StalkerJuist
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Die Protektoren (4)
Der Stille Tod
Namensliste:
Sirtis: Eine Fremde ohne Erinnerung
Baltram: Ein Verhörexperte
Kieran: Baltrams Kollege
Tarmon: Ein alter Jäger
Jilana: Tarmons Frau
Gom: Eine kleine Stadt in Al-Amaris
Merotir: Hauptstadt von Al-Amaris
Al-Amaris: Ein für Sirtis unbekanntes Land
*
Am nächsten Morgen öffnete Baltram die Gittertür zu Sirtis provisorischem Gefängnis und schritt an die am Boden liegende reglose Gestalt heran. Sie hatte sich in der feuchten Kälte des Schweinestalles zusammengekauert, lag mit ihrer rechten Seite auf dem schmutzigen Lattenrost, der den Boden oberhalb der Güllegrube bildete, und hatte die Beine so eng sie konnte an den Körper herangezogen, um wenigstens etwas Wärme zu finden. Ihre Arme konnte sie dazu nicht zur Hilfe nehmen, denn ihre Handgelenke waren ihr fest hinter dem Rücken gefesselt worden.
Langsam fing die Gestalt an, sich zu rühren. Sie wandte schwerfällig ihren Kopf. Er sah ihr nur kurz in die Augen, ihr Blick wirkte müde. Ihre vor Kälte blau angelaufenen Lippen zitterten leicht, sie sagte nichts. Stattdessen wälzte sie sich mühselig auf ihre Knie, um aufzustehen. Baltram fasste sie an den Schultern und half ihr auf, bis sie vor ihm stand, erschöpft und am ganzen nackten Körper verdreckt mit Schweinemist. Er drehte sie herum und löste ihre Fessel.
„In dem Eimer ist sauberes Wasser. Ihr könnt es beruhigt trinken und Euch anschließend damit waschen. Ich bringe gleich Eure Kleidung.“
Sirtis nickte schwach und wollte sich hinknien, um zu trinken. In dem Moment klangen laute Schritte auf und Kieran erschien in der Tür. Baltram konnte sehen, wie Sirtis in der Bewegung innehielt und sich wieder aufrichtete.
Lässig lehnte sich Kieran mit der Schulter an den Türrahmen und grinste herablassend. „Na, mein kleines Schweinchen, wollen wir saufen?“
Er wusste genau, das Sirtis fürchterlichen Durst leiden müsste, die Droge und das viele Salzwasser hatten sie ausgetrocknet. Er sah ihr zu, wie sie mit sich kämpfte, ihr Stolz gegen das brennende Bedürfnis zu trinken. Aber sie kniete sich nicht vor ihm auf den Boden, um wie ein Tier aus dem Eimer zu trinken.
„Nur keine Hemmungen. Der Weg bis zur Festung ist lang.“
Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf Sirtis zu.
„Ich bezahle sogar dafür. Hier“, er zog eine Silbermünze aus der Tasche und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hochkant vor ihr Gesicht, zeigte ihr beide Seiten.
„Erkennst du sie wieder?“
Sirtis starrte die Münze an. Zweifellos, das war eine von ihren. Natürlich hätte Kieran sie von ihrem Gürtel genommen haben, doch sie wusste, dass sie nur vier Silbermünzen bei sich getragen hatte, und die waren alle verschieden. Sie hatten dieselbe Vorderseite, unterschieden sich aber in ihrer Rückseite. Nein, es gab keinen Zweifel: Es war jene Münze, die sie Tarmon und Jilana geschenkt hatte.
„Wo...woher hast du die?“
„Frag nicht so dumm, das weißt du genau, ich sehe es dir an. Du hast sie ihnen gegeben, für ihre Dienste und für ihr Schweigen, nicht wahr?“, sagte Kieran kühl.
In ihrem Inneren hatte Sirtis sofort begriffen, was das bedeutete, doch ihr Verstand weigerte sich noch.
„Nein! Nein, ich schenkte sie ihnen für ihre Gastfreundschaft!“, rief sie, doch Kieran lachte nur spöttisch auf.
„Ja sicher. Dafür gibt schließlich jeder ein Silberstück. Für so etwas Belangloses wie die Unterbringung von Rebellen. Hätte es noch eines Beweises deiner Schuld gebraucht, wir hätten ihn damit. Aber so diente sie wenigstens als Beweis für die Verbrechen der beiden. Ich habe sie gerichtet.“
Sirtis Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Du hast sie umgebracht?“, flüsterte sie. „Zwei alte Menschen, die niemandem etwas getan hatten? Nur weil sie mir halfen?“
Kierans rechte Hand packte Sirtis blitzschnell am Hals und zog sie nahe an sein Gesicht heran. „Hör mal, mein Früchtchen, spare dir deine Heuchelei! Ich habe sie nur gerichtet. Umgebracht hast du sie, denn schließlich hast du sie in euren Aufstand und Krieg hineingezogen.“ Er stieß sie von sich fort und warf mit einer verächtlichen Geste die Münze in den Wassereimer. „Hier hast du dein schmutziges Geld wieder!“
*
Als Baltram nach einer halben Stunde zurückkam, wirkte Sirtis fast wie versteinert. Er reichte ihr zuerst Beinkleider und Brusttuch, dann Strümpfe und Schuhe, die sie mit abwesenden und mechanisch wirkenden Bewegungen anzog.
