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Die Protektoren

Die Protektoren (4)
Der Stille Tod

Namensliste:
Sirtis: Eine Fremde ohne Erinnerung
Baltram: Ein Verhörexperte
Kieran: Baltrams Kollege
Tarmon: Ein alter Jäger
Jilana: Tarmons Frau

Gom: Eine kleine Stadt in Al-Amaris
Merotir: Hauptstadt von Al-Amaris
Al-Amaris: Ein für Sirtis unbekanntes Land

*

Am nächsten Morgen öffnete Baltram die Gittertür zu Sirtis provisorischem Gefängnis und schritt an die am Boden liegende reglose Gestalt heran. Sie hatte sich in der feuchten Kälte des Schweinestalles zusammengekauert, lag mit ihrer rechten Seite auf dem schmutzigen Lattenrost, der den Boden oberhalb der Güllegrube bildete, und hatte die Beine so eng sie konnte an den Körper herangezogen, um wenigstens etwas Wärme zu finden. Ihre Arme konnte sie dazu nicht zur Hilfe nehmen, denn ihre Handgelenke waren ihr fest hinter dem Rücken gefesselt worden.

Langsam fing die Gestalt an, sich zu rühren. Sie wandte schwerfällig ihren Kopf. Er sah ihr nur kurz in die Augen, ihr Blick wirkte müde. Ihre vor Kälte blau angelaufenen Lippen zitterten leicht, sie sagte nichts. Stattdessen wälzte sie sich mühselig auf ihre Knie, um aufzustehen. Baltram fasste sie an den Schultern und half ihr auf, bis sie vor ihm stand, erschöpft und am ganzen nackten Körper verdreckt mit Schweinemist. Er drehte sie herum und löste ihre Fessel.
„In dem Eimer ist sauberes Wasser. Ihr könnt es beruhigt trinken und Euch anschließend damit waschen. Ich bringe gleich Eure Kleidung.“
Sirtis nickte schwach und wollte sich hinknien, um zu trinken. In dem Moment klangen laute Schritte auf und Kieran erschien in der Tür. Baltram konnte sehen, wie Sirtis in der Bewegung innehielt und sich wieder aufrichtete.

Lässig lehnte sich Kieran mit der Schulter an den Türrahmen und grinste herablassend. „Na, mein kleines Schweinchen, wollen wir saufen?“
Er wusste genau, das Sirtis fürchterlichen Durst leiden müsste, die Droge und das viele Salzwasser hatten sie ausgetrocknet. Er sah ihr zu, wie sie mit sich kämpfte, ihr Stolz gegen das brennende Bedürfnis zu trinken. Aber sie kniete sich nicht vor ihm auf den Boden, um wie ein Tier aus dem Eimer zu trinken.
„Nur keine Hemmungen. Der Weg bis zur Festung ist lang.“
Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf Sirtis zu.
„Ich bezahle sogar dafür. Hier“, er zog eine Silbermünze aus der Tasche und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hochkant vor ihr Gesicht, zeigte ihr beide Seiten.
„Erkennst du sie wieder?“

Sirtis starrte die Münze an. Zweifellos, das war eine von ihren. Natürlich hätte Kieran sie von ihrem Gürtel genommen haben, doch sie wusste, dass sie nur vier Silbermünzen bei sich getragen hatte, und die waren alle verschieden. Sie hatten dieselbe Vorderseite, unterschieden sich aber in ihrer Rückseite. Nein, es gab keinen Zweifel: Es war jene Münze, die sie Tarmon und Jilana geschenkt hatte.
„Wo...woher hast du die?“
„Frag nicht so dumm, das weißt du genau, ich sehe es dir an. Du hast sie ihnen gegeben, für ihre Dienste und für ihr Schweigen, nicht wahr?“, sagte Kieran kühl.

In ihrem Inneren hatte Sirtis sofort begriffen, was das bedeutete, doch ihr Verstand weigerte sich noch.
„Nein! Nein, ich schenkte sie ihnen für ihre Gastfreundschaft!“, rief sie, doch Kieran lachte nur spöttisch auf.
„Ja sicher. Dafür gibt schließlich jeder ein Silberstück. Für so etwas Belangloses wie die Unterbringung von Rebellen. Hätte es noch eines Beweises deiner Schuld gebraucht, wir hätten ihn damit. Aber so diente sie wenigstens als Beweis für die Verbrechen der beiden. Ich habe sie gerichtet.“
Sirtis Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Du hast sie umgebracht?“, flüsterte sie. „Zwei alte Menschen, die niemandem etwas getan hatten? Nur weil sie mir halfen?“
Kierans rechte Hand packte Sirtis blitzschnell am Hals und zog sie nahe an sein Gesicht heran. „Hör mal, mein Früchtchen, spare dir deine Heuchelei! Ich habe sie nur gerichtet. Umgebracht hast du sie, denn schließlich hast du sie in euren Aufstand und Krieg hineingezogen.“ Er stieß sie von sich fort und warf mit einer verächtlichen Geste die Münze in den Wassereimer. „Hier hast du dein schmutziges Geld wieder!“

*

Als Baltram nach einer halben Stunde zurückkam, wirkte Sirtis fast wie versteinert. Er reichte ihr zuerst Beinkleider und Brusttuch, dann Strümpfe und Schuhe, die sie mit abwesenden und mechanisch wirkenden Bewegungen anzog.
„Komm mit, die restlichen Sachen liegen auf dem Tisch.“
Er zog die immer noch apathisch wirkende Sirtis aus dem Stall und bis zum Tisch. Als er ihr den Pullover hinhielt starrte sie ihn nur an. Baltram verlor die Geduld und zog ihn ihr über den Kopf. Sirtis schrie zu seiner Verwunderung gepeinigt auf und krallte ihre Hände in die Maschen.
Baltram sah seinen Kollegen fragend an, doch der wusste auch nicht, was passiert war. Kurzerhand gab Kieran der Gefangenen eine kräftige Ohrfeige und wollte ihre Hände vom Pullover wegreißen, aber sie verkrampften sich nur noch mehr.
„Was soll das Theater! Zieh dich weiter an, wir wollen los“, schrie er sie an.
Sie blickte ihn mit feuchten Augen an. In ihren traurigen Blick mischte sich Zorn.
„Du hast Jilana umgebracht. Du hast Tarmon umgebracht. Dafür sollst du büßen!“
Kieran schlug ihr mit dem Handrücken über den Mund. Sirtis verstummte und starrte ihn feindselig an.

Baltram wartete einige Minuten ab, bis sich Sirtis etwas beruhigt hatte, dann löste er vorsichtig ihre Finger aus dem Pullover und gab ihr den Mantel, den sie stumm anlegte, ebenso wie ihren Rucksack. Sie sollte alle ihre Sachen tragen, um sie in der Festung gründlich untersuchen zu können. Abschließend band Baltram ihr wieder die Hände hinter dem Rücken mit einem Lederband zusammen. Kieran knüpfte ihr an die Fessel eine dünne, etwa doppelt mannslange Kette, deren anderes Ende er vorne an seinem Gürtel einklinkte.
„So, du wirst immer schön vor mir hergehen, so dass die Kette straff bleibt. Wenn du zu langsam wirst und ich dich einhole, dann werde ich dich hiermit ermuntern“, er spielte demonstrativ mit einem Hartholzknüppel herum.

Sie verließen das Gebäude durch eine Nebentür. Es stand mitten auf einem von Bäumen dicht umgebenen Platz. Offensichtlich diente es während der wärmeren Jahreszeiten für Waldarbeiten und als Sägemühle, doch jetzt im Winter wurde es außer als Lager kaum genutzt. Baltram ging voran, Kieran stieß Sirtis hinterher und folgte als Letzter. Sie gingen über einen Pfad auf einen kleinen Schuppen nahe dem Lichtungsrand zu. Bevor sie ihn erreichten, öffnete sich seine Tür und vier Söldner kamen heraus. Knappe Begrüßungen wurden unter den Männern ausgetauscht. Sirtis streiften verstohlene, meist neugierige, Blicke. Dann brachen sie auf.

Baltram ging voran, gefolgt von Sirtis, die von Kieran vor sich her getrieben wurde. Den Abschluß bildeten die vier Söldner. Sie marschierten zuerst quer durch den Wald, bis sie auf die Straße von Gom nach Merotir, der Hauptstadt von Al-Amaris, trafen. Baltram schien den Weg gut zu kennen, denn obwohl es kaum Spuren gab, es hatte über Nacht geschneit, schritt er sehr zügig aus.

