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[Story]Tausend Jahre

Moinsen:>
Wie stets danke für eure Kommentare. Stil und Inhalt von 'Tausend Jahre' sind sicherlich alles andere als jedermanns Sache, daher freut es mich, dass die Story euch soweit gefällt.
@Segan & Liska: Dann hat das lustige Rätselraten bezüglich der Charaktere also schon eingesetzt *g*. Ich denke allerdings, sehr geheimnisvoll hab' ich's nicht gemacht.
Neues Kapitel kommt bald.
LG, Reeba
 
Reeba schrieb:
Moinsen:>
Wie stets danke für eure Kommentare. Stil und Inhalt von 'Tausend Jahre' sind sicherlich alles andere als jedermanns Sache, daher freut es mich, dass die Story euch soweit gefällt.
Der Stil ist wirklich gravierend anders als bei den bisherigen Geschichten von Dir, aber ich finde, er passt hervorragend zu dieser Geschichte. Aber auch wenn es sehr ungewohnt ist, eine Geschichte im Präsenz zu lesen, man gewöhnt sich daran. Und genau wie bei Deinen anderen Geschichten bist Du wieder sehr präzise, was die Umgebungsbeschreibung und die Beschreibung der Charaktere angeht.

Originally posted by Reeba @Segan & Liska: Dann hat das lustige Rätselraten bezüglich der Charaktere also schon eingesetzt *g*. Ich denke allerdings, sehr geheimnisvoll hab' ich's nicht gemacht.
Also bei drei der bisher vier vorgestellten Personen habe ich einen ziemlich starken Verdacht. Bei der vierten bin ich mir noch nicht ganz so sicher...

.. ich freu mich auf das neue Kapitel :read:
 
Ich fang doch schon mal mit dem Raten an:

Raoul => Barbar (offensichtlich)
Celeste => Amazone oder Zauberin (ich neige zum ersteren, aber ich frage mich was der Kommentar des Elementariers im Polizeirevier zu bedeuten hat)
Jeremiah => Paladin (passt zu jemandem, der das Heil sucht, und Magier gejagt hat)
Elisa => Assassine
Stephen => Bleibt nur noch der Nekromant übrig (Drogen sind bekanntlich Rauschgrifte, und Gift ist die Spezialität des Nekro)

Der Druide fehlt da... :(


Aber vielleicht bekommen wir später noch einen dazu.
 
Segan schrieb:
Ich fang doch schon mal mit dem Raten an:

Raoul => Barbar (offensichtlich)
Celeste => Amazone oder Zauberin (ich neige zum ersteren, aber ich frage mich was der Kommentar des Elementariers im Polizeirevier zu bedeuten hat)
Jeremiah => Paladin (passt zu jemandem, der das Heil sucht, und Magier gejagt hat)
Elisa => Assassine
Stephen => Bleibt nur noch der Nekromant übrig (Drogen sind bekanntlich Rauschgrifte, und Gift ist die Spezialität des Nekro)

Der Druide fehlt da... :(


Aber vielleicht bekommen wir später noch einen dazu.

Wenn ich dann mitraten darf? Ich würde Celeste als Amazone einordnen, da eindeutig von blondem Haar gesprochen wurde. Und ich dachte immer, nur die Amazonen wären blond. Ansonsten stimme ich mit Dir überein.
 
Wie gesagt, ich neige dazu, Celeste als Amazone zu betrachten, da vor allem wegen ihrer ungewöhnlichen Körpergrösse und ihrer blonden Haaren geschrieben wurde. Nur dieser Kommentar vom Elementarier verwirrt mich.

Ich frage mich, ob das alles Nachkommen der Protagonisten aus Saqqara sind. Wohl eher nicht...
Sind wahrscheinlich alles Leute, die auf die eine oder andere Art mit den Klassen verbunden sind, die in alter Form so nicht mehr existieren...
 
Klingt seehr interessant...

Neugieriger als die Erkennung der Charaktere machen mich Fluch/Gabe der sehr speziellen Unsterblichkeit, die wohl nur sehr vereinzelte Personen erwischt hat. Mal sehen, ob die (B)engel wirklich alle brav waren beim letzten Mal.

Du scheinst den Film "Blade Runner" sehr zu mögen - dann gibr's diesmal wohl kein Happy end, aber bis dahin viele Kapitel, oder ?
 
@Reeba
Sehr gute Geschichte! Echt mega geil ... der Stil gefällt mir sehr gut, genauso die Art wie du die Welt aufbaust, sehr sehr gut :top:

@Chars
Also ich denke dass Celeste auf jedenfall eine Amazone ist, weil dort steht noch was:
"Aber ob sie sich wieder in Gold kleiden würde, so wie früher?"
Das kommt der Amazone doch schon sehr nahe.
 
Sehr interessant, meine Süße! Und überaus spannend!

Dein Stil hat sich sehr geändert, es freut mich, dass du dich immer neuen Herausforderungen stellst (und sie selber suchst :) )

Ich bin sehr gespannt, ob diese neue Welt wirklich so düster bleibt, wie sie scheint :D


Und *winke-winke* an alle meine alten Bekannten!
 