„Komm mit, die restlichen Sachen liegen auf dem Tisch.“
Er zog die immer noch apathisch wirkende Sirtis aus dem Stall und bis zum Tisch. Als er ihr den Pullover hinhielt starrte sie ihn nur an. Baltram verlor die Geduld und zog ihn ihr über den Kopf. Sirtis schrie zu seiner Verwunderung gepeinigt auf und krallte ihre Hände in die Maschen.
Baltram sah seinen Kollegen fragend an, doch der wusste auch nicht, was passiert war. Kurzerhand gab Kieran der Gefangenen eine kräftige Ohrfeige und wollte ihre Hände vom Pullover wegreißen, aber sie verkrampften sich nur noch mehr.
„Was soll das Theater! Zieh dich weiter an, wir wollen los“, schrie er sie an.
Sie blickte ihn mit feuchten Augen an. In ihren traurigen Blick mischte sich Zorn.
„Du hast Jilana umgebracht. Du hast Tarmon umgebracht. Dafür sollst du büßen!“
Kieran schlug ihr mit dem Handrücken über den Mund. Sirtis verstummte und starrte ihn feindselig an.
Baltram wartete einige Minuten ab, bis sich Sirtis etwas beruhigt hatte, dann löste er vorsichtig ihre Finger aus dem Pullover und gab ihr den Mantel, den sie stumm anlegte, ebenso wie ihren Rucksack. Sie sollte alle ihre Sachen tragen, um sie in der Festung gründlich untersuchen zu können. Abschließend band Baltram ihr wieder die Hände hinter dem Rücken mit einem Lederband zusammen. Kieran knüpfte ihr an die Fessel eine dünne, etwa doppelt mannslange Kette, deren anderes Ende er vorne an seinem Gürtel einklinkte.
„So, du wirst immer schön vor mir hergehen, so dass die Kette straff bleibt. Wenn du zu langsam wirst und ich dich einhole, dann werde ich dich hiermit ermuntern“, er spielte demonstrativ mit einem Hartholzknüppel herum.
Sie verließen das Gebäude durch eine Nebentür. Es stand mitten auf einem von Bäumen dicht umgebenen Platz. Offensichtlich diente es während der wärmeren Jahreszeiten für Waldarbeiten und als Sägemühle, doch jetzt im Winter wurde es außer als Lager kaum genutzt. Baltram ging voran, Kieran stieß Sirtis hinterher und folgte als Letzter. Sie gingen über einen Pfad auf einen kleinen Schuppen nahe dem Lichtungsrand zu. Bevor sie ihn erreichten, öffnete sich seine Tür und vier Söldner kamen heraus. Knappe Begrüßungen wurden unter den Männern ausgetauscht. Sirtis streiften verstohlene, meist neugierige, Blicke. Dann brachen sie auf.
Baltram ging voran, gefolgt von Sirtis, die von Kieran vor sich her getrieben wurde. Den Abschluß bildeten die vier Söldner. Sie marschierten zuerst quer durch den Wald, bis sie auf die Straße von Gom nach Merotir, der Hauptstadt von Al-Amaris, trafen. Baltram schien den Weg gut zu kennen, denn obwohl es kaum Spuren gab, es hatte über Nacht geschneit, schritt er sehr zügig aus.
Die Landschaft war eintönig. Es gab nur vereinzelte Bäume und Buschgruppen in einer hügeligen Schneelandschaft zu sehen. Nach etwa zwei Stunden Marsch machte der Weg wieder einmal einen Bogen um einen der größeren Hügel. Es ging nach rechts um ihn herum, er war relativ groß und mit Bäumen bedeckt. Plötzlich kam ein einzelner Mann in Sicht, der ein Schwert über seinen Kopf hielt. Baltram blieb mit einem Ruf stehen. Kieran reagierte sofort, er blieb ebenfalls stehen, die Kette stoppte die gerade zu Boden starrende Sirtis. Er hob die Hand und signalisierte so den Söldnern, ebenfalls anzuhalten.
*
Darsi wartete hinter einem Baum. Stumm stand die große und schwarzhaarige Amazone im Schnee und versuchte, in der Kälte nicht steif zu werden. Das war ihre größte Sorge. Sie fühlte sich gesund und konzentriert, wenn auch angespannt. Das Wetter war perfekt: klare Luft, eine matte Helligkeit, die weder blendete noch verfälschte, und kein Wind.
Sie hatte ihren Bogen gepflegt wie sonst nie, so sorgfältig mit Fett gegen die Feuchtigkeit geschützt wie sie konnte. Sie durfte nicht versagen, es würde keine zweite Gelegenheit geben. Der Preis würde hoch sein, sehr hoch sogar, doch es gab Dinge, die man tun muss, egal was es kostete. Nein, das war keine Frage. Dieser eine Schuss musste treffen, unbedingt. Der Stille Tod.