Die Landschaft war eintönig. Es gab nur vereinzelte Bäume und Buschgruppen in einer hügeligen Schneelandschaft zu sehen. Nach etwa zwei Stunden Marsch machte der Weg wieder einmal einen Bogen um einen der größeren Hügel. Es ging nach rechts um ihn herum, er war relativ groß und mit Bäumen bedeckt. Plötzlich kam ein einzelner Mann in Sicht, der ein Schwert über seinen Kopf hielt. Baltram blieb mit einem Ruf stehen. Kieran reagierte sofort, er blieb ebenfalls stehen, die Kette stoppte die gerade zu Boden starrende Sirtis. Er hob die Hand und signalisierte so den Söldnern, ebenfalls anzuhalten.

*

Darsi wartete hinter einem Baum. Stumm stand die große und schwarzhaarige Amazone im Schnee und versuchte, in der Kälte nicht steif zu werden. Das war ihre größte Sorge. Sie fühlte sich gesund und konzentriert, wenn auch angespannt. Das Wetter war perfekt: klare Luft, eine matte Helligkeit, die weder blendete noch verfälschte, und kein Wind.
Sie hatte ihren Bogen gepflegt wie sonst nie, so sorgfältig mit Fett gegen die Feuchtigkeit geschützt wie sie konnte. Sie durfte nicht versagen, es würde keine zweite Gelegenheit geben. Der Preis würde hoch sein, sehr hoch sogar, doch es gab Dinge, die man tun muss, egal was es kostete. Nein, das war keine Frage. Dieser eine Schuss musste treffen, unbedingt. Der Stille Tod.

Batrast war nicht weit entfernt von Darsi, doch seine Aufmerksamkeit galt nicht ihr, sondern der zweiten Amazone der Gruppe. Sie stand direkt vor ihm, den Rücken zugewandt, und er sah ihr zu, wie sie wieder probeweise ihren Bogen spannte. Sie hatte das in der letzten Stunde bereits ungezählte Male gemacht, es war mindestens ebenso Ausdruck ihrer Nervosität wie ihr unübersehbares Zittern.
„Nur die Ruhe, Samra“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Du sollst mich nicht immer ‚Samra’ nennen, ich habe einen richtigen Namen“, antwortete sie, ohne auch nur den Kopf zu bewegen, in genau dem Ton, der ihn so an ihr faszinierte.
Batrast legte ihr eine Hand auf die linke Schulter und massierte sie leicht, glitt vorsichtig hinunter auf ihr Schulterblatt. Sie hatte, wie auch ihre Kollegin, ihren Mantel abgelegt, um ungehindert schießen zu können, so konnte er das feine Spiel ihrer Muskeln durch das Wildleder ihrer Weste deutlich fühlen, während sie den Bogen langsam entspannte. Er wusste, wie viel Kraft in ihrem kleinen Körper stecken musste, um einen solchen Bogen führen zu können. Sie drehte sich langsam zu ihm um, dabei zog sich seine bewegungslose Hand vom Schulterblatt zu ihrem angelegten Oberarm. Sie blickte dabei zu Boden, konnte sein Lächeln nicht sehen. Er drückte kurz ihren Arm, dann glitt seine Hand vorsichtig zu ihrem Hals, verharrte einen Augenblick. Behutsam hob er ihren Kopf am Kinn an. Sie blickte immer noch nach unten. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen über das zartes Gesicht der blonden Frau.
„Ich weiß, doch solange du so schaust, bist du Samra.“
Kurz traf ihn ihr Blick, er war wie meistens verschlossen und traurig.
Arme Samra, was hat man dir angetan?
Sie senkte ihren Blick, ruckte herum in ihre alte Position.
„Sie können jeden Moment auftauchen“, sagte sie nur.
Ihr Zittern war verschwunden.

Der Paladin stand breitbeinig mitten auf dem Weg. Er wusste, dass man ihn wegen der Wegbiegung um den Hügel herum erst spät entdecken würde, etwa auf zehn Schritte Distanz. Genau genommen auf elf Schritte, denn natürlich hatte er es ausprobiert, um die Nahkämpfer an den richtigen Positionen zu verbergen. Paladine überließen solche Dinge nie dem Zufall. Armon, Rathard, Celestin und Largais, sie alle hatten sich am unteren Rand des Hügels hinter Büschen verborgen. Auf den Hügel hatte er die beiden Amazonen postiert. Und dann war da noch diese grauäugige Katze.

*

Batrast signalisierte dem Paladin und seinen Leuten den anrückenden Trupp. In der militärischen Zeichensprache der Paladine, die inzwischen alle kannten, teilte er mit, wie der Zug zusammengesetzt war und in welchen Abständen sie marschierten. Und vor allem, wo die Gefangene war und wie gesichert. Rasch huschten einige der Kämpfer auf neue Positionen, dann senkte sich absolute Stille und Reglosigkeit über alle außer dem Paladin.

Als der Zugführende hinter der Biegung in Sicht kam, zog der Paladin sein Schwert, hob es empor und hielt es quer über sein Haupt. Wie erwartet blieb der ganze Trupp stehen.

„Was soll das? Macht gefälligst Platz, od...“
Das Wort erstarb halb ausgesprochen auf Baltrams Lippen. Seine Hände fuhren zu seinem Hals. Er begriff erst nicht, was passiert war, warum er plötzlich keine Luft mehr bekam, dann berührten seine Finger den Schaft des Pfeils.

Darsi schloss vor Erleichterung und Dankbarkeit kurz die Augen. Sie hatte so wie erhofft getroffen. Jener, dessen Namen sie vor Hass nicht einmal in Gedanken aussprechen wollte, er würde jämmerlich verrecken. Sie trat aus ihrer Deckung hervor und stieg langsam den Hügel hinab. Majestätisch setzte sie Schritt für Schritt, denn es war eine Zeremonie, die sie erfüllte. Sie ignorierte die Rufe ihrer Kameraden, der Gedanke, dass sie durch ihr Verhalten den ganzen Plan gefährdete, kam ihr nicht. Wichtig war nur der Tod des Verhassten. Endlos oft hatte sie ihn schon in Gedanken durchgespielt. Doch was sind schon Gedanken und Träume im Vergleich zur Wirklichkeit? Was sind Rachegedanken im Vergleich zur Rache?

Die schlanken Finger der kleinen Amazone gaben die Bogensehne frei. Batrast seufzte bei ihrem Anblick: die totale Konzentration auf ihrem hübschen Gesicht, die kraftvolle Eleganz ihrer Bogenführung, die angespannte Erwartung des Treffers, all das löste ein Erschauern in ihm aus, für das er keine Erklärung fand. Doch es währte nur kurz, denn noch rätselhafter war die Reaktion, die sie bei ihren Treffern zeigte: nicht Stolz, wie er manchmal bei ihrer großen Kollegin Darsi beobachtet hatte, sondern schmerzhaftes Bedauern überschatteten ihr Antlitz. Anfangs hatte Batrast geglaubt, sie würde einfach nicht auf Menschen schießen wollen, zumal sie sich weigerte, tödliche Schüsse abzugeben. Doch dann hatte er bemerkt, wie entschlossen sie schoss. Wie sollte das zusammenpassen? Ja, diese so scheue und manchmal verängstigt wirkende kleine Amazone, sie faszinierte ihn.

Batrast sah ihr weiterhin zu. Sie griff, immer noch völlig im Bann des Geschehens, hinter sich und zog einen neuen Pfeil aus dem Köcher. Sie legte an, trat aus der Deckung hervor, um sich den Söldnern unten auf dem Weg zu zeigen, und spannte demonstrativ den Bogen. Als Darsi unerwartet den Hügel hinabging blickte sie überrascht zur Seite.
„Darsi! Was machst du da?“, rief die blonde Amazone erstaunt, doch die angerufene Darsi reagierte nicht.
Sie schüttelte verständnislos ihren Kopf, dann wandte sie sich wieder der abgesprochenen Aufgabe zu, aus der Distanz die restlichen Söldner zu bedrohen, aber nur im Notfall zu schießen.

„Nein!“
Mit einem hohlen Singen flog der Pfeil davon. Batrast schreckte aus seinen Betrachtungen auf, überrascht, dass die kleine Amazone wieder schoss. Er blickte auf ihr Ziel. Es war der Mann, an den die Gefangene mit einer dünnen Kette gebunden war. Er hatte versucht, sie mit einem Dolch in der Hand zu erreichen, trotz des ersten Pfeils in seinem Oberschenkel. Jetzt hatte ihn ein zweiter Pfeil in das andere Bein getroffen, doch es war zu spät für Kieran.

Ein heller Schatten flog heran und stach Kieran nieder. Die vier Wachen, die bisher unschlüssig waren, erstarrten vor Schreck. Erst die Pfeile aus dem Hinterhalt, dann die vier Kämpfer, die plötzlich am Wegesrand auftauchten, und jetzt diese unheimliche weiße Gestalt. Sie erkannten die Sinnlosigkeit jeglichen Kampfes und ließen resigniert ihre Waffen fallen.