Richtig getippt soweit @alle.
@Systemerror: Du auch hier, fein. Logo vermutest du richtig. Aber ich denke, kaum eine düstere SciFi kommt an Blade Runner vorbei.
Wieder danke für die Comments und huhu an alle Neuen.
@Insidias: Ja ich werd verrückt, wer ist das denn? :>
 
IV. Vorbereitungen




Irgendwann nachts beginnt es zu regnen.
Die Tür zur Terrasse steht offen. Trotzdem habe ich keinen ankündigenden Wind bemerkt. Es geht einfach los, ohne Donner, nur mit einem lautlosen Aufseufzen der lastenden Schwüle, und Sekunden später stürzt Wasser vom Himmel. Ich höre die Tropfenvorhänge auf den Stein prasseln.
Ich drehe den Stuhl herum, vom Papierkram abgelenkt, sitze, die Hände im Schoß und vor mir, draußen, eine Wand aus Regen. Er wird keine Abkühlung bringen. Er ist schwer und zudringlich wie nassgeschwitzter Brokat.
Hinter den Wasservorhängen blinzeln die Lichter der Stadt. Asanctar widersteht den regionaltypischen Regenfällen mit der stoischen Geduld eines Urwaldgeschöpfs – eine der wenigen Seiten, in denen es sich noch eine Art alterloser Würde bewahrt hat.
Es braucht diese melancholischen Momente, den Schlaf der Vernunft, damit ich mich daran erinnern kann, dass ich diese Stadt wirklich geliebt habe. Nicht bedingungslos. Bedingungslose Liebe ist nichts, das mir liegt.
Aber meine Zuneigung Asanctar gegenüber – das, wenn ich es personifiziere, und dazu neigen wir Menschen offenbar, einem verzogenen Kind gleicht – kommt 'Liebe' noch am nächsten. Der Regen draußen beschwört Bilder herauf: Das mühselige Aufrichten der ersten Pfeiler im Morast, die störrische, später erfolgreichere Trockenlegung des schlammigen Bodens.
In diesen vergangenen Tagen war der langsam wachsende Fladen Stadt noch von aufrichtiger Schmutzigkeit, eine Siedlung zwischen Kriegsfronten, wackelig, aber kühn errichtet auf ins Erdreich gepressten Asphalt. Der Stolz, sie trotzdem entstehen zu sehen, hätte Verpflichtung sein können – für unverdorbene, vor Idealen platzende Männer.
Ich habe die Chance kommen und gehen lassen. Ich war ein Rabenvater, einer, der sagt: Du wirst es schon packen, und doch weiß, dass es sich dabei lediglich um eine Äußerung der Bequemlichkeit handelt.
Die Vergeltung musste auf dem Fuße folgen. Asanctar gehört mir zu weiten Teilen, das ist wahr – durch Wertpapiere, Fabriken, Hospitäler, Banken, Wohngebiete und Tavernen, die ich besitze. Aber es hat sich mir entzogen, ist unberechenbar, unkontrollierbar geworden aus tausend und einem Grund.
Da müsste schon wieder ein Krieg kommen oder ein Aufstand, damit jemand die Massen erneut lenken kann. Natürlich mit Gewalt. Freiwillig ließen sie sich ihr zweckloses, sorgfältig verplantes Dasein nicht nehmen, eingelullt von der Illusion der Freiheit, wie sie sind.
Sie wollen es nicht anders. Sie wollen keine lästigen Fragen danach, wohin der Karren der Menschheit eigentlich unterwegs ist.
Und selbst ein Umwerfen der Dinge - aller Dinge – würde wenig ändern. Es würde die Massen nur zusammenraffen, während weit über ihnen ein paar Auserwählte das Steuer in die Finger kriegen, um es, wie schon häufiger geschehen, direkt Richtung Abgrund herum zu werfen. Und dann? Der Karren, riesig jenseits jeder Vorstellungskraft, die schwitzenden Mengen vor sich an den Zugseilen und neben sich und zwischen seinen Rädern, würde kippen, stürzen, die Zugtiere mit sich reißen.
Ich stehe auf.
Auch die alten Völker, denen eine Führung der gesamten Menschheit vielleicht zuzutrauen gewesen wäre, sind längst entmachtet, ausgedünnt, ganz gleich ob durch offene Verfolgung oder schleichende Auflösung im Strom der Klassenlosen. Das Zeitalter des Ebers, des Bullen oder der Schlange ist vorbei. Die Ratte regiert.
Knopfdruck.
„Raghu“, sage ich in das Gebäudeinterkom. „Meine Räume. In zwanzig Minuten.“
Die Antwort muss nicht abgewartet werden.
Er wird ohnehin froh sein, gleich los rennen zu können. Er ist so stolz auf seine Pünktlichkeit, darauf, dass ich ihn in siebenundsechzig Jahren kein einziges Mal zu tadeln hatte.
Während sich Raghu hundert Stockwerke unter mir mit flatternden Gewändern in den Aufzug wirft, trete ich auf die Terrasse hinaus.
In Sekundenbruchteilen bin ich nass bis auf die Haut.
Der Regen fällt senkrecht und so dicht, dass ich die Brüstung in der Dreiecksspitze eben ausmachen kann, und auch das nur dank der neuen Augen.
Manchmal bin ich noch erstaunt. Mein Körper hat sie nicht abgestoßen.
Dabei stellen sie, genau genommen, einen Fremdkörper dar, und Unverwundbarkeit war an und für sich Teil der „Belohnung“, wie sich ziemlich rasch gezeigt hat. Damals.
