ScorAnny
Guest
Aloha!
Ich habe die ersten Teile meiner Story mal etwas überarbeitet und poste nun die "Verbesserte" Version in einem Rutsch bzw. wegen der Größe in den beiden ersten beiden Posts.
Ich werde alle meinen anderen bereits bestehenden Posts auf - editieren, löschen kann ich sie ja nicht... Also, viel Spaß beim Lesen und ich freue mich auf Feedback!!
Reise nach Tykarhast
Prolog
Rückblickend frage ich mich manchmal, ob ich mir alles nur eingebildet habe, ob dieses Abenteuer nur ein Produkt meiner Phantasie ist, ob es Alaundrel jemals wirklich gegeben hat, ob ich je in Tykarhast gewesen bin...
Zuweilen ertappe ich mich dabei, wie ich gedankenverloren aus dem Fenster blicke; dann sehe ich draußen nicht etwa den weiten, gepflasterten Hof, der von efeuberankten Mauern eingefasst ist - vor meinen Augen erscheint vielmehr ein längst vergangener Anblick, und meine Erinnerung beschwört das Bild einer trostlosen, weißen Ebene herauf, über der ein Schneesturm tobt. Dann meine ich, wieder den scharfen, eisigen Wind zu spüren, der mich so lange begleitet hat, dass ich ihn wohl nie vergessen werde.
Aber ich greife vor. Gehen wir zurück zu jenem lauen Frühlingstag, an dem vor 3 Jahren alles begann...
Erstes Kapitel
An jenem Tag war zunächst nichts Besonderes: Ich war wie üblich früh aufgestanden, hatte die Tiere versorgt und war nun im Stall damit beschäftigt, eins meiner Pferde für den täglichen Ausritt fertig zu machen.
Ich liebte die stille Abgeschiedenheit, in der ich seit einigen Jahren lebte, hier konnte ich meinen eigenen Gedanken nachhängen und musste mich nicht an gesellschaftliche Zwänge und Regeln halten - kurzum, ich war frei und genoss es in vollen Zügen.
Ich wollte gerade den Sattel von seiner Halterung nehmen, da wurde es plötzlich dunkel. Ich wandte mich um und sah zur offenen Stalltür, durch die noch vor wenigen Augenblicken die warme Frühlingssonne geschienen hatte. Nun konnte man draußen nur noch ein seltsames Zwielicht erkennen, und ein kalter Windhauch fuhr hinein und ließ mich frösteln.
Ich zog meinen Reitmantel enger um mich und ging langsam zur Tür.
Kein Laut war zu hören, als ich aus dem Stall trat, sämtliche Geräusche des Frühlings waren verstummt. Ich ging über den Hof, um eine Laterne aus dem Wohnhaus zu holen. Das Gefühl von unbekanntem Grauen, das mich zugleich mit der Dunkelheit überkommen hatte, verdrängte ich hartnäckig.
Doch ich kam nicht bis zum Haus. Auf halbem Wege rutschte ich aus und fiel - der ganze Hof war plötzlich von einer dünnen Eisschicht überzogen. Ich fluchte und richtete mich auf, als ich plötzlich in der Bewegung erstarrte: Unmittelbar vor mir ragte eine Gestalt auf vor einem Himmel, der nun begann, Schneeflocken auf uns niedergehen zu lassen. Rasch wurde das Schneetreiben so dicht, dass ich kaum die ausgestreckte Hand der Gestalt erkennen konnte. Das Grauen, das ich bereits fühlte, ließ sich nun nicht länger unterdrücken, um ehrlich zu sein, es überrascht mich, dass ich mir damals nicht vor Angst in die Hose machte. Ich war nicht gewillt, diesem unheimlichen Fremden
noch näher zu kommen, und so stemmte ich mich mühsam aus eigener Kraft hoch. Ich wollte schreien, weglaufen, doch ich war wie gelähmt vor Schreck und Kälte.
Dann sprach die Gestalt, und ihre Stimme klang ganz und gar nicht unheimlich, als sie in barschem Tonfall sagte: "Wie lange willst du da noch herumstehen, Frau? Ich fände es angenehmer, dir im Haus alles zu erklären, also beweg dich!"
Es war eine ganz normale Männerstimme, das erkannte ich, obwohl ich seit Jahren keinem Mann begegnet war, und obwohl mir sein Befehlston nicht gefiel, musste ich ihm doch zustimmen - in der Eiseskälte, die hier draußen inzwischen herrschte, konnte ich es in meinen dünnen Sommerkleidern kaum noch aushalten, ich hatte bereits eine Gänsehaut am ganzen Körper und in Kürze würden mir wahrscheinlich Eiszapfen aus der Nase wachsen.
Auch erschien mir die ganze Situation inzwischen nicht mehr halb so unheimlich wie noch vor wenigen Augenblicken, und ich kam mir ziemlich albern vor, wie ich da stand. Trotzdem jagte der fremde Mann mir irgendwie Angst ein - wenn man lange alleine lebt, wird man eben sehr misstrauisch...
Doch ich riss mich zusammen und beschloss, mir zunächst anzuhören, was er zu sagen hatte. Aber wenn er versuchen sollte - nein, dachte ich, bleib ruhig. Und so ging ich zum Haus, der Fremde folgte mir.
Drinnen entfachte ich ein Feuer im Kamin, denn draußen herrschte noch immer tiefschwarze, eisige Finsternis, in der die herabfallenden Schneeflocken gespenstisch leuchteten.
Als die lodernden Flammen den Raum mit wohliger Wärme und behaglichem Glanz erfüllten, nahm ich mir die Zeit, den Mann näher in Augenschein zu nehmen. Er hatte seinen Reisemantel abgelegt, und darunter sah er wahrhaftig nicht unheimlich aus: Er trug ein einfaches, wappenloses Wams, Lederhosen und ein Schwert, dass sicher schon bessere Tage erlebt hatte. Dazu derbe Stiefel und Handschuhe, die er jetzt abstreifte, um seine Hände über dem Feuer zu wärmen.
Zweites Kapitel
Ich muss ihn ziemlich angestarrt haben, denn er meinte spöttisch: "Meinesgleichen kommt hier draußen wohl nicht sehr oft vorbei, oder?"
Das ärgerte mich gründlich, meine eben erlangte Gefasstheit war sofort wieder wie weggeblasen, und ich erwiderte aufgebracht: "Allerdings, so etwas Unverschämtes wie ihr ist mir lange nicht über den Weg gelaufen, und wenn ihr euch nicht beherrscht, werdet ihr gehörigen Ärger bekommen!" Er sah mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Belustigung an, was mich noch mehr ärgerte, deswegen setzte ich nach: "Zufällig ist Heute der Tag, an dem die Klosterpatroullie ihren Rundgang bis hierher ausdehnt, also seid auf der Hut!" Das war eine schamlose Lüge, denn die Patroullie des nahen Klostergehöftes bestand zum einen nur aus einem alten Priester, der auf den umliegenden Höfen seinen Segen verteilte und den Kranken Trost spendete; und zum anderen machte er seinen Rundgang zwar regelmäßig, aber zu mir kam er eigentlich nie - ich brauchte weder seinen Segen noch seinen Beistand, und das wusste er. Tatsächlich hatte ich außer dem Bauernweib, das mich regelmäßig mit Essen und allem Nötigen versorgte, seit Monaten niemanden mehr zu Gesicht bekommen - ich war ja gerade deshalb in diese entlegene Klostergemeinde gezogen, um Niemanden mehr sehen zu müssen.
Ich bin eine ziemlich schlechte Lügnerin, und der Fremde hatte mich wohl sofort durchschaut, denn nach einem verdutzten Schweigen lachte er schallend los und rief: "O ja, du hast sicher lange überhaupt Niemanden gesehen, sonst wärst du keine so schlechte Lügnerin!"
Zu meinem noch größeren Ärger bemerkte ich, wie ich rot anlief: Er hatte mich ertappt. Er wusste, dass ich hier ganz alleine lebte und auch Niemand kommen würde. Jetzt könnte er mit mir machen, was er wollte - aber ganz so einfach sollte es dieser dreiste Kerl nicht haben!
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und sagte, scheinbar resigniert: "Jaja, schon gut. Wenn ihr euch also an mir vergehen möchtet, bitte, versucht es nur. Aber ich werde es euch nicht leicht machen!"
Und mit diesen Worten ergriff ich rasch den Schürhaken, der neben dem Stuhl lag, sprang auf und wollte mich auf den Mann stürzen. Er aber hob abwehrend die Hände und rief: "Nein, nein! Lass das sein, du Furie, ich versichere dir, ich bin aus einem anderen Grund hergekommen!"
Und mit einem gekonnten Griff entwand er mir den Schürhaken und hielt mich gleichzeitig fest. Ich zappelte noch ein wenig, dann wurde mir peinlich bewusst, wie albern ich mich schon wieder verhielt, und ich bedeutete ihm, mich loszulassen. Ich setzte mich wieder, und er nahm mir gegenüber am Tisch platz. Offensichtlich wollte er mich also nicht überfallen, und ich schämte mich ein wenig wegen meiner ungestümen Art, die mich schon so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Nun, ich hatte ihn schließlich hereingelassen, und ich wollte ja auch wissen, warum er hier war. Ich sah ihn unsicher an.
Er lächelte, und obwohl es mir nicht passte, spürte ich, wie mir schon wieder das heiße Blut in die Wangen schoss. Ich räusperte mich verlegen und sagte: "Also, ihr wolltet mir etwas erklären?"
"Ja, doch zunächst möchte ich mich vorstellen, wie es sich gehört. Mein Name ist Joran von Siltos, ich war einst ein Paladin vom Orden des Tykar. Und du, pardon, ihr seid sicher Larina, Tochter des Iarus, richtig?"
"Ja, so ist es", erwiderte ich, verunsichert durch seine plötzliche Höflichkeit. Ein ehemaliger Paladin? Mich interessierte sofort, was dahintersteckte, doch meine Neugier würde warten müssen Dass er wusste, wer ich war, obwohl wir uns nie begegnet waren, verwunderte mich nicht weiter, denn seit ich der großen Stadt Karus und ihrem Treiben entflohen war, kursierten dort die wildesten Gerüchte über mich; immerhin war ich die älteste Tochter des Seneschalls und mein Verschwinden unerhört.
"Was wollt ihr nun von mir, Joran von Siltos? Seid ihr vielleicht hier, um mir zu erklären, was es mit diesem verhexten Wetter auf sich hat?", fuhr ich fort und blickte missmutig in das Schneetreiben vor dem Fenster.
Joran runzelte die Stirn und meinte: "Über das Wetter kann ich euch nichts sagen, es überraschte mich genau so wie euch. Auf dem Weg hierher wurde es plötzlich kalt und dunkel; mein Pferd ging durch und warf mich ab, weiß der Geier, wo es sich nun herumtreibt - ich hoffe, es findet den Weg nach Hause." Sofort überkam mich Mitleid mit ihm, ich selber liebte die vier Pferde, die ich hier für das Kloster pflegte und versorgte, mehr als alles andere. Vielleicht war dieser Mann ja doch nicht der Wüstling, für den ich ihn anfangs gehalten hatte...
Joran stöhnte leise, und erst jetzt bemerkte ich, dass er verletzt war: Eine lange Wunde zog sich über seinen Schwertarm, das Wams darüber war zerfetzt. Ich sprang auf. "Ihr seid ja verwundet! Wartet, ich kenne mich etwas in der Heilkunst aus, Ich werde euch versorgen." Er grinste schief und sagte spöttisch: "Solange ihr die Wunde nicht mit dem Schürhaken behandelt, bin ich euch dankbar für jede Hilfe!"
Das ärgerte mich fast schon wieder. Aber ich riss mich zusammen und suchte alles heraus, was ich zum Verarzten brauchte, saubere Tücher, einige Heilkräuter, etwas Salbe; in meiner kleinen, flachen Bauernhütte hatte ich alles, was man dazu brauchte. Hier draußen ereignete sich selten etwas spannenderes als der Wechsel der Jahreszeiten, und so hatte ich genug Gelegenheit, meinen Haushalt mit allem möglichen auszurüsten. Nachdem ich alles bereitgelegt hatte, hängte ich einen Kessel mit Wasser über das Feuer, um einen reinigenden Sud zu kochen.