Der Paladin rannte so schnell wie es seine Rüstung zuließ an Darsi und dem sterbendem Baltram vorbei auf die Gefangene zu. Nur kurz warf er im Vorbeieilen einen Blick in Darsis Gesicht, das völlig regungslos den Sterbenden anstarrte. Über ihr Verhalten würde noch zu reden sein, aber nicht jetzt. Er erreichte die Gefangene, die ihm den Rücken zuwandte und die völlig in weiß gekleidete grauäugige Kämpferin, die jenen angeketteten Mann erstochen hatte, anstarrte. Gleich würde es zu der Begegnung kommen, vor der er sich schon so lange fürchtete.

*

Der ganze Weg war für Sirtis eine Qual gewesen. Erschöpft durch die Misshandlungen, eine schlaflose Nacht und gequält von Gewissensbissen war sie durch den Schnee getaumelt. Jetzt trieb Kieran sie vor sich her, stieß ihr immer wieder seinen Knüppel in den Rücken. Immer weiter war die Welt um sie herum geschrumpft, bis sie nur noch aus zwei Füßen bestand, die wie eigenständige Lebewesen Schritt vor Schritt setzten.

Den Überfall hatte sie erst bemerkt, als plötzlich der Zug der Kette sie stoppte. Sie blickte auf, sah vor ihnen auf dem Weg einen unbekannten Mann in einer Rüstung, der ein Schwert über seinen Kopf hielt. Ein schmaler dunkler Schatten schoss von der Seite heran und traf Baltram am Hals. Ein Pfeil! Sie begriff schlagartig, dass der Zug überfallen wurde, ihre Wahrnehmung war von einem Moment zum nächsten wieder voll da.

Einige Sekunden sah Sirtis dem Todeskampf von Baltram zu, ein Anblick, der offensichtlich auch den Paladin in den Bann schlug. Dann lenkten Bewegungen in ihrem Augenwinkel sie ab, sie wandte sich dem Hügel zu und sah zwei Gestalten mit Bögen zwischen den Bäumen hervortreten. Sind das nicht Amazonen?, schoss ihr durch den Kopf. Die eine war groß und hatte schwarze Haare, sie schritt den Hügel hinab auf Baltram zu. Die andere Amazone war klein und blond, sie blieb stehen, spannte ihren Bogen und zielte auf den Zug hinter Sirtis. Plötzlich schrie sie auf und schoss. Sirtis wirbelte herum und sah, wie Kieran einen Schritt von ihr entfernt stolperte. Im selben Moment war wie aus dem Nichts eine weißgekleidete Gestalt neben ihr, die Kieran einen Dolch in die Brust stieß. Die Gestalt drehte sich um und sah sie an. Sirtis erkannte, dass die Fremde bei ihrem Anblick erleichtert lächelte. Sie hatte graue Augen, die sie ernst und dennoch warm anblickten. Ein Blitz durchzuckte Sirtis:
Ich kenne diese Frau!
 
Hm, was ist noch zu sagen, was ich nicht schon erwähnt habe... Dass dein Schreibstil wunderbar ist, weisst du ohnehin schon. ;)
Die Perspektivwechsel waren eine schöne Idee.

'Ein heller Schatten flog heran und stach Kieran nieder.'
Sehr elegant formuliert.
Dass damit die Katze gemeint ist, erfährt man allerdings erst später - wäre es eine Beschreibung für einen heranfliegenden Pfeil gewesen, hätte es noch besser geklungen. ;)

:top:

Weiter so, du hast es, wie man so schön sagt, drauf.
 
Undead Poet schrieb:
Die Perspektivwechsel waren eine schöne Idee.

Weiter so, du hast es, wie man so schön sagt, drauf.

Dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen.
Der gesamte Verlauf des Überfalls war das Packendste, was ich seit langem gelesen habe :)
 
Von mir bekommst du auch nur lob :) Weiter so - Kritik fällt mir zu diesem Kapitel keine ein.
 
Ein Update... und ich brauch 2 Tage um das zu bemerken.

Tja, mir fällt nicht wirklich was ein, was ich kritisieren könnte.

Ich freue mich allerdings auf die Auflösung einiger Rätsel über Sirtis Herkunft, die der weiß gekleideten Frau - eine Assassine, wie ich vermute, was mich weiter spekulieren läßt, und natürlich auf die Hintergründe der "Rebellion"und die Schicksale einzelner Teilnehmer dieser Gruppe, was bereits angedeutet wurde.

[x] more


DV
 
Freut mich, dass es euch gefallen hat.

Zu den Spekulationen kann ich natürlich nichts sagen.

Zu den Punkten a und b. Meine Geschichten spielen bisher alle in einer Fantasy-Welt, die zwar von D2 abgeleitet wurde, aber in einigen Punkten davon abweicht.
Paladine, Zauberinnen und Assassinen sind Vertreter ganze Völker, die natürlich größtenteils aus Bauern, Handwerker usw. bestehen. Diese Völker haben sehr unterschiedliche Lebensweisen, entsprechend unterschiedlich sind ihre kämpfenden Vertreter. So denken Paladine logisch, technisch, hierarchisch und unterdrücken Gefühle. Zauberer sind gefühlsorientiert und leiten durch Überzeugung und Konsens, nicht Befehle. Assassinen kann man sich fast wie Samurai vorstellen. Religöse Aspekte spielen nirgends eine Rolle.
Dadurch sind a und b erklärbar:
a) Ein Paladin kann durchaus eine gemischte Kampfgruppe bilden und anführen. Dabei wird er die Führerschaft anstreben und etwas militärischen Drill, vor allem aber Ordnung und Disziplin verlangen.
b) Assassinen stellen Leibwachen, eventuell Agenten und Attentäter usw., doch dabei herrscht ein strikter Ehrenkodex vor. Daher gibt es keine moralischen Probleme für Paladine, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
 
Gefällt mir das die Welt in der deine Geschichte spielt von der D2-Welt abweicht.
Wenn die Geschichte an Orten handelt die ich aus meinem d2-alltag :) her kenne, denke ich mich immer automatisch in die Spiele Sicht rein. :/

mfg
 
Sebalon, du läßt nicht locker :top:

Dabei teile ich deine Meinung nicht vollkommen.
Die Rolle der einzelnen Charaktere lese ich zunächst unbeeinflusst von vorherigen Kenntnissen ( Vorurteilen), so dass ich - als Leser - bisher nicht in größere Versuchung kam, die Zusammenstellung der Attentätergruppe ( "Rebellengruppe" ) zu hinterfragen. (Obwohl die Frage da war, siehe vorheriges Post)
Deine Sicht der Dinge hat Berechtigung. Ganz so "streng" sehe ich es allerdings nicht, da ich keine wirkliche Entsprechung zum engen Diablo II Universum erwarte, obwohl Bezugspunkte da sein sollten - sonst wäre ein anderes Forum angemessener.

Dein Hinweis auf den Ursprung des Paladin zum Abschluß :top: again.

:hy:

DV
 
Ich finde solche Diskussionen auch wichtig. :top:

Natürlich wollte ich mit dem Begriff "Paladin" nicht fehlleiten, andererseits denke ich schon, dass meine Auslegung erklärbar ist. Es gibt immer mindestens drei Seiten von "Paladinen", etwas überzeichnet: Ihr nach außen proklamiertes Image (strahlender Vertreter des Guten, Edlen usw.), die Wahrheit (machtgierige Unterdrücker und gelegentlich vergewaltignende Plünderer), das Individuum (je nach dem). In meinen Geschichten versuche ich meistens, die individuelle Sicht einzunehmen, wodurch manchmal der Einzelne auch etwas im Gegensatz zum eigenen Volk steht.

Ein großteil des Reizes von Fantasy geht meiner Meinung davon aus, eine unbekannte Welt als Leser nach und nach zu erkunden (das war einer der Gründe, von D2 abzuweichen). Auch wäre es langweilig, seitenlange Erklärungen zu lesen. Das zu vermeiden wird übrigens im nächsten Teil die eigentliche Schwierigkeit.
 
Eine sehr schöne Geschichte. Wie bisher jede, Stalker :)

Kritik kann ich keine anbringen.

P.S.
Auszug aus der Wikipedia ( www.wikipedia.de ) zum Thema Paladin:

Paladin

Mit Paladin (von mittellat.: Palatinus, der zum palatinum, der Kaiserwohnung Gehörige) wurden Ritter am Hofe des Kaisers Karl des Großen bezeichnet. Im übertragenen Sinn wird der Begriff verwendet, um einen kühnen Ritter und tapferen Held zu bezeichnen.
 