Andererseits kann unsere Verbesserung nur im Interesse des Schenkenden gelegen haben. Um sicher zu gehen, habe ich die alten Augen eigenhändig entfernt, klugerweise, obwohl das keine besonders erfreuliche Erfahrung war. Selbstaufrüstung als Hintertür zwischen erfolgloser Gewalteinwirkung von außen und Selbstmord. Es war vermutlich keine Absicht, aber es hat einen makaberen Witz.
Wasser überschwemmt die Terrasse, steht schon einige Zentimeter hoch. Die Abläufe kommen nicht hinterher. Obsidian glänzt matt.
Auf drei Seiten stehen die Bänder erleuchteter Fensterquadrate. Hinter ihnen zieht verwischt ein Lichtfleck vorbei, wirft mit nebligen Kegeln aus Helligkeit um sich: Ein großer Reklamegleiter.
Unten in den Straßen rennen sie jetzt, um sich in Tavernen und Unterstände zu retten, dazwischen fluchende Händler, die ihre Ware hektisch in die kleinen Buden zerren. Die tragbaren Häuschen aus leichtem Metall haben sich nicht durchgesetzt.
Nein, da sind sie störrisch, meine Landsleute: Buden müssen aus Holz sein.
Der alte Geschmack überwiegt.
Ich warte, ohne zu wissen, auf was. Das Wasser rinnt mir übers Gesicht, über den Leib, bis in die Unterbekleidung. Da bekomme ich plötzlich Lust, zu lachen.
Schade. Eine Zigarette wäre jetzt willkommen.
Stattdessen lege ich die Unterarme auf die sprühende Brüstung und denke an die Anderen.
An Celeste, die ihr Pflichtbewusstsein mit der Nase voran in die Asche einer offensichtlichen Wiederkehr gestoßen hat, wie es immer schon das Schicksal ihrer Klasse war. Unzählige Jahrhunderte über haben die Frauen von Varda, die Mütter der Schwestern des Sichtlosen Auges, die Hügel und Marschen des Westens bewacht.
Celeste wird sich jetzt sicher kaum zu helfen wissen vor Anspannung. So ist das mit ihr und den Ihrigen. Die Zeit nagt nur langsam am Wirken einer kriegerischen Weiblichkeit.
Jeremiah wird gründlich zweifeln. Das andauernde Umherwaten in gelehrten Schriften und dünnen Heilsgesängen verkrüppelt die Gabe der Prophetie, sogar bei ihm. Zakarum ist ihm durch die Finger geglitten, und ich weiß nicht, ob sich die wilde Verzweiflung bei unserem letzten Treffen in standesgemäße Sammlung oder in weiche, innerlich weinende Müdigkeit verwandelt hat. Ich wünsche ihm nichts Böses, ihm, den die geringeren Fußtruppen bewundert haben wie einen Himmelsfürsten. Er hätte es verdient, im Zwielicht dieser selbst fabrizierten Glorie zu sterben.
Von Raoul habe ich klarere Spuren. Raoul wird hoch schrecken, auf ihn ist Verlass. Ihn bedaure ich womöglich am meisten. Einen, dem nach dem Sieg über die damalige Bedrohung ein ehrenvoller Tod zugestanden hätte, ein Dahinscheiden im Kreis seiner Enkel und Urenkel, die seine Lenden schon gelagert hatten. Aber an Raoul wurde vielleicht das größte Verbrechen verübt. Er hatte nichts weiter im Sinn als das bescheidene, geschlechtliche Fortbestehen seines Andenkens.
Danach gehen meine Gedanken endlich zu Elisa.
Ich lecke mir das Regenwasser von den Lippen und muss jetzt tatsächlich lachen – über eine Feindschaft, die so alt ist wie das Datum unserer ersten Begegnung. Da haben sie in verborgenen Wehrtürmen und Grotten eine kleine Armada krachschwarzer, biestiger, scharfzüngiger Kämpferinnen heran gezüchtet, und der erste Heermeister, auf den ihre Entsandte stoßen musste, war ich.
Unser gemeinsamer Weg: Ein nimmermüdes Geprügel aus Wortgefechten und verweigertem Gehorsam. Unser Verhältnis: Voll einer schlecht kaschierten, finsteren Neugier. Und kurz vor der ganz simplen Erlösung, unterhalb eines Steinplateaus im Hochland der nördlichen Barbaren, dann der finale Kampf.
Danach gab es vorerst nichts mehr, nur hastig getrennte Wege und das Verlieren in einer Welt, in die uns eine Lichtgestalt unmissverständlich den Pfad zeigte. Backen zusammen kneifen und weiter im Text.
Die Gnade des Verlustes war uns nicht vergönnt. Kaum zwei Jahrzehnte nach Diablos und Baals Niederwerfung mussten die Brackwasser nachfolgender Kriege um Land und Vorrechte die alten Figuren wieder an die Oberfläche spülen.
Wir haben nicht schlecht gestaunt. Und nicht lange.
Sanktuario kann ohne Krieg nicht leben.
Man sieht es an Asanctar, am Moloch einer vergebens weichgeredeten und geordneten Welt.
Generationen von Friedensdenkern und Gesetzesvätern müssen in ihren Gräbern liegen und sich die modrigen Haare raufen angesichts dieses vollständigen, grandiosen Versagens aller besseren menschlichen Eigenschaften.
Als ich mir auf die Brust schaue und entdecke, dass mein klatschnasses Hemd bereits abzufärben beginnt, kehre ich der Stadt den Rücken.
