StalkerJuist
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Hallo,
nach einer längeren Pause versuche ich wieder zu schreiben. Ich hoffe es gefällt, als Betaleserin konnte ich wieder Reeba gewinnen, sie ist also mitschuldig.
Die Protektoren (1)
Tarmon stemmte sich gegen die Böe, federnd schwamm er in ihr. Dieser verdammte Schneesturm! Man sah kaum ein Dutzend Schritte weit, um einen herum war alles eine einzige konturlose weiße Mauer. Schlimmer noch, wenn er so wie jetzt vom Wind gebeutelt wurde, dann verlor er kurz jegliche Orientierung, selbst Oben und Unten verschwammen manchmal für einige Augenblicke. Obwohl er sich hier bestens auskannte, musste er auf der Hut sein, um sich nicht zu verirren. Normalerweise hätte er sich nie bei einem solchen Wetter ins Freie begeben, und schon gar nicht auf den weiten Weg bis in den Wald, um Brennholz zu sammeln, doch dieses Mal war einfach alles zusammen gekommen. Erst wurde seine Frau krank, dann fing dieser Sturm an, und schließlich wurde noch das Feuermaterial knapp. Er hatte gehofft, auf besseres Wetter warten zu können, doch weit gefehlt, es wurde eher schlechter als besser. Jetzt hatten sie nicht einmal mehr genügend Holz zum Kochen, zum Heizen erst recht nicht. So musste er trotz aller widrigen Umstände losziehen, in den Wald und bei diesem Wetter Bruchholz einsammeln. Nun, wenigsten war Dank des Sturmes daran kein Mangel, und er hatte seinen Schlitten damit schnell voll beladen.
Die Böe ließ nach. Tarmon konzentrierte sich kurz, dann packte er seufzend das Zugseil von seinem Schlitten fester und stapfte weiter. Er keuchte ein wenig vor Anstrengung. Es war nicht die Kälte, die ihm zu schaffen machte, denn so kalt war es nicht, wenn auch merklich unter dem Gefrierpunkt. Es war eher der tiefe Schnee, der ihn fast bis zu den Knien einsinken ließ und zu stakendem Schritt zwang. Auch die Kufen vom Schlitten sanken in den lockeren Schnee etwas ein und ließen ihn schwer am Seil ziehen. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er den eigentlichen Grund seiner Schwäche nicht verleugnen: Er war alt geworden. Alt und schwächer. Wenn das so weiterginge, würde er bald auf Hilfe angewiesen sein. Doch er war alleine hier, lebte nur mit seiner Frau zusammen, die auch nicht mehr die Jüngste war. Was würde aus ihm werden, wenn sie stürbe? Verdammt, das Schlimmste an diesen Stürmen war die Abgeschiedenheit, die einem solche Gedanken aufzwang. Missmutig ging er weiter, Schritt für Schritt.
Im ersten Augenblick erschrak Tarmon, als er die seinen Weg kreuzende Spur entdeckte. War er im Kreis gelaufen? War er schon so alt geworden, dass er dermaßen die Orientierung verloren hatte? Dann sah er genauer hin. Es fehlten die Spuren von seinem Schlitten, also konnte das nicht seine Spur sein. Doch wessen dann? Von seiner Frau? Das war unmöglich, sie konnte nur mit Mühe im Haus laufen, im Freien wäre sie nie so weit gekommen. Also ein Fremder, auch wenn das noch so unsinnig war, in dieser abgelegenen Gegend lebte niemand außer ihnen, und dann bei diesem Wetter. Er fing an, die Spur zu lesen, das fiel ihm als erfahrenen Waldläufer leicht. Die Eindrücke hatten klare Konturen und es fand sich kaum lockerer Schnee auf ihrem Grund, also waren sie frisch. Sie waren nicht allzu tief, also war der Fremde relativ schmächtig. Vor allem aber sah man ihnen an, dass der Fremde am Ende seiner Kräfte war.
„Bald wirst du tot sein, ein Opfer des Sturms“, murmelte Tarmon unwillkürlich.
Tarmon ging weiter, seinen beladenen Schlitten hinter sich herziehend. Er hatte genügend eigene Probleme und musste zusehen, endlich nach Hause zu kommen. Was ging ihn ein Fremder an?
Doch nach wenigen Schritten verspürte er so etwas wie Neugierde. Das war ungewohnt für ihn. So weit er sich zurückerinnern konnte, kannte er keine Neugierde. Dazu war er wohl zu alt geworden, dachte er, dann drehte er mehr unterbewusst als gewollt ab, kehrte in einem großen Bogen zu der Spur zurück und folgte ihr. Er war nicht mehr der Schnellste, doch so erschöpft wie der Fremde mehr gewankt als gegangen war, würde er ihn dennoch sehr bald eingeholt haben. Wenn er dann überhaupt noch lebte.
*
Sie taumelte und blieb nach Atem ringend stehend. Ihre Augen versuchten etwas zu erkennen, einen Bezugspunkt zu finden, doch es war vergeblich, um sie herum war nur undurchdringliches Weiß. Wirbelndes, wild tanzendes Weiß, dass sie schwindeln ließ, wenn sie zu lange hineinstarrte. Wie lange steckte sie schon in diesem Schneesturm? Es kam ihr ewig vor. Gab es überhaupt etwas davor? Es fiel ihr so schwer, sich zu konzentrieren, die Gedanken zerstoben. Sie löste ihren Blick vom Sturm, blickte auf ihre linke Handfläche, die sie mit leicht gespreizten Fingern eine Unterarmspanne entfernt vor ihr Gesicht hielt. Sie zitterte etwas, doch es war wenigstens etwas Bekanntes, ein Anhaltspunkt in dieser konturlosen Welt. Kurz blitzte ein Gedanke auf, doch bevor sie ihn greifen konnte war er wieder fort.
Eine Böe fegte eine Wolke aus Eis und Schnee auf sie zu, die sie kalt prasselnd verschluckte. Sie krümmte sich zusammen, versuchte mit steif gefrorenen Fingern ihren kurzen Rock an den Leib zu pressen. Viel half es nicht, der Wind blies durch den viel zu dünnen Stoff hindurch, fast als wenn sie nackt im Sturm wäre. Wie unzureichend sie nur gekleidet war! Dieses Mal konnte sie kurz ihren Gedanken festhalten, gerade lang genug, um den Nachhall der Verwunderung in sich zu spüren.
Als die Böe nachließ und die Wolke sie freiließ, richtete sie sich wieder auf und stapfte weiter durch den tiefen Schnee. Obwohl sie die Orientierung verloren hatte, war sie sicher, in die richtige Richtung zu gehen. Das war das Einzige, was wirklich zählte: Das Ziel zu erreichen. Der Sturm schien alles andere gefressen zu haben, alle anderen Fragen und Nöte. Es blieb nicht einmal mehr Platz, sich zu wundern, warum sie die Richtung wusste, in all ihrer sonstigen Orientierungslosigkeit. Nur weiter, immer weiter.
Aber sie kam nicht mehr viel weiter. Eine besonders starke Böe hieb ihr in den Rücken, sie strauchelte und fiel nach vorne. Ihre Reflexe waren nur noch schwach, sie vermochte den Sturz nicht mit den Armen abzufangen, doch nun zeigte sich der tiefe Schnee von seiner gnädigen Seite, nahm sie sanft in seine weichen Arme.
Kurz lag sie so im Schnee. Ihr Körper war tief eingesunken, sie konnte ihren Atem hören, hastig und etwas keuchend, und ihr Herz, wie es schnell schlug. Wie angenehm, das Schneebett war gar nicht so kalt, viel wärmer als der Sturm. Wie angenehm, einfach so dazuliegen, sich nicht anstrengen zu müssen. Sie war so müde, so unsäglich müde. Einzig das Atmen fiel schwer, auf dem Bauch und mit dem Gesicht im Schnee. Sie wälzte sich mühselig herum, zog die Beine etwas an und klemmte die Hände zwischen sie. Sie starrte in den Himmel, doch auch hier war nur undurchdringliches Weiß, dann schloss sie die Lider und horchte wieder auf ihren Atem und Herzschlag.
*
Tarmon erkannte undeutlich in etwa dreißig Schritten Entfernung die Kuhle am Ende der Spur. Er hielt kurz inne. Zweifel befielen ihn wieder. Was mischte er sich hier ein? Er hatte wahrlich genügend eigene Probleme. Doch noch während er das dachte ging er weiter bis zur Kuhle und blickte auf die reglose Gestalt in ihr. Es war eine junge Frau. Erschrocken kniete sich Tarmon neben sie, riss sich den rechten Handschuh von den Fingern und berührte ihre Wangen mit den Fingerspitzen. Sie waren kalt, aber nicht eiskalt, also lebte sie wahrscheinlich noch. Jetzt sah er auch, dass sich ihr Leib langsam hob und senkte, sie atmete.