Drittes Kapitel
Während ich hin- und herlief, Kräuter in den Topf warf und alles vorbereitete, erzählte mir Joran, warum er eigentlich gekommen war:
"Ich stand seit langem im Dienst eures Vaters, des Seneschalls. Er sprach oft von euch, seiner verlorenen Tochter, und stets tat er es mit Bitternis in der Stimme. Eure Mutter weinte häufig, sie sehnte sich so nach Versöhnung und Frieden mit euch -" ich rührte gerade den Sud an, aber als Joran so von meinen Eltern sprach, fuhr mir die kalte Wut durch die Glieder. Ich unterbrach meine Tätigkeit und fuhr herum. "Seid ihr vielleicht gekommen, um mir meine Lebensgeschichte zu erzählen?", fiel ich ihm ins Wort, "ich weiß wahrhaftig gut genug selber, was geschehen ist! Hat mein Vater euch auch erzählt, warum ich fort ging? Dass er mir eine Ehe aufzwingen wollte, nur weil der Brauch es so wollte? Dass ich mit sechzehn Jahren von meiner Familie, meinen Freunden, meinem Leben fortgerissen werden sollte, um Kinder zu gebären, obwohl ich selbst noch ein halbes Kind war? Dass er mich schlug und drohte, mich zu enterben, ja gar aus der Stadt zu verbannen!?
Nein, dass alles hat er euch sicher nicht gesagt, denn ein Seneschall hat ja keine Familienprobleme, nicht wahr? Nur deshalb bin ich die verlorene Tochter, nicht, weil ich mich versündigt hätte! Ich habe ihm nie Schande gemacht, aber er konnte mich niemals akzeptieren, wie ich war - ich war zu wild, zu freidenkerisch, zu rebellisch, und deshalb sollte mich die Ehe zähmen und meinen Willen brechen! Meine einzige Schuld war, dass ich nicht die Frau eines ekligen, alten Großfürsten werden wollte!!" Ich bebte vor Wut.
Joran seufzte. Er sah mich ernst an und sagte dann langsam: "Es tut mir Leid, dass euch soviel Schlimmes widerfahren ist, bitte glaubt mir das. Und es schmerzt mich, dass ich euer Gemüt noch mehr belasten muss, aber der Grund meines Erscheinens ist leider sehr ernst. Ja, ich bringe schlimme Nachrichten." Er zögerte, offensichtlich fiel es ihm nicht leicht, das zu sagen, was er mir mitzuteilen hatte. Schließlich straffte er seine Gestalt und sagte leise, mit abgewandtem Blick: "In der Stadt wütete eine Seuche, der auch eure Familie zum Opfer fiel - nicht ein Mensch in ganz Karus überlebte, die ganze Stadt ist wie ausgestorben. Wer nicht durch die Krankheit starb, floh aus der Stadt, bis auf einige Plünderer und Brandschatzer ist dort niemand mehr."
Einen Moment stand ich wie vom Donner gerührt, dann wandte ich mich rasch wieder zum Kamin, damit Joran meine Tränen nicht sehen konnte. Meine Gedanken rasten. Meine Mutter, meine Brüder und Schwestern - tot. Mein Vater, den ich so verzweifelt um Liebe und Verständnis angefleht hatte - auch er war tot, es würde niemals zu einer Aussprache oder gar zum Frieden zwischen uns kommen können. Und alle meine Freunde... Ich spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als ein weiteres geliebtes Gesicht vor meinem inneren Auge auftauchte. Leise flüsterte ich ihren Namen, den ich seit meiner ersten Kindheitserinnerung im Herzen trug: "Inassara...". Die Tränen rannen über mein Gesicht. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich hatte dem Fremden schon zuviel von mir preis gegeben! Ich musste die Fassung bewahren. Ein merkwürdiger Gedanke schoss mir durch den Kopf: Auf verdrehte Art und Weise war Joran das einzige, was mir von meiner Familie geblieben war. Ich durfte ihn nicht durch weichliches Herumgeflenne verjagen! Auf den Gedanken, dass er echtes Verständnis für meine Trauer haben könnte, kam ich damals nicht. Zu frisch war auch nach Jahren noch die Erinnerung an die Zeit, da ich der freien, fröhlichen Kindheit entwachsen war. damals sollte aus mir ein zurückhaltendes, stilles Geschöpf werden, wie meine Mutter es war - schön anzusehen und ansonsten völlig nebensächlich. Undenkbar, dass meine Mutter jemals einen öffentlichen Gefühlsausbruch, egal welcher Art, hätte haben können! Und wenngleich ich niemals so werden wollte und konnte wie sie, so hatte ich doch gelernt, dass man vor Gesellschaft - erst recht vor männlicher! - niemals seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Auch das war einer der Gründe, warum ich so gerne alleine lebte.
Ich nahm mich also zusammen und versuchte, die schreckliche Neuigkeit aus meinem Bewusstsein zu verdrängen, und es gelang mir - wenn auch nur fast und, wie ich wusste, nur für einen begrenzten Zeitraum. Eines nicht allzufernen Tages würden sich meine Gefühle ihren Weg bahnen. Doch nicht jetzt! Ich konzentrierte mich auf einen Gedanken: 'Ich bin Larina von Karus, Tochter des Iarus. Ich kenne keinen Schmerz. Ich bin stark!', und diese Formel aus meiner Jugend half mir ein wenig, so seltsam es auch klingen mag.
Schweigend bereitete ich den Sud zu, und mit zitternden Händen tauchte ich die Tücher hinein. Dann atmete ich tief durch und wandte mich wieder zu Joran um, der mich schweigend und mit unerträglichem Mitleid im Blick ansah.
Mit gesenktem Kopf ging ich zu ihm hinüber und begann, seine Wunde zu säubern. Nachdem ich sie gewaschen und verbunden hatte, setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl und starrte auf den Tisch.
Joran blieb ebenfalls eine Zeit lang still, dann räusperte er sich überlaut und sagte: "Äh, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich hatte einen langen Weg von Karus hierher, und wenn ihr vielleicht etwas zu Essen -“
"Aber natürlich!", rief ich und sprang auf, erleichtert über den Themenwechsel.
Ich wärmte uns den Eintof vom Vortag über dem Feuer auf - auch meine Kochkünste sind eher begrenzt, deshalb brachte mir die Bäuerin immer etwas, wovon ich länger etwas hatte - , und nachdem wir gegessen hatten, fühlte ich mich schon etwas besser.
Ich zündete mir die schlanke, kleine Pfeife an, die ich einst von einer meiner Tanten stibitzt hatte. Joran überraschte das offensichtlich: "Ich dachte immer, Töchtern der höheren Gesellschaft gebührt es nicht, zu rauchen oder zu zechen?". "Nun ja", erwiderte ich, "Ich bin ja nun keine Tochter der höheren Gesellschaft mehr, meint ihr nicht?"
Ich hatte versucht, den Worten einen ironischen Klang zu geben, aber die Schreckensnachricht vom Tod meiner Familie war noch zu frisch, ich klang nur verbittert. Joran musterte mich durchdringend, und ich wechselte rasch das Thema. "Was sollen wir jetzt unternehmen?", fragte ich Joran. Er sah mich erstaunt an und fragte mich, was ich damit meine. "Ich sehe keinen Sinn mehr darin, noch länger hier zu bleiben", erwiderte ich kühl und drängte den wieder aufkeimenden Schmerz zurück, "meiner Familie kann ich nicht mehr helfen, aber ich möchte die Klostergemeinde, die mich hier aufgenommen hat, vor der Seuche schützen, und vielleicht lässt sich auch herausfinden, was es mit diesem Wintereinbruch mitten im Mai auf sich hat. Was ihr tut, geht mich nichts an, aber ich werde auf jeden Fall nach Karus reiten und einen Brandkreis um die Stadt legen, damit die Krankheit sich nicht noch mehr ausweiten kann, und danach - ich weiß nicht, was danach kommt, aber hier will ich nicht bleiben. Ich werde fortgehen, so weit wie möglich, und wenn ich auch vielleicht nicht erfahren werde, warum es so kalt geworden ist, so schaffe ich es vielleicht doch, herauszufinden, warum das alles geschehen musste... Ich kann nicht glauben, dass so eine fortschrittliche Stadt wie Karus, die schon vielen Epidemien getroztz hat, einfach so dahingerafft wird - "
Plötzlich fiel mir etwas ein: "Sagt mir, Joran, warum habt ihr euch eigentlich nicht angesteckt?", fragte ich. Joran überlegte kurz und sagte dann: "Ich weiß es nicht wirklich, aber ich habe von einigen Menschen gehört, die aus unerklärlichen Gründen Krankheiten überlebten oder sich gar nicht erst ansteckten... Vielleicht sind manche Körper kräftiger als andere, oder ich hatte einfach Glück." Er schüttelte den Kopf. "Nein, an Glück glaube ich eigentlich nicht. Ich denke, ich habe überlebt, um dieser Sache auf den Grund zu gehen. Denn ihr müsst wissen", er sprach leiser, "...dass das keine gewöhnliche Seuche war. Es gab keinerlei Symptome einer bekannten Krankheit, ja eigentlich gab es überhaupt keine offensichtlichen Anzeichen! Die Menschen schienen einfach alle Lebenskraft zu verlieren, sie wurden sozusagen lebensmüde - einige brachten sich sogar selber um...Habe ich gehört. Ähem."
Er sah etwas verlegen aus, und seine Geschichte klang ja auch sehr merkwürdig. Sie bestärkte mich allerdings nur in meinem Entschluss, nach Karus zu reiten und zu tun, was nötig war...
Joran dachte einige Zeit nach, dann sah er plötzlich sehr entschlossen aus. "Ich begleite euch", sagte er, "zu zweit reist man besser, und ein Mann an eurer Seite gibt euch mehr Sicherheit" - ich schnaubte leise, aber er überging es - "und außerdem", seine Stimme wurde leise und traurig, "kann ich sowieso nirgendwo hin. Mein Orden hat mich verstoßen, und mein Herr ist tot. Ja, ich begleite euch auf jeden Fall!"
Ich widersprach ihm nicht, ehrlich gesagt war ich ganz dankbar für seinen Entschluss.
Viertes Kapitel
In den nächsten Tagen trafen wir alle nötigen Vorbereitungen für unser Unternehmen, und Joran bestand darauf, mir die Grundlagen des Schwertkampfes beizubringen. Ich hatte auf dem Speicher ein etwas schartiges, jedoch solides Schwert gefunden, und nachdem ich es am ersten Tag nur mit Mühe über meinen Kopf heben konnte, führte ich es bald einigermaßen geschickt. Später gestand Joran mir, dass ich im Ernstfall eher eine Bedrohung für mich selber als für meinen Gegner gewesen wäre, aber das sagte er mir damals nicht.
Im Laufe der Zeit legten wir auch unsere Förmlichkeit ab, und obwohl wir im Umgang miteinander noch immer irgendwie steif und verlegen waren, so duzten wir uns nun doch wenigstens.
Derweil tobte in meinem Inneren ein erbitterter Kampf zwischen dem Wunsch, dem ganzen Übel auf den Grund zu gehen und dem Bedürfnis, mich in meine Hütte zu verkriechen und alles zu vergessen, einfach zu vergessen. Ich fühlte mich keineswegs wie eine Heldin, die in ein aufregendes Abenteuer zieht und sich dafür mit ihrem Gefährten wappnet. Zwar saßen Joran und ich in gewisser Weise im selben Boot, aber in den ersten Tagen, die wir gemeinsam verbrachten, kam er mir mehr wie ein Fremder als wie ein Weggefährte vor, und das änderte sich auch erst sehr viel später, als die Ereignisse längst ihren Lauf genommen hatten und alle Konstanten in unser beider Leben ihre Gültigkeit verloren hatten. Und tatsächlich waren wir uns ja auch fremd, wenn auch die jüngsten Geschehnisse unsere Schicksale miteinander zu verknüpfen schienen.
Aber solch poetische Gedanken waren mir damals, in diesem eisigen Frühling, ferner als alles Andere. Wir mühten uns damit ab, den Hof winterfest zu machen, damit er auch nach unserer Abreise noch bewohnbar bliebe - wer konnte schon sagen, ob es jemals wieder Frühling oder Sommer werden würde? Außerdem mussten wir für warme Kleidung sorgen, und zwar nicht nur für mich, sondern natürlich auch für Joran.