Batrast war nicht weit entfernt von Darsi, doch seine Aufmerksamkeit galt nicht ihr, sondern der zweiten Amazone der Gruppe. Sie stand direkt vor ihm, den Rücken zugewandt, und er sah ihr zu, wie sie wieder probeweise ihren Bogen spannte. Sie hatte das in der letzten Stunde bereits ungezählte Male gemacht, es war mindestens ebenso Ausdruck ihrer Nervosität wie ihr unübersehbares Zittern.
„Nur die Ruhe, Samra“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Du sollst mich nicht immer ‚Samra’ nennen, ich habe einen richtigen Namen“, antwortete sie, ohne auch nur den Kopf zu bewegen, in genau dem Ton, der ihn so an ihr faszinierte.
Batrast legte ihr eine Hand auf die linke Schulter und massierte sie leicht, glitt vorsichtig hinunter auf ihr Schulterblatt. Sie hatte, wie auch ihre Kollegin, ihren Mantel abgelegt, um ungehindert schießen zu können, so konnte er das feine Spiel ihrer Muskeln durch das Wildleder ihrer Weste deutlich fühlen, während sie den Bogen langsam entspannte. Er wusste, wie viel Kraft in ihrem kleinen Körper stecken musste, um einen solchen Bogen führen zu können. Sie drehte sich langsam zu ihm um, dabei zog sich seine bewegungslose Hand vom Schulterblatt zu ihrem angelegten Oberarm. Sie blickte dabei zu Boden, konnte sein Lächeln nicht sehen. Er drückte kurz ihren Arm, dann glitt seine Hand vorsichtig zu ihrem Hals, verharrte einen Augenblick. Behutsam hob er ihren Kopf am Kinn an. Sie blickte immer noch nach unten. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen über das zartes Gesicht der blonden Frau.
„Ich weiß, doch solange du so schaust, bist du Samra.“
Kurz traf ihn ihr Blick, er war wie meistens verschlossen und traurig.
Arme Samra, was hat man dir angetan?
Sie senkte ihren Blick, ruckte herum in ihre alte Position.
„Sie können jeden Moment auftauchen“, sagte sie nur.
Ihr Zittern war verschwunden.
Der Paladin stand breitbeinig mitten auf dem Weg. Er wusste, dass man ihn wegen der Wegbiegung um den Hügel herum erst spät entdecken würde, etwa auf zehn Schritte Distanz. Genau genommen auf elf Schritte, denn natürlich hatte er es ausprobiert, um die Nahkämpfer an den richtigen Positionen zu verbergen. Paladine überließen solche Dinge nie dem Zufall. Armon, Rathard, Celestin und Largais, sie alle hatten sich am unteren Rand des Hügels hinter Büschen verborgen. Auf den Hügel hatte er die beiden Amazonen postiert. Und dann war da noch diese grauäugige Katze.
*
Batrast signalisierte dem Paladin und seinen Leuten den anrückenden Trupp. In der militärischen Zeichensprache der Paladine, die inzwischen alle kannten, teilte er mit, wie der Zug zusammengesetzt war und in welchen Abständen sie marschierten. Und vor allem, wo die Gefangene war und wie gesichert. Rasch huschten einige der Kämpfer auf neue Positionen, dann senkte sich absolute Stille und Reglosigkeit über alle außer dem Paladin.
Als der Zugführende hinter der Biegung in Sicht kam, zog der Paladin sein Schwert, hob es empor und hielt es quer über sein Haupt. Wie erwartet blieb der ganze Trupp stehen.
„Was soll das? Macht gefälligst Platz, od...“
Das Wort erstarb halb ausgesprochen auf Baltrams Lippen. Seine Hände fuhren zu seinem Hals. Er begriff erst nicht, was passiert war, warum er plötzlich keine Luft mehr bekam, dann berührten seine Finger den Schaft des Pfeils.
Darsi schloss vor Erleichterung und Dankbarkeit kurz die Augen. Sie hatte so wie erhofft getroffen. Jener, dessen Namen sie vor Hass nicht einmal in Gedanken aussprechen wollte, er würde jämmerlich verrecken. Sie trat aus ihrer Deckung hervor und stieg langsam den Hügel hinab. Majestätisch setzte sie Schritt für Schritt, denn es war eine Zeremonie, die sie erfüllte. Sie ignorierte die Rufe ihrer Kameraden, der Gedanke, dass sie durch ihr Verhalten den ganzen Plan gefährdete, kam ihr nicht. Wichtig war nur der Tod des Verhassten. Endlos oft hatte sie ihn schon in Gedanken durchgespielt. Doch was sind schon Gedanken und Träume im Vergleich zur Wirklichkeit? Was sind Rachegedanken im Vergleich zur Rache?
Die schlanken Finger der kleinen Amazone gaben die Bogensehne frei. Batrast seufzte bei ihrem Anblick: die totale Konzentration auf ihrem hübschen Gesicht, die kraftvolle Eleganz ihrer Bogenführung, die angespannte Erwartung des Treffers, all das löste ein Erschauern in ihm aus, für das er keine Erklärung fand. Doch es währte nur kurz, denn noch rätselhafter war die Reaktion, die sie bei ihren Treffern zeigte: nicht Stolz, wie er manchmal bei ihrer großen Kollegin Darsi beobachtet hatte, sondern schmerzhaftes Bedauern überschatteten ihr Antlitz. Anfangs hatte Batrast geglaubt, sie würde einfach nicht auf Menschen schießen wollen, zumal sie sich weigerte, tödliche Schüsse abzugeben. Doch dann hatte er bemerkt, wie entschlossen sie schoss. Wie sollte das zusammenpassen? Ja, diese so scheue und manchmal verängstigt wirkende kleine Amazone, sie faszinierte ihn.
