Von Toren und Schulen
Der Morgen graute bereits im Osten und die Sonne schickte ihre langen goldenen Fäden über den noch dunklen Himmel, um sich bald an ihnen empor zu ziehen. Nachtfalter setzten zu ihrem letzten Flug an, ehe sie wieder in ihren dunklen Höhlen verschwinden würden. Ein Windhauch streifte den zusammengekauerten Wanderer und ließ ihn erzittern. Langsam richtete er sich auf und öffnete seine leeren grauen Augen. Sein Körper schmerzte immer noch grausam vom langen Marsch des letzten Tages, ein Stöhnen entwich seinen Lungen.
Ein weiterer Tag in der Hölle. Er kramte aus seinem Rucksack seinen Proviantbeutel hervor, fand jedoch nur noch ein paar trockene Rosinen darin, von Wasser ganz zu schweigen. Widerwillig versuchte er die trockenen Früchte zu essen, doch sie verkanteten sich in seinem Hals und er spuckte sie mit einem Huster wieder heraus.
Der Wanderer sah sich um , wenige Schritt vor ihm erhob sich die Kristallwand noch steil gen Himmel, dies war also leider kein Trugbild gewesen. Welch göttliche Macht mochte sich ihm hier in den Weg gestellt haben? Er trat einige Schritte weg und betrachtete die Wand genauer. Sie war mehrere Hundert Fuß lang und ging auf der einen Seite in die Felswand des Orodthin über. Auf der anderen Seite fiel sie fast senkrecht mit dem Berg ab. Die Oberfläche war wie geschliffener Diamant, an ein empor klettern nicht zu denken. Der einzige Makel war eine bogenförmige Ausbuchtung etwa in der Mitte der Wand, so als hätte sich dort ein irrer Steinmetz verwirklichen wollen.
Der Wanderer kniff die Augen zusammen, damit er das wunderliche Werk besser erkennen konnte, dann entwich ihm plötzlich ein entzücktes Glucksen. Er rannte schnell zu seinem Schlafplatz und packte seine Utensilien zusammen, den Proviantbeutel, die zerschlissene Decke und das lange, in Tücher gewickelte Bündel, das er immer bei sich trug, und trat unter den merkwürdigen Bogen. Mit geballter Faust schlug er dreimal gegen die Kristallwand, ein dumpfes Klopfen war das Ergebnis. Einige Augenblicke passierte nichts, doch dann ertönte aus unbestimmter Richtung eine mächtige Stimme.
„Name und Losung, bitte!“
Er hatte also Carasthin erreicht, die Stadt am Berg, von der sein alter Meister erzählt hatte. Von einer Losung sprach er freilich nie. Angestrengt dachte er nach, doch fiel ihm nichts ein, was hier passend schien. Ein Satz tönte in seinem Kopf, den der alte Lehrer früher oft im Schlaf gemurmelt hatte. Als Kinder hatten sie sich darüber lustig gemacht, doch wie war der Satz?
„Viator ad urbem venit aut urbs ad viatorem venit? – Kommt der Wanderer zur Stadt oder kommt die Stadt zum Wanderer? Mein Name ist Tirn Vigil.“
Wieder geschah einige Augenblicke nichts. War die Losung doch falsch? Gerade als Tirn zu zweifeln begann, ertönte ein leises Knarren. Ein kleiner senkrechter Spalt erschien unterhalb des Bogens, der schnell größer wurde. Das riesige steinerne Tor wurde geöffnet.
Der junge Mann trat ein, kein Mensch war zu sehen. Das Tor schloss sich hinter ihm wie von Geisterhand bewegt, bis die Mauer von innen genauso kristallin wirkte, wie von außen. Er ging los durch die Gassen der Stadt. Die Häuser ragten finster in den noch dunklen Morgenhimmel, gestützt von riesigen Säulen, die aus der Erde wuchsen wie uralte Bäume. Sie schienen aus dem selben schwarzen schimmernden Gestein wie die Stadtmauer errichten worden zu sein, wenn sie nicht schon immer so dort gestanden haben sollten. Durch ihre archaischen Formen sahen sie monumentaler aus als alles, was Tirn je zuvor gesehen hatte. Die Straßen waren gesäumt von knorrigen Bäumen mit silbrig schimmernden Blättern, die bei jedem Windzug hell und leise raschelten. Tirn irrte durch die verwinkelten Gassen, lief unter Häusern durch, die komplett auf Säulen ruhten, ging durch Torbögen, über Treppen immer weiter bergan und weiter in die immer dichter werdende Stadt hinein. Menschen traf er keine, doch das wunderte ihn nicht weiter, hier konnten nur Götter hausen. Keinen Makel hatte diese Stadt und genau das machte sie so einschüchternd.
