgendeinem ganz beliebigen Ort, der Spuren des Monstrums – gewachsene Macht zu Lasten der Unauffindbarkeit – bewahrt. Sagen wir, zu einem behördlichen Keller, so alt, dass die letzte große Reinigung ihn übersehen hat, so unwichtig inzwischen, dass ihn niemand ernstlich bewacht. Dort beginnt man zu suchen. Stapel um Stapel, Schrank um Schrank, Stunde um Stunde, notfalls über Wochen.
Zeit ist wahrhaftig nicht das Problem.
,Die Stadt ist ewig'.
Keine Ahnung, welchem unserer seidengewandeten Räte dieser Satz eingefallen ist, aber es kann nur in einem Moment fröhlichen geistigen Stupors gewesen sein. Asanctar hat mehrere Schöpfer, und auch wenn eine einzelne Kreatur dem akkumulierten Wahn und Wirken Sanktuarios nicht den Rang abläuft: Einer der Schöpfer ist ein Mensch.
Stephen bleibt des Nachts keinesfalls da oben in seinem Turm. Das glaubt nur, wer ihm seine in Eleganz und Gleichgültigkeit ausgedrückte Erschlaffung abkauft.
Er hat sich Tunnel durch Asanctar gegraben, von Anfang an. Kanäle durch Boden und Stein, durch Fleisch und Geist der Bewohner, und ich denke, er wird sie jetzt wieder betreten.
Links von mir eine Taverne.
Der Eisenwolf ist eines der urwüchsigsten Sauflöcher Sulayas: Erstaunliche einhundertzweiundachtzig Jahre alt, gegründet anlässlich der wiederholten Errettung des Viertels vor den Abrissfahrzeugen der Stadt.
Kurastis betreiben die Taverne. 'Sutre' hält seine Hand über sie, darum findet man hinter der gewaltigen, passend zum Namen eisernen Eingangstür ein Haus, das nicht nur Alkohol und Drogen verkauft.
Ich trete ein.
Das Taverneninnere besteht aus einem einzigen Raum, groß wie eine Halle, niedrig und dunkel. Fenster gibt es nicht, Licht nur von mattgelben Röhren her, die tief über der Bar und ein paar Tischen hängen. Die Bar ist das Zentrum, ein geschlossenes Viereck mit zum Block zusammengesetzten Metallschränken in der Mitte.
Alles im Eisenwolf, Theke, Mobiliar, Kundschaft, wirkt rostig, fleckig, mit hell polierten Flächen dazwischen.
Es ist eine Art abgenutzter Lebendigkeit, durch die das Grün und Braun der Hafenanlagen Kurasts hindurch leuchtet – jenes Bereichs, den die 'Eisenwölfe' vor dem Urwald verteidigen konnten. Sie waren damals fernab der Heimat der einzige Menschenschlag, dem ich mich verwandt gefühlt habe: Leicht ehrenhafter als Söldner, aber fast rechtlos in einer Tempel- und Handelsgesellschaft.
Von ihnen ist nur der Name übrig. Die Gestalten, die mir aus dem Halbdunkel entgegen starren oder mit sacht knackenden Fäusten meinen Weg zur Theke belagern, haben mit dem alten Sanktuario nichts mehr gemein. Sie sind eine untadeligere Züchtung – die Reinform der Gewaltbereitschaft, ohne Klassenzugehörigkeit, ohne Motiv.
Im Eisenwolf wird Musik gespielt, doch nur sehr leise, sodass ich die Entfernung zur Theke beinahe in einem allgemeinen Schweigen hinter mich bringe.
Viele dieser Gestalten werden bald sterben. Durch den Alkohol, durch eine von Stephens teerschwarzen Substanzen, oder in einer Prügelei.
Hier finden allabendlich Prügeleien statt, und von einer Brutalität, die andernorts schon zur Schließung der betreffenden Taverne geführt hätte.
Die Männer im Eisenwolf wissen nichts mehr von der Bedeutung dieses Namens. Über dreißig Generationen nach dem Kurast unter Mephisto, nach der Bande, die erbittert versuchte, der Übermacht des Erzdämons wenigstens Bettelkämpfer und Kräutermännlein entgegen zu stellen, hat Ashearas Geist sich verflüchtigt.
Die Welt ist wieder auf käufliche Soldaten und versprengte Kriegsfürsten angewiesen.
Erneut läuft sie solange weiter, bis der dämonische Überraschungseffekt sie lahmlegt.
Sumpfgifte stehen immer noch hoch im Kurs.
Frauen sind wieder dort, wo sie zu Ashearas Zeit waren, und nur eine Handvoll Ausnahmen bestätigt die Regel, wird hart dafür zur Kasse gebeten, so wie es damals mit der ehemaligen Hauptmannstochter geschah.
Ich stoppe an der Bar.
Der hiesige Getränkemeister taxiert mich ab. Dann nickt er mir zu: So einer bist du also.