Er stand auf und betrachtete die Fremde genauer. Sie trug nur leichte Kleidung, einen kurzen violetten Rock und ein kunstvoll um die Brust geschlungenes grünes Tuch. Ihre kräftigen Farben unterstrichen, dass es sich nur um Sommerkleidung handelte. Wie konnte jemand so verrückt sein und bei solchem Wetter so herumlaufen? Er sah ihr in das Gesicht. Trotz der Blässe und ihrer geschlossenen Augen beeindruckte es ihn. Nein, so sieht keine Verrückte aus. Ob sie überfallen und ausgeraubt worden war? Unsicher genug war die Gegend. Erschrocken sah er sich um, ohne etwas zu entdecken. Die Diebe wären natürlich längst über alle Berge. Egal, es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Entschlossen räumte er seinen Schlitten frei.
Er ging in die Hocke, schob seine Arme unter ihren Leib und hob sie an. Tarmon ächzte unter der Last, aber er schaffte es, sich aufzurichten, sie zum Schlitten zu tragen und dort auf dem Rücken abzulegen, wenn auch etwas unsanft. Schneeflocken fielen auf die Fremde, er beobachtete wie sie auf ihrer blanken Haut von Gesicht und Bauch landeten um vom nächsten Windstoß vertrieben zu werden. Er zog seinen Übermantel aus und wickelte die Frau darin ein. Mit den Seilen, die zuvor das Brennholz gehalten hatten, sicherte er sie vor dem Herunterrollen. Dann brach er auf, wieder zurück zu seinem Haus. Jetzt ließ der Sturm auch ihn frieren, doch es war nicht allzu weit, höchstens eine knappe Stunde, und die Anstrengung würde ihn schon ausreichend erwärmen.
*
Berührung, Umarmung.
Nicht besitzergreifend, nicht lüstern.
Sondern vergewissernd, in zeitloser Stille haltend.
Gedankenfreies Glück. So leer, so schön.
Dann ein Gedanke, erst am Rande, kaum wahrnehmbar. Er eilt herbei, ungebeten, drängt sich in die Leere.
Fällt in sie ein, wie ein Tropfen schwarzer Tinte in ein Glas klaren Wassers.
Er spürt, wie sie sich versteift und löst die Umarmung. Er schaut ihr in das Gesicht und erkennt ihren Schmerz, Schmerz, der sich in seinen Augen widerspiegelt.
Der Traum zersprang, und seine Splitter waren scharf. Sie riss ihre Augen auf, nicht um zu sehen, sondern um durch das blendende Licht die Erinnerung an den Traum zu verlieren. So lag sie einige Atemzüge da und versuchte, an nichts zu denken, vor allem nicht an den Traum. Doch ein beständiges Jucken im Gesicht, an Nase und Ohren zwang sie zurück in die Umwelt. Sie fuhr mit beiden Händen zum Gesicht um sich zu kratzen, doch ihre Finger waren in Stoff eingewickelt. Ehe sie recht begreifen konnte, tauchte ein Schatten auf, er packt ihre Arme und drückt sie sanft aber bestimmt zurück auf das Bettuch.
„Nicht!“, sagte eine unbekannte Stimme. „Nicht kratzen! Ihr habt leichte Erfrierungen. Ich habe sie versorgt. Aber sie müssen in Ruhe abheilen können, damit keine Narben entstehen.“
Der Schatten beugte sich über sie herab, jetzt konnte sie ihn besser sehen. Es war ein älterer Mann mit einem grau-schwarzen Vollbart und halblangen weißen Haaren. Genaueres war nicht erkennbar, das anfangs so blendende Licht war in Wirklichkeit eine eher trübe Laterne, die auf einem Tisch neben dem Bett stand.
„Versucht, nicht zu sprechen. Am besten, Ihr schlaft noch etwas, morgen ist auch noch ein Tag.“ Er machte eine kurze Pause, sprach dann weiter. „Keine Sorge, die Erfrierungen sind nur Oberflächlich. Die werden völlig verheilen.“
Er ließ ihre Arme los und richtete sich wieder auf. Die Fremde schloss zögernd ihre Augen und kurz darauf wurde ihr Atem langsamer und gleichmäßiger.
Am nächsten Morgen erwachte sie durch leichtes Rütteln an ihrer Schulter.
„Hallo. Ihr solltet aufstehen. Wer zu lange schläft, rostet ein.“
Es war dieselbe Stimme wie beim ersten, nur kurzen, Aufwachen. Sie schlug langsam die Augen auf. Diesmal lag sie halb auf der Seite, sie blickte direkt auf den Sprecher. Tatsächlich, es war wieder der alte Mann. Sie drehte sich auf den Rücken, stützte sich auf ihre Ellbogen auf und sah sich um. Sie konnte alles sehen und erkennen, aber ihre Überlegungen versickerten, noch bevor sie ihren Verstand erreichten.
„Geht es?“, fragte der Mann.
Sie antwortete nicht, stattdessen richtete sie ihren Oberkörper weiter auf. Sie schien nicht zu bemerken, wie das Bettuch herabrutschte.
Der Anblick ihres nackten Oberkörpers verunsicherte ihn. Zwar hatte er sie gestern verbunden und in das Bett gebracht, ihr die vom Schnee nassgewordenen Kleider ausgezogen und sich sogar eine Zeit lang neben sie gelegt, um sie zu wärmen, doch da war sie bewusstlos gewesen und er hatte dabei keinerlei Bedenken gehabt. Sicher, es war eine junge Frau, doch er war aus dem Alter heraus. Außerdem, als Jäger kannte er solche Notlagen, da waren Prüderie und moralische Bedenken fehl am Platz. Doch jetzt war sie wach, und wie würde sie darüber denken? Er versuchte, die Situation möglichst schnell zu beenden.
„Gut, dann nichts wie raus. Eure Sachen liegen dort“, sagte er und deutete auf einen Stuhl neben dem Bett.
Die Fremde sagte immer noch nichts. Überraschend für Tarmon schwang sie ihre Beine aus dem Bett, warf das Bettuch zur Seite und stand in einer fließenden Bewegung auf. Mit einem nachdenklichen und etwas entrückten Blick stand sie jetzt unmittelbar vor ihm.
„Ihr habt Euch aber gut erholt“, entwich es dem verdutzten Jäger, doch er fing sich schnell. Er hob Rock und Brusttuch vom Stuhl und hielt sie der Fremden hin. „Erstaunlich, bei der Kleidung in dem Sturm.“
Sie schien ihn immer noch nicht richtig wahrzunehmen. Ohne ihn anzusehen nahm sie zuerst den violetten Rock und knöpfte ihn sich um die Hüfte, danach schlang sie sich das grüne Tuch um den Oberkörper. Beides tat sie mit geistesabwesenden Bewegungen, den Blick in unergründliche Fernen gerichtet.
„So habe ich Euch gestern im Schneesturm gefunden. Warum lauft Ihr mitten im Winter in Sommerkleidung herum?“
Die Fremde sah sich mit unstet springendem Blick um.
„Wie lautet Euer Name?“, fragte Tarmon weiter, allmählich ungeduldig werdend.
Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu, doch sah blicklos an ihm vorbei. Tarmon konnte ihre wachsende Unsicherheit erkennen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern“, flüsterte sie tonlos.
Alles kam ihr fremd vor. Wer war dieser alte Mann? Was für ein Raum war das? Er war mittelgroß, mit zwei Fenstern, durch die Tageslicht, aber kein Sonnenlicht, fiel. Decke und Wände waren aus hellen, etwas grob bearbeiteten Holzbrettern erbaut. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand war ein aus Bruchsteinen grob gefügter Kamin, in dem ein Feuer brannte und die Luft mit etwas Rauch erfüllte. Abgesehen von einigen Möbeln war der Raum kahl. Nein, an diesen Raum konnte sie sich nicht erinnern.
„Woran könnt Ihr Euch erinnern? Wie seid Ihr hierher und in diesen Sturm gelangt? Hat man Euch überfallen, Eure Ausrüstung gestohlen?“, drang die Stimme des unbekannten Mannes in ihre Gedanken.
Endlich schien sie Tarmon wahrzunehmen, sie sah ihn jetzt an.
„Ich weiß es nicht. Ich kann mich nur noch erinnern, wie ich durch ihn lief“, flüsterte sie.
Er sah das wachsende Entsetzen in ihren Augen.
Plötzlich schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. „Ich...ich kann mich an gar nichts mehr erinnern!“ Sie stöhnte verzweifelt auf, kraftlos rutschten die Hände aus ihrem Gesicht.