Als er bereits einige Tage bei mir war, fanden wir auf meinem Speicher - wo auch mein Schwert herstammte - einige alte Männergarnituren, darunter auch ein paar brauchbare Wintersachen, die Joran halbwegs passten. Desweiteren packten wir für die Pferde warme Überwürfe ein und sorgten auch für uns beide für einige warme Decken. Wir hatten vor, nur wenig Proviant für uns und die Tiere mitzuführen, gerade soviel, dass es für den Weg von meinem Hof nach Karus und von da aus zum Kloster ausreichte, denn keiner von uns Beiden plante einen längeren Aufenthalt in der verlassenen Stadt und es war nur sinnvoll, dass wir danach unsere Vorräte im Kloster auffrischten. Außerdem wollte ich die beiden Pferde, die wir als Reittiere nicht benötigten, wieder in ihren heimatlichen Stall bringen. Die beiden anderen würde ich sicher behalten dürfen, schließlich pflegte ich sie seit langem und das Kloster hatte ohnehin keine wirkliche Verwendung für sie.
Nach etwa einer Woche waren wir soweit, der Tag des Aufbruchs war gekommen. Wir sattelten zwei meiner Pferde, die anderen beiden führten wir am Zügel mit.
Wir ritten früh los, und gegen Abend erreichten wir Karus - oder das, was davon noch übrig war. Ich erkannte sofort, dass ein Brandkreis hier unnötig war, die Plünderer hatten bereits ganze Arbeit geleistet. Obwohl ich die Stadt damals im Zorn verlassen hatte, schmerzte es mich doch, sie so zerstört zu sehen, denn ich verband neben all den schlimmen Erinnerungen auch einige schöne mit ihr, denn meine Kindheit war frei und unbeschwert gewesen; erneut stieg der Schmerz über den Verlust meiner Familie in mir auf, und ich musste hart schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Und auch der Name des lieben Menschen, dessen Verlust mir fast mehr Schmerz verursachte als alles andere, schoss mir wieder durch den Kopf: Inassara.
Als wir durch die rauchenden Ruinen ritten, drückte die allgegenwärtige Grabesstille schwer auf mein ohnehin schon trauriges Gemüt, und Joran schien es nicht anders zu ergehen.
Plötzlich hörten wir aus einem halbzerfallenen Haus das Weinen einer Frau, leise und verzweifelt; der Klang der Stimme ließ mich zusammenzucken.
Wir stiegen ab und betraten vorsichtig die Ruine; drinnen herrschte ein dämmeriges Zwielicht, und wir sahen eine zusammengekauerte Gestalt am Boden. Ihre Schultern bebten. Joran kniete neben ihr nieder und legte ihr eine Hand auf die Schulter, half ihr auf. Sie ließ sich von ihm nach draußen führen, und als ich im trüben Licht der Abenddämmerung ihr Gesicht sah, musste ich einen Aufschrei unterdrücken: Ich erkannte sie! Es war meine Amme, mit der mich mehr verbunden hatte als mit meiner eigenen Mutter - sie zu verlassen, war mir am schwersten gefallen, und als ich die Stadt verließ, hatte ich nicht den Mut aufbringen können, mich von ihr zu verabschieden... Es war Inassara.
Als sie mich erkannte, gab es eine Weile nichts anderes für uns beide, als uns zu umarmen und sentimentales Zeug zu reden.
Nachdem wir uns wieder gefangen hatten, fragte ich sie: "Sag mir, Inassara, was ist hier nur geschehen? Und wie konntest du überleben?"
Sie sah mich unverwandt an und sagte dann: "Kind, ich werde dir gerne alles erzählen, aber lass uns erst diese Geisterstadt verlassen." Dagegen hatten weder Joran noch ich etwas einzuwenden; doch als wir zu unseren Pferden gingen, winkte Inassara ab: "Ach nein, Kindchen, das dauert doch viel zu lange!", und mit diesen Worten drehte sie sich von uns weg und streckte eine Hand aus.
Sie rief etwas, das ich nicht verstand, und plötzlich veränderte sich die Welt um uns: Alles wurde zu einem glänzenden, rauschenden Farbwirbel, wir waren wie im Auge eines Sturmes. Ich meinte, eine leise, doch starke Melodie zu hören.
Wie betäubt fragte ich mich, ob ich vielleicht gerade verrückt würde. Wie konnte das sein? Erst war alles, wie es immer war; dann veränderte sich das Wetter, Joran tauchte auf, meine Familie, ja meine ganze Vergangenheit war mit einem Schlag ausgelöscht - und dann fanden wir nicht nur Inassara wieder, die wie durch ein Wunder überlebt hatte, nein, sie besaß plötzlich Kräfte, die für mich bis dahin nur in Geschichten existiert hatten! Ja, dachte ich, so muss es sich wahrhaftig anfühlen, wenn man den Verstand verliert, denn das alles kann unmöglich wirklich geschehen.
Während ich noch wie erstarrt diesen Gedanken nachhing, war der singende, glänzende Wirbel um uns herum auf einmal verschwunden, und wir standen zu dritt samt der vier Pferde auf dem Hof des Klosters.
Ich sah zu Joran, der nicht sehr intelligent das niedrige Gebäude anstarrte, vor dem wir standen, gerade so, als hätte er nie zuvor ein Haus gesehen. Ich schätze, dass ich selber wohl ähnlich dreinschaute, jedenfalls fühlte ich mich mehr als verwirrt. 'Aber das ist wohl normal, wenn man verrückt wird', beruhigte ich mich selber.
Inassara sah mich durchdringend an, dann führte sie Joran und mich schweigend ins Haus. Drinnen begegneten wir nur einigen Mönchen, die ihren Geschäften nachgingen und uns nicht weiter beachteten: Sie kannten mich, und wer in meiner Begleitung war, war für sie keine Bedrohung - was sollte bei Mönchen auch zu holen sein?!
Nachdem ich mit dem Vorsteher des Klosters gesprochen und die Pferde im Stall versorgt hatte, fühlte ich mich nicht mehr ganz so durcheinander. Denn auch die Mönche hatten natürlich den Wetterwechsel bemerkt und die alten Mauern des Klosters hatten von je her eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Ich fasste mich wieder und versuchte, zu akzeptieren, dass mein Leben nie wieder so sein würde, wie ich es kannte - es fiel mir sehr schwer.
Ich kehrte zu Inassara und Joran zurück, die in der Eingangshalle auf mich gewartet hatten, und gemeinsam nahmen wir im schlichten Speisesaal an einem der groben, langen Holztische Platz.
Inassara sah von Joran zu mir und wieder zurück, als würde sie uns abschätzen. Ich hielt es nicht länger aus, die Worte sprudelten nur so aus mir hervor: "Bitte, Inassara, sag endlich, was das war, was du da getan hast - du hast es doch getan, oder? Und wie hast du überlebt? Und warum wusste ich nie, dass du -" Sie unterbrach mich lächelnd: "Ach, Kindchen, „ - sie hatte mich immer Kindchen genannt, obwohl sie wohl nur zwanzig Jahre älter war als ich - "nun ist es wohl an der Zeit, dass ich dich einweihe. Deine Eltern haben mich nicht zufällig als Amme für dich ausgesucht; sieh mal, ich bin eine Magija, eine Magierin! Und mit jedem Schluck Milch, den ich dir gab, hast auch du etwas Magie in dir aufgenommen. Deine Mutter wollte immer, dass ich dich einmal ausbilde, dass du in meinen Orden eintrittst - und frei sein würdest. Sie wollte nie, dass du so endest wie sie. Aber dein Vater - nun ja, es kam ja dann ohnehin alles anders..."
Ihre Stimme verklang, sie blickte traurig an mir vorbei, als glitte ihr Blick zurück in die Vergangenheit, und wer weiß, vielleicht tat er das ja auch.
Ich brauchte einen Moment, um diese Erklärung zu verarbeiten. Meine Mutter hatte sich tatsächlich für mich eingesetzt. Sie war mir immer so schwach vorgekommen, und dann hatte sie doch den Mut, hinter dem Rücken meines Vaters so einen irrwitzigen Plan auszuhecken. Oh, wie Leid es mir tat, dass sie so ein grässliches Leben hatte führen müssen, und wie grausam mir meine Entscheidung, fortzugehen, nun erschien! Dabei hatte sie wirklich nur das Beste für mich gewollt...
Auch Joran schien erstaunt. Er fragte Inassara: "Ich dachte, es gäbe keine Magija mehr? Starben sie nicht aus?" Inassara schnaubte verächtlich und erwiderte: "Es gibt in der Tat nur noch wenige von uns, und sie müssen sich verborgen halten. Allerdings ist unser Orden nicht etwa ausgestorben, wie verbreitet wird, viele meiner Schwestern und Lehrerinnen wurden vielmehr verbannt oder hingerichtet! Viele von ihnen fanden den Tod im Namen des Tykar", fügte sie leise hinzu. Beim Namen dieser Gottheit zuckte Joran zusammen. Inassara nickte und bedachte ihn mit einem wissenden, mitleidigen Blick. Dann sagte sie leise: "Ja, Joran von Siltos, ich weiß, es schmerzt. Aber bedenke, dein Orden hat dich zwar verstoßen, nicht aber dein Gott. Denn Götter verstoßen nicht die, deren Herz ihnen treu ist. Und dein Herz ist treu, nicht wahr, mein Junge?" Dass sie zu Joran "mein Junge" sagte, hätte mir merkwürdig erscheinen können, war Inassara doch nur um die vierzig und er mit Sicherheit schon dreißig, aber die Art, wie sie sprach, ließ sie mit einem Male uralt erscheinen.
Joran sah sie ungläubig an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen - und schloss ihn wieder. Unter Inassaras durchdringendem Blick senkte er den Kopf. Sie wandte sich nun wieder mir zu: "Und du, meine liebe Larina. Ich bin so froh, dich wieder zu sehen; ich habe dich immer aus der Ferne beobachtet, und ich habe dich so vermisst! Aber nun" - ihre Stimme wurde ernst - "ist es an der Zeit, dass ich dich in dem unterrichte, was deine Mutter mir einst auftrug.
Ich weiß, dass du alles über diese Seuche und vielleicht auch das merkwürdige Wetter wissen willst, und du wirst bald alles erfahren. Aber ich kenne dich, wenn du erst einmal Bescheid weißt, wird dich hier nichts mehr halten - und ich kann dich nicht unvorbereitet ziehen lassen! Ich werde dir -"
"Aber Inassara!", rief ich ungeduldig, "Bitte sag mir -"
"Nein!", rief sie laut und erhob sich, was beeindruckend aussah - Inassara überragte selbst den großen Joran um ein paar Zoll.
"Nein, Larina, dieses Wissen kann ich dir erst anvertrauen, wenn ich dich gründlich darauf vorbereitet habe. Sei unbesorgt, ich habe die Zeichen gelesen, uns bleibt noch genug Zeit, um dich die Grundbegriffe der Kunst meines Ordens zu lehren."
Ich gab auf. Ich kannte Inassara, sie würde nicht nachgeben, und so fügte ich mich in das Unvermeidliche.
Fünftes Kapitel
Während der folgenden Wochen bekam ich Joran - oder jemand anderen - kaum zu Gesicht, so sehr beanspruchte mich meine Schnellausbildung in der Kunst der Magie, die mir bis dahin völlig fremd gewesen war.
Es war ganz anders, als ich und meine Freundinnen uns als Kinder immer ausgemalt hatten: Es gab wohl magische Formeln, seltsame Zutaten und mystische Gesten. Aber sie waren nur Spielerei im Vergleich zu dem, was den Kern der Magie ausmachte: Die Kraft, die in meinem Blut sang, in meinen Haaren prickelte und über meine Haut strömte. Als Inassara sie mir gezeigt hatte, konnte ich kaum verstehen, wie ich den Gesang der Magie in meinem eigenen Körper so lange hatte überhören können.
Inassara erklärte mir, dass jede Magija eine eigene Melodie habe, in deren Rhythmus sie ihre Kraft forme. Deshalb war der Zauber jeder Magierin einzigartig und unverwechselbar.
Als ich meine eigene Melodie das erste Mal hörte, musste ich fast mitsingen, so sehr beeindruckte mich ihre Kraft.
Und ich konnte nun auch Inassaras Melodie hören, sie war klar und ruhig, aber voller Macht. Ich hatte wahrhaftig das Gefühl, als könne ich erst jetzt wirklich Sehen und Hören - ja als würde mein ganzes Leben nun erst eine Bedeutung erlangen!
Inassara lehrte mich keine Zaubertricks oder dergleichen, sie meinte, ich müsse sehr schnell die Kampfmagie beherrschen lernen. Dazu sollte ich meine magische Melodie mit meinem Willen, nein, meinem Fühlen so beschleunigen, dass aus der harmonischen Musik ein tosendes Brausen wurde. Als ich es nach einigen Tagen schaffte, war es so mächtig, dass ich meine körperliche Kraft förmlich wachsen fühlte.