Ich nicke zurück.
Er beugt sich über die rostfarbene Theke. „Du hast Glück. Unten im Keller. Sie machen gerade eine Pause. Ist wohl einer nicht mehr aufgestanden, eh he.“ Sein Atem riecht nach Wein. „Wenn du dich beeilst...“
„Danke“, sage ich.
„Durch die Tür da, und dann -“
„Spar dir die Erklärungen, Kurasti“, unterbreche ich ihn. Feindseligkeit: Die Vorstufe der notwendigen Aggressivität. „Ich kenne den Weg.“
Ich lege ihm das Cisma-Stück auf die Theke und gehe längs der Bar in den Hinterbereich.
Ein Rückraum, in dem sich ein Mitarbeiter, ein viel zu junges Mädchen auf dem Schoß, fettiges Fleisch schmecken lässt. Als ich vorbeikomme, legt er dem Mädchen vorsorglich – um Besitzverhältnisse klar zu machen – eine Hand auf den Schenkel, hebt ein Schnapsglas zum Mund, trinkt, während seine Augen mich kritisch verfolgen.
Eine Eisentür, eine Treppe. Elektronische Musik schlägt mir von unten entgegen, und, was wichtiger ist, die schweißsatte Luft einer Arena.
Sie halten Ierissea und Besiméra durch ihre Monitore auf Abstand, dulden aber, dass sie in die Gedärme ihrer Stadt eingezogen sind, bescheidener, aber nicht weniger hochgeschätzt.
,Wir könnten den alten Haudegen auf Asanctar loslassen', hat Stephen gesagt, ,zusehen, wie er es ausräuchert. Und ich wäre bestimmt nicht der Einzige, der seine helle Freude daran hätte.'
Geronnener Hass. Das, was sich so sauer in der Brust festsetzt.
Wir dürften gar nicht hier sein. Nach der Errettung Sanktuarios hätten wir abtreten müssen.
Wir sind die Ahnen, die gezwungen werden, zu bezeugen, wie ihre Nachkommen versagen.
Aus einer weiteren Tür am Fuß der Treppe tritt mir ein Mann entgegen, dürr, blass, unbarmherzig, trotz der klebrigen Wärme, die hier unten herrscht, in hautenges Leder gekleidet. Sein Kopf ist schmal und kahlrasiert. Das linke Auge fehlt.
„Bleib stehen“, sagt er. Seine Stimme übertönt die Musik kaum, aber er macht sich nicht die Mühe, sie zu heben. „Arme hoch. Gut.“
Ich werde begutachtet.
„Waffen?“, will er wissen.
Mein Handgewehr und das Kurzmesser nimmt er gleichmütig entgegen.
„Kein Waffeneinsatz. Heute haben wir Faustkämpfe“, leiert er dann die Arenabestimmungen herunter. „Hose, Gürtel, Stiefel, weiter nichts. Lass deine Klamotten bei Méyu. Versteckte Messer oder ein sonstiger Mist, und du bist dran. Machst du Ärger, kommst du hier nicht lebend raus. Verstanden?“
„Verstanden.“ Ich senke die Arme.
„Du warst schon einmal im Barbarenstall“, mustert der Türwächter mich. So nennen einige Menschen Asanctars das Hochsicherheitsgefängnis, das steht, wo meine Klasse früher ihre Hochburg und Heimstatt hatte. „Das ist gut, dann weißt du ja, wie die Regeln lauten. Hier läuft es ähnlich wie dort.“
Wir starren uns für Sekunden an.
„Oben“, sagt er langsam, „ist nichts mehr übrig. Den Gipfel der Welt haben sie abgesperrt.“
Dann, durch Jahrhunderte hindurch, ohne auf etwas so Flüchtiges wie Sympathie angewiesen zu sein, reichen wir uns die Hand. Seine ist kalt, mager und krank.
„Ich hätte dich fast nicht erkannt“, höre ich mich sagen.
Im Hintergrund pulst die Musik, wechselt, pulst weiter.
Der Mann öffnet mir die Tür.
„Liefere ihnen einen guten Kampf.“ Er zögert, fügt dann hinzu: „...Bruder.“
Mein Gehirn würgt noch an der unvorhergesehenen Begegnung – die ersten Schritte in den Kampfkeller hinein tue ich ohne Gefühl oder Geistesgegenwart. Geräusche, Körper und Bewegungen drängen so plötzlich an mich heran, dass ich meine Gereiztheit nicht eigens anstacheln muss.
Auch der Keller gleicht eher einer kleinen Halle. Berücksichtigt man die einigermaßen leere Taverne oben, lässt die erstaunliche Anzahl von Menschen hier unten nur den Schluss zu, dass die Treppe nicht der einzige Zugang zur Eisenwolf-Arena sein kann.
Musik, hundert Stimmen und weniger konstante, aber einprägsame Laute verkleistern sich zu einem gierigen Lärm – oder ich höre es so, weil ich es will.