Raghu wartet in zwanzig Schritten Abstand vor meinem Schreibtisch.
Er ist ein kleiner, dürrer, gebeugter Kurasti mit langem Bart und fast kahlem Schädel – eine lebendige Ausgabe der weisen Männlein, die so gern auf den Wandbildern eleganter Osttavernen dargestellt werden.
Wie stets, wenn wir uns begegnen, verbeugt er sich tief.
Dann schaut er auf, richtet Schlitze uralter Augen auf mich.
„Maswami“, stößt er hervor, „du wirst dich erkälten.“
Ich wische mir das Wasser aus dem Gesicht, während es von mir auf den teuren Boden tropft, und muss ihn dieser Bemerkung wegen kurz über meine Hand hinweg mustern.
Raghu zuckt. Nach einer Sekunde.
Seine von Hunderten feiner Falten gemaserte Miene drückt Erschrockenheit und die Bitte um Vergebung aus.
„Sei nicht albern“, sage ich und gehe die Stufen der Bodenteilplattform zu ihm hinunter. Unterwegs streife ich mir die nassen Sachen vom Leib. „Du entwickelst doch nicht etwa auf deine alten Tage noch einen Sinn für Humor?“
„Nein, Maswami“, antwortet er hastig und ohne eine Spur von Erleichterung darüber, dass ich ihn vertraulich angesprochen habe.
Ich versuche es immer wieder. Es klappt nie.
Alles, was sich direkt mit ihrer Person befasst, ist aus dem Munde eines Anderen für die klassischen Kurastis vertraulich. Und, wenn dieser Andere über ihnen steht, so ungewohnt, dass sie es aus lauter Verwirrung ignorieren.
Dieser greise Kerl ist mir näher als sonst einer meiner engeren Untergebenen. Er weiß das. Dennoch wird er sich niemals unüberlegt ein Wort erlauben, das meine Handlungen, mein Äußeres, meine Reden oder meinen Zustand zum Inhalt hat.
Ich könnte ihm auf der Stelle eröffnen, dass ich es für nötig befunden habe, seine Enkeltöchter und Enkelsöhne vor Stunden umbringen zu lassen, und alles, was ich zu hören bekäme, wäre ein: Ja, Maswami.
Ich könnte ihm befehlen, sein Tempelgewand auszuziehen und darauf zu urinieren, und er würde mich nur ansehen und leise erwidern: Nein, Maswami. Dann würde er abwarten, ob ich sonst noch etwas wünsche, und falls nicht, den Raum verlassen.
In beiden Fällen würde er sich, sobald er allein ist, das Leben nehmen, entehrt, erschüttert, gedemütigt. Aber trotzdem: Ja, Maswami. Nein, Maswami.
Er ist der perfekte Bedienstete.
Und da fragen sich manche Leute allen Ernstes immer noch, warum Sanktuario in die Hände der Menschen aus dem Osten übergegangen ist.
Raghu verbeugt sich erneut, als ich mich ihm auf fünf Schritte nähere. Nicht, weil ich jetzt nackt bin.
Mich kümmert es nicht, ihm gilt es als Marotte eines Wesens, das sich außerhalb der sonstigen Kreaturen in dieser Stadt bewegt und daher auch nicht mit gewöhnlichen Maßstäben beurteilt werden darf.
Wir stehen voreinander, er gehorsam abwartend, ich im Überlegen begriffen.
Ich schaue über die Schulter zurück auf meinen Schreibtisch. Dahinter stäubt der lauwarme Regen durch die offen gelassene Terrassentür.
Doch, es muss sein.
„Heb meine Sachen auf“, weise ich Raghu an und betrete den Nebenraum durch die sich von selbst aufschiebende Wand.
Als ich im Leibmantel zurückkomme, hat Raghu die nassen Kleidungsstücke in Ermangelung einer besseren Möglichkeit auf den Stufen des Raumes ausgebreitet. Fein säuberlich.
Nun steht er wieder da, reglos, die Hände in die einander entgegengesetzten Ärmel seines Gewandes gesteckt.
Ich mustere ihn aus dem Augenwinkel, während ich mir ein Glas Wein einschenke.
„Trink auch etwas“, sage ich.
„Aber -“, setzt er an.
„Das ist keine Einladung, Raghu. Trink etwas.“ Ich stelle ein zweites Glas bereit. „Du wirst es brauchen.“
Jetzt habe ich ihn soweit, dass er den Kopf zu mir dreht, obwohl sein Blick mir weiter ausweicht. Ich kann sehen, wie es hinter der dunklen, gewölbten Stirn zu arbeiten beginnt. Rasch werden da nun anstehende Unternehmungen der 'Sutre'-Korporation, mögliche Anlässe zu meiner Unzufriedenheit im Geschäfts- oder Personalbereich und politische Angelegenheiten aufgerufen. Doch gleich darauf muss sein altes, hundertprozentig unfehlbares Gehirn bemerken, dass es nichts gibt, zu dem noch eine Entscheidung offen stünde, und er fängt an, sich zu wundern.
„Was darf ich dir einschenken, Raghu?“, unterbreche ich diesen sichtlichen Prozess des Aufhorchens scharf.
Dass wir in diesem höchsten Raum des Turms zusammengesessen und uns die Nacht um die Ohren geschlagen haben und ich ihn dazu bewegen konnte, ein geistiges Getränk zu akzeptieren, ist in siebenundsechzig Jahren vielleicht drei- oder viermal vorgekommen.