Tarmon packte sie sanft an den Schultern. „Das ist nicht so schlimm, es wird Euch schon wieder einfallen. Vermutlich hat die Überanstrengung und die Kälte Euer Gedächtnis blockiert. Das kommt vor, das vergeht wieder.“
Tarmon zog die Fremde näher an sich, aber ohne sie an sich zu drücken. Es waren vor allem Zweifel und eine Spur von Misstrauen, die ihm Zurückhaltung auferlegten. Er zweifelte, dass sie ausgeraubt worden war, denn als er sie gestern auszog, da hatte er ihren Gürtel bemerkt, in dem zu seiner grenzenlosen Verwunderung auch einige Goldmünzen waren. Hatte er überhaupt schon einmal Gold in der Hand gehabt? Er kannte doch nur Kupfermünzen, und vielleicht ab und zu Silbermünzen. Sie hatte echte Goldmünzen, für ihn ein kleines Vermögen. Kein Dieb hätte die übersehen. Nein, hier war irgend etwas anderes passiert. Vielleicht ein Racheakt? Ein Eifersuchtsdrama? Ein bizarrer Mordversuch? Hatte er wohlhabende und mächtige Kreise gestört? Kreise, die sich rächen würden?
Schlimmer aber war das Misstrauen, das er empfand. Spielte sie den Gedächtnisverlust nur vor, um sich bei ihm verstecken zu können? So unwahrscheinlich das war, so bohrend war dieser Gedanke.
Er bereute, gestern der Spur gefolgt zu sein und sie gefunden zu haben, und löste den Griff.
„Danke.“
Er sah sie an. Dieses sonst so nichtssagende Wort, in diesem Fall berührte es ihn tief, vertrieb seine trüben Gedanken. Wann hatte er es zum letzten Mal so gehört? So einfach, so ursprünglich ausgesprochen, dass es nur vom Herzen kommen konnte.
„Danke für Eure Hilfe. Es wird bestimmt so sein, wie Ihr meint...hoffentlich.“
Er sah ihr genau in die Augen, die ein wenig hilflos zu ihm aufblickten. Nein, diese Frau log nicht, sie verdiente seine Hilfe, was auch immer passiert war. Er ging zum Ofen und kam mit den Schuhen und Socken der Fremden wieder. „Das Leder ist noch etwas feucht, doch wenn ich sie ganz trockne schrumpft es womöglich. Dafür sind die Socken schön warm.“
Sie nickte und setzte sich auf die Bettkante, um die Schuhe anzuziehen.
Er sah ihr zu, wie sie die Schnürsenkel band. Für so etwas hatte er einen Blick, er konnte aus ihren Fingerbewegungen viel herauslesen. Zweifellos, sie war geschickt mit den Händen, trotz der Verbände, also kaum eine verstoßene Aristokratin. Dazu passten auch die Schwielen, die er gestern an ihnen bemerkt hatte, auch wenn sie für eine Bäuerin zu leicht waren. Langsam bekam er einen neuen Verdacht.
Als sie wieder aufstand sah er ebenfalls scharf hin. Sein Verdacht wurde allmählich zur Gewissheit, so stand keine Dame und keine Bäuerin auf. Nein, vor ihm stand eine Kriegerin. Natürlich, warum war er nicht gleich darauf gekommen?
Tarmon hatte sich nie sonderlich für die Angelegenheiten der Krieger interessiert. Sollten die sich nur gegenseitig die Köpfe einschlagen, solange sie ihn in Ruhe ließen. In letzter Zeit schien das auch vermehrt der Fall zu sein, zumindest hatte er so etwas gehört. Er sah die junge Frau an, wie sie erwartungsvoll vor ihm stand. Erstaunlich, wie sie sich gefangen hatte. Er hatte sich diese Leute immer ganz anders vorgestellt, grob und dümmlich. Tarmon atmete tief ein.
„Kommt, ich möchte Euch meiner Frau Jilana vorstellen. Sie ist sehr krank und kann kaum das Bett verlassen. Wir dürfen sie nicht zu sehr aufregen. Deshalb sollten wir ihr zunächst Euer Problem verschweigen.“
Die Fremde nickte. „Ich verstehe. Doch sie wird mich bestimmt nach meinem Namen fragen. Was soll ich dann sagen?“
„Denkt Euch einen aus, bis Ihr euch wieder erinnert.“
„Ich weiß nicht...Es ist schwierig, sich einen eigenen Namen auszudenken. Bitte, schlagt Ihr einen vor.“
Tarmon nickte nachdenklich. „Würde Euch ‚Sirtis’ gefallen?“
„Sirtis? Gut, der Name gefällt mir. Hat er eine Bedeutung?“
Er nickte etwas bedrückt. „Ja.“
Mehr sagte er nicht. Stattdessen drehte Tarmon sich um und ging aus dem Zimmer auf einen schmalen Gang, Sirtis folgte ihm. Vor einer Tür blieb er stehen, klopfte leise, dann öffnete er die Tür und sie traten ein.
Der Raum war klein, mehr eine Kammer als ein Zimmer. Zunächst war kaum etwas zu erkennen, das einzige Fenster war durch einen dicken Vorhang verdeckt. Tarmon ging zu ihm und zog ihn beiseite, im nun erhellten Raum konnte Sirtis ein Bett erkennen, auf dem eine alte Frau lag, die einen schwachen, aber dennoch wachen Eindruck machte. Offensichtlich war sie schon länger wach gewesen, einschätzend sah sie Sirtis an.
„Ihr seid also die Fremde, von der mein Mann mir erzählt hat?“
„Ja, man nennt mich Sirtis. Ich bin in dem Schneesturm in Schwierigkeiten geraten, doch zum Glück hat Tarmon mich noch rechtzeitig gefunden.“
„Sie wurde überfallen, und man hatte ihr alles gestohlen, auch die warme Kleidung“, fügte Tarmon hastig hinzu. Jilana sah ihn kurz an, dann wandte sie sich erneut der Fremden zu.
„Räuber? Das tut mir Leid, es ist hier unsicher geworden, früher war es besser. Was hat Euch in diese Gegend geführt, Sirtis?“
Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet, auch wenn sie so offensichtlich war. Fieberhaft überlegte Sirtis, dann antwortete sie mehr spontan als überlegt.
„Ich bin eine Kriegerin. Mehr kann ich nicht sagen.“
Sie bemerkte, wie Tarmon bei dieser Antwort zusammenzuckte. Hatte sie etwas falsches gesagt? Dabei kam ihr die Antwort so gut vor. Fast schon zu gut, dachte sie. Vielleicht, weil sie wahr war?
Es war still geworden. Jilana starrte Sirtis an. „Eine Kriegerin...“, murmelte sie.
„Bitte, Jilana, reg dich nicht auf. Sirtis ist bestimmt kein schlechter Mensch, sie wird uns nichts tun“, warf Tarmon hastig ein.
Jilana blickte zu ihrem Mann. Sie sagte kein Wort, doch schienen sie sich miteinander zu verständigen. Sie wandte sich wieder der verunsichert dastehenden Sirtis zu.
„Ihr seid also eine Kriegerin...Ja, das sehe ich Euch an. Bitte, setzt Euch zu mir auf die Bettkante, ich würde Euch gerne besser sehen können und mich gerne ausführlich mit Ihnen unterhalten.“
Sirtis kam der Bitte nach. Tarmon zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich neben das Kopfende des Bettes.
„Ihr seid also eine Kriegerin. Das finde ich interessant, ich dachte immer, Krieg sei Männersache. Ist es euer Beruf, lebt ihr davon?“
Für Tarmon war der eigentliche Sinn dieser Frage klar, doch Sirtis begriff ihn überhaupt nicht. Wie konnte sie auch? Er spürte, wie seine Frau sich aufregte. Es hatte einfach keinen Zweck, es war von Anfang an naiv gewesen, sie anzulügen, wo sie so lange zusammenlebten.
„Jilana“, er nahm ihre Hand und streichelte sie sanft, „sie hat im Schneesturm eine Gedächtnisblockade erlitten. Sie weiß nicht mehr, auf welcher Seite sie steht. Verstehst du, sie weiß nicht einmal mehr ihren Namen.“
Es entstand eine merkliche Pause.
„Stimmt das?“, fragte Jilana die Fremde und sah sie an.
Sie nickte. „Ja. Deswegen nenne ich mich ersatzweise Sirtis. Und ich weiß nicht, was Ihr mit ‚Seite’ meint. Bitte, sagt es mir.“
„Ihr könntet eine der zahllosen Söldner des Herrschers sein. Oder eine von denen, die ihn bekämpfen. Das sind die beiden Seiten, von denen Tarmon sprach.“
„Und auf welcher Seite meint Ihr, das ich stehe?“
Jilana sah Tarmon an, nur ein kurzer Blick der Versicherung, dann sprach sie weiter. „Auf der richtigen.“ Sie sah ihren fragen Blick und schüttelte den Kopf. „Aber das spielt jetzt keine Rolle.“
„Ihr könnt unser Gast bleiben, bis Ihr Euch erholt habt“, fügte Tarmon hinzu.