Mir geht es eigentlich wie Venusia, obwohl ich es wahrscheinlich nicht schaffe ganz unbeeinflusst heranzugehen. Allerdings orientiere ich mich dabei nicht so sehr am Spiel, als an Stalkers älteren Stories. Er hat sich, wie andere Autoren auch, sein Universum langsam aufgebaut und ich denke, wer die alten Geschichten kennt, kann sich da gut hineinversetzen. Es wäre doch langweilig, in jeder neuen Story dieselben Erklärungen nochmal zu lesen ;)

Zur Story selbst... was kann ich da noch groß dazu sagen, außer daß ich gespannt auf den nächsten Teil warte :D

...und einen Fehler, der den Lesefluss stört:
Natürlich hätte Kieran sie von ihrem Gürtel genommen haben (können?),...
 
Die Protektoren (5)
Freunde

Namensliste:
Sirtis: Eine Fremde ohne Erinnerung
Batrast: Spionieren, Aufklären und Beobachten sind seine Spezialität

Gom: Eine kleine Stadt in Al-Amaris
Merotir: Hauptstadt von Al-Amaris
Al-Amaris: Ein für Sirtis unbekanntes Land

Sirtis starrte die Frau an.
„Er wollte dich als Geisel nehmen oder umbringen“, sagte die Weißgekleidete und machte eine bedauernde Geste.
„Wer bist du? Dich ... dich kenne ich doch!“

In dem Moment erreichte der Paladin sie beide. Er war etwas atemlos, die Strecke war zwar nicht weit gewesen, doch in seiner schweren Rüstung war es sehr anstrengend gewesen, durch den Schnee zu rennen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er leicht keuchend.
Die grauäugige Frau sah ihn an.
„Sie ist unverletzt und scheint dasselbe Problem zu haben, das wir auch hatten“, antwortete sie.
Der Paladin sah Sirtis kritisch an und runzelte die Stirn.
„Du kannst dich nicht an uns erinnern?“, fragte er sie.

Der Paladin kam Sirtis ebenfalls seltsam vertraut vor. Doch bevor sie ihm antworten konnte bemerkte sie, wie etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sirtis sah über ihre Schulter in dessen Blickrichtung zum Hügel. Die kleine Amazone, die offensichtlich auf Kieran geschossen hatte, lief den Hügel so schnell sie konnte hinab, hinter ihr folgte ein großer Mann. Als sie näher heran waren, glaubte Sirtis, auch diese Frau zu kennen. Den Mann, der sich absichtlich leicht zurückfallen ließ, erkannte Sirtis sogar völlig. Es war jener Batrast, den sie in dem Gasthaus in Gom am Abend ihrer Ankunft getroffen hatte.

Die blonde Amazone blieb zwei Schritte vor Sirtis stehen. Sie wirkte schüchtern und blickte zu Boden, als Sirtis sie genauer ansehen wollte. Batrast holte sie ein, drückte ihr eine Hand in den Rücken und schob sie mit sanfter Gewalt weiter nach vorne. Dabei sah er Sirtis an und lachte.
„Ihr seid doch alte Freunde, oder?“

„Was ist hier los?“, fragte Sirtis, und in ihrer Stimme schwangen etwas Furcht und Verzweiflung mit. Sie drehte sich um ihre Achse und sah alle der Reihe nach kurz an. „Ich glaube euch zu kennen, kann mich aber nicht erinnern.“ Ihr Blick erreichte wieder Batrast. „Du bist doch Batrast aus Gom? Bitte, kannst du mir sagen, was hier los ist? Wer seid ihr alle? Wer bin ich?“, fragte sie fast flehend und nur mühsam beherrscht.
Der Angesprochene machte ein betroffenes Gesicht. „Du erinnerst dich wirklich an nichts und niemanden?“
„Nein! An gar nichts! Nicht einmal an meinen Namen!“, schrie Sirtis.

Sie spürte eine schwere Hand auf ihrer Schulter, die sie umdrehte. Es war der Paladin.
„Bitte beruhige dich“, sagte er. „So ähnlich wie dir ist es auch deinen Freunden gegangen. Auch du wirst deine Erinnerung wiederbekommen. Das da ist Salcia“, er zeigte auf die betroffen dastehende Weißgekleidete, „die Amazone dort ist Fiska.“

Ein Brausen schwoll in Sirtis Kopf an. Es wurde immer lauter, bis sie meinte, in einem plötzlich aufgezogenen Sturm zu stehen. Gleichzeitig verengte sich ihr Blickfeld immer mehr, und in ihr entstand ein Gefühl, als würde etwas Ungeheueres mit der Unaufhaltsamkeit einer heranrollende Lawine auf sie zustürmen.
Und wer bin ich?, wollte sie fragen, doch sie konnte es nicht. Es war wie in einem Alptraum, keine Bewegung und kein Wort waren ihr möglich.
„Du bist Anna.“
Waren das Worte oder Erinnerung? In dem Moment erreichte die Lawine sie, riss sie um und begrub sie unter sich.

Annas Augen wurden glasig, dann kippte sie steif um. Salcia reagierte am schnellsten, sie ließ ihren Dolch fallen, fing Annas Fall auf und ließ sie sanft in den Schnee gleiten. Etwas Schaum trat aus dem Mundwinkel. Salcia zog sich ihre fingerlosen Handschuhe aus. Sie legte ihre Fingerspitzen kurz an Annas Hals, dann untersuchte sie ihren Mund und prüfte mit dem Handrücken ihren Atem. Fiska kniete sich ebenfalls neben Anna. Hektisch glitten ihre Finger über den Kopf, der ebenso wie der ganze Körper anfing zu zucken.
„Keine Angst, sie lebt und bekommt gut Luft“, beruhigte Salcia sie. Dann blickte sie auf zum gelassen dastehenden Geldor.
„Sag, Geldor, musste das so sein?“, meinte sie vorwurfsvoll. „Konntest du Annas Erinnerung nicht behutsamer wecken?“
Der Paladin schüttelte den Kopf.
„Nein, das war bei euch beiden auch nicht viel anders, nur hast du es bisher nie als Zuschauer erlebt, weil du nach Fiska aufgetaucht bist. Ihr wird schon nichts passieren“, sagte er gleichmütig.
Salcia wandte sich von ihm ab.
„Was würde es dir auch ausmachen?“, entgegnete sie und suchte umherblickend ihren Dolch. Sie hob ihn auf und wischte ihn an Kierans Kleidung sauber, um schließlich Annas Armfessel zu zerschneiden.
„Ihr beide seid ja nicht gerade als Freunde auseinandergegangen“, fuhr sie fort, ohne aufzusehen.

„Allerdings würde es mir viel ausmachen!“, erwiderte Geldor gereizt. „Ich dachte, wir hätten das zur Genüge besprochen.“
„Könnt ihr euch nicht später weiterstreiten?“, mischte Fiska sich überraschend ein. „Jetzt ist Anna wichtiger. Wir können sie doch nicht so im Schnee liegen lassen.“
„Du hast recht, Fiska“, meinte Salcia. Sie stand auf und blickte Geldor an, wobei sie bemerkte, wie ihre Worte ihn getroffen hatten. „Entscheidend wird sein, wie sich Anna zu dir stellt. Dass ich mich dann nach ihr richten werde, ist hoffentlich klar.“
Geldor nickte. „Natürlich.“

Batrast schritt weiter an Anna und die immer noch neben ihr kniende Fiska heran. Er fasste die Amazone am Arm und zog sie hoch.
„Deine Freundin wird bald wieder auf den Beinen sein, Samra“, sagte er leise zu ihr, dann hob er die Stimme. „Es scheint noch einmal gut gegangen zu sein. Ich erkenne den Toten hier, das ist Kieran. Er gehörte zur Elite der Verhörspezialisten des Protektors.“
„Verstehe“, antwortete die kleine Amazone, sie schien ihren Schreck über Annas Zusammenbruch allmählich zu überwinden. „Du meinst, sie wollten sie in der Festung foltern?“
„Ja, Fiska, und es wäre ebenso grausam wie sinnlos gewesen“, antwortete Batrast.
„Dafür ist dieser Protektor und seine ganze Bande berühmt“, warf Geldor ein und blickte sinnierend zu Darsi, die immer noch bei ihrem Opfer stand. Schließlich gab er sich einen Ruck.
„Darsi! Komm endlich her!“, rief er ihr zu.
Die große Amazone sah ihn an, dann kam sie zu der Gruppe geeilt, sagte aber kein Wort. Geldor winkte seinen restlichen vier Kämpfern, welche die ganze Zeit über etwas entfernt die Gefangenen bewacht hatten.
„Armon und Largais, ihr holt die Trage und übernehmt Anna. Rathard und Celestin, ihr führt die Gefangenen.“

*

Nach etwa einer Stunde schlug Anna ihre Augen auf. Sie lag unter einer warmen Decke auf einer Trage, die aus einem kräftigen Leinentuch bestand, welches zwischen zwei Holzstangen gespannt worden war, und die von zwei Männern getragen wurde.
„Sie wacht auf“, meldete Largais, der das Fußende hielt.
Salcia, Fiska und Batrast, die alle drei neben der Trage herliefen, blickten gespannt auf sie hinab. Sie sahen, wie Anna an ihren Armen zerrte und versuchte, unter die Decke zu schauen, um zu sehen, was sie festhielt. Es war einer der Stricke, mit denen man sie vor dem Herunterfallen gesichert hatte. Es gelang ihr, die Arme zu befreien, sie zog sie hervor und schüttelte sie etwas, dabei blickte sie sich um und bemerkte endlich ihre Begleiter.