Ab hier wird nicht mehr viel gesprochen. Meine Wahrnehmung zerfällt.
Fetzen. Plötzlich ist mein Oberkörper nackt. Billiges Öl.
Fetzen. Hände klatschen mir aus dem Menschenkorridor auf den Leib. Mienen zwischen Kennergehabe und Schaulust. Ich bin ihr Stellvertreter, schleppe all die bösen Gefühle, die sie verleugnen, in den Ring.
Fetzen. Zehn, zwanzig gestaffelte Reihen von Gesichtern. Geldstücke wandern zu Wettenreglern. Stimmen finden in einen Takt.
Mein Opponent ist fast so breit wie hoch. Anders als ich hat er schon gekämpft: Seine Fäuste sind mit verfärbten Binden umwickelt.
An Ungerechtigkeiten stört sich niemand. Wer hier in den Ring geht – einen simplen, nicht abgesperrten Platz inmitten der Zuschauer -, bleibt solange dort, bis er freiwillig aufgibt.
Der Schiedsrichter ist nur dazu da, Teilnehmer mit einem Betäubungsstock auszuschalten, falls sie doch Messer oder Faustringe in den Beinkleidern versteckt haben.
Bevor wir aufeinander zu stürmen, lächle ich mein Gegenüber an.
Er versteht es.
Von irgendwo her sieht vielleicht der Türwächter zu. Wenn ich Asanctar retten will, wird es wegen Leuten wie ihm sein. Wenn.
Der Gegner zielt auf meinen Magen.
Der Schlag rutscht ab, durch das Öl. In einer Halbdrehung aus der Taille heraus haue ich ihm die Linke, auf die er nicht geachtet hat, direkt ins Maul, die Füße leicht versetzt.
In der Menge ein schönes, dunkles Gesicht. Stephen? Ich suche, erwarte fast, ihn wirklich dort zu sehen, wie damals im Lager seines Heerverbands, lächelnd, interessiert, während ich einen seiner Soldaten verprügele. Nur einer unter sechs Hauptleuten, aber schon so stolz und frech und grausam wie der Kriegsfürst, der Tage später aus ihm werden soll.
Mein Gegner stolpert.
Gebrüll ringsum verschluckt sein Keuchen, das Splittern seines Kiefers. Ein blutunterlaufener, fassungsloser Blick.
Er hat keine Chance.
Ich schlage ihn mit einer älteren Kraft. Ich schlage ihn ohne Rücksicht auf Ehre. Ich schlage ihn stellvertretend für ganz Asanctar.
So nimmt der erste Kampf seinen Lauf, und man kann wirklich nicht behaupten, er sei fair.
Der Mittag vergeht mit der Sondierung der Lage. Zuvorderst müssen wir wissen, wie viel seit der Entdeckung des Opfers zu den Fußtruppen Asanctars und ihren Vorgesetzten durchgesickert ist.
Ich habe sie über die Zeit beobachtet.
In den oberen Rängen genauso korrupt wie die Ordnungsgremien, denen sie untersteht, stützt sich die Polizei insgesamt auf sehr gewöhnliche, sehr arbeitsame Menschen. Sie dürfen nicht zu gebildet und nicht aus den oberen Bevölkerungsschichten sein. Bildung brütet kritisches Denken aus, familiäre Beziehungen erschweren das Herumschubsen der Mitarbeiter.
Es sind einfache Leute. Ach, gehen wir noch einen Schritt weiter: Gute Leute. Wie rührend.
Trotzdem haben wir sie aus dem Weg zu halten.
Diablo gehört uns. Das Vorrecht der Älteren.
Ich spreche mit zwei Obersten der Stadtviertel Sulaya und Kehjaun – die zusammen mit Camever und Am'Ashwa das Zentrum bilden -, um zu erfahren, ob ihre Reviere auf das Ereignis reagieren.
Beide sind nicht erfreut über meinen Besuch.
Der Hinweis auf Kontakte zum Ordnungsrat zerstreut ihre Bedenken schnell. Ich deute an, der tote Imbissangestellte sei in etwas verwickelt gewesen, habe verdeckt für Stellen gearbeitet, die ich leider nicht nennen darf.
Die Obersten wollen gar nicht wissen, was für Stellen das sind. Sie wollen auch nicht wissen, wer ich bin.
Sie strahlen Erleichterung aus, als ich mich verabschiede – und einen solchen Mangel an Bereitschaft, mir hinterher zu schnüffeln, dass ich Asanctar für sein Überleben bis hierher fast bewundern möchte.
Als ich aus der Wachstube trete, ruft sich die nächste Aufgabe in Erinnerung.
Ich bin dafür schon im richtigen Viertel.