Die nächsten Tage verbrachte Sirtis im Haus. Sie konnte mit ihren verbundenen Fingern anfangs nicht viel tun, und Tarmon war meistens bei seiner Frau. Ab und zu setzte sie sich dazu, und sie unterhielten sich über alles mögliche. So erfuhr sie etwas über das Land Al-Amaris, in dem sie lebten, und über den Herrscher und sein Gefolge. Es war aber nicht viel, Tarmon war schon lange nicht mehr weiter als bis zur nächsten Stadt Gom gekommen, er kannte kaum einen Menschen außer seiner Frau. Jilana war auch nicht weiter gekommen, und seit sie immer schwächer geworden war, war sie kaum noch aus dem Haus gekommen.
So wie Sirtis Verletzungen abheilten, so erholte sich zu ihrer Freude auch Jilana. Immer öfter und länger konnte sie ihr Bett verlassen, sie gingen dann in das Wohnzimmer und sprachen dort weiter. Jilana strickte dabei an einem grauen Pullover, Tarmon kümmerte sich um den Kamin. Sirtis fing an, das Zimmer aufzuräumen und zu reinigen, auch reparierte sie allerlei Dinge, wie Kessel und eine Wasserpumpe. Es machte ihr Spaß, doch es war auch wie ein Zwang, manchmal störten ihre Gastgeber sich daran, so sehr sie auch ihre Hilfe gebrauchen konnten, war doch durch Jilanas Kränklichkeit das Haus etwas heruntergekommen.
„Kannst du nicht ein Mal aufhören und dich ausruhen?“, mahnte Tarmon. Sie hatten längst die förmliche Anrede aufgegeben. „Du hast diese Ecke bestimmt schon zweimal geputzt.“
„Was soll ich denn sonst machen? Morgen werde ich euer Dach flicken, an zwei Stellen sind Löcher“, antwortete Sirtis ohne sich umzudrehen.
„Hm“, brummte Tarmon, von mir aus. Ich kann das nicht mehr. Aber jetzt höre endlich auf! Warum bist du dermaßen ruhelos?“
Sirtis drehte sich um. Kurz horchte sie in sich hinein. „Du hast recht, ich bin so rastlos. Das war im Schneesturm auch so, es zieht mich fort in diese Richtung.“ Sie deutete nach Nordwesten.
„Dort liegt Gom. Was willst du dort?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht komme ich von dort und es ist meine Heimat?“
„Und da möchtest du hin, verstehe“, sagte Jilana und sah sie aus zusammengekniffenen Augen abschätzend an, wie sie es in den letzten Tagen öfters getan hatte. Sie lächelte leicht und strickte weiter. „Leider kann ich dich nicht begleiten, aber mein Mann...“
„Nein!“, entfuhr es Tarmon. „Ich kann dich nicht alleine lassen.“ Er wandte sich mit entschuldigendem Blick Sirtis zu. „Sie ist noch zu schwach und bis Gom ist es eine Tagesreise. So lange möchte ich meine Frau nicht alleine lassen.“
Sirtis machte eine beschwichtigende Geste. „Ist schon gut. Ich mag meinen Namen und einiges anderes vergessen haben, aber ich bin nicht dumm und hilflos geworden. Das schaffe ich schon, und in Gom habe ich bestimmt alte Bekannte, auch wird es dort Heiler geben. Ihr habt mehr als genug für mich getan.“
„Du könntest auch bleiben, bis ich wieder gesund bin. Es geht mir schon viel besser“, schlug Jilana vor.
Sirtis lächelte. „Das hoffe ich. Doch, wie gesagt, ich schaffe das schon.“
„Na schön. In der großen Truhe dort ist noch genügend Stoff für einen Mantel. Könnt Ihr nähen? Ich kann Euch dabei leider nicht helfen, meine Augen sind nicht mehr die besten. Zum Stricken reicht es noch gerade, aber zum Nähen leider nicht mehr.“
Sirtis ging zu der Truhe und klappte sie auf.
„Den dunkelblauen meine ich“, hörte sie Jilana sagen.
Sie zog den Stoff heraus, es war dicke Winterwolle von guter Qualität.
„Das ist gutes Material, war bestimmt teuer. Was kann ich euch dafür geben?“
„Ich schenke ihn dir.“
Sie wandte den Kopf und sah ihre Gastgeberin an. „Das kann ich nicht annehmen, ihr seid arme Leute.“
„Ach was, wir können ihn ohnehin nicht mehr gebrauchen. Dafür kannst du dann das Dach machen, wenn du willst.“
Sie schneiderte sich aus dem Stoff in den nächsten zwei Tagen einen knielangen Mantel mit Kapuze.
„Nicht schlecht, du bist eine geschickte Frau“, lobte Tarmon, als sie den Mantel zur Probe anzog und sich spielerisch vor ihren Gastgebern im Kreis drehte. Der Mantel passt und steht dir. Jetzt brauchst du noch etwas für die Beine. Warte.“ Er ging in sein Zimmer und kam mit einer seiner schwarzen Hosen zurück. „Die könnte einigermaßen passen. Dein Becken ist natürlich etwas kräftiger.“
„In der Truhe sind noch einige Stoffreste, damit kannst du die Hose anpassen“, meinte Jilana.
Am Morgen des Abschieds stand Sirtis früh auf. Der Marsch nach Gom würde wegen des Schnees lange dauern, und sie wollte nicht im Freien übernachten müssen. Sie zog sich die Hose an, die sie durch zwei seitliche dunkelgrüne Einsätze im oberen Teil passend gemacht hatte. Dann schlang sie sich das Brusttuch um und zog ihre Socken und Schuhe an. So ging sie in die Küche. Zu ihrer freudigen Überraschung war nicht nur Tarmon, sondern auch Jilana so früh auf.
„Schon auf, Jilana? Du siehst gut erholt aus.“
„Ja, so fühle ich mich auch. Irgendwie hat wohl deine Anwesenheit heilsam gewirkt. Vielleicht hat dein jugendliches Feuer mich auf Trab gebracht?“ Sie lächelte. „Nun, meine Finger auf jeden Fall. Komm her, der ist noch für dich.“ Gut gelaunt hielt sie Sirtis einen Pullover entgegen.
Sirtis nahm den Pullover und hielt ihn sich vor den Leib. „Der ist aber schön, sogar mit einem Zopfmuster. Ist der wirklich für mich?“ Sie drehte mit einem Anflug von Koketterie ihren Oberkörper hin und her, ihre Augen strahlten.
„Natürlich. Ich stricke sehr gerne, und Tarmon hat schon genügend Pullover.“
Ihr Mann knurrte dazu etwas unverständliches, doch in Wirklichkeit genoss er Sirtis Anblick. Wann hatte er zuletzt einen Menschen sich so offen und schön freuen sehen? Einen solch schönen Augenblick hatte er schon lange nicht mehr erleben dürfen.
Sirtis schlüpfte in den Pullover. Er reichte ihr bis zu den Oberschenkeln und Fingerknöcheln.
„Ich habe ihn absichtlich so lang gemacht, damit er schön warm ist. Die Ärmel kannst du bei Bedarf natürlich hochrollen. Leider sind mir in der Eile und durch meine schlechten Augen einige Maschen heruntergefallen“, sagte Jilana.
„Wunderschön...“, sagte Sirtis nur und strich mit den Fingern am Pullover herab.
Nach dem gemeinsamen Frühstück nahte der Moment des Abschieds. Sirtis holte ihren Rucksack, den sie sich aus Stoffresten zusammengesetzt hatte, aus dem Zimmer. In ihm fand sie noch ein heimlich hineingestopftes Paar Socken, die sie überzog. Eine Decke und etwas Verpflegung hatte sie noch am Vortag bekommen. Jetzt war sie gut ausgerüstet. Als Dank legte sie eine Silbermünze auf den Stuhl im Zimmer. Sie wusste, dass ihre Gastgeber sie nie persönlich angenommen hätten, doch so würde ihnen keine Wahl bleiben.
Es würde ein schöner Wintertag werden. Um die Zeit war es noch dunkel, doch die Sterne waren zu sehen. Es war zwar kalt, aber windstill. In zwei Stunden würde die Sonne am wolkenlosen Himmel erscheinen. Sirtis stand zum Abschied vor ihren Gastgebern. Sie spürte, wie die Schwermütigkeit der Trennung von ihnen auf sie übergriff und sich gegenseitig verstärkte. Sirtis strich Jilana mit den Fingerspitzen über die Wange, berührte Tarmon an der Schulter, dann drehte sie sich abrupt um, öffnete die Tür und ging ohne ein weiteres Wort nach Nordwesten davon.
nach einer längeren Pause versuche ich wieder zu schreiben. Ich hoffe es gefällt, als Betaleserin konnte ich wieder Reeba gewinnen, sie ist also mitschuldig.