Ich selbst schien zu wachsen, ich hatte das Gefühl, ich könnte alles zerstören, wenn ich es nur wollte. Und tatsächlich war der Drang dazu plötzlich so stark und überwältigend, dass ich nach einem Stuhl griff und ihn durch die bloße Berührung meiner Finger in einer lodernden Stichflamme zu Asche verbrannte.
Das erschreckte mich selber so sehr, dass ich zurücksprang und meine Melodie ganz automatisch abbremste, verlangsamte, leiser werden und verklingen ließ.
Ich sah Inassara entsetzt an. Sie jedoch lächelte und sagte: "Das war schon sehr gut, Larina; aber das wahre Ausmaß deiner Kräfte wird sich erst entfalten, wenn du gelernt hast, sie bewusst zu bündeln und kontrolliert einzusetzen. Allerdings", sie sah plötzlich besorgt aus, "bleibt uns dafür wohl nicht mehr genug Zeit." Sie dachte kurz nach. "Du wirst es unterwegs von mir lernen!", fügte sie schließlich bestimmt hinzu. Ich war erstaunt: "Du kommst mit uns?" Inassara gluckste nachsichtig. "Kindchen, das hatte ich sowieso vor! Denkst du, ich lasse dich und deinen Freund" - sie zwinkerte mir zu, und zu meinem Ärger wurde ich mal wieder rot - "ganz alleine losziehen? Nein, nein, mit mir seid ihr besser dran. Und ich kann dich unterwegs weiter ausbilden... Obwohl ich natürlich hoffe, dass wir unsere Kräfte gar nicht brauchen werden.", schloss sie etwas leiser.
Plötzlich fiel mir etwas ein. "Inassara", sagte ich und begann dabei, die Asche vom Boden aufzufegen. "ich weiß, ich sollte dich nicht mehr danach fragen, aber... Willst du mir jetzt nicht endlich sagen, wohin wir überhaupt gehen werden?"
Als Inassara nicht antwortete, blickte ich auf und sah, dass sie am Fenster stand; wieder einmal schien ihr Blick in eine andere Zeit, vielleicht eine andere Welt abzuschweifen. Ich stand auf und trat neben sie, um auch aus dem Fenster zu sehen; aber ich sah nur den Hof des Klosters, groß, von den langen Wohn- und Arbeitsgebäuden eingesäumt. Der Boden war mit Schnee bedeckt, denn obwohl es inzwischen Juni geworden war, hielt das unnatürliche Winterwetter die Welt fest in seinem eisigen Griff, und die Bäume, die den Hof umstanden, hatten ihr Laubkleid gänzlich eingebüßt und streckten nur noch kahle Äste wie in stummer Klage zum Himmel.
Inassara seufzte und wandte sich vom Fenster ab, ging hinüber zum Tisch und setzte sich. Sie ordnete umständlich die Falten des fließenden, langen Gewandes, dass sie aus der Kleiderstube des Klosters bekommen hatte. Schließlich blickte sie auf.
"Ich werde dir nun sagen, was ich weiß, Kind. Es ist nicht allzu viel, und vieles wird dir merkwürdig erscheinen, aber es ist an der Zeit, dass du erfährst, worauf du dich da einlassen willst." Sie sah mir ernst in die Augen. "Du sollst wissen, dass ich dich zu nichts zwingen will. Du kannst dich immer noch entscheiden, nicht zu gehen!" Ich lief zu ihr hinüber und ging vor ihr in die Hocke, so dass wir uns ansehen konnten. "Inassara, es war doch meine Idee, diesem Wetter und der merkwürdigen Seuche auf den Grund zu gehen! Wie könnte ich da jetzt noch nein sagen, jetzt, da ich entdeckt habe, was für Kräfte ich dank dir habe! Wie könnte ich dich - euch alleine gehen lassen? Nein, was immer uns erwartet, ich werde mitkommen!"
Später bereute ich mehr als nur einmal, so große Töne gespuckt zu haben, aber da war es bereits zu spät, viel zu spät... Aber zurück zu jenem winterlichen Junitag im Kloster. Ich hatte mich zu Inassara gesetzt, und sie erzählte mir nun in knappen Sätzen, was sie wusste.
Sechstes Kapitel
"Zunächst, Kind, möchte ich dir sagen, dass du nicht als einzige den Entschluss gefasst hast, den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Ich habe noch vor dem Beginn der schrecklichen Seuche gespürt, dass etwas vor sich geht, und mir war sofort klar, dass ich früher oder später etwas unternehmen würde. Weißt du, ich gehöre einer alten Schwesternschaft von Magija und weisen Frauen an - gehörte, muss es wohl heißen. Denn als ich beschloss, deine Amme zu werden, musste ich mich von meinen Schwestern trennen. Unser Kodex verbot uns den Kontakt zu Nichtmagiern, jenen Menschen, die uns so lange gejagt und gequält hatten, bis der Rest von uns dazu gezwungen war, ins Exil zu gehen und im Geheimen zu leben.
Nun ja, in unserer Schwesternschaft lernten wir, Gefahren zu erspüren und Bedrohungen vorauszusehen, nur so konnten wir vor Verfolgung einigermaßen sicher sein. Aber was ich in Karus spürte, war viel mächtiger als alles, was ich mit meinen magischen Sinnen jemals gefühlt hatte! Eine Bedrohung, die so übermächtig war, dass ich das Gefühl kaum ertragen konnte.
Auch ich war wie gefangen in Ängsten und bösen Vorahnungen, und nur mit äußerster Mühe konnte ich mich so weit daraus lösen, dass ich wieder klar denken und handeln konnte.
Du hast dich sicher gefragt, warum fast Niemand Karus beim ersten Anzeichen verließ - das lag daran, dass fast alle gleichzeitig heimgesucht wurden. Es gab auch keine körperlichen Symptome, die Leute wurden wie von einer Art Geisteskrankheit befallen, die sie in den Wahnsinn und zuletzt in den Selbstmord trieb.
Auch ich spürte die Auswirkungen, es war ein Gefühl tiefster Verzweiflung, dem ich nur dank eines magischen geistigen Schutzwalles widerstehen konnte, sonst hätte der Drang nach Erlösung sicher auch mich in den Selbstmord getrieben..." Als sie das sagte, sah ich sie erschrocken an, die Vorstellung, sie hätte sich umbringen können, konnte ich kaum ertragen. Daran, wie meine Eltern, meine Geschwister gestorben waren, konnte ich noch nicht einmal denken, ich musste es verdrängen, wenn ich nicht auch wahnsinnig werden wollte. Inassara schien zu spüren, was in mir vorging, denn sie legte mir die Hand auf den Arm und sagte: "Die Zeit zu Trauern wird kommen, Larina. Doch so schwer es auch sein mag, jetzt ist die Zeit, um stark zu sein! Lass mich nun meinen Bericht beenden." Ich atmete tief durch, blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und nickte dann. "Aber eines möchte ich vorher noch wissen, Inassara. Du hattest einen magischen Schutzwall. Aber wie konnte Joran der Krankheit widerstehen? Er hat nicht das geringste Anzeichen jener Verzweiflung gespürt, die du mir beschrieben hast!" Sie dachte kurz nach und sagte dann: "Ehrlich gesagt kann ich dir das nicht genau sagen. Es mag sein, dass sein Geist durch die Ausbildung zum Paladin gefestigter ist als bei anderen - ich weiß es nicht." Ich nickte. "Die Hauptsache ist, dass er nicht erkrankte. Vielleicht finden wir das Warum später noch heraus; bitte erzähle weiter!" Und Inassara fuhr fort: "Durch den schlagartigen Befall so vieler Menschen auf einmal war eine normale Krankheit natürlich auszuschließen. Und spätestens als das Wetter sich veränderte, war mir klar, dass das alles einen magischen Ursprung haben musste, vielleicht sogar in Zusammenhang miteinander stand. Ich streckte meine magischen Sinne aus, um den Ursprung dieser Phänomene zu finden. Ich traf auf einen mächtigen Strom einer alten Magie, die vor langer Zeit in meiner Schwesternschaft verboten wurde, weil niemand sie beherrschen konnte, ohne wahnsinnig zu werden. Doch ich spürte, dass irgendjemand diese Magie nicht nur nutzte, sondern auch korrumpiert und zum Bösen gewandelt hatte. Ich konnte nicht erkennen, wer es ist, aber etwas im Muster des Stromes kam mir bekannt vor.
Doch ich konnte nicht weiter vordringen, und so musste ich nach einiger Zeit aufgeben. Meine geistige Abwehr war durch die Anstrengung so geschwächt, dass ich zwar nicht verrückt wurde, aber von einer mächtigen Welle der Trauer und Hilflosigkeit überwältigt wurde. Wenn ich schon nicht herausfinden konnte, wer dahinter steckte, wie sollte ich dann überhaupt dagegen ankommen? An meine ehemaligen Schwestern konnte ich mich nicht wenden, wer nicht dazugehört, kann sie ohne ihren ausdrücklichen Wunsch nicht finden, auch ich nicht. Ich war also allein und fast verzweifelt, als ihr mich fandet, und als ich dich sah, keimte in mir neue Hoffnung: Auch du trugst ja Magie in dir, ich war nicht mehr allein! Und nun, da ich weiß, was du bewirken kannst - und es ist weit mehr, als du jetzt selber ahnst! -, habe ich wieder Mut und bin zuversichtlich, dass wir beide, zusammen mit Joran, vielleicht doch etwas bewirken können.
Denn wenn ich auch nicht weiß, wer dahinter steckt, so konnte ich doch wenigstens herausfinden, woher die Magie kommt, und dorthin werden wir auch gehen: Zur alten Tempelstadt Tykarhast."
Siebtes Kapitel
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Tykarhast? Jene legendäre Stadt, in der einst der Orden des Tykar, dem auch Joran angehört hatte, seinen Sitz hatte? Aber diese Stadt war verschwunden, sie war solange von niemandem gesehen oder gar betreten worden, dass man ihre Lage vergessen hatte - in den Herzen der Menschen war sie zu einem Mythos geworden, einem Märchen für lange Winterabende...
Mein Gesicht schien meine Gedanken widergespiegelt zu haben, denn Inassara lächelte schwach und sagte: "Ja, mein Kind, ich weiß, für dich ist diese Stadt nicht mehr als eine Erzählung. Aber es gibt sie noch immer, und wie man merkt, lebt dort wohl auch Jemand - und dieser Jemand ist weit mächtiger, als meine Schwestern seit Generationen zu sein vermochten! Wir müssen aus zwei Gründen dorthin, Larina: Wir müssen herausfinden, was dort vor sich geht und wer es verursacht - und wir müssen es aufhalten. Dieser Strom, den ich gespürt habe - wer immer ihn verursacht hat, er wird sich nicht damit begnügen, eine Stadt auszurotten oder ein Land im Winter zu versenken!" Während sie sprach, war Inassara aufgesprungen und wanderte nun unruhig durch den Raum. Ich erhob mich ebenfalls. "Ich kann kaum fassen, dass diese Stadt tatsächlich existieren soll, aber ich vertraue dir, und wenn wir dort die Ursache all dieser Ereignisse finden können, dann gehen wir natürlich dorthin! Aber nun sag mir, wo liegt Tykarhast?"