Raghu entscheidet sich für denselben Wein, den ich trinken werde. Wäre es mit Wasser verdünnter Wundalkohol, hätte er auch keine Einwände.
Wir setzen uns einander gegenüber an den Schreibtisch, Raghu auf einen massiven Lehnstuhl, den ich ihm herantrage, weil er körperlich nicht mehr die Kraft dazu hat. Sitzend wirkt er winzig – ein uraltes, gebrechliches Kind, und ich muss ihn wieder einen Moment lang mustern.
Zuneigung und das Wissen um enorme Fähigkeiten sind keine ausreichenden Gründe für die Vererbung eines Imperiums.
Das haben mir zwei über mehrere Dekaden hinweg probehalber durchgeführte Versuche bewiesen.
Kein Mensch ist dazu in der Lage, 'Sutre' zu leiten. Selbst die aussichtsreichsten Kandidaten hatten zu viele Makel.
Das Altern.
Familiäre oder sonstige Bande. Selbst der abgebrühteste, intelligenteste Dreckskerl hört auf, nur dem Notwendigen verschrieben zu sein, wenn ihn der Gott des Herdentriebs kitzelt. Ob es im Bett einer glutäugigen Halbweltdame, durch eine moralische Erschütterung angesichts eines verstümmelten Saccanam-Abhängigen oder wegen der Begegnung mit einem tot geglaubten Jugendfreund geschieht, ist unerheblich.
Dasselbe gilt für Skrupel, wankende Überzeugungen, Gewissenskonflikte und jegliche Form körperlicher und geistiger Ermüdung.
Als der weiteren Produktion gewisser Grundstoffe für bewusstseinsverändernde Substanzen die klimatischen Veränderungen im bisherigen Anbaugebiet nahe Kurast entgegenstanden und sich abzeichnete, dass zur Rettung nämlicher Produktion – Grundpfeiler für etwa vierzig Prozent des Profits asanctarianischer Firmen – das gesamte Stadtterrain geschleift werden musste, gab es aus heiterem Himmel Stimmen im Wirtschaftsrat, die plötzlich empört aufschrien. Travincal sprengen, den alten Hoheitsbereich der Zakarum dem Erdboden gleichmachen, für ein paar Wetterwandlerfabriken? Niemals, hieß es da. Und die Tatsache, dass erwähnte Metropole längst nicht mehr bewohnbar war und man sämtliche Tempel bereits vor Jahrzehnten abgetragen und verkauft hatte, fand keinen Einlass in die erhitzten Gemüter.
Jedenfalls nicht bis zum Entscheid des Obersten Rates, der sich genötigt sah, einzugreifen, um seine auf einmal gefährdeten Pfründe zu retten, was eine rasche und nachdrückliche Neuverteilung der Sitze im Wirtschaftsrat zur Folge hatte. Das, und an die sechshundert bei Straßenprotesten getötete Bürger Asanctars.
Geschichtliche 'Verpflichtungen'. Klassen und Herkunft übergreifendes Allgemeinerbe. Zögern, das die Märkte erschüttert, Marktstürze, die Ratskrisen und das Durchsickern von Informationen nach sich ziehen, Obrigkeitsschwankungen, die Menschen dazu bewegen, auf Plätze zu stürmen und sich erschießen zu lassen. Wegen eines ausgestorbenen Steinareals zwischen Feldern am anderen Ende der Welt, das sie nie gesehen haben und mit dem sie nicht das Geringste verbindet.
Raghu nippt an seinem Wein.
Ich ziehe meinen offenen Leibmantel an der Brust zusammen, schiebe Raghu einen Stapel Papiere hin, lehne mich zurück und schlage die Beine übereinander.
„Lies das“, sage ich. „Gründlich, und wenn es geht, möglichst mindestens bis zur Hälfte. Eile dich nicht. Wir haben noch vier Stunden Zeit.“
Er gehorcht.
Es ist still, nur der Regen trommelt unablässig auf die Terrasse.
Beim Lesen des zweiten Blattes verfehlt Raghus Hand, die das kurz zuvor zum Mund geführte Glas abstellen will, um ein Haar die Tischplatte. Sachtes Klirren. Dünnes Rot schwappt fingernagelgroß auf poliertes Holz.
Er schaut auf.
„Sag ruhig deine Meinung.“ Ich verschränke die Arme. „Dieses eine Mal.“
Sekundenlang schluckt er, rutscht sacht auf dem Stuhl herum, zögert, lässt seine Schlitzaugen unbeholfen tanzen und schlingern. Fast unter körperlichen Qualen, so scheint es, zwingt er sich dann den einen Satz ab.
„Du bist wahnsinnig geworden, Maswami.“
Ich fühle, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet, so echt, dass die für Mimik zuständige Muskulatur wahrscheinlich gar nicht weiß, wie sie plötzlich zu dieser Ehre kommt.
Raghu sieht mein Lächeln und begreift.
Nur einmal huschen seine Augen auf das Blatt, das seine verdorrten Hände ein Stück weit über dem Stapel halten. Nur einmal kehren sie daraufhin zu mir zurück, aber das Lächeln ist noch da.
„Keine Sorge“, sage ich. „Sämtliche Angestellte innerhalb dieses Turms werden sicher sein. Jedenfalls für eine angemessene Dauer, die reichen sollte, damit sich die Dinge wieder beruhigen.“ Ich nicke zu den Papieren hin. „Und jetzt lies weiter. Womöglich liegt der Stichtag bereits innerhalb dieser oder der kommenden Woche. Es gibt viel zu tun.“