Batrast sah ihr weiterhin zu. Sie griff, immer noch völlig im Bann des Geschehens, hinter sich und zog einen neuen Pfeil aus dem Köcher. Sie legte an, trat aus der Deckung hervor, um sich den Söldnern unten auf dem Weg zu zeigen, und spannte demonstrativ den Bogen. Als Darsi unerwartet den Hügel hinabging blickte sie überrascht zur Seite.
„Darsi! Was machst du da?“, rief die blonde Amazone erstaunt, doch die angerufene Darsi reagierte nicht.
Sie schüttelte verständnislos ihren Kopf, dann wandte sie sich wieder der abgesprochenen Aufgabe zu, aus der Distanz die restlichen Söldner zu bedrohen, aber nur im Notfall zu schießen.
„Nein!“
Mit einem hohlen Singen flog der Pfeil davon. Batrast schreckte aus seinen Betrachtungen auf, überrascht, dass die kleine Amazone wieder schoss. Er blickte auf ihr Ziel. Es war der Mann, an den die Gefangene mit einer dünnen Kette gebunden war. Er hatte versucht, sie mit einem Dolch in der Hand zu erreichen, trotz des ersten Pfeils in seinem Oberschenkel. Jetzt hatte ihn ein zweiter Pfeil in das andere Bein getroffen, doch es war zu spät für Kieran.
Ein heller Schatten flog heran und stach Kieran nieder. Die vier Wachen, die bisher unschlüssig waren, erstarrten vor Schreck. Erst die Pfeile aus dem Hinterhalt, dann die vier Kämpfer, die plötzlich am Wegesrand auftauchten, und jetzt diese unheimliche weiße Gestalt. Sie erkannten die Sinnlosigkeit jeglichen Kampfes und ließen resigniert ihre Waffen fallen.
Der Paladin rannte so schnell wie es seine Rüstung zuließ an Darsi und dem sterbendem Baltram vorbei auf die Gefangene zu. Nur kurz warf er im Vorbeieilen einen Blick in Darsis Gesicht, das völlig regungslos den Sterbenden anstarrte. Über ihr Verhalten würde noch zu reden sein, aber nicht jetzt. Er erreichte die Gefangene, die ihm den Rücken zuwandte und die völlig in weiß gekleidete grauäugige Kämpferin, die jenen angeketteten Mann erstochen hatte, anstarrte. Gleich würde es zu der Begegnung kommen, vor der er sich schon so lange fürchtete.
*
Der ganze Weg war für Sirtis eine Qual gewesen. Erschöpft durch die Misshandlungen, eine schlaflose Nacht und gequält von Gewissensbissen war sie durch den Schnee getaumelt. Jetzt trieb Kieran sie vor sich her, stieß ihr immer wieder seinen Knüppel in den Rücken. Immer weiter war die Welt um sie herum geschrumpft, bis sie nur noch aus zwei Füßen bestand, die wie eigenständige Lebewesen Schritt vor Schritt setzten.
Den Überfall hatte sie erst bemerkt, als plötzlich der Zug der Kette sie stoppte. Sie blickte auf, sah vor ihnen auf dem Weg einen unbekannten Mann in einer Rüstung, der ein Schwert über seinen Kopf hielt. Ein schmaler dunkler Schatten schoss von der Seite heran und traf Baltram am Hals. Ein Pfeil! Sie begriff schlagartig, dass der Zug überfallen wurde, ihre Wahrnehmung war von einem Moment zum nächsten wieder voll da.
Einige Sekunden sah Sirtis dem Todeskampf von Baltram zu, ein Anblick, der offensichtlich auch den Paladin in den Bann schlug. Dann lenkten Bewegungen in ihrem Augenwinkel sie ab, sie wandte sich dem Hügel zu und sah zwei Gestalten mit Bögen zwischen den Bäumen hervortreten. Sind das nicht Amazonen?, schoss ihr durch den Kopf. Die eine war groß und hatte schwarze Haare, sie schritt den Hügel hinab auf Baltram zu. Die andere Amazone war klein und blond, sie blieb stehen, spannte ihren Bogen und zielte auf den Zug hinter Sirtis. Plötzlich schrie sie auf und schoss. Sirtis wirbelte herum und sah, wie Kieran einen Schritt von ihr entfernt stolperte. Im selben Moment war wie aus dem Nichts eine weißgekleidete Gestalt neben ihr, die Kieran einen Dolch in die Brust stieß. Die Gestalt drehte sich um und sah sie an. Sirtis erkannte, dass die Fremde bei ihrem Anblick erleichtert lächelte. Sie hatte graue Augen, die sie ernst und dennoch warm anblickten. Ein Blitz durchzuckte Sirtis:
Ich kenne diese Frau!