Inassara blieb stehen und lächelte. "In den Legenden, die man sich erzählt, heißt es, sie läge dort, wo kein Mensch lebt, keine Pflanze atmet, kein Stern jemals zu sehen ist... Und in gewisser Weise stimmt das auch." Ich unterbrach sie. "Moment mal, soll das etwa heißen, sie ist für uns unerreichbar?" "Nein, ganz und gar nicht!", erwiderte Inassara, "Tykarhast liegt wirklich dort, wo kein Mensch lebt und kein Stern zu sehen ist - es liegt unter der Erde." Ich fühlte eine Welle der Enttäuschung. "Aber das ist unerreichbar! Sollen wir uns vielleicht bis dahin durchgraben?!", platzte ich heraus. Inassara wollte gerade antworten, da öffnete sich die Tür und Joran trat herein. "Darf ich eure Lehrstunde kurz unterbrechen? Es ist dringend!" Natürlich baten wir ihn herein und er legte sofort los: "Der Mönch, der die Rundgänge macht, ist eben zurückgekehrt, und er bringt schlechte Nachrichten. Das Winterwetter dehnt sich aus, und seltsamerweise scheint es in südlicher Richtung schlimmer zu werden, so, als käme es daher - wenn dem so sein sollte und unser Weg nach Süden führt, müssen wir Morgen aufbrechen, sonst kommen wir gegen den Schnee nicht mehr an!" Inassara nickte. "Es ist, wie ich mir dachte. Tykarhast liegt im Süden, wir sollten also Morgen früh aufbrechen." Bei der Erwähnung der Tempelstadt war Joran heftig zusammengezuckt. Er sah Inassara fragend an, aber ich kam ihr mit einer Antwort zuvor: "Inassara sagt, dass all unsere Probleme ihren Ursprung in Tykarhast haben. Wusstet ihr eigentlich, dass die Stadt unter der Erde liegt?" "Ja", erwiderte Joran, "sie liegt schon sehr lange dort unten, ein mächtiger Priester versenkte sie einst, um durch absolute Isolation vom Rest der Welt die Keuschheit und Konzentration des Ordens sicherzustellen und zu steigern. Ich erhielt meine Ausbildung in einem anderen Ordenssitz, aber viele der älteren Priester und Paladine sprachen oft davon, in Tykarhast wäre unsere Gemeinschaft besser dran... Und auch mein Ausstoß aus dem Orden hätte dort wohl verhindert werden können..." Er senkte den Kopf. Ich halte mich nicht für einen sehr sensiblen Menschen - im Gegenteil, manchmal bin ich geradezu taktlos - , aber selbst ich merkte damals, dass Jorans Status als "gefallener" Paladin sein wunder Punkt war und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, besprach mit Inassara die Reiseroute und bemerkte am Rande, wie Joran mir dankbar zulächelte. Und schon wieder wurde ich rot, wie mich das ärgerte!
Achtes Kapitel
Wir gingen an jenem Abend früh zu Bett, denn am nächsten Morgen wollten wir früh aufbrechen. Doch nach kurzem Schlaf wurden Inassara und ich in unserem gemeinsamen Schlafraum durch Lärm auf dem Flur geweckt, und als wir - ich zerwühlt und verschlafen, Inassara würdevoll wie immer - hinaustraten, war auch Joran bereits aus seiner Kammer gekommen, um nachzusehen, was los war. Am Eingang standen zwei Mönche, die einer zitternden Gestalt eine Decke umlegten und auf sie einredeten; es war ein junger Mann, vielleicht wie ich um die zwanzig, der verängstigt und ausgehungert aussah. Wir begleiteten ihn und die Mönche in die Küche, wo auch nachts ein behagliches Feuer im großen, offenen Ofen brannte und der durchgefrorene Mann erst einmal einen Becher heißen Wein bekam. Nachdem er sich etwas aufgewärmt hatte, bekam er auch etwas zu Essen, und zwischen den Bissen erzählte er seine Geschichte: "Mein Name ist Alessius, ich stamme aus Karus, vor kurzem wurde ich Mitglied der Stadtwache und - bei den Göttern, seid ihr nicht die verlorene Tochter des armen Seneschalls?", rief er plötzlich aus und verschluckte sich fast. Ich nickte, und da ich nicht bereit war, näher darauf einzugehen, zuckte Alessius die Achseln und erzählte weiter. "Als die Seuche ausbrach, war ich auf Patroullie und wurde deshalb verschont, denke ich. Ich schlug mich bis hierher durch, was ohne Pferd und alleine nicht leicht ist... Und da bin ich nun." Inassara nahm mich beiseite und flüsterte: "Etwas an ihm ist seltsam, Kind. Er lügt, da bin ich sicher, denn die Stadtpatroullie bestand immer aus mindestens fünf Mann! Wir sollten -" weiter kam sie nicht, denn Alessius rief lauthals, er habe soeben beschlossen, mit uns zu kommen, die Mönche hätten ihm von unserer Reise berichtet. Ich verdrehte die Augen, aber Inassara warf mir einen warnenden Blick zu und sagte Alessius, er könne uns gerne begleiten. Später, in unserer Kammer, sagte sie: "Wenn wir ihn bei uns haben, kann ich sofort eingreifen, wenn er irgendetwas im Schilde führt. Es mag dir merkwürdig erscheinen, aber in dieser Zeit bin ich lieber zu vorsichtig als zu nachlässig. Außerdem", fügte sie munter dazu, "können ein paar Hände mehr bei einer Reise nicht schaden. Und jetzt müssen wir uns ausruhen, Kind, sonst schlafen wir Morgen im Sattel ein!"
Nach reichlich wenig Schlaf brachen wir bei tiefster Finsternis am nächsten Tag auf. Wir hatten uns mit dicken Mänteln gegen die Kälte gewappnet, und Inassara und ich trugen Männerhosen und Schwertgurte, obwohl wir uns mit den Waffen an der Hüfte eher unbehaglich und eingeschränkt als sicher fühlten - doch Joran bestand darauf, dass wir uns nicht allein auf die Magie verließen. Wir hatten die vier Pferde, die Joran und ich mitgebracht hatten, erneut zur Verfügung gestellt bekommen und auch sie trugen dicke Überwürfe gegen die schneidende Winterluft, in der unser Atem weiße, dampfende Wolken bildete.
Wir ritten Richtung Süden, und schon am Mittag war das Schneetreiben so dicht geworden, dass wir anhalten und Rasten mussten. Joran und Alessius mühten sich mit tauben Fingern damit ab, ein Feuer in Gang zu bekommen, scheiterten jedoch kläglich. Inassara seufzte und sagte: "Lasst es gut sein, ich kümmere mich darum", und mit diesen Worten legte sie die Hände aneinander. Ich nahm eine schwache magische Welle wahr, und im nächsten Moment loderte wie aus dem Nichts ein herrliches, warmes Feuer in unserer Mitte, ganz ohne Holz. Joran pfiff anerkennend, Alessius dagegen sah Inassara erstaunt an und fragte, wie sie das gemacht hätte. Sie erwiderte: "Das ist doch unwichtig! Jetzt wärmt euch auf, meine Energie kann dieses Feuer nicht ewig in Gang halten und wir brauchen dringend einen Plan, wie wir bei dem Wetter weiterkommen." Wir stellten uns nah an das Feuer, die Pferde drängten sich etwas abseits zusammen. Ich dachte nach und meinte dann: "Sag, Inassara, können wir beide nicht eine Art Wärmeschild um uns herum aufbauen?" Sie lächelte nachsichtig und sagte: "Das könnten wir wohl, aber es birgt mehrere Nachteile. Erstens würde eine so große Anstrengung unser beider Kräfte sehr schwächen, und ich weiß nicht, wie lange wir damit haushalten müssen und ob wir sie dann noch genügend einsetzen können, wenn wir an unser Ziel gelangen. Zweitens wären wir mit einem solchen Wärmefeld nicht nur weithin zu sehen, sondern für Magija und andere Zauberer auch zu fühlen, lange bevor wir etwas erreichen! Wir müssen unterwegs so wenig Magie wie möglich einsetzen, um gar keinen Preis darf wer auch immer dahinter steckt uns jetzt schon erkennen! Und da wir schon davon sprechen, dieses Feuer kann ich nur noch ein paar Minuten aufrechterhalten, ohne dass wir entdeckt werden." Wir schwiegen. Wie sollte es weitergehen? Schließlich sah Joran grimmig in die Runde und sagte: "Es hilft nichts, wir müssen ohne Magie auskommen, und das bedeutet, dass wir uns so durchschlagen müssen. Ich schlage vor, wir reiten weiter, solange es irgendwie geht, mit euren magischen Sinnen könnt ihr die Richtung doch auch ausmachen, ohne dass man uns entdeckt, oder?" "Ja schon, aber -", setzte ich an, aber Joran fuhr unbeirrt fort: "Und wenn es nicht mehr anders geht, müssen wir eben die Pferde zurücklassen und zu Fuß weitergehen! Wenn Niemand etwas Besseres weiß, schlage ich vor, dass wir es so machen." Nach kurzem Nachdenken stimmten wir ihm zu, was blieb uns auch anderes übrig? Inassara ließ das magische Feuer wieder erlöschen und wir ritten frierend weiter, meine ehemalige Amme und ich an der Spitze. So bewegten wir uns wie blind durch das Schneetreiben, nur geleitet von unserem magischen Richtungssinn.
Neuntes Kapitel
Am Abend schlugen wir ein kaltes Lager auf, und ich konnte vor lauter Zittern kaum einschlafen. Ich fror entsetzlich, und die Anderen hatten es nicht besser, obwohl wir uns eng aneinander drängten. Am nächsten Morgen mussten wir auch noch feststellen, dass zwei der Pferde erfroren und die beiden anderen verschwunden waren. Ich war traurig und entsetzt, hatte ich die Tiere doch sehr geliebt. Und ohne sie würde unsere Reise noch um vieles bitterer werden, als sie ohnehin schon war - das entmutigte mich zusätzlich. Aber es half nichts, und nachdem Inassara mir gut zugeredet und ich mich wieder etwas beruhigt hatte, gingen wir zu Fuß weiter, so gut es ging.
Im Laufe der Tage wurde die Landschaft - oder das, was wir durch den dichten Schneeschleier und unsere eisverkrusteten Wimpern sehen konnten - immer verlassener und verheerter. Zu Beginn unserer Reise hatten wir noch ab und an kleine Siedlungen entdeckt, wo wir uns manchmal ausruhen und einige Vorräte mitnehmen konnten. Und auch wenn wir nur entsetzte Blicke ernteten, wenn wir davon sprachen, dass wir nach Süden unterwegs waren, so begegneten uns doch die meisten Menschen freundlich.
Aber nach einiger Zeit waren die Siedlungen, durch die wir kamen, verlassen, und die Menschen, die noch geblieben waren, wiesen uns ab. So sahen wir uns eines Tages genötigt, in ein verlassenes Haus einzubrechen, wir waren so durchgefroren und ausgehungert, dass wir nicht mehr anders weiter wussten. Zu unserem Glück schien die Hütte Hals über Kopf verlassen worden zu sein, denn wir entdeckten Feuerholz und einige Vorräte. Nachdem wir uns gewärmt und gestärkt hatten, verbrachten wir seit langer Zeit wieder einmal eine angenehme Nacht. Das heißt, wir konnten nur vermuten, dass es Nacht war, denn seit Tagen war es draußen permanent so dunkel gewesen, dass wir jedes Zeitgefühl verloren hatten.
Gestärkt verließen wir am nächsten Morgen - oder Abend - die Siedlung, beladen mit dem, was wir aus den Vorräten der Hütte tragen konnten. Der Wind blies uns mit unerbittlicher Kälte Schnee und winzige Eisnadeln ins Gesicht, die auf der Haut brannten. Unsere Winterkleidung schützte uns schon längst nur noch vor dem Erfrieren, wärmen konnte sie uns nicht mehr. Wir wanderten bald durch eine schier endlose Eiswüste, denn wo sich Inassaras und Jorans Berichten zufolge einstmals eine heiße Steppe erstreckt hatte, gab es nun nichts mehr als Schnee und klirrende Kälte - und natürlich den allgegenwärtigen Wind, der die Gesichter taub werden ließ. Von Zeit zu Zeit mussten Inassara und ich kleine magische Feuer entfachen, um uns wenigstens für einige kurze Augenblicke etwas aufzuwärmen.
Natürlich fuhren wir auch mit meiner Ausbildung fort, und ich konnte bald recht passable Brandlöcher in die dichte Schneedecke schießen. Allzu viel konnte ich leider nicht üben, da zu häufige Magieströme für magisch Begabte natürlich zu einem wahren Signalfeuer geworden wären.
Alessius hielt sich bei allen Gesprächen sehr zurück, wir erfuhren so gut wie nichts über ihn. Allerdings störte uns das nicht sehr, denn er war alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse: Er hatte grauenvolle Manieren, aß - oder besser fraß - wie ein Tier und ging uns auch sonst mit seiner Unfreundlichkeit und schlechten Laune mächtig auf die Nerven.
Mit Joran allerdings verband mich bald eine Vertrautheit, die ich mir am Tag unserer ersten Begegnung nie hätte träumen lassen. Dadurch, dass wir beide viel verloren hatten, konnten wir einander viel Verständnis entgegenbringen.