Am Mittwoch Morgen weckt mich wie üblich ein Jünger, kurz nach der vierten Stunde.
Während ich am Marmorbecken der kleinen Gebetszelle neben meinem Privatraum die rituellen Waschungen durchführe, legt der junge Mann mir Stabfackel, Robe und Schlüsselkasten bereit, stellt eine Schale mit Brot dazu und verschwindet so geräuschlos, wie er gekommen ist.
Er hat keinen Namen und darf ausschließlich sprechen, wenn die höheren Brüder ihn etwas fragen oder das Rezitieren heiliger Texte es notwendig macht. Seinen alten Namen hat er mit der Aufnahme in die Wartebruderschaft verloren. Den neuen, dann einzigen, einzig wichtigen, sowie seine Rederlaubnis wird er nach der ersten Weihe erhalten.
Zu jeder pflichtenfreien Zeit, so auch jetzt, da ich mich ankleide und frühstücke, hat er in der Zitadelle auszuharren.
Dort ist es jetzt noch fast dunkel.
Ich wüsste gern, ob der Jünger das Licht der Stadt, das in der Zitadelle wie auch hier durch die viele Meter über dem Boden eingelassenen Fenster herein fällt, ebenso störend findet wie ich. Es klebt an den massiven Wänden, fahl, manchmal gleißend, wandernd, wenn in den umliegenden Straßen ein Gleiter vorbei schwebt. Es ist künstlich, zudringlich, so wie diese ganze Stadt, die aus ihren raren freien Plätzen bedrohte Lichtungen im Stein macht.
Schwarzer Wald meiner Träume.
Die Kontemplation dauert eine halbe Stunde.
Mit den Gedanken nirgends, aufgespalten in einen Körper, der weder sein Gewicht noch die Härte des Bodens unter den Knien mehr fühlt, in ein langsamer schlagendes Herz und in ein entleertes Bewusstsein, zähle ich mit geschlossenen Augen meine Atemzüge.
Ich brauche keine Uhr.
Ich brauche auch keine innere Sicht mehr, die Räume, Zitadelle und Platz um mich aufschichtet. Ich weiß: Wenn sie kommen, werden sie sich mir vorher ankündigen.
Wie die blökenden Menschenmassen auf den Stufen draußen, zur Zeit des Dritten Asanctarianischen Glaubensedikts.
Fünf Jünger schon platt getrampelt, bevor wir zur Menge sprechen konnten, als die erzenen Türen endlich aufgeschoben waren. Kochender Platz, dräuend tief hängende Bäuche von Polizeigleitern, Lichtkegel. Regen, Dampf erhitzter Leiber. Ich habe das Wort an sie gerichtet. Nur die vordersten Reihen hörten zu, oder hörten überhaupt etwas, denn die Wellen stimmlicher Entrüstung waren gewaltig. Erst als der Steinbrocken geflogen kam, hatte ich dann ihre Aufmerksamkeit.
Für zwei, drei Tavernengeschichten wird es gereicht haben. Für mehr war es nicht gut.
Die alten Wunder tragen sie noch zu fett im Blut, wie eine Schicht die wachen Sinne verschleiernden Schleims. Von den neuen Wundern werden sie überrannt.
Deshalb schauen sie weg, blinzeln blöde, suchen nicht mehr, beten nur noch für Wettzahlen und zu östlichen Göttern, die pralle Geldbörsen prophezeien. Deshalb haben sie aufgehört, das Offensichtliche zu sehen.
In der Robe, die Stabfackel in der Linken, den Pfortenschlüssel um den Hals gehängt, gehe ich in die Zitadelle.
Das Licht aus den Unterdachfenstern ist ein Gitter, macht die Höhe des Raums und seine Ausdehnung begreiflich: Eine noch überwiegend finstere, leere, hallende Marmorweite. Gerät blinkt zweideutig.
Der Namenlose kniet nahe der linken Wand, den Kopf gesenkt, die Hände über die Ohren gelegt. Aber es ist nicht wegen der Lichter und Geräusche der Stadt. Er ist ihr Sohn, ihn bekümmert nicht, was ich nicht loswerden kann.
Er spürt meine Gegenwart und blickt auf. Sein gefälliges Gesicht ist geduldig, warm gespannt vor Zuneigung, ja vor Anbetung. Aber es ist nicht wegen mir, nicht wegen des Mannes, der vor ihm steht, der Hülle, des atmenden Haufens scharfzahniger Bedürfnisse – nur wegen dem, was ich verkörpere, was ich innehabe.
Meine Hand zuckt in Lust, ihn zu schlagen. Vielleicht könnte ich ihn aufwecken.
Der ferne Schrei verkümmert.
Stattdessen reiche ich ihm den Pfortenschlüssel. „Sperr auf, Junge.“
Er nimmt den Schlüssel an sich und küsst ihn.
Ich warte, bis seine erfreut beschwingten Schritte ganz vorn im Zitadellensaal zu kleinen Geräuschen abklingen. Dann entzünde ich die Stabfackel am Becken der Ewigen Kohle und beginne, die Wandleuchter abzuschreiten. Punkt um Punkt echter Helligkeit zieht erst eine Gerade, dann eine Biegung aus Lichtquellen um den ungeheuren Raum.
Draußen die unverständlich in Häuserschluchten zerschellende Durchsage eines Reklamegleiters, Sirenen, über Gehsteige geschleift, schlaflose Dunkelheit. Unsere Wandleuchter glimmen still dagegen an, Kerzen zwischen Neongirlanden. Jeden Morgen wieder.
Die entleerende Wirkung der Kontemplation nimmt ab. So wie der Namenlose sie schon untergraben hat, werden in einer Stunde vier weitere Namenlose, oder vielmehr durch das Tragen vieler geliehener und erlogener Namen namenlos Gewordene, sie unterwandern.
Ich schlage die Himmelsgeste vor dem großen Altar und hasse mich dafür, denn meine fehlende Sammlung degradiert sie zu einer Schutzbewegung, ähnlich jener, die die alten Kurastis gegen den 'bösen Blick' verwenden. Mein Herz pumpt unregelmäßig, Blut schießt durch erweiterte Venen, durch erregbarere Körperteile unter der Robe. Hitze kriecht vom Hals in die Fleischwände über zusammengebissenen Zähnen.
Soll ich in den Privatraum zurückkehren, dort weiter beten? Eine Stunde noch.
Das wäre eine armselige Flucht, nun da ich mich von Stephen schon dazu habe breitschlagen lassen, dem Treffen die Zitadelle zur Verfügung zu stellen.
Stephen.
Ich wende meine Gedanken ruckartig von ihm ab. Dass ich ihm überhaupt wieder begegnen muss, ist schlimm genug.
Ich bleibe am Altar.
Ausharren ist mein Fluch. Ich kann also genauso gut hier warten.
Mindere Brüder beginnen wie jeden Morgen damit, den weißen Boden zu fegen, bemerken mich, doch natürlich ohne eine offen verwunderte Reaktion. Ihre immer gleichen, exakt vorgeschriebenen Bewegungen – sonst, wie Vieles aus unserem Verhaltenskodex, ein besänftigender Anblick – kommen mir heute stupide und wirklichkeitsfern vor.
Erwartung höhlt mir die Routine aus, und das sollte mich ärgern. Stattdessen grabe ich in mir und finde, ich weiß nicht, was. Nervosität. Gleichmut. Vielleicht beides.
Was es auch ist, es lässt die letzte Stunde viel zu schnell verstreichen.