Salcia sah, wie in Annas Blick Verwirrung und Furcht durch Erkennen und Freude ersetzt wurden, auch wenn ihr Gesicht ernst blieb.
„Wie geht es dir?“, fragte Salcia.
„Kannst du dich wieder an alles erinnern?“, ergänzte Fiska.
Anna nickte. „Ich bin müde und durcheinander. Aber wenigstens weiß wieder, wer ich bin und wer ihr seid. Es ist schön, wieder einen Punkt zu haben, an dem man alles fest machen kann.“ Sie lächelte schwach. „Wollt ihr mir nicht helfen?“

Die Anspannung fiel von allen Drei gemeinsam ab. Fiska und Salcia ergriffen Annas Arme, um sie hochzuziehen. Wegen der beiden Sicherungstricke gelang das nur teilweise. Schließlich ließ Anna sich wieder zurücksinken und zog stattdessen die Beiden zu sich herunter. Sie ignorierten die protestierenden Ausrufe der beiden Träger, als sie sich lachend umarmten, dabei stolperten und übereinander erst auf die Trage und dann in den Schnee fielen.

„Ich habe euch beide so vermisst!“, rief Anna glücklich.
„Und wir dich! Der Gedanke, dass du in den Händen irgendwelcher Schergen des Protektors bist, war schrecklich“, sagte Salcia.
„Ja, sie hätten dich foltern und töten können“, meinte Fiska.
Annas Lachen erstarb. Ihre Freundinnen verstanden, dass sie jetzt nicht weiter darüber reden wollte, stattdessen halfen sie ihr dabei, die Knoten von den beiden Sicherungsstricken zu lösen.
„Du kannst nicht aufstehen“, protestierte der hintere Träger jetzt energischer. „Du bist geschwächt und wir haben klare Order, dich zu tragen.“
„Ich fühle mich gut und möchte hier herunter“, erwiderte Anna.
„Wir nehmen nur von Geldor Befehle an.“
„Das sind Paladine“, meinte Salcia. „Geldor hat sie eigens für deine Befreiung mitgebracht.“
Anna schwang sich von der Trage. Sie wankte kurz, doch Fiska hielt sie fest.

„Was ist hier los?“, rief der herbeigeeilte Geldor. Er sah etwas verunsichert Anna an.
„Nichts, ich bin nur aufgestanden“, antwortete Anna.
„Warum? Wir müssen uns beeilen und dabei einige Umwege gehen, um unsere Spuren zu verwischen.“
„Ich gehe lieber auf meinen eigenen Beinen, als mich von deinen Männern tragen zu lassen.“

Geldor stand zwei Schritte vor Anna im Schnee und sagte kein Wort. Seine Starre übertrug sich auf alle Anderen, auch Salcia war atemlos, ihr feines Gespür hatte die Spannung vermutlich am besten erfasst. Schließlich nahm Geldor zuerst seinen Helm ab und klemmte ihn unter seinen linken Arm, dann zog er seinen rechten Handschuh aus. Er trat an Anna heran, legte ihr die freie Hand auf die Schulter und sah in ihr versteinertes Gesicht.
„Kann ich dich unter vier Augen sprechen?“, bat er.
Nach einem unmerklichen Zögern nickte Anna. Geldor ging voran auf einen kleinen Hügel zu.

Hinter dem kleinen Hügel, außer Sicht- und Hörweite, blieb Geldor stehen. Er zog seinen Helm unter dem Arm hervor und ließ ihn vor Annas Füße fallen.
„Ich hatte deinen Tod gewünscht und auch versucht. Das ist nach den Maßstäben meines Volkes zweifellos bereits ein schweres Vergehen. Doch dass ich dein Vertrauen, vielleicht sogar deine Freundschaft, verraten hatte, dass erachten wir als unverzeihlich.“
Anna nickte schwer. „Da sind sich unsere Völker einig.“ Dann ergänzte sie bitter: „Ich glaubte, wir wären Freunde geworden, doch es war Heuchelei, und in Wahrheit stand ich dir nur im Weg.“
Geldor zog langsam sein Schwert und hielt es quer auf seinen beiden Hände liegend vor sich hin.

Anna kannte diese Geste, es war die vielleicht stärkste Form einer Entschuldigung und Ehrerbietung, welche die Paladine kannten. Es war ihr bewusst, welche Überwindung sie Geldor kosten musste, insbesondere gegenüber einer Frau. Sie nahm den Schwertgriff, hob die Waffe von Geldors Händen und betrachtete die glänzende Klinge.
„Meri hat über den Stein von deinen Nöten erfahren und sie mir erzählt. Auch hatte Belial dich bei deinem Angriff gegen mich teilweise manipuliert.“ Ihr Blick hob sich von der Klinge und erfasste Geldors Gesicht. „Das alles ist keine ausreichende Entschuldigung, um dich freizusprechen.“ Sie legte ebenso wie zuvor Geldor das Schwert auf ihre Hände und reichte es ihm mit unbewegtem Gesicht zurück, um seine Geste zu akzeptieren. „Doch es genügt mir, um dir einen zweiten Versuch zu gestatten.“
„Einen zweiten Versuch?“, fragte Geldor.
„Ja. Beweise mir, dass du dich wirklich verändert hast, dann kann ich dir deine Taten hoffentlich verzeihen.“
Geldor nickte und hob seinen Helm auf. „Das werde ich.“
Er wollte an ihr vorbei und zurück zur Gruppe gehen.

„Geldor“, stoppte Anna ihn. „Ich mache das, weil du Meri gerettet hast. Man kann das als egoistische Rettung deiner eigenen Liebe ansehen oder als Opfer für sie. Meri wusste sofort die Antwort.“
Geldor drehte sich noch einmal zu Anna um.
„Meri hat mir verziehen?“
„Ja, ihr Herz ist größer als meines. Bitte enttäusche sie nicht, denn es ist auch verletzlicher.“
Er schüttelte in Gedanken versunken seinen Kopf, murmelte: „Verletzlicher...?“ Dann sagte er entschlossen: „Ich werde sie nicht enttäuschen und dich auch nicht.“

Geldor ging wieder an die Spitze des Zuges, während Anna zu ihren Freunden zurückkehrte. Die Auseinandersetzung mit Geldor hatte sie kurz von ihrer rätselhaften Situation abgelenkt, doch nun drängten sich all die offenen Fragen zurück in ihre Gedanken.
„Könnt ihr mir sagen, wo ich bin und was hier los ist?“, fragte sie.
„Wir sind in im Land Al-Amaris“, antwortete Salcia.
„Ich habe nie davon gehört.“
„Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Ich weiß weder, wo sich dieses Land befindet, noch wie ich hier her kam. Dabei bin ich schon seit vier Monaten hier. So lange hatten wir dich erwartet.“
„Wie bitte? Ihr hattet mich erwartet?“
„Ja, so wie auch ich erwartet worden war, doch das können Fiska und Geldor besser erklären.“

Salcia sah Fiska auffordernd an. Batrast klopfe der Amazone ermunternd auf die Schulter.
„Erzähle nur, Fiska, du weißt es am besten“, forderte auch er sie auf.
„Also gut. Ich wachte mitten auf einer Wiese auf und konnte mich an nichts davor erinnern. Es war nicht so schlimm wie bei dir, Anna, denn an meinen Namen konnte ich mich erinnern. Ich weiß bis Heute nicht, was passiert war. Der einzige Anhaltspunkt war ein Ziel, das mich regelrecht anzog. Dort wanderte ich hin, es war das Dorf Gom. Ich lebte und arbeitete dort vier Wochen, suchte lange nach einer Erklärung, jedoch ohne Ergebnis. Dann traf ich auf Batrast, der mich zu Geldor brachte. Diese Begegnung befreite bei mir, ähnlich wie bei dir, verschüttete Erinnerungen.“ Sie unterbrach sich bedrückt. „Die Erinnerungen an meine Herkunft und Vergangenheit.“
Anna nickte mitfühlend, wohl wissend, welche Last Fiska mit sich trug.