Die Protektoren (1)
Tarmon stemmte sich gegen die Böe, federnd schwamm er in ihr. Dieser verdammte Schneesturm! Man sah kaum ein Dutzend Schritte weit, um einen herum war alles eine einzige konturlose weiße Mauer. Schlimmer noch, wenn er so wie jetzt vom Wind gebeutelt wurde, dann verlor er kurz jegliche Orientierung, selbst Oben und Unten verschwammen manchmal für einige Augenblicke. Obwohl er sich hier bestens auskannte, musste er auf der Hut sein, um sich nicht zu verirren. Normalerweise hätte er sich nie bei einem solchen Wetter ins Freie begeben, und schon gar nicht auf den weiten Weg bis in den Wald, um Brennholz zu sammeln, doch dieses Mal war einfach alles zusammen gekommen. Erst wurde seine Frau krank, dann fing dieser Sturm an, und schließlich wurde noch das Feuermaterial knapp. Er hatte gehofft, auf besseres Wetter warten zu können, doch weit gefehlt, es wurde eher schlechter als besser. Jetzt hatten sie nicht einmal mehr genügend Holz zum Kochen, zum Heizen erst recht nicht. So musste er trotz aller widrigen Umstände losziehen, in den Wald und bei diesem Wetter Bruchholz einsammeln. Nun, wenigsten war Dank des Sturmes daran kein Mangel, und er hatte seinen Schlitten damit schnell voll beladen.
Die Böe ließ nach. Tarmon konzentrierte sich kurz, dann packte er seufzend das Zugseil von seinem Schlitten fester und stapfte weiter. Er keuchte ein wenig vor Anstrengung. Es war nicht die Kälte, die ihm zu schaffen machte, denn so kalt war es nicht, wenn auch merklich unter dem Gefrierpunkt. Es war eher der tiefe Schnee, der ihn fast bis zu den Knien einsinken ließ und zu stakendem Schritt zwang. Auch die Kufen vom Schlitten sanken in den lockeren Schnee etwas ein und ließen ihn schwer am Seil ziehen. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er den eigentlichen Grund seiner Schwäche nicht verleugnen: Er war alt geworden. Alt und schwächer. Wenn das so weiterginge, würde er bald auf Hilfe angewiesen sein. Doch er war alleine hier, lebte nur mit seiner Frau zusammen, die auch nicht mehr die Jüngste war. Was würde aus ihm werden, wenn sie stürbe? Verdammt, das Schlimmste an diesen Stürmen war die Abgeschiedenheit, die einem solche Gedanken aufzwang. Missmutig ging er weiter, Schritt für Schritt.
Im ersten Augenblick erschrak Tarmon, als er die seinen Weg kreuzende Spur entdeckte. War er im Kreis gelaufen? War er schon so alt geworden, dass er dermaßen die Orientierung verloren hatte? Dann sah er genauer hin. Es fehlten die Spuren von seinem Schlitten, also konnte das nicht seine Spur sein. Doch wessen dann? Von seiner Frau? Das war unmöglich, sie konnte nur mit Mühe im Haus laufen, im Freien wäre sie nie so weit gekommen. Also ein Fremder, auch wenn das noch so unsinnig war, in dieser abgelegenen Gegend lebte niemand außer ihnen, und dann bei diesem Wetter. Er fing an, die Spur zu lesen, das fiel ihm als erfahrenen Waldläufer leicht. Die Eindrücke hatten klare Konturen und es fand sich kaum lockerer Schnee auf ihrem Grund, also waren sie frisch. Sie waren nicht allzu tief, also war der Fremde relativ schmächtig. Vor allem aber sah man ihnen an, dass der Fremde am Ende seiner Kräfte war.
„Bald wirst du tot sein, ein Opfer des Sturms“, murmelte Tarmon unwillkürlich.
Tarmon ging weiter, seinen beladenen Schlitten hinter sich herziehend. Er hatte genügend eigene Probleme und musste zusehen, endlich nach Hause zu kommen. Was ging ihn ein Fremder an?
Doch nach wenigen Schritten verspürte er so etwas wie Neugierde. Das war ungewohnt für ihn. So weit er sich zurückerinnern konnte, kannte er keine Neugierde. Dazu war er wohl zu alt geworden, dachte er, dann drehte er mehr unterbewusst als gewollt ab, kehrte in einem großen Bogen zu der Spur zurück und folgte ihr. Er war nicht mehr der Schnellste, doch so erschöpft wie der Fremde mehr gewankt als gegangen war, würde er ihn dennoch sehr bald eingeholt haben. Wenn er dann überhaupt noch lebte.
*
Sie taumelte und blieb nach Atem ringend stehend. Ihre Augen versuchten etwas zu erkennen, einen Bezugspunkt zu finden, doch es war vergeblich, um sie herum war nur undurchdringliches Weiß. Wirbelndes, wild tanzendes Weiß, dass sie schwindeln ließ, wenn sie zu lange hineinstarrte. Wie lange steckte sie schon in diesem Schneesturm? Es kam ihr ewig vor. Gab es überhaupt etwas davor? Es fiel ihr so schwer, sich zu konzentrieren, die Gedanken zerstoben. Sie löste ihren Blick vom Sturm, blickte auf ihre linke Handfläche, die sie mit leicht gespreizten Fingern eine Unterarmspanne entfernt vor ihr Gesicht hielt. Sie zitterte etwas, doch es war wenigstens etwas Bekanntes, ein Anhaltspunkt in dieser konturlosen Welt. Kurz blitzte ein Gedanke auf, doch bevor sie ihn greifen konnte war er wieder fort.
Eine Böe fegte eine Wolke aus Eis und Schnee auf sie zu, die sie kalt prasselnd verschluckte. Sie krümmte sich zusammen, versuchte mit steif gefrorenen Fingern ihren kurzen Rock an den Leib zu pressen. Viel half es nicht, der Wind blies durch den viel zu dünnen Stoff hindurch, fast als wenn sie nackt im Sturm wäre. Wie unzureichend sie nur gekleidet war! Dieses Mal konnte sie kurz ihren Gedanken festhalten, gerade lang genug, um den Nachhall der Verwunderung in sich zu spüren.
Als die Böe nachließ und die Wolke sie freiließ, richtete sie sich wieder auf und stapfte weiter durch den tiefen Schnee. Obwohl sie die Orientierung verloren hatte, war sie sicher, in die richtige Richtung zu gehen. Das war das Einzige, was wirklich zählte: Das Ziel zu erreichen. Der Sturm schien alles andere gefressen zu haben, alle anderen Fragen und Nöte. Es blieb nicht einmal mehr Platz, sich zu wundern, warum sie die Richtung wusste, in all ihrer sonstigen Orientierungslosigkeit. Nur weiter, immer weiter.
Aber sie kam nicht mehr viel weiter. Eine besonders starke Böe hieb ihr in den Rücken, sie strauchelte und fiel nach vorne. Ihre Reflexe waren nur noch schwach, sie vermochte den Sturz nicht mit den Armen abzufangen, doch nun zeigte sich der tiefe Schnee von seiner gnädigen Seite, nahm sie sanft in seine weichen Arme.
Kurz lag sie so im Schnee. Ihr Körper war tief eingesunken, sie konnte ihren Atem hören, hastig und etwas keuchend, und ihr Herz, wie es schnell schlug. Wie angenehm, das Schneebett war gar nicht so kalt, viel wärmer als der Sturm. Wie angenehm, einfach so dazuliegen, sich nicht anstrengen zu müssen. Sie war so müde, so unsäglich müde. Einzig das Atmen fiel schwer, auf dem Bauch und mit dem Gesicht im Schnee. Sie wälzte sich mühselig herum, zog die Beine etwas an und klemmte die Hände zwischen sie. Sie starrte in den Himmel, doch auch hier war nur undurchdringliches Weiß, dann schloss sie die Lider und horchte wieder auf ihren Atem und Herzschlag.
*
Tarmon erkannte undeutlich in etwa dreißig Schritten Entfernung die Kuhle am Ende der Spur. Er hielt kurz inne. Zweifel befielen ihn wieder. Was mischte er sich hier ein? Er hatte wahrlich genügend eigene Probleme. Doch noch während er das dachte ging er weiter bis zur Kuhle und blickte auf die reglose Gestalt in ihr. Es war eine junge Frau. Erschrocken kniete sich Tarmon neben sie, riss sich den rechten Handschuh von den Fingern und berührte ihre Wangen mit den Fingerspitzen. Sie waren kalt, aber nicht eiskalt, also lebte sie wahrscheinlich noch. Jetzt sah er auch, dass sich ihr Leib langsam hob und senkte, sie atmete.