Kehjaun ist der schmutzige kleine Nacheiferer Sulayas. Dasselbe, was man dort findet – Vergnügungsstätten, Tavernen, Märkte, gedrungene Tempel und eine übertriebene Anzahl winziger Läden -, findet man auch hier, aber schäbiger, verschwiegener. Die Umsätze werden nicht so regelmäßig gemacht, sind im Grunde jedoch ähnlich hoch. Denn Kehjaun verkauft die wirklich wertvollen Dinge.
Ausgestopfte, manchmal sogar lebende Kreaturen einer vergessenen Ära. Nicht zugelassene chirurgische Eingriffe. Bis zur Unkenntlichkeit abgegriffene Bücher und Pergamentrollen. Echte Stoffe, namentlich Seide. Pflanzenreste. Tiegel voller Fette und Öle in tausend Formen und Abwandlungen. Und natürlich Drogen.
Das sind die Zutaten, die auf gewisse Lebewesen eine größere Anziehungskraft ausüben als Geld, Alkohol oder käufliche Liebe.
Die Lebewesen umkreisen Kehjauns Gassengeflecht, tagsüber wie nachts, wagen nach oft wochenlanger Planung und Verwirrung den Vorstoß in einen der vollgestopften Läden, in eine der ausgesucht versteckten Bars.
Sie sind Sanktuarios wahre und letzte Chronisten. Warum das Los auf sie fällt, weiß der Himmel.
Kriege und 'Säuberungen' sind viele Male über Asanctar hinweg gefegt. Ganze Clans: Getötet, samt der Kinder und Kindeskinder. Ganze Verkaufshäuser: Geschlossen, die Angestellten verhaftet, auf ewig verschwunden. Ganze Berufszweige: Für illegal erklärt, ausgelöscht – besonders jene, die irgendetwas mit Papier oder Tinte oder, später, Buchdruck zu tun hatten.
Mit einigen Tempeln war man ähnlich gründlich.
Dennoch haben Chronisten überdauert, unfreiwillige Abgesandte eines Gestern, ohne eine Idee, ob das, was sie in Kopf oder Blut tragen und das nicht einmal Wissen genannt werden kann, der Wirklichkeit entspricht.
Wir Fünf, wir lieben sie. Jeder auf seine Weise. Wen wundert das?
Zehn Jahre auf der Flucht vor der eigenen Welt, oft in Armut und ohne einen Mitmenschen, an den man sich wenden könnte, sind eine lange Zeit. Siebzig, achtzig Jahre reichen für den Hopser über die Schwelle zum Wahnsinn.
Und tausend Jahre?
Ich warte bis zur Dämmerung. Sie fällt in Asanctar immer rasch, eine verfrühte, unnatürliche Angelegenheit infolge der Luftverschmutzung und der dichten Bebauung. Ich verbringe die Stunden bis dahin allein, ohne Kontakt zu Informationsquellen oder Bekannten, in einer sympathisch schäbigen, halbdunklen Taverne.
Das Personal beäugt mich nervös. Augenscheinlich sind ihnen Fremde, die sich über Stunden hinweg an zwei Karaffen Reiswein festhalten und das schwache Treiben im einzigen Raum beobachten, nicht geheuer.
Schließlich nähert sich der Wirt meinem Tisch, ein Wischtuch in den Händen. Er hat Angst, aber er hält sich wacker.
„Ich muss Euch bitten, zu gehen“, murmelt er befangen.
An der Bar verfolgen zwei Frauen – Gemahlin und Tochter sicherlich – unsere Begegnung.
„Warum?“ Ich lächle in sein glänzendes Gesicht hinauf. „Das Stillsitzen und Genießen deiner Gastfreundschaft ist doch nicht verboten?“
Das Wischtuch wird zerdrückt. „Das nicht“, sagt er, „nur... Ihr vertreibt mir die Kundschaft.“
„Tatsächlich?“ Ich werfe einen demonstrativen Blick auf die anderen drei Gäste, die verteilt im Tavernenraum hocken und nicht die geringste Notiz von mir nehmen.
Dann lehne ich mich zurück.
Sekundenlanges Schweigen. Der arme Wirt schwitzt.
„Ich muss Euch wirklich darum ersuchen -“, startet er einen neuen Versuch.
„Und ich muss dich wirklich darum ersuchen, mich hier sitzen zu lassen“, unterbreche ich ihn liebenswürdig. „Keine Sorge, in einer halben Stunde bin ich weg. Bis dahin“, ich lege ein Fünfzig-Cisma-Stück auf den Tisch, „geh deiner Arbeit nach, guter Mann.“
Seine Brust hebt sich unter einem tiefen, bebenden Atemzug.
„Ich bin nicht bestechlich“, löst er dann den Blick von dem kleinen Silberblock.
Mein Lächeln verbreitert sich ohne mein Zutun.