Der Stille Tod
Namensliste:
Sirtis: Eine Fremde ohne Erinnerung
Baltram: Ein Verhörexperte
Kieran: Baltrams Kollege
Tarmon: Ein alter Jäger
Jilana: Tarmons Frau
Gom: Eine kleine Stadt in Al-Amaris
Merotir: Hauptstadt von Al-Amaris
Al-Amaris: Ein für Sirtis unbekanntes Land
*
Am nächsten Morgen öffnete Baltram die Gittertür zu Sirtis provisorischem Gefängnis und schritt an die am Boden liegende reglose Gestalt heran. Sie hatte sich in der feuchten Kälte des Schweinestalles zusammengekauert, lag mit ihrer rechten Seite auf dem schmutzigen Lattenrost, der den Boden oberhalb der Güllegrube bildete, und hatte die Beine so eng sie konnte an den Körper herangezogen, um wenigstens etwas Wärme zu finden. Ihre Arme konnte sie dazu nicht zur Hilfe nehmen, denn ihre Handgelenke waren ihr fest hinter dem Rücken gefesselt worden.
Langsam fing die Gestalt an, sich zu rühren. Sie wandte schwerfällig ihren Kopf. Er sah ihr nur kurz in die Augen, ihr Blick wirkte müde. Ihre vor Kälte blau angelaufenen Lippen zitterten leicht, sie sagte nichts. Stattdessen wälzte sie sich mühselig auf ihre Knie, um aufzustehen. Baltram fasste sie an den Schultern und half ihr auf, bis sie vor ihm stand, erschöpft und am ganzen nackten Körper verdreckt mit Schweinemist. Er drehte sie herum und löste ihre Fessel.
„In dem Eimer ist sauberes Wasser. Ihr könnt es beruhigt trinken und Euch anschließend damit waschen. Ich bringe gleich Eure Kleidung.“
Sirtis nickte schwach und wollte sich hinknien, um zu trinken. In dem Moment klangen laute Schritte auf und Kieran erschien in der Tür. Baltram konnte sehen, wie Sirtis in der Bewegung innehielt und sich wieder aufrichtete.
Lässig lehnte sich Kieran mit der Schulter an den Türrahmen und grinste herablassend. „Na, mein kleines Schweinchen, wollen wir saufen?“
Er wusste genau, das Sirtis fürchterlichen Durst leiden müsste, die Droge und das viele Salzwasser hatten sie ausgetrocknet. Er sah ihr zu, wie sie mit sich kämpfte, ihr Stolz gegen das brennende Bedürfnis zu trinken. Aber sie kniete sich nicht vor ihm auf den Boden, um wie ein Tier aus dem Eimer zu trinken.
„Nur keine Hemmungen. Der Weg bis zur Festung ist lang.“
Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf Sirtis zu.
„Ich bezahle sogar dafür. Hier“, er zog eine Silbermünze aus der Tasche und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hochkant vor ihr Gesicht, zeigte ihr beide Seiten.
„Erkennst du sie wieder?“
Sirtis starrte die Münze an. Zweifellos, das war eine von ihren. Natürlich hätte Kieran sie von ihrem Gürtel genommen haben, doch sie wusste, dass sie nur vier Silbermünzen bei sich getragen hatte, und die waren alle verschieden. Sie hatten dieselbe Vorderseite, unterschieden sich aber in ihrer Rückseite. Nein, es gab keinen Zweifel: Es war jene Münze, die sie Tarmon und Jilana geschenkt hatte.
„Wo...woher hast du die?“
„Frag nicht so dumm, das weißt du genau, ich sehe es dir an. Du hast sie ihnen gegeben, für ihre Dienste und für ihr Schweigen, nicht wahr?“, sagte Kieran kühl.
In ihrem Inneren hatte Sirtis sofort begriffen, was das bedeutete, doch ihr Verstand weigerte sich noch.
„Nein! Nein, ich schenkte sie ihnen für ihre Gastfreundschaft!“, rief sie, doch Kieran lachte nur spöttisch auf.
„Ja sicher. Dafür gibt schließlich jeder ein Silberstück. Für so etwas Belangloses wie die Unterbringung von Rebellen. Hätte es noch eines Beweises deiner Schuld gebraucht, wir hätten ihn damit. Aber so diente sie wenigstens als Beweis für die Verbrechen der beiden. Ich habe sie gerichtet.“
Sirtis Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Du hast sie umgebracht?“, flüsterte sie. „Zwei alte Menschen, die niemandem etwas getan hatten? Nur weil sie mir halfen?“
Kierans rechte Hand packte Sirtis blitzschnell am Hals und zog sie nahe an sein Gesicht heran. „Hör mal, mein Früchtchen, spare dir deine Heuchelei! Ich habe sie nur gerichtet. Umgebracht hast du sie, denn schließlich hast du sie in euren Aufstand und Krieg hineingezogen.“ Er stieß sie von sich fort und warf mit einer verächtlichen Geste die Münze in den Wassereimer. „Hier hast du dein schmutziges Geld wieder!“
*
Als Baltram nach einer halben Stunde zurückkam, wirkte Sirtis fast wie versteinert. Er reichte ihr zuerst Beinkleider und Brusttuch, dann Strümpfe und Schuhe, die sie mit abwesenden und mechanisch wirkenden Bewegungen anzog.
