Kapitel 5 – Mens Insana
Gerade, als mich ein kalter Schauer durchläuft, wird mir bewusst, dass ich äußerlich überhaupt keine Reaktion gezeigt habe: Ich kann nicht schauern...die kleinen, subtilen Bewegungen eines Zitterns sind diesem Körper völlig fremd. Aber ich verschiebe diese Beobachtungen mit Gewalt auf später.
„Was soll das heißen, pleite? Du bist reich!“
Er hat „wir“ sind pleite gesagt, aber was will ich mit Geld? Erneut erschrecke ich, wie wenig von meiner Ungläubigkeit in der tonlosen Stimme, die jetzt meine ist, durchscheint.
„Und jetzt waren wir es.“
Wir. Hm. Irgendwie finde ich es völlig unpassenderweise in diesem Moment schön von ihm, dass er mich wie selbstverständlich einschließt...er verzieht das Gesicht.
„Hratli zu überzeugen, mir zu helfen, war...schwierig, milde ausgedrückt. Es ist nicht nur die herzliche gegenseitige Abneigung, bei der ich mich leider auch nicht zurückhalten konnte, sie offen zu legen, auch liegt es vermutlich nicht nur daran, dass es sich sehr schlecht verhandelt, wenn man kaum reden kann, ich glaube, er ist einfach immer unverschämt überteuert. Das Material, der Sprachzauber...“
Er verstummt, der Schmerz in seiner Kehle offensichtlich. Etwas wie Verzweiflung überfällt mich, verbunden mit hilfloser Wut auf Hratli und...Schuld.
„Aber war das nötig, General? Hättest du nicht auf deine Genesung warten können und mich dann erneut aus Blut erschaffen können? Oder...warum nicht aus Ton?“
„Hast du dir die Erde hier schon mal genauer angesehen? Ich will keinen Humus-Golem. Und, schlimmer, du könntest nicht sprechen!“
Seine letzten Worte sind nur gekrächzt, und er winkt mich näher, jetzt heiser und eindringlich flüsternd, ein Glitzern in den Augen.
„Du fragst, ob das nötig war? Jetzt pass auf, denn ich habe einen Auftrag.“
Er packt mich schwach an den Schultern: Ich sehe zur Seite – oh, er hat einen gewaltigen Stachel ergriffen, der dort aus mir herauswächst – und lasse mich bis dicht vor seinen Kopf nach unten ziehen, sein Gesicht, voller neuer tiefer Linien, die Augen versunken und fiebrig, füllt meinen Blick. Durch zusammengebissene Zähne zischt er weiter.
„Ich liege hier seit zwei Wochen, Golem. Seit zwei verdammten Wochen! Ich hätte warten sollen? Ich habe gewartet, umgeben von Idioten, Arschlöchern und Wahnsinnigen in diesem Drecksloch unter Dauerregen und Schmerzen! Marius ist längst über alle Berge, Diablo und Baal uneinholbar, aber je länger ich hier ans Bett gefesselt bin, desto mehr sinken unsere ohnehin abgrundtiefen Chancen ins Bodenlose! Und das lasse ich nicht zu!“
Sein Blick wird flehend, und ich schlu- ...nein, ich kann nicht schlucken. Aber verdammt, zwei Wochen!
„Hol mich hier raus, Golem. Irgendwie. Geh in den Dschungel, töte Monster, finde einen Regenerationstrank. Finde heraus, ob einer dieser Irren fähig ist, mir zu helfen, und finde heraus, was ihr Preis ist, und wie wir ihn bezahlen können. Egal. Aber sorg dafür, dass wir weitermachen können! Wir dürfen jetzt nicht aufgeben! Und, Golem...“
Er zieht mich noch näher heran.
„Bleib mir mein Freund in dieser grünen Hölle. Nicht mal Deckard schaut regelmäßig vorbei, und ich habe. Sonst. Niemand...“
So sanft ich das kann ohne wirkliches Gefühl in den Armen lege ich sie um ihn, die Dornen vorsichtig verdrehend.
„In Kurast wuchert der Dschungel des Wahnsinns, General. Denk an meine Worte: Er soll brennen.“
Er lässt sich ins Bett fallen, als ich ihn loslasse, weil ich bemerke, dass ich wohl ziemlich kalt bin, und kichert rau.