Fiska fuhr fort: „Doch ich erinnerte mich auch an meinen Sohn. Ich sehne mich so sehr nach ihm! Wenigstens glaube ich nicht nur, ich weiß in meinem Innersten, dass er in guten Händen ist.“ Kurz huschte ein verträumtes Lächeln über ihr Gesicht, dann wurde sie wieder ernst. „Mit der Erinnerung kam auch das unerklärliche Wissen, dass Salcia ebenso wie ich nach Gom kommen würde. Dort erwarteten Batrast und ich sie, und im November traf sie tatsächlich ein.“
„Ja“, ergänzte Salcia, „mir war es wie Fiska ergangen. Auch ich bin auf einem Feld aufgewacht, ohne Erinnerung an mein vorheriges Leben und ohne Waffen. Auch mich hat es nach Gom gezogen, und die spätere Begegnung mit Geldor hat auch mir meine vollständige Erinnerung wiedergegeben, außer daran, wie und warum ich nach Al-Amaris gekommen bin. Dazu kam die unerklärliche Gewissheit, dass du bald kommen würdest.“

„Seltsam, wie ist so etwas möglich?“, fragte Anna.
„Anfangs hatte ich Fiska nicht geglaubt, doch sie kann hartnäckig sein“, meinte Batrast lächelnd. „Als dann tatsächlich Salcia auftauchte und ich Zeuge ihrer Wiedererinnerung wurde, gab es keine Zweifel mehr. Die beiden sagen die Wahrheit.“
„Natürlich, ich habe es ja selbst erlebt. Doch was steckt dahinter?“
„Das wissen wir nicht“, antwortete Batrast. „Ich habe aber die Vermutung, dass euer Gedächtnis absichtlich blockiert worden war. Von solchen Methoden habe ich schon gehört, sie werden eingesetzt, um Agenten einzuschleusen. Woran man sich nicht erinnert, kann man selbst unter Folter nicht verraten.“
„So ganz leuchtet mir das nicht ein, denn ich kann mich auch jetzt nicht erinnern, eine Agentin zu sein. Fiska und Salcia sind es doch auch nicht.“
Batrast zuckte mit den Schultern. „Nun, wie du sagst: Du kannst dich jetzt nicht daran erinnern.“
Anna blickte ihn verständnislos an, dann begriff sie.
„Du glaubst, wir Drei erinnern uns nicht vollständig?“
„Es ist nur eine Vermutung, Anna, mehr nicht.“

*

Die Gruppe erreichte das Versteck gegen Abend. Sie waren durch viele Pässe und kleinere Wälder gegangen, um die Spuren möglichst gut zu verwischen. Manchmal wurden sie von wartenden Wachen empfangen, die sie dann mit verbundenen Augen ein Stück weit führten. So wusste niemand der aktiven Kämpfer den Weg, um ihn auch in Gefangenschaft nicht verraten zu können. Das Versteck lag in einem kleinen Tal, inmitten einer Gruppe großer Hügel. Es bestand aus einer Ansammlung von winterfesten Hütten, die gut getarnt und von Bäumen umgeben waren.

Anna war total erschöpft, sie musste sich die letzten Meter bis zu ihrer Hütte, die sie mit Salcia, Fiska und Dari teilte, abzwingen. Es war ihr alles egal, sie wollte nur endlich auf eine warme Unterlage sinken und einschlafen. Ohne sich zu waschen oder auszuziehen, legte sie sich hin. Die Anderen dagegen trafen sich bei Geldor, um über das Schicksal der vier gefangenen Söldner und das weitere Vorgehen zu beratschlagen.

*

„Ich habe dir frische Sachen auf den Stuhl gelegt. Im Nebenraum ist ein Zuber voll Wasser und ein Stück Seife.“
„Hrng!“, brummte Anna wenig erfreut über Fiskas Erläuterungen und drehte sich auf die andere Seite. „Lass mich in Ruhe!“
„Stimmt was nicht?“
„Ich bin müde. Und vor allem, ich will nicht bedient werden!“, knurrte Anna.
„Entschuldige“, kam es leise und schuldbewusst zurück.
Anna drehte sich auf den Rücken und richtete sich auf.
„Ich meinte es nicht so, Fiska. Ich bin einfach stolz darauf, im Leben selbständig zurecht zu kommen.“
„Das weiß Fiska, sie will dich nicht bedienen, sie will dir helfen“, klang eine andere Stimme auf. Anna war kurz darüber irritiert, Salcia zu hören, dann fiel ihr ein, dass sie nicht Zuhause in ihrem Zimmer war, sondern irgendwo anders. Sie fuhr sie von ihrem Lager hoch und sah sich um.

Sie lag in einem kleinen Raum auf Fellen und Decken, die über einen Teil des Bodens ausgebreitet worden waren. Es war relativ dunkel, da es nur ein kleines Fenster gab, durch das trübes Tageslicht hereinfiel. Wände und Decke waren aus groben Brettern und Balken wenig fachmännisch zusammengesetzt, die zahlreichen Ritzen mit Moos, Stofflappen und stellenweise Lehm gestopft. Den anderen Teil des Zimmers nahm ein Tisch mit vier Stühlen ein. Auf einem der Stühle saß Salcia, während Fiska vor Anna stand.

„Du hast bestimmt jede Menge Fragen, Anna. Doch viel mehr als wir dir gestern erzählt haben wissen wir nicht.“ Sie erkannte Annas ungläubigen Blick. „Wir haben uns lediglich länger daran gewöhnen können.“ Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort. „Wir drei sollen uns gleich mit Geldor treffen, da können wir am besten alles besprechen.“
Fiska reichte Anna einen Arm und zog sie hoch. „Vorher solltest du dich aber waschen.“
Anna machte eine zustimmende Geste. „Das mache ich gerne“, sie blickte an sich herab, „ich fühle mich wirklich schmutzig.“
„Sagen wir ruhig, dass du stinkst“, meinte Salcia grinsend.
Anna nickte ernst. „Gut möglich, ich musste eine Nacht in einem Schweinestall verbringen und habe den Dreck nicht richtig abbekommen.“ Sie fing an, sich auszuziehen.

Salcia wurde ebenfalls ernst. „Wir sind jetzt alleine, du kannst ungestört mit uns reden.“
„Ja, es ist besser, wenn du mit uns darüber sprichst, glaube mir“, fügte Fiska hinzu.
„Ihr meint über meine Gefangenschaft?“
Salcia stand auf und stellte sich neben Fiska. Sie deutete auf Annas geschwollenes Jochbein.
„Das ist doch nicht alles gewesen. Ich fühle, dass du mehr als nur einen Faustschlag erlitten hast.“
Anna nickte. „Ich bin nicht vergewaltigt worden, falls ihr das meint. Aber dieser Baltram hatte angefangen, mich zu foltern. Weniger mit Schlägen oder Schmerzen, sondern mehr mit Todesangst.“ Sie schloss die Augen und schwieg, dann sah sie ihre Freundinnen wieder an. „Doch am schlimmsten war es, als sie mich in Ruhe ließen, als ich nackt im Dunkeln in diesem Stall lag. Dieses Warten. Dieses Wissen, dass sie mich immer weiter quälen würden, um etwas aus mir herauszupressen, was ich nicht wusste. Diese Einsamkeit. Ich war nicht nur alleine, ich war in der Gewalt von Menschen, für die ich eine Sache war.“
„Du musst dich verloren gefühlt haben“, meinte Fiska mitfühlend.
Anna nickte fahrig und rang sichtlich mit ihrer Fassung. Plötzlich streckte sie einen Arm aus und schob Salcia und Fiska zur Seite. Einen Augenblick stand sie erstarrt da, dann sank sie auf einen der Stühle.
„Entschuldigt, ich wollte euch nicht wegstoßen, ich bin nur so durcheinander“, sagte sie schleppend. Niemand sagte etwas, bis nach einigen Minuten Anna sich zwang, wieder aufzustehen und sich weiter auszuziehen.