„Komm mit, die restlichen Sachen liegen auf dem Tisch.“
Er zog die immer noch apathisch wirkende Sirtis aus dem Stall und bis zum Tisch. Als er ihr den Pullover hinhielt starrte sie ihn nur an. Baltram verlor die Geduld und zog ihn ihr über den Kopf. Sirtis schrie zu seiner Verwunderung gepeinigt auf und krallte ihre Hände in die Maschen.
Baltram sah seinen Kollegen fragend an, doch der wusste auch nicht, was passiert war. Kurzerhand gab Kieran der Gefangenen eine kräftige Ohrfeige und wollte ihre Hände vom Pullover wegreißen, aber sie verkrampften sich nur noch mehr.
„Was soll das Theater! Zieh dich weiter an, wir wollen los“, schrie er sie an.
Sie blickte ihn mit feuchten Augen an. In ihren traurigen Blick mischte sich Zorn.
„Du hast Jilana umgebracht. Du hast Tarmon umgebracht. Dafür sollst du büßen!“
Kieran schlug ihr mit dem Handrücken über den Mund. Sirtis verstummte und starrte ihn feindselig an.
Baltram wartete einige Minuten ab, bis sich Sirtis etwas beruhigt hatte, dann löste er vorsichtig ihre Finger aus dem Pullover und gab ihr den Mantel, den sie stumm anlegte, ebenso wie ihren Rucksack. Sie sollte alle ihre Sachen tragen, um sie in der Festung gründlich untersuchen zu können. Abschließend band Baltram ihr wieder die Hände hinter dem Rücken mit einem Lederband zusammen. Kieran knüpfte ihr an die Fessel eine dünne, etwa doppelt mannslange Kette, deren anderes Ende er vorne an seinem Gürtel einklinkte.
„So, du wirst immer schön vor mir hergehen, so dass die Kette straff bleibt. Wenn du zu langsam wirst und ich dich einhole, dann werde ich dich hiermit ermuntern“, er spielte demonstrativ mit einem Hartholzknüppel herum.
Sie verließen das Gebäude durch eine Nebentür. Es stand mitten auf einem von Bäumen dicht umgebenen Platz. Offensichtlich diente es während der wärmeren Jahreszeiten für Waldarbeiten und als Sägemühle, doch jetzt im Winter wurde es außer als Lager kaum genutzt. Baltram ging voran, Kieran stieß Sirtis hinterher und folgte als Letzter. Sie gingen über einen Pfad auf einen kleinen Schuppen nahe dem Lichtungsrand zu. Bevor sie ihn erreichten, öffnete sich seine Tür und vier Söldner kamen heraus. Knappe Begrüßungen wurden unter den Männern ausgetauscht. Sirtis streiften verstohlene, meist neugierige, Blicke. Dann brachen sie auf.
Baltram ging voran, gefolgt von Sirtis, die von Kieran vor sich her getrieben wurde. Den Abschluß bildeten die vier Söldner. Sie marschierten zuerst quer durch den Wald, bis sie auf die Straße von Gom nach Merotir, der Hauptstadt von Al-Amaris, trafen. Baltram schien den Weg gut zu kennen, denn obwohl es kaum Spuren gab, es hatte über Nacht geschneit, schritt er sehr zügig aus.
Die Landschaft war eintönig. Es gab nur vereinzelte Bäume und Buschgruppen in einer hügeligen Schneelandschaft zu sehen. Nach etwa zwei Stunden Marsch machte der Weg wieder einmal einen Bogen um einen der größeren Hügel. Es ging nach rechts um ihn herum, er war relativ groß und mit Bäumen bedeckt. Plötzlich kam ein einzelner Mann in Sicht, der ein Schwert über seinen Kopf hielt. Baltram blieb mit einem Ruf stehen. Kieran reagierte sofort, er blieb ebenfalls stehen, die Kette stoppte die gerade zu Boden starrende Sirtis. Er hob die Hand und signalisierte so den Söldnern, ebenfalls anzuhalten.
*
Darsi wartete hinter einem Baum. Stumm stand die große und schwarzhaarige Amazone im Schnee und versuchte, in der Kälte nicht steif zu werden. Das war ihre größte Sorge. Sie fühlte sich gesund und konzentriert, wenn auch angespannt. Das Wetter war perfekt: klare Luft, eine matte Helligkeit, die weder blendete noch verfälschte, und kein Wind.
Sie hatte ihren Bogen gepflegt wie sonst nie, so sorgfältig mit Fett gegen die Feuchtigkeit geschützt wie sie konnte. Sie durfte nicht versagen, es würde keine zweite Gelegenheit geben. Der Preis würde hoch sein, sehr hoch sogar, doch es gab Dinge, die man tun muss, egal was es kostete. Nein, das war keine Frage. Dieser eine Schuss musste treffen, unbedingt. Der Stille Tod.