„Die wohl emotionsloseste emotionale Szene aller Zeiten...Himmel, du hast es auch nicht leicht, oder? Was hat Hratli nur für ein Verbrechen bei deiner Stimme begangen...“
„...solange du weißt, wie es gemeint ist.“
„Immer, mein Freund, immer. Jetzt geh, und finde eine Lösung. Du hast freie Hand. Aber komm wieder, und...pass auf dich auf, ja?“
Ich würde lachen, aber keine Luft füllt meine Lungen. Es ist zu komisch. Ich, aufpassen...jetzt? Ich bin Stahl.
„Haha. Wir sehen uns. Ich gebe mein Bestes.“
Ich wende mich schnell ab, als sein Lächeln voller Wehmut wird, während ich mein Lachen notgedrungen und ohne Freude ausspreche. Die Tür ist nah, ich fliehe durch einen Blättervorhang.
Draußen regnet es – natürlich. Niemand ist zu sehen. Vor mir führt ein Holzsteg auf eine Steinplattform, wohl Alles glitschig durch die ständige Nässe. Ich mache ein paar Schritte – ja...rutschig...aber nass...?
Ich hebe meine Hand und lasse die Tropfen hineinprasseln. Das Wissen, dass sie auf der Fläche landen, ist da, und auch, wenn ich mich abwende, spüre ich den unregelmäßigen Fluss. Aber es ist kein Gefühl...es ist nur das Bewusstsein der Berührung. Es ist nicht kalt, nicht feucht. Es ist. Das ist Alles.
Womöglich wird sich Blut genauso anfühlen. Flüssig. Aber nicht feucht. Und nicht warm. Werde ich es bemerken, wenn es auf mir trocknet? Nein. Sicherlich nicht.
Kein Seufzer entweicht aus meinen...nicht Lippen, nein. Ich hebe die Hand, von der mir nur die Logik sagt, dass sie nass ist, halte inne, bevor sie mein Gesicht berührt. Will ich es wissen? Aber ich muss.
Ich fahre mit einem Finger über ein festes, eckiges Kinn. Mein Mund...mein Mund ist nicht offen. Ich kann ihn nicht öffnen. Ich kann überhaupt Nichts an meinem Gesicht verändern. Ein Vorhang nur aus Metallstreifen, aber ohne Lücken, ohne Weg nach innen, verschließt ihn. Undurchdringlich.
Keine Nase, die hatte ich nie. Die Augen...meine Hand versperrt den Blick des rechten. Ich befühle es. Keine Reaktion, kein Verändern meiner Sicht. Eine glatte Schale, das ist jetzt mein Auge, in dem keine Gefühle mehr stehen können. Kein Bedauern, keine Angst. Keine Freundschaft.
Ich hatte immer nur Höhlen, immer waren da diese schwarzen Löcher, in die die Leute nicht blicken wollten. Jetzt...jetzt führen sie nicht mehr in mich. Jetzt ist mein Inneres komplett abgeschottet, ich bin eine harte Schale, und habe keinen Kern.
Ich möchte die Augen verschließen, aber es geht nicht. Ich konnte es allerdings auch noch nie. Keine Lider, in keiner Form – bis jetzt habe ich es nicht vermisst. Kurz presse ich mir die Hände davor – aber das Bild wird nicht dunkel, nicht unscharf, es bleiben die stählernen Oberflächen klar sichtbar. Sofort reiße ich sie wieder herunter.
Ein Klopfen dringt an keine Ohren, als ich über den Steg laufe, Metall auf Holz, gedämpft. Es klickt eindeutiger, als Stein unter meinen Sohlen liegt. Gibt es spitze Exemplare unter mir? Ja. Stören sie mich? Nein. Ich bemerke sie, aber – Nichts. Kein Schmerz. Kein Grund, meine Geschwindigkeit zu ändern. Kein Grund zur Vorsicht.