Er stand auf und betrachtete die Fremde genauer. Sie trug nur leichte Kleidung, einen kurzen violetten Rock und ein kunstvoll um die Brust geschlungenes grünes Tuch. Ihre kräftigen Farben unterstrichen, dass es sich nur um Sommerkleidung handelte. Wie konnte jemand so verrückt sein und bei solchem Wetter so herumlaufen? Er sah ihr in das Gesicht. Trotz der Blässe und ihrer geschlossenen Augen beeindruckte es ihn. Nein, so sieht keine Verrückte aus. Ob sie überfallen und ausgeraubt worden war? Unsicher genug war die Gegend. Erschrocken sah er sich um, ohne etwas zu entdecken. Die Diebe wären natürlich längst über alle Berge. Egal, es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Entschlossen räumte er seinen Schlitten frei.
Er ging in die Hocke, schob seine Arme unter ihren Leib und hob sie an. Tarmon ächzte unter der Last, aber er schaffte es, sich aufzurichten, sie zum Schlitten zu tragen und dort auf dem Rücken abzulegen, wenn auch etwas unsanft. Schneeflocken fielen auf die Fremde, er beobachtete wie sie auf ihrer blanken Haut von Gesicht und Bauch landeten um vom nächsten Windstoß vertrieben zu werden. Er zog seinen Übermantel aus und wickelte die Frau darin ein. Mit den Seilen, die zuvor das Brennholz gehalten hatten, sicherte er sie vor dem Herunterrollen. Dann brach er auf, wieder zurück zu seinem Haus. Jetzt ließ der Sturm auch ihn frieren, doch es war nicht allzu weit, höchstens eine knappe Stunde, und die Anstrengung würde ihn schon ausreichend erwärmen.
*
Berührung, Umarmung.
Nicht besitzergreifend, nicht lüstern.
Sondern vergewissernd, in zeitloser Stille haltend.
Gedankenfreies Glück. So leer, so schön.
Dann ein Gedanke, erst am Rande, kaum wahrnehmbar. Er eilt herbei, ungebeten, drängt sich in die Leere.
Fällt in sie ein, wie ein Tropfen schwarzer Tinte in ein Glas klaren Wassers.
Er spürt, wie sie sich versteift und löst die Umarmung. Er schaut ihr in das Gesicht und erkennt ihren Schmerz, Schmerz, der sich in seinen Augen widerspiegelt.
Der Traum zersprang, und seine Splitter waren scharf. Sie riss ihre Augen auf, nicht um zu sehen, sondern um durch das blendende Licht die Erinnerung an den Traum zu verlieren. So lag sie einige Atemzüge da und versuchte, an nichts zu denken, vor allem nicht an den Traum. Doch ein beständiges Jucken im Gesicht, an Nase und Ohren zwang sie zurück in die Umwelt. Sie fuhr mit beiden Händen zum Gesicht um sich zu kratzen, doch ihre Finger waren in Stoff eingewickelt. Ehe sie recht begreifen konnte, tauchte ein Schatten auf, er packt ihre Arme und drückt sie sanft aber bestimmt zurück auf das Bettuch.
„Nicht!“, sagte eine unbekannte Stimme. „Nicht kratzen! Ihr habt leichte Erfrierungen. Ich habe sie versorgt. Aber sie müssen in Ruhe abheilen können, damit keine Narben entstehen.“
Der Schatten beugte sich über sie herab, jetzt konnte sie ihn besser sehen. Es war ein älterer Mann mit einem grau-schwarzen Vollbart und halblangen weißen Haaren. Genaueres war nicht erkennbar, das anfangs so blendende Licht war in Wirklichkeit eine eher trübe Laterne, die auf einem Tisch neben dem Bett stand.
„Versucht, nicht zu sprechen. Am besten, Ihr schlaft noch etwas, morgen ist auch noch ein Tag.“ Er machte eine kurze Pause, sprach dann weiter. „Keine Sorge, die Erfrierungen sind nur Oberflächlich. Die werden völlig verheilen.“
Er ließ ihre Arme los und richtete sich wieder auf. Die Fremde schloss zögernd ihre Augen und kurz darauf wurde ihr Atem langsamer und gleichmäßiger.
Am nächsten Morgen erwachte sie durch leichtes Rütteln an ihrer Schulter.
„Hallo. Ihr solltet aufstehen. Wer zu lange schläft, rostet ein.“
Es war dieselbe Stimme wie beim ersten, nur kurzen, Aufwachen. Sie schlug langsam die Augen auf. Diesmal lag sie halb auf der Seite, sie blickte direkt auf den Sprecher. Tatsächlich, es war wieder der alte Mann. Sie drehte sich auf den Rücken, stützte sich auf ihre Ellbogen auf und sah sich um. Sie konnte alles sehen und erkennen, aber ihre Überlegungen versickerten, noch bevor sie ihren Verstand erreichten.
„Geht es?“, fragte der Mann.
Sie antwortete nicht, stattdessen richtete sie ihren Oberkörper weiter auf. Sie schien nicht zu bemerken, wie das Bettuch herabrutschte.
Der Anblick ihres nackten Oberkörpers verunsicherte ihn. Zwar hatte er sie gestern verbunden und in das Bett gebracht, ihr die vom Schnee nassgewordenen Kleider ausgezogen und sich sogar eine Zeit lang neben sie gelegt, um sie zu wärmen, doch da war sie bewusstlos gewesen und er hatte dabei keinerlei Bedenken gehabt. Sicher, es war eine junge Frau, doch er war aus dem Alter heraus. Außerdem, als Jäger kannte er solche Notlagen, da waren Prüderie und moralische Bedenken fehl am Platz. Doch jetzt war sie wach, und wie würde sie darüber denken? Er versuchte, die Situation möglichst schnell zu beenden.
„Gut, dann nichts wie raus. Eure Sachen liegen dort“, sagte er und deutete auf einen Stuhl neben dem Bett.
Die Fremde sagte immer noch nichts. Überraschend für Tarmon schwang sie ihre Beine aus dem Bett, warf das Bettuch zur Seite und stand in einer fließenden Bewegung auf. Mit einem nachdenklichen und etwas entrückten Blick stand sie jetzt unmittelbar vor ihm.
„Ihr habt Euch aber gut erholt“, entwich es dem verdutzten Jäger, doch er fing sich schnell. Er hob Rock und Brusttuch vom Stuhl und hielt sie der Fremden hin. „Erstaunlich, bei der Kleidung in dem Sturm.“
Sie schien ihn immer noch nicht richtig wahrzunehmen. Ohne ihn anzusehen nahm sie zuerst den violetten Rock und knöpfte ihn sich um die Hüfte, danach schlang sie sich das grüne Tuch um den Oberkörper. Beides tat sie mit geistesabwesenden Bewegungen, den Blick in unergründliche Fernen gerichtet.
„So habe ich Euch gestern im Schneesturm gefunden. Warum lauft Ihr mitten im Winter in Sommerkleidung herum?“
Die Fremde sah sich mit unstet springendem Blick um.
„Wie lautet Euer Name?“, fragte Tarmon weiter, allmählich ungeduldig werdend.
Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu, doch sah blicklos an ihm vorbei. Tarmon konnte ihre wachsende Unsicherheit erkennen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern“, flüsterte sie tonlos.
Alles kam ihr fremd vor. Wer war dieser alte Mann? Was für ein Raum war das? Er war mittelgroß, mit zwei Fenstern, durch die Tageslicht, aber kein Sonnenlicht, fiel. Decke und Wände waren aus hellen, etwas grob bearbeiteten Holzbrettern erbaut. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand war ein aus Bruchsteinen grob gefügter Kamin, in dem ein Feuer brannte und die Luft mit etwas Rauch erfüllte. Abgesehen von einigen Möbeln war der Raum kahl. Nein, an diesen Raum konnte sie sich nicht erinnern.
„Woran könnt Ihr Euch erinnern? Wie seid Ihr hierher und in diesen Sturm gelangt? Hat man Euch überfallen, Eure Ausrüstung gestohlen?“, drang die Stimme des unbekannten Mannes in ihre Gedanken.
Endlich schien sie Tarmon wahrzunehmen, sie sah ihn jetzt an.
„Ich weiß es nicht. Ich kann mich nur noch erinnern, wie ich durch ihn lief“, flüsterte sie.
Er sah das wachsende Entsetzen in ihren Augen.
Plötzlich schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. „Ich...ich kann mich an gar nichts mehr erinnern!“ Sie stöhnte verzweifelt auf, kraftlos rutschten die Hände aus ihrem Gesicht.