Batrast war nicht weit entfernt von Darsi, doch seine Aufmerksamkeit galt nicht ihr, sondern der zweiten Amazone der Gruppe. Sie stand direkt vor ihm, den Rücken zugewandt, und er sah ihr zu, wie sie wieder probeweise ihren Bogen spannte. Sie hatte das in der letzten Stunde bereits ungezählte Male gemacht, es war mindestens ebenso Ausdruck ihrer Nervosität wie ihr unübersehbares Zittern.
„Nur die Ruhe, Samra“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Du sollst mich nicht immer ‚Samra’ nennen, ich habe einen richtigen Namen“, antwortete sie, ohne auch nur den Kopf zu bewegen, in genau dem Ton, der ihn so an ihr faszinierte.
Batrast legte ihr eine Hand auf die linke Schulter und massierte sie leicht, glitt vorsichtig hinunter auf ihr Schulterblatt. Sie hatte, wie auch ihre Kollegin, ihren Mantel abgelegt, um ungehindert schießen zu können, so konnte er das feine Spiel ihrer Muskeln durch das Wildleder ihrer Weste deutlich fühlen, während sie den Bogen langsam entspannte. Er wusste, wie viel Kraft in ihrem kleinen Körper stecken musste, um einen solchen Bogen führen zu können. Sie drehte sich langsam zu ihm um, dabei zog sich seine bewegungslose Hand vom Schulterblatt zu ihrem angelegten Oberarm. Sie blickte dabei zu Boden, konnte sein Lächeln nicht sehen. Er drückte kurz ihren Arm, dann glitt seine Hand vorsichtig zu ihrem Hals, verharrte einen Augenblick. Behutsam hob er ihren Kopf am Kinn an. Sie blickte immer noch nach unten. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen über das zartes Gesicht der blonden Frau.
„Ich weiß, doch solange du so schaust, bist du Samra.“
Kurz traf ihn ihr Blick, er war wie meistens verschlossen und traurig.
Arme Samra, was hat man dir angetan?
Sie senkte ihren Blick, ruckte herum in ihre alte Position.
„Sie können jeden Moment auftauchen“, sagte sie nur.
Ihr Zittern war verschwunden.
Der Paladin stand breitbeinig mitten auf dem Weg. Er wusste, dass man ihn wegen der Wegbiegung um den Hügel herum erst spät entdecken würde, etwa auf zehn Schritte Distanz. Genau genommen auf elf Schritte, denn natürlich hatte er es ausprobiert, um die Nahkämpfer an den richtigen Positionen zu verbergen. Paladine überließen solche Dinge nie dem Zufall. Armon, Rathard, Celestin und Largais, sie alle hatten sich am unteren Rand des Hügels hinter Büschen verborgen. Auf den Hügel hatte er die beiden Amazonen postiert. Und dann war da noch diese grauäugige Katze.
*
Batrast signalisierte dem Paladin und seinen Leuten den anrückenden Trupp. In der militärischen Zeichensprache der Paladine, die inzwischen alle kannten, teilte er mit, wie der Zug zusammengesetzt war und in welchen Abständen sie marschierten. Und vor allem, wo die Gefangene war und wie gesichert. Rasch huschten einige der Kämpfer auf neue Positionen, dann senkte sich absolute Stille und Reglosigkeit über alle außer dem Paladin.
Als der Zugführende hinter der Biegung in Sicht kam, zog der Paladin sein Schwert, hob es empor und hielt es quer über sein Haupt. Wie erwartet blieb der ganze Trupp stehen.
„Was soll das? Macht gefälligst Platz, od...“
Das Wort erstarb halb ausgesprochen auf Baltrams Lippen. Seine Hände fuhren zu seinem Hals. Er begriff erst nicht, was passiert war, warum er plötzlich keine Luft mehr bekam, dann berührten seine Finger den Schaft des Pfeils.
Darsi schloss vor Erleichterung und Dankbarkeit kurz die Augen. Sie hatte so wie erhofft getroffen. Jener, dessen Namen sie vor Hass nicht einmal in Gedanken aussprechen wollte, er würde jämmerlich verrecken. Sie trat aus ihrer Deckung hervor und stieg langsam den Hügel hinab. Majestätisch setzte sie Schritt für Schritt, denn es war eine Zeremonie, die sie erfüllte. Sie ignorierte die Rufe ihrer Kameraden, der Gedanke, dass sie durch ihr Verhalten den ganzen Plan gefährdete, kam ihr nicht. Wichtig war nur der Tod des Verhassten. Endlos oft hatte sie ihn schon in Gedanken durchgespielt. Doch was sind schon Gedanken und Träume im Vergleich zur Wirklichkeit? Was sind Rachegedanken im Vergleich zur Rache?
Die schlanken Finger der kleinen Amazone gaben die Bogensehne frei. Batrast seufzte bei ihrem Anblick: die totale Konzentration auf ihrem hübschen Gesicht, die kraftvolle Eleganz ihrer Bogenführung, die angespannte Erwartung des Treffers, all das löste ein Erschauern in ihm aus, für das er keine Erklärung fand. Doch es währte nur kurz, denn noch rätselhafter war die Reaktion, die sie bei ihren Treffern zeigte: nicht Stolz, wie er manchmal bei ihrer großen Kollegin Darsi beobachtet hatte, sondern schmerzhaftes Bedauern überschatteten ihr Antlitz. Anfangs hatte Batrast geglaubt, sie würde einfach nicht auf Menschen schießen wollen, zumal sie sich weigerte, tödliche Schüsse abzugeben. Doch dann hatte er bemerkt, wie entschlossen sie schoss. Wie sollte das zusammenpassen? Ja, diese so scheue und manchmal verängstigt wirkende kleine Amazone, sie faszinierte ihn.