Eines Tages - wir waren nun wohl an die drei Wochen unterwegs - erzählte mir Joran auch, warum er aus dem Orden verstoßen worden war: Er war in einem Tempel außerhalb von Tykarhast aufgewachsen und die Mönche dort trieben regen Handel mit einem benachbarten Dorf. Eines Tages - Jorans Ausbildung zum Paladin war erst seit kurzem beendet - wurde er mit einem Botengang in jenes Dorf geschickt. Dort traf er zum ersten Mal auf ein Mädchen, das keine Priesterin war und ihn ziemlich direkt anschäkerte. Der arme Joran war völlig hin und weg, und so kam es, wie es kommen musste: Er verliebte sich in sie, und sie wurden ein heimliches Paar. Doch der Orden erfuhr natürlich davon, und da Joran als Paladin ein Keuschheitsgelübde hatte ablegen müssen, war diese Beziehung ein schwerer Verstoß gegen die Regeln, der nur eines zur Folge haben konnte - Verbannung. Als Joran völlig aufgelöst zu seiner Liebsten kam und ihr alles erzählte, freute sie sich und redete von einer freien Zukunft ohne alberne Klosterbräuche. Das war zuviel für ihn, und er verließ sie am gleichen Tag und machte sich auf den Weg nach Karus.
Zehntes Kapitel
Ich konnte zwar nicht ganz nachfühlen, wie ihm zumute gewesen sein musste, als seine Geliebte ihm soviel Unverständnis entgegenbrachte, aber ich versuchte trotzdem - wie dumm von mir! - , etwas dazu zu sagen: "Weißt du, sie war es wahrscheinlich sowieso nicht Wert, dass du sie mochtest, wenn sie dich so schlecht verstand." Daraufhin wurde Joran ärgerlich und erwiderte: "Zuerst einmal mochte ich sie nicht einfach bloß, ich habe sie geliebt. Und außerdem, woher nimmst du die Erfahrung, das zu beurteilen? Warst du etwa dabei, als ich aus dem Orden ausgeschlossen wurde? Nein. Und warst du dabei, als sie mich so missverstand? Wieder nein! Und schon gar nicht kannst du wissen, wie sie war, du kanntest sie nicht, und du kanntest mich nicht - du kennst mich ja nicht einmal jetzt, sonst würdest du nicht so etwas taktloses sagen! Ach, wie dumm von mir, dir das anzuvertrauen, ich hätte wissen müssen, dass du es falsch verstehst.", und mit diesen Worten stapfte er beleidigt davon. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, und gleichzeitig hätte ich mich selbst dafür ohrfeigen können, dass ich mal wieder mein vorlautes Mundwerk nicht hatte halten können. Joran hatte Recht, ich wusste nichts von dieser Frau - oder überhaupt von der Liebe, denn ich war niemals ernsthaft verliebt gewesen, mehr als ein paar harmlose Schwärmereien und eine kurze, aber heftige Romanze mit einem Stallburschen meines Vaters hatte ich nicht vorzuweisen. Und insgeheim konnte ich die Reaktion von Jorans Geliebter auch fast verstehen, wie schwer musste es ihr gefallen sein, immer an zweiter Stelle nach seinem Glauben zu kommen, der ihm so wichtig war, dass er dafür seine Liebe verleugnete! Und überhaupt, welcher normale Mensch konnte denn auch im Zölibat leben?! Aber da Joran das ja ganz und gar nicht so sah, behielt ich diese Meinung für mich. Ich dachte allerdings, wenn ich dieses Mädchen gewesen wäre, vielleicht wäre Jorans Verhältnis zu Frauen dann nicht so verkorkst. Überhaupt dachte ich in letzter Zeit viel öfter an ihn, als angemessen gewesen wäre, und als wir einmal - unser Streit war vergessen, keiner von uns rührte mehr an das Thema, und Joran hatte mir meinen Ausrutscher anscheinend verziehen - nebeneinander mit schneeverkrusteten Stiefeln durch die Kälte stapften, erschien vor meinem geistigen Auge plötzlich ein Bild von Joran und mir, in inniger Umarmung. Bei dem Gedanken wurde ich natürlich puterrot, und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass Joran das nicht verborgen blieb, jedenfalls sah er mich in den nächsten Tagen oft sehr merkwürdig an. Ich wurde jedes Mal rot, wenn mich sein durchdringender Blick traf, und dachte mir die unglaublichsten Ausflüchte für meine allzu gesunde Gesichtsfarbe aus (normalerweise waren unsere Gesichter grau vor Kälte, Hunger und Müdigkeit) - einmal behauptete ich allen Ernstes, mir wäre einfach so warm, was ich natürlich sofort bereute. Denn Joran - und auch Inassara - sahen von mir zur unendlichen Schneedecke und zurück, und Inassara konnte sich kaum ein Lächeln verkneifen. Joran dagegen wandte sich ab, und fast schien es mir, als werde er auch rot, was mich natürlich noch mehr aus der Fassung brachte. Ich stammelte etwas davon, dass ich etwas zu Essen besorgen wollte, und entfernte mich ein Stück von der Gruppe.
Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, und man konnte recht weit sehen. Ich streifte ein wenig umher und fand eine der Pflanzen, von denen wir uns seit Wochen ernährten: Ein eigenartiges Gewächs, dass entfernt an einen Kaktus erinnerte. Es speicherte auch Feuchtigkeit und hatte fleischige Blätter, war jedoch stachellos und als einzige Pflanze in dieser Ödnis nicht völlig steif gefroren. Inassara meinte, es handele sich vermutlich tatsächlich um ein Wüstengewächs, dass sich auf erstaunliche Art und Weise dem Wetterumschwung angepasst habe.
Ich trennte mit meinem Messer - die großen, unhandlichen Schwerter hatten Inassara und ich schon vor Tagen im Schnee "verloren", sie behinderten uns einfach zu stark beim Laufen; und obwohl Joran natürlich ahnte, dass wir sie absichtlich zurückgelassen hatten, hatte er nur resigniert die Achseln gezuckt und nichts weiter dazu gesagt - die ganze Pflanze ab und ging zu den Anderen zurück.
Wir legten eine Rast ein und kauten mäßig begeistert auf den Blättern der Pflanze herum, während unser Atem weiß in der Luft hing und wir uns immer wieder Schnee und Eiskristalle aus den Augen wischen mussten. Wir konnten die Teile der Pflanze kaum halten, unsere steifgefrorenen Finger versagten uns trotz der dicken Handschuhe, die wir alle trugen, immer wieder den Dienst und so musste ständig einer von uns die ihm entglittenen dicken Blätter mühsam wieder von der gefrorenen Schneedecke aufnehmen. Wenn wir nicht so erbärmlich gefroren hätten, wären diese unbeholfenen Versuche sicher lustig gewesen - doch das Lachen war uns in dieser Winterödnis schon längst vergangen.
Nach der Rast setzten wir unsere Reise fort, ständig gegen den immer stärker werdenden Wind gelehnt, der uns inzwischen mit seinem eisigen Hauch fast den Atem raubte. Wir hatten uns Tücher vor Mund und Nase gebunden, damit die Luft nicht ganz so eisig in unseren Lungen stach; trotzdem war das Atmen eine Qual, und wir kämpften uns in drückendem Schweigen voran.
In den nächsten Tagen sprachen Joran und ich sehr wenig miteinander, einmal, weil uns die Kälte jede Lust am Reden nahm, und außerdem brachten wir einfach kein vernünftiges Wort über die Lippen. Er war schroff und abweisend zu mir, und ich begnügte mich vorläufig damit, rot zu werden, sobald er nur neben mir her ging. Aber unser Herumgedruckse hatte auch ein Gutes: Es lenkte uns von der Bitternis unseres Unterfangens ab.
Eines Tages erreichten wir eine Hügelkuppe, und nachdem wir sie rutschend und schlitternd erklommen hatten, konnten wir einen weiten Talkessel überblicken, eine endlose, weiße Fläche.
Joran seufzte schwer. „Ich glaube, wenn ich noch mehr Schnee sehe, werde ich blind“, murrte er und rieb sich die Schläfen. Inassara ergriff meine kalte, behandschuhte Hand und flüsterte: „Spürst du das?“. Ich schloss die Augen und ließ meine magischen Sinne durch die klirrende Kälte schweifen. Und da war es, direkt in diesem Tal! Ich konnte ganz deutlich zwei magische Quellen ausmachen, die eine schwach und unbekannt, die andere - die andere war der Ursprung jenes Stromes, dem wir folgten, von ihr ging ein starkes magisches Geräusch aus - anders konnte man es nicht beschreiben, denn mit den zauberhaften Melodien, die ich inzwischen kannte, hatte dieses Getöse nichts zu tun. Es war noch ein gutes Stück entfernt, befand sich aber definitiv in diesem Talkessel und schmerzte selbst aus der Entfernung in meinem magischen Fühlen. Ich öffnete die Augen wieder. Mit einem Schlag lastete unser Vorhaben schwer auf mir, ich wünschte mir - nicht zum ersten Mal -, ich wäre nie hierher gekommen… Inassara drückte meine Hand kurz, dann sagte sie leise: „Und siehst du das dort unten?“.
Ich strengte meine Augen an, und tatsächlich erblickte ich talwärts am Fuße des Hügels, auf dem wir standen, etwas Großes, Grünes - es war ein Wald! Auch die beiden Männer hatten ihn entdeckt, und es war klar, dass wir uns das näher ansehen würden, sei es nur, um das erreichen unseres Zieles noch etwas hinaus zu zögern - denn was immer uns dort erwarten mochte, wir alle spürten, dass es nichts Gutes war und unser Schicksal ungewiss.
Ich habe die ersten Teile meiner Story mal etwas überarbeitet und poste nun die "Verbesserte" Version in einem Rutsch bzw. wegen der Größe in den beiden ersten beiden Posts.
Ich werde alle meinen anderen bereits bestehenden Posts auf - editieren, löschen kann ich sie ja nicht... Also, viel Spaß beim Lesen und ich freue mich auf Feedback!!
Reise nach Tykarhast
Prolog
Rückblickend frage ich mich manchmal, ob ich mir alles nur eingebildet habe, ob dieses Abenteuer nur ein Produkt meiner Phantasie ist, ob es Alaundrel jemals wirklich gegeben hat, ob ich je in Tykarhast gewesen bin...
Zuweilen ertappe ich mich dabei, wie ich gedankenverloren aus dem Fenster blicke; dann sehe ich draußen nicht etwa den weiten, gepflasterten Hof, der von efeuberankten Mauern eingefasst ist - vor meinen Augen erscheint vielmehr ein längst vergangener Anblick, und meine Erinnerung beschwört das Bild einer trostlosen, weißen Ebene herauf, über der ein Schneesturm tobt. Dann meine ich, wieder den scharfen, eisigen Wind zu spüren, der mich so lange begleitet hat, dass ich ihn wohl nie vergessen werde.
Aber ich greife vor. Gehen wir zurück zu jenem lauen Frühlingstag, an dem vor 3 Jahren alles begann...
Erstes Kapitel
An jenem Tag war zunächst nichts Besonderes: Ich war wie üblich früh aufgestanden, hatte die Tiere versorgt und war nun im Stall damit beschäftigt, eins meiner Pferde für den täglichen Ausritt fertig zu machen.
Ich liebte die stille Abgeschiedenheit, in der ich seit einigen Jahren lebte, hier konnte ich meinen eigenen Gedanken nachhängen und musste mich nicht an gesellschaftliche Zwänge und Regeln halten - kurzum, ich war frei und genoss es in vollen Zügen.
Ich wollte gerade den Sattel von seiner Halterung nehmen, da wurde es plötzlich dunkel. Ich wandte mich um und sah zur offenen Stalltür, durch die noch vor wenigen Augenblicken die warme Frühlingssonne geschienen hatte. Nun konnte man draußen nur noch ein seltsames Zwielicht erkennen, und ein kalter Windhauch fuhr hinein und ließ mich frösteln.
Ich zog meinen Reitmantel enger um mich und ging langsam zur Tür.
Kein Laut war zu hören, als ich aus dem Stall trat, sämtliche Geräusche des Frühlings waren verstummt. Ich ging über den Hof, um eine Laterne aus dem Wohnhaus zu holen. Das Gefühl von unbekanntem Grauen, das mich zugleich mit der Dunkelheit überkommen hatte, verdrängte ich hartnäckig.