Da, ein Mensch im Freien: Zwei Menschen, einer erst verdeckt. Der erste ist einer, den ich schon einmal im Vorbeilaufen gesehen habe, kurz, als wir Marius nachjagten. Mein Gedächtnis ist auch nach meinem Formwechsel noch perfekt. Er hat eine Glatze und Falten in seinem dunkelhäutigen Gesicht, das mit roten Tätowierungen, die zackige Muster formen, übersät ist; Ohrringe, Fingerringe und grell farbige, wenngleich nun klatschnasse, orange-gelbe Gewänder geben ihm ein seltsames Erscheinungsbild vor der grau-grünen Kulisse. Er hat einen langen Stab mit einem gewaltigen goldenen Ornament auf der Spitze, auf den er sich aber nicht stützt, und blickt versonnen ein kleines Steinpodest neben dem Leuchtturm an. Er ignoriert mich, und ich ihn. Weit interessanter ist die zweite Person: Deckard Cain, der, ähnlich versonnen, den Mann in Farbe betrachtet. Seine grauen Roben passen perfekt in die Umgebung, nur sein weißes Haar lässt ihn sich deutlich vom Hintergrund abheben. Schon früh schreckt ihn das Geräusch meiner Schritte aus seinen Studien; er stutzt, als er mich sieht, dann lächelt er. Sofort geht es mir besser.
„Golem! Hat Alles funktioniert?“
„Mehr oder weniger...Deckard, sagt ehrlich. Wie sehe ich aus?“
Sein Lächeln schwindet und ich stähle mich.
„Dein Erscheinungsbild ist...beeindruckend. Stacheln auf den Schultern, dein Rückgrat hinunter, der ganze Körperbau gedrungen und breit wie üblich, als hättest du gewaltige Muskeln. Dickere Arme und Beine als bisher, und insgesamt sehr schlicht, obwohl dein Brustkorb ein wenig so modelliert ist, als hättest du eine Rüstung an, die aus Knochen besteht.“
Ich kann nicht zusammenzucken, aber ich mache einen guten Versuch. Scheiße, wenn ich das so sagen darf. Metallknochen. Kein Wunder, dass der Zweite so viel stärker geworden ist...
„Der Hals ist sehr kurz, aber du kannst deinen Kopf trotzdem gut bewegen, oder?“
Einen Versuch ist es wert; nach oben, nach unten, zur Seite, schief legen...ja. Geht, nicht wirklich, was ich agil nennen würde, aber Nicken funktioniert immerhin...
„Ja, dein Hals ist segmentiert, ein großes Gelenk, eigentlich ganz geschickt gelöst, ich denke, recht viel tiefer könnte der Kopf nicht sitzen, wenn du noch beweglich bleiben willst. Aber das ist nicht, was du hören willst, oder?“
Ich nicke langsam.
„Dein Gesicht...es ist nicht, sagen wir, einladend. Ein Grill als Mund, keine Nase, Kinn wie ein Hammerkopf. Glatte Augen ohne Pupillen oder Ähnliches. Keine Ohren, keine Haare, aber große Stirnwülste. Ein eingebauter Helm, im Grunde.“
„D...Danke. Ich versuche später, einen Spiegel zu finden...“
Mir fällt auf, dass mich das bisher noch nie interessiert hat...und will ich das jetzt wirklich? Der letzte – und erste – Spiegel, in den ich geblickt habe, hat mir den Zweiten gezeigt.
„...aber ich bin zu taktlos...wie geht es Euch?“
„Mir ist kalt und ich bin nass, aber ich lebe. Definitiv gut, also. Sag mir...möchtest du nicht wegen deiner Stimme mit Hratli reden? Deine alte war so schön und deine Sprache besser als die von Vielen, die weit länger gelebt haben als du.“
Das Kompliment beschämt mich, aber wieder scheitere ich an der Ausdruckslosigkeit dieser Hülle, meine Gefühle ordentlich zu tradieren. So schüttele ich nur den Kopf.
„Zu viel der Ehre. Nun, mit Hratli zu reden möchte ich, wenn irgend möglich, vermeiden.“
Deckards Lächeln nach seinen aufmunternden Sätzen schwindet.
„Ja, ich hörte, euere Truhe ist ein wenig leichter geworden...“
Ich folge seinem Blick; die metallbeschlagene Holzkiste steht an einer Wand des Leuchtturms. Er schüttelt den Kopf.
„Auch ich habe mit Hratli geredet, aber er war nicht von der Wichtigkeit deiner und des Generals Mission zu überzeugen. Nur das Gold zählt für ihn.“
Ich würde gerne Ärger aufsetzen, aber...verdammt. Das ist so schrecklich. Betretenes Schweigen herrscht zwischen uns; ich will Nichts sagen, aber ich kann sonst Nichts tun, um mich auszudrücken...dann deutet Deckard mit seinem Stab zu meinen Füßen.