Tarmon packte sie sanft an den Schultern. „Das ist nicht so schlimm, es wird Euch schon wieder einfallen. Vermutlich hat die Überanstrengung und die Kälte Euer Gedächtnis blockiert. Das kommt vor, das vergeht wieder.“
Tarmon zog die Fremde näher an sich, aber ohne sie an sich zu drücken. Es waren vor allem Zweifel und eine Spur von Misstrauen, die ihm Zurückhaltung auferlegten. Er zweifelte, dass sie ausgeraubt worden war, denn als er sie gestern auszog, da hatte er ihren Gürtel bemerkt, in dem zu seiner grenzenlosen Verwunderung auch einige Goldmünzen waren. Hatte er überhaupt schon einmal Gold in der Hand gehabt? Er kannte doch nur Kupfermünzen, und vielleicht ab und zu Silbermünzen. Sie hatte echte Goldmünzen, für ihn ein kleines Vermögen. Kein Dieb hätte die übersehen. Nein, hier war irgend etwas anderes passiert. Vielleicht ein Racheakt? Ein Eifersuchtsdrama? Ein bizarrer Mordversuch? Hatte er wohlhabende und mächtige Kreise gestört? Kreise, die sich rächen würden?
Schlimmer aber war das Misstrauen, das er empfand. Spielte sie den Gedächtnisverlust nur vor, um sich bei ihm verstecken zu können? So unwahrscheinlich das war, so bohrend war dieser Gedanke.
Er bereute, gestern der Spur gefolgt zu sein und sie gefunden zu haben, und löste den Griff.
„Danke.“
Er sah sie an. Dieses sonst so nichtssagende Wort, in diesem Fall berührte es ihn tief, vertrieb seine trüben Gedanken. Wann hatte er es zum letzten Mal so gehört? So einfach, so ursprünglich ausgesprochen, dass es nur vom Herzen kommen konnte.
„Danke für Eure Hilfe. Es wird bestimmt so sein, wie Ihr meint...hoffentlich.“
Er sah ihr genau in die Augen, die ein wenig hilflos zu ihm aufblickten. Nein, diese Frau log nicht, sie verdiente seine Hilfe, was auch immer passiert war. Er ging zum Ofen und kam mit den Schuhen und Socken der Fremden wieder. „Das Leder ist noch etwas feucht, doch wenn ich sie ganz trockne schrumpft es womöglich. Dafür sind die Socken schön warm.“
Sie nickte und setzte sich auf die Bettkante, um die Schuhe anzuziehen.
Er sah ihr zu, wie sie die Schnürsenkel band. Für so etwas hatte er einen Blick, er konnte aus ihren Fingerbewegungen viel herauslesen. Zweifellos, sie war geschickt mit den Händen, trotz der Verbände, also kaum eine verstoßene Aristokratin. Dazu passten auch die Schwielen, die er gestern an ihnen bemerkt hatte, auch wenn sie für eine Bäuerin zu leicht waren. Langsam bekam er einen neuen Verdacht.
Als sie wieder aufstand sah er ebenfalls scharf hin. Sein Verdacht wurde allmählich zur Gewissheit, so stand keine Dame und keine Bäuerin auf. Nein, vor ihm stand eine Kriegerin. Natürlich, warum war er nicht gleich darauf gekommen?
Tarmon hatte sich nie sonderlich für die Angelegenheiten der Krieger interessiert. Sollten die sich nur gegenseitig die Köpfe einschlagen, solange sie ihn in Ruhe ließen. In letzter Zeit schien das auch vermehrt der Fall zu sein, zumindest hatte er so etwas gehört. Er sah die junge Frau an, wie sie erwartungsvoll vor ihm stand. Erstaunlich, wie sie sich gefangen hatte. Er hatte sich diese Leute immer ganz anders vorgestellt, grob und dümmlich. Tarmon atmete tief ein.
„Kommt, ich möchte Euch meiner Frau Jilana vorstellen. Sie ist sehr krank und kann kaum das Bett verlassen. Wir dürfen sie nicht zu sehr aufregen. Deshalb sollten wir ihr zunächst Euer Problem verschweigen.“
Die Fremde nickte. „Ich verstehe. Doch sie wird mich bestimmt nach meinem Namen fragen. Was soll ich dann sagen?“
„Denkt Euch einen aus, bis Ihr euch wieder erinnert.“
„Ich weiß nicht...Es ist schwierig, sich einen eigenen Namen auszudenken. Bitte, schlagt Ihr einen vor.“
Tarmon nickte nachdenklich. „Würde Euch ‚Sirtis’ gefallen?“
„Sirtis? Gut, der Name gefällt mir. Hat er eine Bedeutung?“
Er nickte etwas bedrückt. „Ja.“
Mehr sagte er nicht. Stattdessen drehte Tarmon sich um und ging aus dem Zimmer auf einen schmalen Gang, Sirtis folgte ihm. Vor einer Tür blieb er stehen, klopfte leise, dann öffnete er die Tür und sie traten ein.
Der Raum war klein, mehr eine Kammer als ein Zimmer. Zunächst war kaum etwas zu erkennen, das einzige Fenster war durch einen dicken Vorhang verdeckt. Tarmon ging zu ihm und zog ihn beiseite, im nun erhellten Raum konnte Sirtis ein Bett erkennen, auf dem eine alte Frau lag, die einen schwachen, aber dennoch wachen Eindruck machte. Offensichtlich war sie schon länger wach gewesen, einschätzend sah sie Sirtis an.
„Ihr seid also die Fremde, von der mein Mann mir erzählt hat?“
„Ja, man nennt mich Sirtis. Ich bin in dem Schneesturm in Schwierigkeiten geraten, doch zum Glück hat Tarmon mich noch rechtzeitig gefunden.“
„Sie wurde überfallen, und man hatte ihr alles gestohlen, auch die warme Kleidung“, fügte Tarmon hastig hinzu. Jilana sah ihn kurz an, dann wandte sie sich erneut der Fremden zu.
„Räuber? Das tut mir Leid, es ist hier unsicher geworden, früher war es besser. Was hat Euch in diese Gegend geführt, Sirtis?“
Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet, auch wenn sie so offensichtlich war. Fieberhaft überlegte Sirtis, dann antwortete sie mehr spontan als überlegt.
„Ich bin eine Kriegerin. Mehr kann ich nicht sagen.“
Sie bemerkte, wie Tarmon bei dieser Antwort zusammenzuckte. Hatte sie etwas falsches gesagt? Dabei kam ihr die Antwort so gut vor. Fast schon zu gut, dachte sie. Vielleicht, weil sie wahr war?
Es war still geworden. Jilana starrte Sirtis an. „Eine Kriegerin...“, murmelte sie.
„Bitte, Jilana, reg dich nicht auf. Sirtis ist bestimmt kein schlechter Mensch, sie wird uns nichts tun“, warf Tarmon hastig ein.
Jilana blickte zu ihrem Mann. Sie sagte kein Wort, doch schienen sie sich miteinander zu verständigen. Sie wandte sich wieder der verunsichert dastehenden Sirtis zu.
„Ihr seid also eine Kriegerin...Ja, das sehe ich Euch an. Bitte, setzt Euch zu mir auf die Bettkante, ich würde Euch gerne besser sehen können und mich gerne ausführlich mit Ihnen unterhalten.“
Sirtis kam der Bitte nach. Tarmon zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich neben das Kopfende des Bettes.
„Ihr seid also eine Kriegerin. Das finde ich interessant, ich dachte immer, Krieg sei Männersache. Ist es euer Beruf, lebt ihr davon?“
Für Tarmon war der eigentliche Sinn dieser Frage klar, doch Sirtis begriff ihn überhaupt nicht. Wie konnte sie auch? Er spürte, wie seine Frau sich aufregte. Es hatte einfach keinen Zweck, es war von Anfang an naiv gewesen, sie anzulügen, wo sie so lange zusammenlebten.
„Jilana“, er nahm ihre Hand und streichelte sie sanft, „sie hat im Schneesturm eine Gedächtnisblockade erlitten. Sie weiß nicht mehr, auf welcher Seite sie steht. Verstehst du, sie weiß nicht einmal mehr ihren Namen.“
Es entstand eine merkliche Pause.
„Stimmt das?“, fragte Jilana die Fremde und sah sie an.
Sie nickte. „Ja. Deswegen nenne ich mich ersatzweise Sirtis. Und ich weiß nicht, was Ihr mit ‚Seite’ meint. Bitte, sagt es mir.“
„Ihr könntet eine der zahllosen Söldner des Herrschers sein. Oder eine von denen, die ihn bekämpfen. Das sind die beiden Seiten, von denen Tarmon sprach.“
„Und auf welcher Seite meint Ihr, das ich stehe?“
Jilana sah Tarmon an, nur ein kurzer Blick der Versicherung, dann sprach sie weiter. „Auf der richtigen.“ Sie sah ihren fragen Blick und schüttelte den Kopf. „Aber das spielt jetzt keine Rolle.“
„Ihr könnt unser Gast bleiben, bis Ihr Euch erholt habt“, fügte Tarmon hinzu.