Er war gerade an einem kleinen Platz angelangt, als das Spektakel begann. Die Morgensonne streifte gerade den oberen Rand der Häuser, als die ganze Stadt plötzlich in silbernes Licht getaucht wurde. Tirn musste sich die Hand vor die Augen halten, bis diese sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Das war also das Geheimnis dieser Steine, bei Nacht finster und kaum sichtbar, bei Tag reflektierten sie die jeweilige Lichtfarbe bis in die hinterste Gasse. Ein unglaubliches Schauspiel, das den jungen Mann noch lange staunend an Ort und Stelle festzuhalten schien. Und mit einem Mal war die Stadt bevölkert, aus allen Winkeln strömten Menschen hervor, gekleidet in grauschimmernde Gewänder, sodass sie aussahen wie ein Strom beweglicher antiker Statuen.
Von den Eindrücken, die auf ihn einprasselten, völlig überwältigt ließ sich Tirn auf einem kleinen Felsblock nieder. Von ihm nahm trotz seiner zerschlissen Kleidung, seiner zerzausten Haare und seines viel zu lange nicht mehr gepflegten Bartes niemand Kenntnis. Sein Magen knurrte, als hätte er vor sich im nächsten Augenblick selbst zu verspeisen. Es war höchste Zeit, sich auf die Suche nach der Kämpferschule zu machen. Gerade ging in seiner Nähe ein Bewohner vorüber und Tirn ergriff die Gelegenheit:
„T’schuldigung!“
„Wie darf ich Ihnen helfen, mein werter junger Herr?“
Verwirrt von der höflichen Art des Angesprochenen, stammelte er erst ein paar unverständliche Worte hervor. Machte der Kerl sich über ihn lustig?
„Bin auf der Suche nach ner Kampfschule.“
„Ich fürchte ich verstehe Sie nicht eindeutig. Es gibt ettliche Kampfschulen hier in Carasthin. Ich fürchte, Sie müssen mir genauere Informationen anvertrauen, wenn ich Ihnen weiterhelfen soll.“
„Was bitte?“
„Die Waffengattung ist das Entscheinde, werter Herr: Speer, Axt, Bogen, Schwert, Dol…“
„Schwert! Waffengattung Schwert!“
„Bevorzugen Sie den einseitigen Gebraucht, oder ist die beidhändige Variante ihr Stil, wenn ich fragen darf?“
„Hä? Achso, Ich kämpfe mit einem Zweihänder!“
„Dann folgen sie mir bitte!“
Immer noch irritiert von der höflichen Art ging Tirn hinter dem Bewohner her, der mit langen eleganten Schritten davon marschierte. Er hatte in seinem Zustand Mühe dem schnellen Schritt zu folgen. Nach einiger Zeit hielten sie schließlich vor einem flachen, langen Gebäude an, dass nur durch schmale elegante Säulen gestützt wurde. Über der Türpforte stand eingemeißelt in großen alten Lettern:
Kraft und Eleganz - Der Weg des Gladius Bimanus
Tirn dankte dem Bewohner für seine Hilfe und wollte ihm dafür eine Münze in die Hand drücken, was jener jedoch mit einem „Es war mir eine Ehre!“ ablehnte. Dann klopfte er gegen die große steinerne Tür. Ein kleiner alter Mann, der außer gewaltigen Augenbrauen keinerlei Haare mehr am Kopf hatte, öffnete.
„Ja, bitte?“
„Tirn Vigil, ich möchte hier gerne lernen!“
„Empfehlung und Gebühr, bitte!“
Er kramte in seiner Tasche, bis er schließlich eine kleine, leicht in Mitleidenschaft gezogene Schriftrolle und einen Beutel mit Silbermünzen fand, die ihm sein Meister gegeben hatte. Beides drückte er dem alten Mann in die Hand. Dieser schloss die Tür und Tirn konnte dahinter leises Getuschel vernehmen. Dann öffnete der alte Mann wieder die Tür.
„Bitte folgen!“
Die Eingangshalle war geräumiger als von außen zu vermuten war, zwei lange Reihen von riesigen Statuen zierten den Saal. Mit ihren nach oben gestreckten Schwertern bildeten die das Grundgerüst für das kolossale Gewölbe, das den Raum überspannte. Über zwei Etagen verteilt gingen mehrere hundert Türen davon ab, jede gekennzeichnet durch ein eigenes Zeichen. Am Ende des Saales war ein unüberdachter Hof zu erkennen. Der alte Mann öffnete eine der Türen. Dahinter befand sich ein karger einfacher Raum, ausgestattet nur mit einem Strohbett, einem Waschbottich und einem Tisch, sowie einem zersprungenem Spiegel an der Wand.
„Ausrüstung und Schwert“, der Alte wies auf ein zusammengeschnürtes Bündel auf dem Bett, „Essen“, er drückte ihm ein Brot sowie eine Kanne Wasser in die Hand, „Eröffnungskampf in einer Stunde, Hof!“
„Vielen Dank!“, erwiderte Tirn, der sich sichtlich über die Verpflegung freute und sofort anfing das karge Mahl zu verspeisen.
Mit einem daher gestammelten „Hjaja…“ verließ der Alte das Zimmer.