„Immerhin scheint die Aura im Preis inbegriffen gewesen zu sein.“
Aura...? Ich starre nach unten, was nicht leicht ist, da mein Brustkorb im Weg ist, aber tatsächlich – um meine Füße bewegen sich zwei Bögen, Kreise, denen ein Segment fehlt, nicht konzentrisch, verschlungen; und mit Stacheln besetzt. Sie leuchten blassgelb. Das...das sind die Dornen, die den Zweiten besiegten! Sie sind real?
Deckard spricht weiter, mit dem Kinn auf den anderen Menschen in Sichtweite deutend, und senkt dabei seine Stimme so sehr, dass ich ihn über das Rauschen des Regens kaum hören kann; der andere sicher nicht.
„Du könntest dich ja mit Ormus hier mal darüber unterhalten, vielleicht kennt er sich mit Auren besser aus als ich, die sind nicht wirklich mein Fachgebiet. Kannst du dir nämlich vorstellen, dass diese schillernde Erscheinung ein Magier ist?“
Dieser alte Kerl in seinen irren Klamotten, auf den Deckards Stab nun weist...na ja, eigentlich...
„Wenn sogar Hratli sich Zauberer schimpfen darf, dann kann ich mir das vorstellen, ja.“
Der Weise der Horadrim wird belebter und beginnt, zu gestikulieren beim Sprechen.
„Ich hatte Gelegenheit, ein wenig mit ihm zu reden, und trotzdem habe ich ihn nicht darauf angesprochen, aber seine Tätowierungen sprechen eine eindeutige Sprache: Er ist ein Taan, ein Orden noch älter als der meine, der aber eigentlich schon länger in der Bedeutungslosigkeit versunken ist.“
Ich lege den Kopf schief, ein wenig verwirrt. Deckards Stimme wird verschwörerisch.
„Die Taan waren große Heiler.“
Jeder nicht-Muskel meines Körpers schießt in aufmerksame Lage. Das ist interessant.
„Ich wäre allerdings vorsichtig, mein Freund.“
Oh?
„Ormus scheint nicht daran interessiert, dass seine Kräfte offenkundig werden. Niemand hier weiß davon, dass er magiebegabt ist, und darum sprach ich ihn auch nicht darauf an. Bitte achte darauf, wem du hier welche Informationen zukommen lässt. Du bist Unehrlichkeit nicht gewohnt, aber hier in den Docks laufen Strömungen fernab jeder Sicht, die schnell zu einer Springflut werden könnten. Und wenn hier die zwischenmenschlichen Dämme brechen...dann sieht es schlecht aus für den letzten Rest der Überlebenden von Kurast.“
Unbeweglich steht mein Körper im Schauer, als ich das erst einmal auf mich einwirken lasse. Ja, der Dschungel beherrscht hier Alles. Und der Wahnsinn. Je weiter wir nach Osten kommen, desto mehr haben wir anscheinend nicht nur von den äußeren Dämonen zu fürchten, desto mehr treiben auch unsere inneren ein Spiel mit uns. Auf den Fußspuren des Bösen folgen Neid, Missgunst und Gier – oder sind diese schlicht immer vorhanden, geboren aus urmenschlichem Grundegoismus, und werden nur verstärkt durch die immer verzweifelter werdende Situation?
„Golem, warum so still? Erschüttert dich das so sehr? Denke daran: In der Not erkennt man seine Freunde. Und ich werde euch immer einer sein.“
„Danke, Deckard. Lasst das auch meinen Meister wissen. Auch dafür Danke, für Alles und...ich...muss nachdenken.“
„Keine Ursache, Golem. Lass dich nicht unterkriegen. Ich weiß, dass du stark bist.“
Ja...ich weiß das auch. Ich bin unbesiegbar. Verdammt! Eine undurchdringliche Hülle, kalter Stahl, emotionslos! Ich bin hart. Keine Unze Schwäche in mir. Wollte das der Zweite nicht? Ha, er hat seinen Wunsch. Und mich macht es kaputt.
Aber nein. Nein, ich werde nicht zerbrechen. Dieser Stahl muss schmelzen lernen!
Die physischen Monster können über ihn nicht siegen. Und auch die psychischen haben keine Macht über mich!
Ach? Das werden wir ja sehen.