Batrast sah ihr weiterhin zu. Sie griff, immer noch völlig im Bann des Geschehens, hinter sich und zog einen neuen Pfeil aus dem Köcher. Sie legte an, trat aus der Deckung hervor, um sich den Söldnern unten auf dem Weg zu zeigen, und spannte demonstrativ den Bogen. Als Darsi unerwartet den Hügel hinabging blickte sie überrascht zur Seite.
„Darsi! Was machst du da?“, rief die blonde Amazone erstaunt, doch die angerufene Darsi reagierte nicht.
Sie schüttelte verständnislos ihren Kopf, dann wandte sie sich wieder der abgesprochenen Aufgabe zu, aus der Distanz die restlichen Söldner zu bedrohen, aber nur im Notfall zu schießen.
„Nein!“
Mit einem hohlen Singen flog der Pfeil davon. Batrast schreckte aus seinen Betrachtungen auf, überrascht, dass die kleine Amazone wieder schoss. Er blickte auf ihr Ziel. Es war der Mann, an den die Gefangene mit einer dünnen Kette gebunden war. Er hatte versucht, sie mit einem Dolch in der Hand zu erreichen, trotz des ersten Pfeils in seinem Oberschenkel. Jetzt hatte ihn ein zweiter Pfeil in das andere Bein getroffen, doch es war zu spät für Kieran.
Ein heller Schatten flog heran und stach Kieran nieder. Die vier Wachen, die bisher unschlüssig waren, erstarrten vor Schreck. Erst die Pfeile aus dem Hinterhalt, dann die vier Kämpfer, die plötzlich am Wegesrand auftauchten, und jetzt diese unheimliche weiße Gestalt. Sie erkannten die Sinnlosigkeit jeglichen Kampfes und ließen resigniert ihre Waffen fallen.
Der Paladin rannte so schnell wie es seine Rüstung zuließ an Darsi und dem sterbendem Baltram vorbei auf die Gefangene zu. Nur kurz warf er im Vorbeieilen einen Blick in Darsis Gesicht, das völlig regungslos den Sterbenden anstarrte. Über ihr Verhalten würde noch zu reden sein, aber nicht jetzt. Er erreichte die Gefangene, die ihm den Rücken zuwandte und die völlig in weiß gekleidete grauäugige Kämpferin, die jenen angeketteten Mann erstochen hatte, anstarrte. Gleich würde es zu der Begegnung kommen, vor der er sich schon so lange fürchtete.
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Der ganze Weg war für Sirtis eine Qual gewesen. Erschöpft durch die Misshandlungen, eine schlaflose Nacht und gequält von Gewissensbissen war sie durch den Schnee getaumelt. Jetzt trieb Kieran sie vor sich her, stieß ihr immer wieder seinen Knüppel in den Rücken. Immer weiter war die Welt um sie herum geschrumpft, bis sie nur noch aus zwei Füßen bestand, die wie eigenständige Lebewesen Schritt vor Schritt setzten.
Den Überfall hatte sie erst bemerkt, als plötzlich der Zug der Kette sie stoppte. Sie blickte auf, sah vor ihnen auf dem Weg einen unbekannten Mann in einer Rüstung, der ein Schwert über seinen Kopf hielt. Ein schmaler dunkler Schatten schoss von der Seite heran und traf Baltram am Hals. Ein Pfeil! Sie begriff schlagartig, dass der Zug überfallen wurde, ihre Wahrnehmung war von einem Moment zum nächsten wieder voll da.
Einige Sekunden sah Sirtis dem Todeskampf von Baltram zu, ein Anblick, der offensichtlich auch den Paladin in den Bann schlug. Dann lenkten Bewegungen in ihrem Augenwinkel sie ab, sie wandte sich dem Hügel zu und sah zwei Gestalten mit Bögen zwischen den Bäumen hervortreten. Sind das nicht Amazonen?, schoss ihr durch den Kopf. Die eine war groß und hatte schwarze Haare, sie schritt den Hügel hinab auf Baltram zu. Die andere Amazone war klein und blond, sie blieb stehen, spannte ihren Bogen und zielte auf den Zug hinter Sirtis. Plötzlich schrie sie auf und schoss. Sirtis wirbelte herum und sah, wie Kieran einen Schritt von ihr entfernt stolperte. Im selben Moment war wie aus dem Nichts eine weißgekleidete Gestalt neben ihr, die Kieran einen Dolch in die Brust stieß. Die Gestalt drehte sich um und sah sie an. Sirtis erkannte, dass die Fremde bei ihrem Anblick erleichtert lächelte. Sie hatte graue Augen, die sie ernst und dennoch warm anblickten. Ein Blitz durchzuckte Sirtis:
Ich kenne diese Frau!