Die nächsten Tage verbrachte Sirtis im Haus. Sie konnte mit ihren verbundenen Fingern anfangs nicht viel tun, und Tarmon war meistens bei seiner Frau. Ab und zu setzte sie sich dazu, und sie unterhielten sich über alles mögliche. So erfuhr sie etwas über das Land Al-Amaris, in dem sie lebten, und über den Herrscher und sein Gefolge. Es war aber nicht viel, Tarmon war schon lange nicht mehr weiter als bis zur nächsten Stadt Gom gekommen, er kannte kaum einen Menschen außer seiner Frau. Jilana war auch nicht weiter gekommen, und seit sie immer schwächer geworden war, war sie kaum noch aus dem Haus gekommen.
So wie Sirtis Verletzungen abheilten, so erholte sich zu ihrer Freude auch Jilana. Immer öfter und länger konnte sie ihr Bett verlassen, sie gingen dann in das Wohnzimmer und sprachen dort weiter. Jilana strickte dabei an einem grauen Pullover, Tarmon kümmerte sich um den Kamin. Sirtis fing an, das Zimmer aufzuräumen und zu reinigen, auch reparierte sie allerlei Dinge, wie Kessel und eine Wasserpumpe. Es machte ihr Spaß, doch es war auch wie ein Zwang, manchmal störten ihre Gastgeber sich daran, so sehr sie auch ihre Hilfe gebrauchen konnten, war doch durch Jilanas Kränklichkeit das Haus etwas heruntergekommen.
„Kannst du nicht ein Mal aufhören und dich ausruhen?“, mahnte Tarmon. Sie hatten längst die förmliche Anrede aufgegeben. „Du hast diese Ecke bestimmt schon zweimal geputzt.“
„Was soll ich denn sonst machen? Morgen werde ich euer Dach flicken, an zwei Stellen sind Löcher“, antwortete Sirtis ohne sich umzudrehen.
„Hm“, brummte Tarmon, von mir aus. Ich kann das nicht mehr. Aber jetzt höre endlich auf! Warum bist du dermaßen ruhelos?“
Sirtis drehte sich um. Kurz horchte sie in sich hinein. „Du hast recht, ich bin so rastlos. Das war im Schneesturm auch so, es zieht mich fort in diese Richtung.“ Sie deutete nach Nordwesten.
„Dort liegt Gom. Was willst du dort?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht komme ich von dort und es ist meine Heimat?“
„Und da möchtest du hin, verstehe“, sagte Jilana und sah sie aus zusammengekniffenen Augen abschätzend an, wie sie es in den letzten Tagen öfters getan hatte. Sie lächelte leicht und strickte weiter. „Leider kann ich dich nicht begleiten, aber mein Mann...“
„Nein!“, entfuhr es Tarmon. „Ich kann dich nicht alleine lassen.“ Er wandte sich mit entschuldigendem Blick Sirtis zu. „Sie ist noch zu schwach und bis Gom ist es eine Tagesreise. So lange möchte ich meine Frau nicht alleine lassen.“
Sirtis machte eine beschwichtigende Geste. „Ist schon gut. Ich mag meinen Namen und einiges anderes vergessen haben, aber ich bin nicht dumm und hilflos geworden. Das schaffe ich schon, und in Gom habe ich bestimmt alte Bekannte, auch wird es dort Heiler geben. Ihr habt mehr als genug für mich getan.“
„Du könntest auch bleiben, bis ich wieder gesund bin. Es geht mir schon viel besser“, schlug Jilana vor.
Sirtis lächelte. „Das hoffe ich. Doch, wie gesagt, ich schaffe das schon.“
„Na schön. In der großen Truhe dort ist noch genügend Stoff für einen Mantel. Könnt Ihr nähen? Ich kann Euch dabei leider nicht helfen, meine Augen sind nicht mehr die besten. Zum Stricken reicht es noch gerade, aber zum Nähen leider nicht mehr.“
Sirtis ging zu der Truhe und klappte sie auf.
„Den dunkelblauen meine ich“, hörte sie Jilana sagen.
Sie zog den Stoff heraus, es war dicke Winterwolle von guter Qualität.
„Das ist gutes Material, war bestimmt teuer. Was kann ich euch dafür geben?“
„Ich schenke ihn dir.“
Sie wandte den Kopf und sah ihre Gastgeberin an. „Das kann ich nicht annehmen, ihr seid arme Leute.“
„Ach was, wir können ihn ohnehin nicht mehr gebrauchen. Dafür kannst du dann das Dach machen, wenn du willst.“
Sie schneiderte sich aus dem Stoff in den nächsten zwei Tagen einen knielangen Mantel mit Kapuze.
„Nicht schlecht, du bist eine geschickte Frau“, lobte Tarmon, als sie den Mantel zur Probe anzog und sich spielerisch vor ihren Gastgebern im Kreis drehte. Der Mantel passt und steht dir. Jetzt brauchst du noch etwas für die Beine. Warte.“ Er ging in sein Zimmer und kam mit einer seiner schwarzen Hosen zurück. „Die könnte einigermaßen passen. Dein Becken ist natürlich etwas kräftiger.“
„In der Truhe sind noch einige Stoffreste, damit kannst du die Hose anpassen“, meinte Jilana.
Am Morgen des Abschieds stand Sirtis früh auf. Der Marsch nach Gom würde wegen des Schnees lange dauern, und sie wollte nicht im Freien übernachten müssen. Sie zog sich die Hose an, die sie durch zwei seitliche dunkelgrüne Einsätze im oberen Teil passend gemacht hatte. Dann schlang sie sich das Brusttuch um und zog ihre Socken und Schuhe an. So ging sie in die Küche. Zu ihrer freudigen Überraschung war nicht nur Tarmon, sondern auch Jilana so früh auf.
„Schon auf, Jilana? Du siehst gut erholt aus.“
„Ja, so fühle ich mich auch. Irgendwie hat wohl deine Anwesenheit heilsam gewirkt. Vielleicht hat dein jugendliches Feuer mich auf Trab gebracht?“ Sie lächelte. „Nun, meine Finger auf jeden Fall. Komm her, der ist noch für dich.“ Gut gelaunt hielt sie Sirtis einen Pullover entgegen.
Sirtis nahm den Pullover und hielt ihn sich vor den Leib. „Der ist aber schön, sogar mit einem Zopfmuster. Ist der wirklich für mich?“ Sie drehte mit einem Anflug von Koketterie ihren Oberkörper hin und her, ihre Augen strahlten.
„Natürlich. Ich stricke sehr gerne, und Tarmon hat schon genügend Pullover.“
Ihr Mann knurrte dazu etwas unverständliches, doch in Wirklichkeit genoss er Sirtis Anblick. Wann hatte er zuletzt einen Menschen sich so offen und schön freuen sehen? Einen solch schönen Augenblick hatte er schon lange nicht mehr erleben dürfen.
Sirtis schlüpfte in den Pullover. Er reichte ihr bis zu den Oberschenkeln und Fingerknöcheln.
„Ich habe ihn absichtlich so lang gemacht, damit er schön warm ist. Die Ärmel kannst du bei Bedarf natürlich hochrollen. Leider sind mir in der Eile und durch meine schlechten Augen einige Maschen heruntergefallen“, sagte Jilana.
„Wunderschön...“, sagte Sirtis nur und strich mit den Fingern am Pullover herab.
Nach dem gemeinsamen Frühstück nahte der Moment des Abschieds. Sirtis holte ihren Rucksack, den sie sich aus Stoffresten zusammengesetzt hatte, aus dem Zimmer. In ihm fand sie noch ein heimlich hineingestopftes Paar Socken, die sie überzog. Eine Decke und etwas Verpflegung hatte sie noch am Vortag bekommen. Jetzt war sie gut ausgerüstet. Als Dank legte sie eine Silbermünze auf den Stuhl im Zimmer. Sie wusste, dass ihre Gastgeber sie nie persönlich angenommen hätten, doch so würde ihnen keine Wahl bleiben.
Es würde ein schöner Wintertag werden. Um die Zeit war es noch dunkel, doch die Sterne waren zu sehen. Es war zwar kalt, aber windstill. In zwei Stunden würde die Sonne am wolkenlosen Himmel erscheinen. Sirtis stand zum Abschied vor ihren Gastgebern. Sie spürte, wie die Schwermütigkeit der Trennung von ihnen auf sie übergriff und sich gegenseitig verstärkte. Sirtis strich Jilana mit den Fingerspitzen über die Wange, berührte Tarmon an der Schulter, dann drehte sie sich abrupt um, öffnete die Tür und ging ohne ein weiteres Wort nach Nordwesten davon.