„Lobenswert.“ Ich leere die zweite Karaffe Reiswein in den Holzbecher. Der Wirt schaut zu, milde verzweifelt jetzt. „Wie heißt diese Straße? Travincalgasse, richtig? Das ist ein ehrwürdiger Name.“
„Nun -“
„Den Männern, die wöchentlich in deiner Taverne vorbei schauen, sagt er wahrscheinlich nichts. Eine Schande. Und eine Schande, in größerem Zusammenhang gesprochen, dass sie dir die Kasse leerräumen.“ Meine Linke schiebt ihm die Karaffe zu. „Na, vielleicht nicht ganz, aber die Hälfte dürfte es schon sein.“
Allmählich begreift er. Schwer zu sagen, ob das Blut, das ihm ins Gesicht schießt, Scham oder Empörung bedeutet. Hilflosigkeit bedeutet es so oder so.
„Ich will dir nichts“, sage ich gedämpft. „Vielleicht kannst du mir helfen. Um meine achtbaren Absichten zu unterstreichen, bitte ich dich sogar darum. Sieh dir das an.“
Ich breite drei Fotografien auf dem Tisch aus.
Die Obersten der Polizeireviere waren nicht in der Lage, sie mir zu verwehren.
„Kennst du eine dieser Personen?“, frage ich, ignoriere das Zwicken in meiner Magengrube. Als der Wirt nicht sofort antwortet, füge ich hinzu: „Und spiel mir nicht den ahnungslosen Bürger. Kehjaun weiß um seine Besucher.“
Nach einem viel sagenden Zögern deutet er mit dem Wischtuch auf das mittlere Foto.
„Der“, brummt er. Meine nächste Frage voraus ahnend, konkretisiert er: „Der ist regelmäßig in dieser Gegend. Im Jasmintempel.“
„Gut“, sammle ich die Aufnahmen ein. „Du kannst jetzt weiterarbeiten.“
Der unterschwellige Befehl – er hat verstanden, wo sein Platz ist – wirkt: Der Wirt zieht sich an die Bar zurück. Von Kopf bis Fuß ein innerhalb seiner Sphäre geschlagener Mann, was ich durchaus bedaure.
Aber in Anbetracht einer gewichtigeren Bedrohung müssen erpresserische Maßnahmen hingenommen werden, und Asanctar wird die Demütigung kaum sonderlich spüren. Es ist viel zu gewöhnt an Demütigungen.
Ich halte mein Versprechen und verlasse die Taverne zwanzig Minuten später. Allerdings nicht ohne einen letzten disziplinarischen Akt.
An der Bar weicht die Tochter des Wirts nicht schnell genug zurück, um mir zu entwischen. Ihre Hand auf der Theke festzuhalten, ist unnötig – meine Präsenz erledigt das. Ihr Vater sieht vom entgegengesetzten Ende der Theke aus zu, wunderbar ohnmächtig, so ohnmächtig, dass es mich kitzelt. Eine winzige Entschädigung für Jahrzehnte des Versteckspielens.
Die Anderen würden es verstehen, egal wie angestrengt jeder von ihnen an den guten Menschen glauben will, der überdauert hat.
Die junge Frau ist dunkel, schlank, eckig. Sie gefällt mir, auch, weil ihre weit aufgerissenen Augen trotz aller Beklemmung angriffslustig bleiben.
„Du kannst deinem Vater versichern, dass er auf die Schutzgeldeintreiber nicht mehr warten muss“, sage ich zu ihr.
Anfangs keine Antwort. Doch dann, bemüht, mir Paroli zu bieten, nicht zu zeigen, wie sehr ich sie anwidere, meint sie: „Wir brauchen Eure 'Hilfe' nicht. Ihr seid nicht besser als die Geldeintreiber.“
Normalerweise würde ich dem nicht widersprechen.
Heute sage ich: „Doch. Viel besser.“
Misstrauen durch und durch, huscht ihr Blick zwischen meinen Augen hin und her.
„Manchmal denke ich noch“, bringt sie heraus, „jemand wie Ihr würde das verstehen. Versetzt Euch in meine Lage. Frau, und -“
„Und?“
„Und Kurasti.“ Steif, gegen einen Widerstand, den sie nicht erfasst, tritt sie von der Theke zurück.
Ich denke, dass mein Lächeln die Ewigkeit nicht unbeschadet hinter sich gebracht hat, denn seine Wirkung verfehlt, was ich beabsichtige. Die Wirtstochter erbleicht.
„Wir sind alle Kurastis“, wende ich mich zum Gehen. „Offensichtlich oder nicht.“
Draußen empfängt mich der verhuschte Betrieb Kehjauns, gedämpfte Farben, omnipotenter Stein, ausgehöhlt von Nischen, in denen Asanctar wohnt, handelt, einer weiteren Nacht entgegen quillt. Kehjaun ist zu eng und verwinkelt für Gleiter. Eine leise und umso drohendere Gereiztheit beherrscht die Atmosphäre. Fressen oder gefressen werden.
Eigentlich sollte man sich genau hier ein Apartment kaufen. So nah am aufrichtigen Puls Sanktuarios schläft es sich bestimmt sehr gut.