Sie ging in den Waschraum und stieg in den Zuber voll kalten Schmelzwassers. Fiska folgte ihr, während eine nachdenkliche Salcia zurückblieb. Anna tauchte sich einmal vollständig unter, stieg wieder aus dem Wasser, nahm das von Fiska gereichte Seifenstück und seifte sich von Kopf bis Fuß ein, wobei Fiska ihr beim Rücken half. Sie stieg erneut in den Zuber und spülte die Seife ab, indem sie sich wieder untertauchte. Da insbesondere das Ausspülen ihrer langen Haare dauerte, kam sie schließlich prustend hoch.
„Ganz schön erfrischend!“, kommentierte sie, kam heraus und trocknete sich ab.
Fiska versuchte, aufmunternd zu lächeln. „Schön, dass es dir wieder besser geht.“
„Die Kälte vertreibt mein Selbstmitleid“, antwortete Anna trocken, dann grinste sie zu Fiskas freudiger Überraschung sogar etwas. „Vielleicht mag ich es frisch, weil ich körperlich eine Barbarin bin?“
Sie rieb sich mit dem Handtuch kräftig ab und zog die neuen Sachen an.
„So, jetzt können wir zu Geldor.“

Vor der Tür empfing Batrast sie. Kritisch musternd sah er Anna an. Sie trug jetzt eine beige Hose, ein dunkelrotes Hemd und eine fellgefütterte Weste aus Wildleder.
„Passen dir die Sachen? Ich habe sie zusammen mit Fiska ausgesucht“, sagte er.
Anna nickte. „Danke, sie sind gut. Hast du etwa hier draußen auf uns gewartet? Hätte ich das gewusst, ich hätte mich mehr beeilt.“
Er nickte. „Das ist doch bei Frauen normal“, erwiderte er leicht spöttisch.
Anna spürte, wie seine Bemerkung ihre innere Verkrampfung weiter auflöste.
„Darf ich fragen, wer du bist, Batrast?“
Er lachte. „Sicher, das ist kein Geheimnis.“ Er ging während seiner Antwort los, Anna, Salcia und Fiska folgten ihm. „Ich bin kein Kämpfer wie die Anderen, sondern Beobachter und Aufklärer.“
„Ein Spion also?“
„Ich mag diese Bezeichnung nicht sonderlich, auch wenn sie halbwegs zutrifft. Ich besorge Geldor die Informationen, die er benötigt.“ Er wurde ernst und machte eine Pause, als wenn er sich überwinden müsse, weiterzureden. „Es war mein Fehler, der dich in Gefangenschaft brachte. Als ich dir in der Wirtschaft den Ärmel hochschob, um dich anhand der Narben am Handgelenk zu identifizieren, hatte ich nicht an den verräterischen Wirt gedacht. Er musste sie ebenfalls bemerkt haben. Hätte ich das gewusst, ich hätte versucht, dich zum sofortigen Mitkommen zu überreden, statt erst zu Geldor zu gehen. Als ich zurück war, da hatten sie dich schon verschleppt.“
Anna nickte. „Du wirst es kaum absichtlich gemacht haben.“
Batrast nickte und öffnete die Tür zu einem der Gebäude. „Bestimmt nicht.“

Im Inneren wartete Geldor bereits. Der Paladin ging einige Schritte auf Anna zu, während Batrast sich mit Salcia flüsternd unterhaltend etwas abseits stellte.
„Hallo Anna. Ich möchte gerne mit dir über einige Dinge reden.“ Er machte eine einladende Geste mit dem Arm auf einen großen rechteckigen Tisch hin, der den Raum beherrschte. „Bitte!“
Anna kam der Aufforderung zögernd nach, Geldor setzte sich ihr gegenüber. Zunächst schwiegen beide, wodurch das Flüstern von Salcia und Batrast hörbar wurde, wenn es auch unverständlich blieb. Schließlich räusperte sich Geldor vernehmlich. Salcia setzte sich neben Anna, Batrast nahm an einer der beiden freien Stirnkanten Platz, als wenn er seine Neutralität ausdrücken wollte.

„Gut...“, sagte Geldor und faltete die Hände auf dem Tisch, betrachtete nachdenklich das nervöse Spiel seiner Daumen. Dann sah er auf und Anna direkt in das Gesicht.
„Zunächst möchte ich auch in diesem Kreis eingestehen, mich damals dir gegenüber ehrlos verhalten zu haben.“
Anna nickte knapp. „Wie gesagt, dein zukünftiges Verhalten soll entscheiden, ob ich deine Entschuldigung annehmen kann oder nicht“, antwortete sie, und ihrer Stimme war keinerlei Neigung zu entnehmen.
„Das ist in Ordnung“, akzeptierte Geldor.

Es entstand ein unangenehmes Schweigen, bis Batrast es endlich unterbrach.
„Anna, ich unterstütze Geldor bei dem Versuch, Al-Amaris von der Herrschaft der Protektoren zu befreien. Wir hoffen, dich, wie bereits Salcia und Fiska, ebenfalls dafür zu gewinnen.“
„Warum willst du die Protektoren stürzen?“
„Ich habe meine Gründe“, antwortete Batrast ihr düster, „insbesondere mit dem Protektor in dieser Gegend.“
„Als Paladin ist es meine Pflicht, Menschen in Not zu helfen“, meinte Geldor etwas pathetisch. „Vielleicht benutzt du andere Ausrücke, doch ich bin mir sicher, dass du im Wesentlichen ebenso denkst.“
Anna wog zweifelnd ihren Kopf. „Sind die Menschen hier wirklich in Not? Verstehe mich nicht falsch, ich habe die Skrupellosigkeit dieses sogenannten Protektors selbst erfahren, aber vielleicht will die Bevölkerung es so. Wenn nicht, dann könnte es doch selbst die Protektoren abschaffen.“
„Nein, Anna, du weißt nicht, wie eine solche Herrschaft funktioniert! Die Bevölkerung will ganz sicher nicht die Protektoren. Das Essen, die Kleidung, die Waffen, all das stammt aus der Bevölkerung, sie unterstützen uns. Auch gibt es genügend Kämpfer, außer mir, dir, Salcia und Fiska stammen alle hier im Lager aus Al-Amaris“, erwiderte Geldor leidenschaftlich.
Salcia und auch Fiska nickten bestätigend.
„Das stimmt. Wo immer ich war, fast alle möchten aufbegehren“, meinte die Assassine.

Anna dachte eine Zeit lang nach, dann nickte sie. „Also gut. Ich denke noch einmal darüber nach. Aber wie sollte ich dabei helfen können? Ihr habt doch genügend Kämpfer.“
„Kämpfer ja, aber zu wenige Kommandanten“, antwortete Geldor. Er sah, wie Anna sich versteifte.
„Mir ist klar, dass du nicht unter meinem Kommando stehen willst, auch wenn ich hier der Ranghöchste bin“, sprach er weiter. „Daher biete ich dir ein eigenes Kommando an. Du kannst dann mit deinen Freunden und von dir ausgewählten Männern auf eigene Verantwortung handeln, ich würde lediglich verlangen, dass wir uns absprechen. Das ist mein Angebot an dich.“
Anna schüttelte sofort ihren Kopf.
„Ich weiß dein Angebot zu schätzen, Geldor, doch ich will keine Kommandantin sein.“

Geldor wirkte etwas verwirrt. „Warum nicht? Ich garantiere dir doch, mich nicht einzumischen.“
„Anna, wir brauchen dich!“, appellierte Salcia. „Ohne Menschen wie dir wird der Aufstand in Unmenschlichkeit, Chaos und Anarchie versinken. Es würde ein Blutbad mit offenem Ende geben.“
Anna schüttelte wieder ihren Kopf. „Ich kann nicht.“
„Warum? Doch nicht etwa wegen mir?“, fragte Salcia.
Anna nickte schwach und barg ihr Gesicht in den Händen. Die Anderen sahen Salcia fragend an.
„Kannst du es erklären?“, fragte Geldor.
„Nur, wenn ihr alle schweigt.“
Geldor und Batrast nickten.
„Erzähle es nur“, stimmte auch Anna zwischen ihren Händen hindurch zu.

„Anna war einmal bei einem Einsatz der Assassinen auch meine Kommandantin gewesen. Als die Gruppe in einen Hinterhalt geriet, eilte erst sie ihr zu Hilfe, dann ich. Dabei musste ich Annas Befehl übergehen, meinen Platz nicht zu verlassen. Sie konnte meine Verurteilung wegen Befehlsverweigerung nicht verhindern, wohl aber meine Bestrafung lindern, indem sie sie selbst vollzog“, erzählte Salcia.
„Sie hatte mir das Leben gerettet und dafür habe ich sie auspeitschen müssen!“, stöhnte Anna schmerzlich.
„Anna“, sagte Salcia leise und zog sanft die Hände ihrer Freundin aus deren Gesicht. „Es hat nie einen größeren Beweis von Verantwortung und Freundschaft gegeben! Ohne dich wäre ich entstellt worden.“
Anna blickt in ihr Gesicht. Nach dem stummen Zwiegespräch drückte Salcia ihr leicht die Schulter.