Doch ich kam nicht bis zum Haus. Auf halbem Wege rutschte ich aus und fiel - der ganze Hof war plötzlich von einer dünnen Eisschicht überzogen. Ich fluchte und richtete mich auf, als ich plötzlich in der Bewegung erstarrte: Unmittelbar vor mir ragte eine Gestalt auf vor einem Himmel, der nun begann, Schneeflocken auf uns niedergehen zu lassen. Rasch wurde das Schneetreiben so dicht, dass ich kaum die ausgestreckte Hand der Gestalt erkennen konnte. Das Grauen, das ich bereits fühlte, ließ sich nun nicht länger unterdrücken, um ehrlich zu sein, es überrascht mich, dass ich mir damals nicht vor Angst in die Hose machte. Ich war nicht gewillt, diesem unheimlichen Fremden
noch näher zu kommen, und so stemmte ich mich mühsam aus eigener Kraft hoch. Ich wollte schreien, weglaufen, doch ich war wie gelähmt vor Schreck und Kälte.
Dann sprach die Gestalt, und ihre Stimme klang ganz und gar nicht unheimlich, als sie in barschem Tonfall sagte: "Wie lange willst du da noch herumstehen, Frau? Ich fände es angenehmer, dir im Haus alles zu erklären, also beweg dich!"
Es war eine ganz normale Männerstimme, das erkannte ich, obwohl ich seit Jahren keinem Mann begegnet war, und obwohl mir sein Befehlston nicht gefiel, musste ich ihm doch zustimmen - in der Eiseskälte, die hier draußen inzwischen herrschte, konnte ich es in meinen dünnen Sommerkleidern kaum noch aushalten, ich hatte bereits eine Gänsehaut am ganzen Körper und in Kürze würden mir wahrscheinlich Eiszapfen aus der Nase wachsen.
Auch erschien mir die ganze Situation inzwischen nicht mehr halb so unheimlich wie noch vor wenigen Augenblicken, und ich kam mir ziemlich albern vor, wie ich da stand. Trotzdem jagte der fremde Mann mir irgendwie Angst ein - wenn man lange alleine lebt, wird man eben sehr misstrauisch...
Doch ich riss mich zusammen und beschloss, mir zunächst anzuhören, was er zu sagen hatte. Aber wenn er versuchen sollte - nein, dachte ich, bleib ruhig. Und so ging ich zum Haus, der Fremde folgte mir.
Drinnen entfachte ich ein Feuer im Kamin, denn draußen herrschte noch immer tiefschwarze, eisige Finsternis, in der die herabfallenden Schneeflocken gespenstisch leuchteten.
Als die lodernden Flammen den Raum mit wohliger Wärme und behaglichem Glanz erfüllten, nahm ich mir die Zeit, den Mann näher in Augenschein zu nehmen. Er hatte seinen Reisemantel abgelegt, und darunter sah er wahrhaftig nicht unheimlich aus: Er trug ein einfaches, wappenloses Wams, Lederhosen und ein Schwert, dass sicher schon bessere Tage erlebt hatte. Dazu derbe Stiefel und Handschuhe, die er jetzt abstreifte, um seine Hände über dem Feuer zu wärmen.
Zweites Kapitel
Ich muss ihn ziemlich angestarrt haben, denn er meinte spöttisch: "Meinesgleichen kommt hier draußen wohl nicht sehr oft vorbei, oder?"
Das ärgerte mich gründlich, meine eben erlangte Gefasstheit war sofort wieder wie weggeblasen, und ich erwiderte aufgebracht: "Allerdings, so etwas Unverschämtes wie ihr ist mir lange nicht über den Weg gelaufen, und wenn ihr euch nicht beherrscht, werdet ihr gehörigen Ärger bekommen!" Er sah mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Belustigung an, was mich noch mehr ärgerte, deswegen setzte ich nach: "Zufällig ist Heute der Tag, an dem die Klosterpatroullie ihren Rundgang bis hierher ausdehnt, also seid auf der Hut!" Das war eine schamlose Lüge, denn die Patroullie des nahen Klostergehöftes bestand zum einen nur aus einem alten Priester, der auf den umliegenden Höfen seinen Segen verteilte und den Kranken Trost spendete; und zum anderen machte er seinen Rundgang zwar regelmäßig, aber zu mir kam er eigentlich nie - ich brauchte weder seinen Segen noch seinen Beistand, und das wusste er. Tatsächlich hatte ich außer dem Bauernweib, das mich regelmäßig mit Essen und allem Nötigen versorgte, seit Monaten niemanden mehr zu Gesicht bekommen - ich war ja gerade deshalb in diese entlegene Klostergemeinde gezogen, um Niemanden mehr sehen zu müssen.
Ich bin eine ziemlich schlechte Lügnerin, und der Fremde hatte mich wohl sofort durchschaut, denn nach einem verdutzten Schweigen lachte er schallend los und rief: "O ja, du hast sicher lange überhaupt Niemanden gesehen, sonst wärst du keine so schlechte Lügnerin!"
Zu meinem noch größeren Ärger bemerkte ich, wie ich rot anlief: Er hatte mich ertappt. Er wusste, dass ich hier ganz alleine lebte und auch Niemand kommen würde. Jetzt könnte er mit mir machen, was er wollte - aber ganz so einfach sollte es dieser dreiste Kerl nicht haben!
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und sagte, scheinbar resigniert: "Jaja, schon gut. Wenn ihr euch also an mir vergehen möchtet, bitte, versucht es nur. Aber ich werde es euch nicht leicht machen!"
Und mit diesen Worten ergriff ich rasch den Schürhaken, der neben dem Stuhl lag, sprang auf und wollte mich auf den Mann stürzen. Er aber hob abwehrend die Hände und rief: "Nein, nein! Lass das sein, du Furie, ich versichere dir, ich bin aus einem anderen Grund hergekommen!"
Und mit einem gekonnten Griff entwand er mir den Schürhaken und hielt mich gleichzeitig fest. Ich zappelte noch ein wenig, dann wurde mir peinlich bewusst, wie albern ich mich schon wieder verhielt, und ich bedeutete ihm, mich loszulassen. Ich setzte mich wieder, und er nahm mir gegenüber am Tisch platz. Offensichtlich wollte er mich also nicht überfallen, und ich schämte mich ein wenig wegen meiner ungestümen Art, die mich schon so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Nun, ich hatte ihn schließlich hereingelassen, und ich wollte ja auch wissen, warum er hier war. Ich sah ihn unsicher an.
Er lächelte, und obwohl es mir nicht passte, spürte ich, wie mir schon wieder das heiße Blut in die Wangen schoss. Ich räusperte mich verlegen und sagte: "Also, ihr wolltet mir etwas erklären?"
"Ja, doch zunächst möchte ich mich vorstellen, wie es sich gehört. Mein Name ist Joran von Siltos, ich war einst ein Paladin vom Orden des Tykar. Und du, pardon, ihr seid sicher Larina, Tochter des Iarus, richtig?"
"Ja, so ist es", erwiderte ich, verunsichert durch seine plötzliche Höflichkeit. Ein ehemaliger Paladin? Mich interessierte sofort, was dahintersteckte, doch meine Neugier würde warten müssen Dass er wusste, wer ich war, obwohl wir uns nie begegnet waren, verwunderte mich nicht weiter, denn seit ich der großen Stadt Karus und ihrem Treiben entflohen war, kursierten dort die wildesten Gerüchte über mich; immerhin war ich die älteste Tochter des Seneschalls und mein Verschwinden unerhört.
"Was wollt ihr nun von mir, Joran von Siltos? Seid ihr vielleicht hier, um mir zu erklären, was es mit diesem verhexten Wetter auf sich hat?", fuhr ich fort und blickte missmutig in das Schneetreiben vor dem Fenster.
Joran runzelte die Stirn und meinte: "Über das Wetter kann ich euch nichts sagen, es überraschte mich genau so wie euch. Auf dem Weg hierher wurde es plötzlich kalt und dunkel; mein Pferd ging durch und warf mich ab, weiß der Geier, wo es sich nun herumtreibt - ich hoffe, es findet den Weg nach Hause." Sofort überkam mich Mitleid mit ihm, ich selber liebte die vier Pferde, die ich hier für das Kloster pflegte und versorgte, mehr als alles andere. Vielleicht war dieser Mann ja doch nicht der Wüstling, für den ich ihn anfangs gehalten hatte...
Joran stöhnte leise, und erst jetzt bemerkte ich, dass er verletzt war: Eine lange Wunde zog sich über seinen Schwertarm, das Wams darüber war zerfetzt. Ich sprang auf. "Ihr seid ja verwundet! Wartet, ich kenne mich etwas in der Heilkunst aus, Ich werde euch versorgen." Er grinste schief und sagte spöttisch: "Solange ihr die Wunde nicht mit dem Schürhaken behandelt, bin ich euch dankbar für jede Hilfe!"
Das ärgerte mich fast schon wieder. Aber ich riss mich zusammen und suchte alles heraus, was ich zum Verarzten brauchte, saubere Tücher, einige Heilkräuter, etwas Salbe; in meiner kleinen, flachen Bauernhütte hatte ich alles, was man dazu brauchte. Hier draußen ereignete sich selten etwas spannenderes als der Wechsel der Jahreszeiten, und so hatte ich genug Gelegenheit, meinen Haushalt mit allem möglichen auszurüsten. Nachdem ich alles bereitgelegt hatte, hängte ich einen Kessel mit Wasser über das Feuer, um einen reinigenden Sud zu kochen.
Drittes Kapitel
Während ich hin- und herlief, Kräuter in den Topf warf und alles vorbereitete, erzählte mir Joran, warum er eigentlich gekommen war:
"Ich stand seit langem im Dienst eures Vaters, des Seneschalls. Er sprach oft von euch, seiner verlorenen Tochter, und stets tat er es mit Bitternis in der Stimme. Eure Mutter weinte häufig, sie sehnte sich so nach Versöhnung und Frieden mit euch -" ich rührte gerade den Sud an, aber als Joran so von meinen Eltern sprach, fuhr mir die kalte Wut durch die Glieder. Ich unterbrach meine Tätigkeit und fuhr herum. "Seid ihr vielleicht gekommen, um mir meine Lebensgeschichte zu erzählen?", fiel ich ihm ins Wort, "ich weiß wahrhaftig gut genug selber, was geschehen ist! Hat mein Vater euch auch erzählt, warum ich fort ging? Dass er mir eine Ehe aufzwingen wollte, nur weil der Brauch es so wollte? Dass ich mit sechzehn Jahren von meiner Familie, meinen Freunden, meinem Leben fortgerissen werden sollte, um Kinder zu gebären, obwohl ich selbst noch ein halbes Kind war? Dass er mich schlug und drohte, mich zu enterben, ja gar aus der Stadt zu verbannen!?
Nein, dass alles hat er euch sicher nicht gesagt, denn ein Seneschall hat ja keine Familienprobleme, nicht wahr? Nur deshalb bin ich die verlorene Tochter, nicht, weil ich mich versündigt hätte! Ich habe ihm nie Schande gemacht, aber er konnte mich niemals akzeptieren, wie ich war - ich war zu wild, zu freidenkerisch, zu rebellisch, und deshalb sollte mich die Ehe zähmen und meinen Willen brechen! Meine einzige Schuld war, dass ich nicht die Frau eines ekligen, alten Großfürsten werden wollte!!" Ich bebte vor Wut.
Joran seufzte. Er sah mich ernst an und sagte dann langsam: "Es tut mir Leid, dass euch soviel Schlimmes widerfahren ist, bitte glaubt mir das. Und es schmerzt mich, dass ich euer Gemüt noch mehr belasten muss, aber der Grund meines Erscheinens ist leider sehr ernst. Ja, ich bringe schlimme Nachrichten." Er zögerte, offensichtlich fiel es ihm nicht leicht, das zu sagen, was er mir mitzuteilen hatte. Schließlich straffte er seine Gestalt und sagte leise, mit abgewandtem Blick: "In der Stadt wütete eine Seuche, der auch eure Familie zum Opfer fiel - nicht ein Mensch in ganz Karus überlebte, die ganze Stadt ist wie ausgestorben. Wer nicht durch die Krankheit starb, floh aus der Stadt, bis auf einige Plünderer und Brandschatzer ist dort niemand mehr."