Ich lasse mich zum Schein treiben, neugierig, ob der Glaube ans Schicksal, an Bestimmung mehr ist als der Schrei einer nackt ausgezogenen Menschheit. Und siehe da, ich lande quasi automatisch in einer weiteren Gasse, grünlich von Neonschildern der hiesigen Lokale beleuchtet.
Mein Herz schlägt langsamer. Der Körper unterwirft sich der Konzentration. Mit nervlicher Anspannung hat sie beinahe nichts zu tun.
Der Jasmintempel entpuppt sich als Parodie auf seinen eigenen Namen. Im Inneren nichts von Blüten oder Heiligkeit, nur eine Sammlung matt strahlender Lichtröhren in Form einer Dolde – nicht einmal Jasmin, aber gut, die Erinnerung an dieses Gewächs ist längst verschüttet.
Ein großer Raum, nachlässig geordnete Sitzbänke an niedrigen Tischen. Ungefähr ein Dutzend Kunden und vier Angestellte.
Wenn ich vermeiden will, Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, bleibt nur ein Lockvogel.
Ich.
Ein Platz an einem der unbesetzten Tische ist schnell gefunden, das Glas Mohnschnaps schnell geordert. Die Bedienung und der Umgangston im Jasmintempel sprechen Bände, vornehmlich darüber, dass es sich hierbei um einen Wartesalon für zwielichtige Existenzen handelt. Allein in den ersten fünfzehn Minuten darf ich Zeuge dreier Begegnungen sein, die Drogen- oder Menschenhandel zum Inhalt haben – mit einer Schlampigkeit abgewickelt, wie es sie nur auf neutralem Boden gibt.
Perfekt. Hier bin ich goldrichtig.
Ich kopiere den Habitus der anderen Gäste und hülle mich, wenn auch weniger ernsthaft als sie, in Unnahbarkeit. Gleichzeitig entriegele ich einen Fenstermechanismus in mir. Er ist festgerostet, es braucht ein bisschen Zeit. Ich rutsche tiefer in die Sitzpolster, schließe die Augen.
Mauern, Menschen und Straßen sind nichts. Die fähige Elite in Asanctar liest ihre Opfer aus dem Chaos der Materie heraus: Jäger verbotener Klasse im Walddickicht, abgerichtet auf ein einziges unbedachtes Lebenszeichen der Beute.
Sie operieren im Rahmen einer sorgsam bewahrten Schattenidentität, an der langen Leine der asanctarianischen Räte. Man muss ihnen Zeit einräumen. Ihre Profession ist bedroht: Sie waren sehr effektiv.
Daher, reichhaltig, verführerisch unverblümt, sollte ich Erfolg haben. Bald.
Ich liefere mich einer Welt aus, die ihren Grundfesten das Wasser abgegraben hat, überzeugt, alles Übel müsse den Bereichen entspringen, die sich durch Städtebau und Gleichmacherei weder kontrollieren noch auslöschen lassen. Es hat Erklärungsversuche gegeben, aber die Wissenschaft war dem Ordnungsdrang unterlegen.
Also die Idee: Wenn wir die Verhältnisse schon nicht klären, so bleibt uns doch, die Quellen zu beseitigen. Ganz geringe Quellen. Gemeinden, Haushalte, Einzelne. Die abschließende Politur waren die Edikte – ironischer Weise nicht von Paladinen, sondern von Menschen verfasst, deren Lebenswelt knietief im Verbotenen verankert war.
War – und ist.
Hier haben wir uns schuldig gemacht, alle Fünf. Den Umschwung der Gesellschaft hinsichtlich einer Akzeptanz des Übernatürlichen zu beeinflussen, wurde versäumt.
Und umso belustigender gestaltet sich, wie ich im Hier und Jetzt ein Fenster meiner Seele aufstoße, hoffend, betend, dass die Weisheit mehrerer Klassen – an denen ich mich im Übrigen versündige – als ein einziger Ruf aus mir herausströmt.
Komm. Ich lege eine Hand auf die Fotografien in meiner Brusttasche, schließe die andere um das Glas.
Komm. Ich laufe nicht weg.
Asanctar ist so ungeheuerlich gewachsen. Türme, Fabriken, Empfangshallen, Tempel, Gemächer. Es muss schrumpfen. Unsertwegen.
Und er kommt.
Mein Vorteil besteht in meiner räumlichen Position. Die Gestalt, die den Jasmintempel betritt, sieht sich fast zwanzig potentiellen Verdächtigen gegenüber, abgelenkt durch die anwesenden Frauen – weil Frauen seit jeher Hauptträgerinnen dieses Erbes waren -, beschäftigt mit der Einschätzung der Lage.
Ich wittere den verwunderten Hunger des Gegners. So eine rücksichtslose Machtdemonstration ist ihm sicher seit Jahren nicht untergekommen.