„Das habe ich nicht geahnt“, sagte Geldor betroffen. „Wenn du ablehnen solltest, dann verstehe ich das. Überlege es dir nur in Ruhe.“ Er machte eine bedauernde Geste.
„Allerdings ist heute Nacht eine Aktion mit Salcia geplant. Ich würde sie jetzt gerne verschieben, doch das geht nicht. Es sind genau genommen zwei Aktionen“, sagte Geldor. „Zuerst will Salcia den Wirt, der dich verraten hat, beseitigen.“
Anna drehte sich erschrocken zu ihrer Freundin um. „Du willst ihn wirklich umbringen?“
Salcia nickte ernst. „Es war nicht sein erster Verrat gewesen. Wir haben ihn zweimal gewarnt. Er macht das nicht aus Überzeugung, sondern aus purer Geldgier. Er hat einfach alle Grenzen überschritten und alle Warnungen ignoriert.“
„Aber jemanden einfach so töten, das kannst du doch nicht machen!“
„Anna, ich bin eine Assassine. Ich würde nie jemanden leichtfertig töten wollen, doch einen solchen Verräter beseitige ich gerne. Ich verstehe, dass du das ablehnst, du kommst aus einer anderen Kultur“, meinte Salcia. „Doch bitte respektiere auch meinen Standpunkt und meine Kultur.“

„Er hat noch ganz was anderes getan, Anna“, sagte Batrast ergänzend. Anna wandte sich ihm zu und er fuhr fort. „Er hat einen unschuldigen Bürger denunziert, nur um eine Belohnung einzustecken. Dieser Unschuldige soll deswegen morgen auf dem Marktplatz von Gom hingerichtet werden.“
„Deswegen also das Schafott!“, entfuhr es Anna.
Batrast nickte. „Ja, sie wollen ihn rädern. Verstehst du uns jetzt?“
„Ich möchte nicht ohne Not töten!“, flüsterte sie. „Ich kann euch verstehen, finde es aber immer noch nicht richtig.“
„Das verlangt auch niemand von dir“, sagte Geldor mitfühlend. „Salcia wird das ohnehin alleine machen. Du dagegen könnest diesen Gefangenen befreien.“
 
HUHU!

Großartig, ein Update!! Und ich bin wieder nicht enttäuscht worden. Schreib-Technisch weiterhin sehr schön und gefällig zu lesen.
Die Passagen mit wörtlicher Rede sind gut zu leicht zu verfolgen und auch stilistisch meist so, wie man es auch wirklich sprechen würde. Bravo!
Ausnahme hier: „Ich glaubte, wir wären Freunde geworden, doch es war Heuchelei, und in Wahrheit stand ich dir nur im Weg.“ - so spricht kein Mensch, naja ok, evtl. ein Pala mit dem berühmten Stock im A...nzug.

Der Part mit der Erinnerungsfindung war mir ein wenig zu platt. "Du heisst Anna" RUMS - alles wieder da! Da hätte ich mir einen Absatz mehr gewünscht.
Etwa: "Aus den hintersten Ecken ihres Bewusstseins drängten sich Gesichter, Namen, Orte hervor. Die Flut ihrer Erinnerung an Gedanken, Gerüche und Gespräche aus vergangenen Zeiten dröhnten in ihren Ohren. Sie sah ihre Eltern, den kleinen Hund, den sie zu ihrem 10. Geburtstag geschenkt bekam. Ormus, Ihr gestrenger Ausbilder - war auch er hier in diesem Irrsinn gefangen? Die Bilder verschwammen zu einem Wirbel aus Farben und Geräuschen. Und dann umfing sie die gnädige Dunkelheit einer Ohnmacht." Naja - ich bin kein Schriftsteller...

Was mir noch gefehlt hat sind die Erläuterungen, wo die Mädels und Jungens denn herkommen. Sie scheinen das Gebiet ja nicht zu kennen. Dann hätte ich Anna gegenüber einen Satz erwartet wie. "Wir scheinen in einem fremdem Land (Planeten, Dimension... ) zu sein".

Und wo ich grad so mit Schwung dabei bin: ANNA! Was ist denn das für eine Name, wenn die anderen Fiska, Salcia oder Geldor heissen. Da hat Sirtis besser gepasst. Naja, ich mochte den Namen... :cry:

So, bitte nicht verzweifeln! Ich hatte bisher nie was an der Geschichte auszusetzten und ich liebe sie!! Ehrlich! Schreib ja weiter!!


:hy: Insidias
 
Huhu Stalker,

klasse Update. Sehr schön.

dummer Fehler:
Fiska fuhr fort: „Doch ich erinnerte ich mich auch an meinen Sohn.

Dieser Gedächnisschwund wird geheilt, indem man die Person einfach an alte Dinge errinnert und irgendwann kommt alles?

mfg

Gandalf
 
Ein sehr schönes Update :)

Ein paar kleinere Satzfehler ( siehe die Sohn-szene, ein "mich" zuviel)
aber logisch und atmosphärisch stimmig, wenn man auch die Wiedererkennen-Szene hätte ausbauen können.

Unklar ist mir derzeit noch, warum alle in Al-amaris sind, insbesondere, woher die anderen wußten, dass Fiska, Salcia und - Anna- dort auftauchen würden.

Wo kommt die Gruppe her? Welche Interessen verfolgt sie?
Ist es die gleiche Welt, aber ein unbekannter Kontinent, eine neue Welt? irgendwie muss doch Geldor und die anderen dort hingekommen sein.

Das ist ein wenig unbefriedigend, aber ich nehme an, du hast deine Gründe dafür. Dieses Update wäre für meinen Geschmack der richtige Zeitpunkt, diese Fragen zu klären oder wenigstens eine Begründung einzubauen, warum diese Frage jetzt nicht geklärt wird(werden kann)


Interessant ist das Unausgesprochene zwischen Geldor und Anna. Was ist damals passiert? Nur Andeutungen. Aber das reicht im Moment.
Ebenfalls interessant ist die generelle Unbestimmtheit der Situation, nicht nur für Anna. Keiner scheint genau zu wissen warum er in Al-amaris ist und was als nächstes (im Großen und Ganzen) passieren soll ( aber sie sollten wissen, siehe oben, woher sie kamen), es gibt eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren, die drei Frauen selbst, die vielleicht noch nicht vollständig erinnern und Geldor, der vielleicht eigene Interessen verfolgt.

Spannend und gut, vielleicht eine Spur zu schnell erzählt.

Mach mal weiter :)

DV
 
Zuerst einmal Danke für eure Kritiken.

Die Textfehler gehen auf meine Kappe, da ich nach der Beta-Korrektur umfangreichere Änderungen gemacht habe.

Bei der Erinnerungszene war ich mir selber unsicher. Ursprünglich wollte ich sie länger machen. Dann wäre Anna zu je einem Stichwort die Erinnerung gekommen. Doch da in diesem Teil ohnehin soviel erklärt wird, habe ich dann die Kurzfassung gewählt, bei der die Erinnerung in einem Stück durch das Zusammentreffen mit Geldor kommt.

Warum alle in Al-Amaris sind, wo das liegt, usw. ist ein zentraler Punkt der ganzen Geschichte, es wird noch etwas dauern, bis da Licht reinkommt. Andeutungen möchte ich dazu keine machen, ich hoffe jedoch, bisher für alles eine Erklärung zu haben, da passen meine Beta-Leser schon auf. :D

Das mit Anna und Geldor ist dagegen kein Geheimnis, aber die Geschichte darüber ('Die Versuchung') ist schon etwas her. Kurz zusammengefaßt war es so:
Geldor brauchte eine starke Zauberin, um sie Belial zu opfern, was er natürlich verschwieg. Mit ihm gingen dann Meri und Anna. Meri wollte er opfern, Anna musste er dazu aber loswerden. Bei einem Kampf von Anna mit Banditen (bei dem Fiska befreit wurde), sah er unbeteiligt zu, in der Hoffnung, dass sie erschlagen würde. Später dann, als er wieder mehr unter Belials Einfluß stand, griff er Anna offen an und schlug sie nieder. Erst beim Opfer, für dass Geldor im Gegenzug ewige Jugend bekommen hätte, überlegte Geldor es sich anders, weil er sich in Meri verliebt hatte. Er verschwand damals spurlos.
Es ist nicht klar, welchen Anteil an diesem Verhalten Geldors von ihm selbst stammt und welcher von Belial.
Wie es Geldor nach Al-Amaris verschlagen hat und was er dort anstrebt weiß nur er. Vielleicht eine Art freiwilliges Exil, und er versucht so, seinen Fehler mit Meri und Anna gutzumachen?

Zum Namen noch. Anna ist ein typischer Barbarenname, ebenso wie Anne. :D
Sirtis ist natürlich auch ein schöner Name (übrigens der Nachname einer Schauspielerin von Star Trek).
 
Stalker_Juist schrieb:
....typischer Barbarenname, ebenso wie Anne. :D


:D Diese Bedeutung meines Namens war mir garnicht bekannt.

Ein abwechslungsreiches und schönes Update.
So viele Personen und Handlungsabschnitte zu vereinen, zeugt von Können und beträchtlichem Aufwand.
Das Lager hat sich allmählich aufbauendes Widerstandsflair, und ich bin sehr gespannt, wie du die geplanten Aktionen umsetzen wirst.
Weiter so :top:
 
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