Vor dem Atma schließe ich meine Lederjacke und steige über einen Betrunkenen hinweg.
Grauhelle kriecht zäh in die dunkle Kuppel über Asanctar. Es hat geregnet, und zwar nicht zu knapp. Das Straßenpflaster glänzt wächsern. Abläufe dampfen. Von Schildern und Dachkanten rinnt es beständig.
Asanctar ist nicht bloß die Verzerrung aller je von Menschen geschaffenen Siedlungen, es war auch erfolgreich darin, Kräfte der – zugegebenermaßen schon ziemlich waidwunden - Natur aufzuheben.
Lass den Himmel sein Wasser auf rußbedeckte Heere, verkohlte Hütten, selbst auf den Auswurf großer Städte schütten, es wird den Schmutz mit sich nehmen.
Nicht hier. Hier staut sich das Wasser verwirrt auf lückenlos zugekleistertem Grund, und das Einzige, was dem Abfall widerfährt, ist, dass er schwimmen lernt.
Längs des meterbreiten Gehsteigs, den ich in östlicher Richtung hinunterschlendere, kleben fluchende Männer an den Gleitern der Müllbeseitigung. Sie bedienen Greifarme, die Dosen, Plakatreste, Glas und undefinierbare Massen zusammen schieben, oder laufen im Heckausstoß der Gefährte herum, Zigaretten in die bleichen Gesichter gesteckt.
Einstige Gerber haben voller Neid auf die Schlachter innerhalb der Dorfgrenzen geschaut.
Jetzt lauschen die Müllbeseitiger voller Neid auf die Geschichten vom letzten Gerber Asanctars und begreifen nicht, was der groß zu bedauern wäre, Häute bearbeiten, Scheiße, sofort würd ich das machen, der hat noch gewusst, dass Kuhpisse ihm die Hände zerfrisst und nicht irgendein Dreckszeug, von dem ich nicht mal den Namen aussprechen kann. Und nur wer die Hände dieser Männer gesehen hat, erzählt ihnen dann vielleicht noch, dass nämlichem Gerber ein umgeworfener Stuhl unterm Strick lieber war als die zweifelhafte Naturverbundenheit seiner Profession, weil er andere Sorgen hatte als Kuhpisse oder den Abfall seiner und kommender Zeiten.
Die Stunden der Dämmerung sind die ruhigsten in Asanctar.
Die Stadt schöpft Atem, kauert sich weg, hebt den Kopf von der Theke und verlangt nach scharf aufgebrühtem Kaffee oder hat ihre kleinen Pausen hinterm Lager, wo die Kollegen zusammenstehen und rauchen. Zwielicht – Zwiesprache mit dem Gewissen.
Zumindest die Tempeldiener scheinen das zu glauben, darum sperren die Häuser der zwei Dutzend Religionen meist jetzt ihre Türen auf.
Die ruhigsten, aber auch die schmutzigsten Stunden.
Ich gehe langsam.
Ich muss nachdenken, und dabei betasten meine Augen mit einer so neuen Wachsamkeit, dass meine Finger beim Anzünden einer Zigarette zittern, die Gestalten, die mir entgegenkommen.
Sie sind eine Perlenkette und eine schorfige Wunde. Hochhackiges, Langbeiniges, laufendes Geld, das zwischen nächtlicher Ekstase und Rückzug noch ein bisschen 'authentisches' Camever abgreifen will. Aber auch Verhüllte, sich an den Hauswänden entlang Drückende, glasige Augen unter Kapuzen hervor, schlurfende Fortbewegung, bitterer Gestank schon jenseits von Schweiß.
Vor einem Kräuterladen bekommt ein hochgewachsener Mann in Begleitung zweier Prostituierter mehr Authentizität geliefert als erbeten, als ihm ein aus dem Laden Taumelnder auf die Schuhe kotzt.
Meine Laune hebt sich. Grinsend werfe ich dem armen, taumelnden Hund ein Zwanzig-Cisma-Silberstück zu.
Der besudelte Mann macht einen unüberlegten Schritt in meine Richtung, dann schaut er genauer hin, an mir hinauf, während die treulosere der zwei Prostituierten sich bereits auf die andere Straßenseite gerettet hat.
„Komm nur“, sage ich liebenswürdig zu ihm, bleibe vollends stehen, im Ohr das Würgen des Bettlers, der sich aufgrund der Anstrengung des Bückens nach dem Silber noch einmal erbricht. „Tu mir den Gefallen.“
Er tut mir den Gefallen nicht.
Vier, fünf Straßenecken weiter rücken die Häuserreihen auseinander. Die Stadt drängt gierig in den geschaffenen Raum. Man muss sich den Hals verrenken, um bis zu den Spitzen der umstehenden Türme hinauf zu sehen, die sich schon jetzt in frischen Dunst wickeln. Glas, das durch Rauchgrau flimmert. Gleiter mit Sondergenehmigung umschwirren Stahlkolosse.
Mein ungewohntes Hochgefühl vergeht. Die schwindelnd hoch aufgetürmten Materialien ringsum machen mich klein. Geben mir zurück, was ich bin, und das ist kein Besucher, der mit distanziertem Interesse durch die Setzkästen Asanctars spaziert.
Zweimal habe ich den Versuch gestartet, zu entkommen.
Im teuer erkauften Winkel des Frachtraums eines Langstreckengleiters schafft man es, sagen die Schieber an den drei Lufthäfen, bis nach Gholein, vielleicht sogar bis an die südlichere Küste, zu den Salzlagunen.
Beide Male mussten scheitern.
Wer in Ierissea gesessen hat, braucht keinen Kenncode zwischen den Schulterblättern und auch keines dieser winzigen, elektronischen Dinger, die sie denen dort heutzutage an die Halsschlagader schießen. Nein, ein Aufenthalt in Ierissea brennt sich deinem Äußeren ein, du weißt nicht womit oder wodurch, aber sie erkennen es, vor allem die Handlanger des Menschenschmuggels, und weisen dich ab.
Ich bin noch nicht weit genug, um deshalb in den höchsten Turm zu kriechen.
Die Gestalten der Anderen.
Nebelhaft mischen sie sich unter den Passantenstrom, zum abertausendsten Mal, und Einer schaut sich womöglich über die Schulter nach mir um. Lächelt liebenswürdig, so wie ich eben, liebenswürdig und voll einer schon in Versteinerung übergegangenen Übersättigung, die sich nicht mehr erbrechen lässt.
Die sich nie hat erbrechen lassen.
Ich male mir nicht aus, was ich tun muss, wenn die Zeit, unsere Zeit, wirklich gekommen sein sollte.
Man darf einem Halbverhungerten kein Bratenstück auftischen, sonst stirbt er daran.
Passender Weise tragen mich meine Stiefel in diesem Augenblick um die letzte Ecke.
Menschenschlangen schäumen längs des Straßenquadrats. Fronten starren finster und silbern von oben herab. Gleiter schwärmen wie metallene Aaskäfer.
Aber in der Mitte, seltsam unangetastet, als gäbe es da eine unsichtbare Grenze oder einen Bannkreis: Ein Platz, und auf diesem erhebt sich die Zitadelle.
Weder ihre Größe noch ihre Wuchtigkeit kommt an die kurastischer Tempel heran. Doch sie ist weiß, wohingegen sich jene Bauten in ewigem Steinschwarz gefallen, und Weiß ist eine sehr seltene Farbe in Asanctar.
Ich kontrolliere die Zeit anhand eines der etwa zwölf Reklamemonitore, die rings um den Platz an den Häuserfronten haften. Zehn Minuten noch.
So lange braucht ein schneller Jäger für die Umrundung der Stadt unter dem Arreat. So lange dauert es, bis das Lieblingsgift der Heermeister aus den östlichen Sümpfen einen starken Organismus atmungsunfähig gemacht hat.
Wieder zittern meine Finger, an der Straßenecke, ein paar hundert Schritte vor dem Gestern und dem Heute.
Die Menschen weichen mir aus. Ich kneife die Augen im Zigarettenrauch zusammen und weiß nicht, wonach ich eigentlich Ausschau halte. Dann gehe ich los.
 