Dementsprechend verhält er sich vorsichtig. Ein mittelgroßer, völlig unauffälliger Mann, dringt er, in einen schwarzen Leinenüberwurf mit passender Haube gekleidet, in den Barraum vor. Er sucht sich einen Platz, versinkt in Schatten, wartet.
Gehe ich hinaus, auf die Gasse oder in einen der Lagerräume des Lokals? Oder bleibe ich sitzen und locke ihn noch ein wenig?
Mir ist klar, wie kindisch ich mich aufführe, dem Ernst der Sache gar nicht angemessen, aber daran ist meine uralte Arroganz schuld, und Arroganz war schon immer mein größter Fehler.
Ich entscheide mich für einen Mittelweg. Kurz, doch zielgerichtet werfe ich den Köder aus, ihm direkt vor die Füße. Er versteift sich alarmiert, ich fühle es.
Er erhebt sich. Ein fast nicht wahrnehmbarer Blick durch den Raum – ja, sein Gegner ist definitiv hier, und entweder unvorsichtig oder auf Konfrontation aus -, dann schleicht er zur Rückseite, schlüpft durch eine angelehnte Tür.
Der Jasmintempel untermalt den ersten Akt mit modernen Klängen, die gerade in Mode sind und Gelassenheit suggerieren. Meine Gefechtsbereitschaft windet sich darunter entlang wie eine Kanalratte.
Ich stehe auf und gehe ihm nach. Noch ist es unpersönlich. Aber nicht lange: Mein Schicksal ist zu eng mit dem wenigstens zweier weiterer Klassen verknüpft, und ich kann auf negative Gefühle zurückgreifen, die in dieser Stadt ihresgleichen suchen.
Jenseits der Tür ein Korridor. Rechts und links verlassene Garderoben. Jedes hier aufgehängte Gewand, jeder Stein im Gemäuer des Gebäudes wirft die Spur des Feindes zurück.
Es wird still. Der Jasmintempel verkommt zum Vorhof eines Schlachtfeldes. Das Eingreifen ahnungsloser Asanctarianer müssen wir nicht fürchten. Notfalls sind sie schnell beseitigt.
Der nächste Raum ist tatsächlich ein Lager: Groß, zwielichtig und unzureichend erhellt von ein paar Fenstern, vollgestellt mit Kisten.
Er steht am anderen Ende. Zwischen uns etwa zehn Meter.
Ich schließe die Tür.
„Ah“, kommt eine dünne, windige Stimme aus seiner Richtung. „Du weißt Bescheid.“
„Sicher“, entgegne ich. „Ich habe gerufen. Du hast geantwortet.“
Meine Erwiderung trifft ihn unvorbereitet. Für gewöhnlich attackieren entblößte Opfer sofort, oder sie fliehen.
„Eure Art ist so gut wie ausgestorben“, sagt er. „Jede Herausforderung gleicht daher einer Kampfansage – tapfer, das muss man euch lassen. Tapfer und hirnverbrannt.“
Zeit, ihn zu verwirren. Hat irgendjemand einen fairen Kampf verlangt?
„Vielleicht solltest du dich versichern, mit wem du es zu tun hast“, lege ich die Hände, die er eventuell erkennen kann, vor dem Schritt zusammen. „Eure Mission tappt seit Jahrzehnten im Dunkeln. Was, wenn ich hier bin, um dich zu überprüfen? Vertraust du deinen Auftraggebern?“
Schweigen.
Dann sagt die Kontur am anderen Ende des Lagers: „Ich weiß nicht, worauf du anspielst.“
„Doch, ich denke schon“, sage ich. „Der Rat zur Beseitigung illegaler magischer Aktivitäten ist ständig in Gefahr, von innen ausgehöhlt zu werden. Man droht Leuten wie dir. Hält sie klein. Ohne Rücksicht auf ihre Treue zum System.“
„Unsinn.“ Gesammelte Aufmerksamkeit. Darin, pestschwarz, der Zweifel.
„Ihr steht unter Beobachtung. Andauernd. Hat man jemandem wie dir je dasselbe bezahlt wie einem gewöhnlichen Handlanger?“
Wieder Schweigen. Ich kann hören, wie seine Überzeugung rieselt: Nachgebender Verputz im Gemäuer.
Ich wage vier, fünf Schritte. Soll er mich ruhig richtig sehen.
Ein surrendes Klicken aus seiner Richtung. Eine Handfeuerwaffe wird geladen.
„Diese Stadt“, sagt er schließlich flach, „ist verflucht. Korrupt. Wenn du einer von uns bist, weißt du, warum.“
Ich schweige.
„Sutre“, kommt es mir entgegen. „Die Firma observiert all unsere Aktivitäten.“
Spätestens jetzt müsste ich lachen. Ich halte mich zurück, mache noch einen Schritt – in einen Lichtfleck hinein.
„Sutre ist wirklich ein Problem“, gebe ich zu. „Aber ich fürchte, dafür sprichst du mit dem Falschen, mein Freund.“
Er reagiert mit bewundernswerter Geschwindigkeit.
Zwei Entladungen. Zwei Kugeln treffen mich in die Brust.
Der Einschlag wirft mich fast um. Ich verdanke es nur einem Kistenstapel, dass ich nicht falle. Heiß explodierender Schmerz, Organe, die sich geschockt verkrampfen, zerfetzte Muskeln und Knochen. Ich schleudere die Empfindung in den Äther Asanctars, den vier Menschen entgegen, die mir noch geblieben sind. Es tut wirklich weh.
Der Sucher lädt nach, horcht auf mein Stöhnen.
Ich gebe es ihm. Das zumindest hat er sich verdient.
Doch als ich mich vom Kistenstapel löse, eine Hand am durchweichten Jackett, geht ihm sein Triumph verloren. Seine Waffe, Kind der Moderne, ist ziemlich wirkungslos gegen Tyraels Geschenk.
Die Projektile zwängen sich aus meinem Fleisch. Eines davon prallt im Herabfallen gegen mein Handgelenk, während ich Luft einsauge, ein Monster nach Heerscharen von Monstern.
Noch zwei Schritte. Dass ich dabei taumele, nimmt ihrer Wirkung wenig.
Der Sucher hebt die Waffe, doch sie zittert. Er ist sprachlos. Und mich regiert jetzt der angestachelte Hass ganzer Klassen.
Ich habe sie nicht beschützt. Ich war ihnen kein Vater. Umso glühender räche ich sie.
Der dritte Schuss verfehlt meine rechte Schulter.
Wir sind allein in diesem Lagerraum, in der dämmernden Stadt. Niemand wird uns richten.
„Bleib stehen!“, platzt mein Gegenüber heraus.
Ich bleibe nicht stehen. Ich will wissen, was er noch zu bieten hat.
Die Vermutung, dass die Bluthunde der asanctarianischen Obrigkeit die Fähigkeiten ihrer Opfer absorbiert haben, bestätigt sich – der Jäger des Systems bedient sich derer, die er jagt.
Mitten in einem Schritt trifft mich, einer hastigen Geste vorgelagert, ein Kältezauber.
Meine Haut knistert – flüchtige, verheißungsvolle Todeskälte -, aber ich wehre ihn ab.
Wenn dieser Sucher die Elite seiner Profession ist, bin ich der Abgesandte aller Klassen, denn die Zeit hat für mich gearbeitet.
Er weicht zurück.
Bis ich ihn erreiche, feuert er zwei Blitzzauber und – worauf ich gewartet habe – einen Fluch auf mich ab. Nicht sehr sorgfältig. Nicht sehr gut recherchiert. Schade.
Wir treffen aufeinander, zwei Teilnehmer einer Überraschungsschlacht. Alles ist dreckig, improvisiert, ehrvergessen, die reine Not.
Der Sucher flieht zur Hintertür des Lagerraums. Sie ist verriegelt. Dort wirbelt er herum, wirft alle Vorsicht über Bord, sendet mir ein bleiches Gebilde entgegen: Einen zackigen Ball aus Knochen, und ich weiß, wie verzweifelt er ist, wenn er diesen Zauber bemüht, der nahen Kreaturen Knochenteile aus dem Leib reißt. Irgendwo im Umkreis von etwa fünfzig Metern stirbt jemand ganz plötzlich und elend.
„Komm her.“ Ich greife mir seinen Kragen. „Meine eigene Magie verwendest du gegen mich. Das ist nicht nur dumm, das ist ein Affront.“ Er ist mir so nah, dass ich sein Gesicht deutlich sehe: Blass, intelligent, fleckig vor Angst.
Eine seiner Schusswaffen poltert zu Boden, als ich ihn hochhebe und gegen die verschlossene Tür drücke. Füße treten vergeblich.
„Du widerlicher Hund.“ Knöchel bohren sich in einen Hals. Keuchen. „Du hast deinen letzten Magier umgebracht, Sucher.“
Pupillen, geweitet. Der winzige Funke darin benötigt kein seitlich einfallendes Licht.
„Du“, würgt er. „Du bist es. Du lebst noch. Sie hatten Recht!“
Ich lasse ihn langsam zugrunde gehen, im Vollbewusstsein meiner Macht, den Opponenten eine Handbreit vor mir, sodass sich seine Qualen durch die Fäuste, mit denen ich ihn an die Tür presse, übertragen. Er leidet, er wehrt sich mit aller Bitterkeit, auf die ich gewettet habe, während sein Körper in Zeitlupe zerplatzt, zerfällt, schmilzt.
„Ich bin es“, sage ich in das blutleere Antlitz. „Ich bin Sutre.“
Elisa.
Gut, dass du mich nicht siehst.
Ich lasse den toten Sucher liegen. Einer weniger.
In der Vorbereitung schlagen wir kleine Schlachten.