Sehr schön ... ich kann es kaum erwarten, mehr zu lesen :)
 
*gleich beginne zu lesen*


Systemerror schrieb:
Klingt seehr interessant...

Neugieriger als die Erkennung der Charaktere machen mich Fluch/Gabe der sehr speziellen Unsterblichkeit, die wohl nur sehr vereinzelte Personen erwischt hat. Mal sehen, ob die (B)engel wirklich alle brav waren beim letzten Mal.

Du scheinst den Film "Blade Runner" sehr zu mögen - dann gibr's diesmal wohl kein Happy end, aber bis dahin viele Kapitel, oder ?

Nur mal am Rande, da ich offenbar nicht aufmerksam genug gelesen habe: wo wird dieser Fluch/Gabe erwähnt?
 
Hach, auch bei dem neuen Schreibstil hast Du eine Unart noch nicht abgelegt: Cliffhänger :cry:

Wieder ein wunderbares Kapitel, in dem Du in Deiner intensiven Art die Charaktere näher beleuchtest. Du machst es aber auch spannend ;)
 
Genial


Die Gegenwartserzählung, Stiel und Atmosphäre ist genial. Sehr dicht und sehr spannend.


Hoffentlich rauchen nicht alle Deine Charakter. Es gibt ja noch genug andere Laster.



Othin
 
@Liska: Cliffhanger müssen sein xD
@othin: Welcome aboard und thx. Rauchen tun nur Stephen und Raoul. (Oder baue ich schon Laster ein, ohne es selbst zu merken? ... Scherz.)

Tröt, Reeba
 
Ich melde mich auch mal wieder aus dem Untergrund zurück^^

Bis jetzt habe ich die Geschichte mit großem Interesse gelesen, und dadurch hat sich mir die Frage gestellt ist das vielleicht ganz zufällig wieder eine Fortsetzung von Der Gipfel der Welt/Saqqara? =)

Bei einigen Textstellen kommen mir Paralelen in den Sinn

Wie auch immer

Sei weiter so produktiv und Toy,Toy,Toy von mir

mfg Lordamul
 
Moin lordamul,
nein, das ist keine Fortsetzung von Saqqara. Die wird es geben (wenn ich mal auf meinen Ringblockstapel gucke), aber dann wieder mehr so Richtung 'klassische' Fantasy.
Schön dass du auch dabei bist. Und thx für die Produktivitätswünsche :>
 
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