Einen Moment stand ich wie vom Donner gerührt, dann wandte ich mich rasch wieder zum Kamin, damit Joran meine Tränen nicht sehen konnte. Meine Gedanken rasten. Meine Mutter, meine Brüder und Schwestern - tot. Mein Vater, den ich so verzweifelt um Liebe und Verständnis angefleht hatte - auch er war tot, es würde niemals zu einer Aussprache oder gar zum Frieden zwischen uns kommen können. Und alle meine Freunde... Ich spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als ein weiteres geliebtes Gesicht vor meinem inneren Auge auftauchte. Leise flüsterte ich ihren Namen, den ich seit meiner ersten Kindheitserinnerung im Herzen trug: "Inassara...". Die Tränen rannen über mein Gesicht. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich hatte dem Fremden schon zuviel von mir preis gegeben! Ich musste die Fassung bewahren. Ein merkwürdiger Gedanke schoss mir durch den Kopf: Auf verdrehte Art und Weise war Joran das einzige, was mir von meiner Familie geblieben war. Ich durfte ihn nicht durch weichliches Herumgeflenne verjagen! Auf den Gedanken, dass er echtes Verständnis für meine Trauer haben könnte, kam ich damals nicht. Zu frisch war auch nach Jahren noch die Erinnerung an die Zeit, da ich der freien, fröhlichen Kindheit entwachsen war. damals sollte aus mir ein zurückhaltendes, stilles Geschöpf werden, wie meine Mutter es war - schön anzusehen und ansonsten völlig nebensächlich. Undenkbar, dass meine Mutter jemals einen öffentlichen Gefühlsausbruch, egal welcher Art, hätte haben können! Und wenngleich ich niemals so werden wollte und konnte wie sie, so hatte ich doch gelernt, dass man vor Gesellschaft - erst recht vor männlicher! - niemals seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Auch das war einer der Gründe, warum ich so gerne alleine lebte.
Ich nahm mich also zusammen und versuchte, die schreckliche Neuigkeit aus meinem Bewusstsein zu verdrängen, und es gelang mir - wenn auch nur fast und, wie ich wusste, nur für einen begrenzten Zeitraum. Eines nicht allzufernen Tages würden sich meine Gefühle ihren Weg bahnen. Doch nicht jetzt! Ich konzentrierte mich auf einen Gedanken: 'Ich bin Larina von Karus, Tochter des Iarus. Ich kenne keinen Schmerz. Ich bin stark!', und diese Formel aus meiner Jugend half mir ein wenig, so seltsam es auch klingen mag.
Schweigend bereitete ich den Sud zu, und mit zitternden Händen tauchte ich die Tücher hinein. Dann atmete ich tief durch und wandte mich wieder zu Joran um, der mich schweigend und mit unerträglichem Mitleid im Blick ansah.
Mit gesenktem Kopf ging ich zu ihm hinüber und begann, seine Wunde zu säubern. Nachdem ich sie gewaschen und verbunden hatte, setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl und starrte auf den Tisch.
Joran blieb ebenfalls eine Zeit lang still, dann räusperte er sich überlaut und sagte: "Äh, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich hatte einen langen Weg von Karus hierher, und wenn ihr vielleicht etwas zu Essen -“
"Aber natürlich!", rief ich und sprang auf, erleichtert über den Themenwechsel.
Ich wärmte uns den Eintof vom Vortag über dem Feuer auf - auch meine Kochkünste sind eher begrenzt, deshalb brachte mir die Bäuerin immer etwas, wovon ich länger etwas hatte - , und nachdem wir gegessen hatten, fühlte ich mich schon etwas besser.
Ich zündete mir die schlanke, kleine Pfeife an, die ich einst von einer meiner Tanten stibitzt hatte. Joran überraschte das offensichtlich: "Ich dachte immer, Töchtern der höheren Gesellschaft gebührt es nicht, zu rauchen oder zu zechen?". "Nun ja", erwiderte ich, "Ich bin ja nun keine Tochter der höheren Gesellschaft mehr, meint ihr nicht?"
Ich hatte versucht, den Worten einen ironischen Klang zu geben, aber die Schreckensnachricht vom Tod meiner Familie war noch zu frisch, ich klang nur verbittert. Joran musterte mich durchdringend, und ich wechselte rasch das Thema. "Was sollen wir jetzt unternehmen?", fragte ich Joran. Er sah mich erstaunt an und fragte mich, was ich damit meine. "Ich sehe keinen Sinn mehr darin, noch länger hier zu bleiben", erwiderte ich kühl und drängte den wieder aufkeimenden Schmerz zurück, "meiner Familie kann ich nicht mehr helfen, aber ich möchte die Klostergemeinde, die mich hier aufgenommen hat, vor der Seuche schützen, und vielleicht lässt sich auch herausfinden, was es mit diesem Wintereinbruch mitten im Mai auf sich hat. Was ihr tut, geht mich nichts an, aber ich werde auf jeden Fall nach Karus reiten und einen Brandkreis um die Stadt legen, damit die Krankheit sich nicht noch mehr ausweiten kann, und danach - ich weiß nicht, was danach kommt, aber hier will ich nicht bleiben. Ich werde fortgehen, so weit wie möglich, und wenn ich auch vielleicht nicht erfahren werde, warum es so kalt geworden ist, so schaffe ich es vielleicht doch, herauszufinden, warum das alles geschehen musste... Ich kann nicht glauben, dass so eine fortschrittliche Stadt wie Karus, die schon vielen Epidemien getroztz hat, einfach so dahingerafft wird - "
Plötzlich fiel mir etwas ein: "Sagt mir, Joran, warum habt ihr euch eigentlich nicht angesteckt?", fragte ich. Joran überlegte kurz und sagte dann: "Ich weiß es nicht wirklich, aber ich habe von einigen Menschen gehört, die aus unerklärlichen Gründen Krankheiten überlebten oder sich gar nicht erst ansteckten... Vielleicht sind manche Körper kräftiger als andere, oder ich hatte einfach Glück." Er schüttelte den Kopf. "Nein, an Glück glaube ich eigentlich nicht. Ich denke, ich habe überlebt, um dieser Sache auf den Grund zu gehen. Denn ihr müsst wissen", er sprach leiser, "...dass das keine gewöhnliche Seuche war. Es gab keinerlei Symptome einer bekannten Krankheit, ja eigentlich gab es überhaupt keine offensichtlichen Anzeichen! Die Menschen schienen einfach alle Lebenskraft zu verlieren, sie wurden sozusagen lebensmüde - einige brachten sich sogar selber um...Habe ich gehört. Ähem."
Er sah etwas verlegen aus, und seine Geschichte klang ja auch sehr merkwürdig. Sie bestärkte mich allerdings nur in meinem Entschluss, nach Karus zu reiten und zu tun, was nötig war...
Joran dachte einige Zeit nach, dann sah er plötzlich sehr entschlossen aus. "Ich begleite euch", sagte er, "zu zweit reist man besser, und ein Mann an eurer Seite gibt euch mehr Sicherheit" - ich schnaubte leise, aber er überging es - "und außerdem", seine Stimme wurde leise und traurig, "kann ich sowieso nirgendwo hin. Mein Orden hat mich verstoßen, und mein Herr ist tot. Ja, ich begleite euch auf jeden Fall!"
Ich widersprach ihm nicht, ehrlich gesagt war ich ganz dankbar für seinen Entschluss.
Viertes Kapitel
In den nächsten Tagen trafen wir alle nötigen Vorbereitungen für unser Unternehmen, und Joran bestand darauf, mir die Grundlagen des Schwertkampfes beizubringen. Ich hatte auf dem Speicher ein etwas schartiges, jedoch solides Schwert gefunden, und nachdem ich es am ersten Tag nur mit Mühe über meinen Kopf heben konnte, führte ich es bald einigermaßen geschickt. Später gestand Joran mir, dass ich im Ernstfall eher eine Bedrohung für mich selber als für meinen Gegner gewesen wäre, aber das sagte er mir damals nicht.
Im Laufe der Zeit legten wir auch unsere Förmlichkeit ab, und obwohl wir im Umgang miteinander noch immer irgendwie steif und verlegen waren, so duzten wir uns nun doch wenigstens.
Derweil tobte in meinem Inneren ein erbitterter Kampf zwischen dem Wunsch, dem ganzen Übel auf den Grund zu gehen und dem Bedürfnis, mich in meine Hütte zu verkriechen und alles zu vergessen, einfach zu vergessen. Ich fühlte mich keineswegs wie eine Heldin, die in ein aufregendes Abenteuer zieht und sich dafür mit ihrem Gefährten wappnet. Zwar saßen Joran und ich in gewisser Weise im selben Boot, aber in den ersten Tagen, die wir gemeinsam verbrachten, kam er mir mehr wie ein Fremder als wie ein Weggefährte vor, und das änderte sich auch erst sehr viel später, als die Ereignisse längst ihren Lauf genommen hatten und alle Konstanten in unser beider Leben ihre Gültigkeit verloren hatten. Und tatsächlich waren wir uns ja auch fremd, wenn auch die jüngsten Geschehnisse unsere Schicksale miteinander zu verknüpfen schienen.
Aber solch poetische Gedanken waren mir damals, in diesem eisigen Frühling, ferner als alles Andere. Wir mühten uns damit ab, den Hof winterfest zu machen, damit er auch nach unserer Abreise noch bewohnbar bliebe - wer konnte schon sagen, ob es jemals wieder Frühling oder Sommer werden würde? Außerdem mussten wir für warme Kleidung sorgen, und zwar nicht nur für mich, sondern natürlich auch für Joran.
Als er bereits einige Tage bei mir war, fanden wir auf meinem Speicher - wo auch mein Schwert herstammte - einige alte Männergarnituren, darunter auch ein paar brauchbare Wintersachen, die Joran halbwegs passten. Desweiteren packten wir für die Pferde warme Überwürfe ein und sorgten auch für uns beide für einige warme Decken. Wir hatten vor, nur wenig Proviant für uns und die Tiere mitzuführen, gerade soviel, dass es für den Weg von meinem Hof nach Karus und von da aus zum Kloster ausreichte, denn keiner von uns Beiden plante einen längeren Aufenthalt in der verlassenen Stadt und es war nur sinnvoll, dass wir danach unsere Vorräte im Kloster auffrischten. Außerdem wollte ich die beiden Pferde, die wir als Reittiere nicht benötigten, wieder in ihren heimatlichen Stall bringen. Die beiden anderen würde ich sicher behalten dürfen, schließlich pflegte ich sie seit langem und das Kloster hatte ohnehin keine wirkliche Verwendung für sie.
Nach etwa einer Woche waren wir soweit, der Tag des Aufbruchs war gekommen. Wir sattelten zwei meiner Pferde, die anderen beiden führten wir am Zügel mit.
Wir ritten früh los, und gegen Abend erreichten wir Karus - oder das, was davon noch übrig war. Ich erkannte sofort, dass ein Brandkreis hier unnötig war, die Plünderer hatten bereits ganze Arbeit geleistet. Obwohl ich die Stadt damals im Zorn verlassen hatte, schmerzte es mich doch, sie so zerstört zu sehen, denn ich verband neben all den schlimmen Erinnerungen auch einige schöne mit ihr, denn meine Kindheit war frei und unbeschwert gewesen; erneut stieg der Schmerz über den Verlust meiner Familie in mir auf, und ich musste hart schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Und auch der Name des lieben Menschen, dessen Verlust mir fast mehr Schmerz verursachte als alles andere, schoss mir wieder durch den Kopf: Inassara.
Als wir durch die rauchenden Ruinen ritten, drückte die allgegenwärtige Grabesstille schwer auf mein ohnehin schon trauriges Gemüt, und Joran schien es nicht anders zu ergehen.
Plötzlich hörten wir aus einem halbzerfallenen Haus das Weinen einer Frau, leise und verzweifelt; der Klang der Stimme ließ mich zusammenzucken.
Wir stiegen ab und betraten vorsichtig die Ruine; drinnen herrschte ein dämmeriges Zwielicht, und wir sahen eine zusammengekauerte Gestalt am Boden. Ihre Schultern bebten. Joran kniete neben ihr nieder und legte ihr eine Hand auf die Schulter, half ihr auf. Sie ließ sich von ihm nach draußen führen, und als ich im trüben Licht der Abenddämmerung ihr Gesicht sah, musste ich einen Aufschrei unterdrücken: Ich erkannte sie! Es war meine Amme, mit der mich mehr verbunden hatte als mit meiner eigenen Mutter - sie zu verlassen, war mir am schwersten gefallen, und als ich die Stadt verließ, hatte ich nicht den Mut aufbringen können, mich von ihr zu verabschieden... Es war Inassara.
Als sie mich erkannte, gab es eine Weile nichts anderes für uns beide, als uns zu umarmen und sentimentales Zeug zu reden.
Nachdem wir uns wieder gefangen hatten, fragte ich sie: "Sag mir, Inassara, was ist hier nur geschehen? Und wie konntest du überleben?"
Sie sah mich unverwandt an und sagte dann: "Kind, ich werde dir gerne alles erzählen, aber lass uns erst diese Geisterstadt verlassen." Dagegen hatten weder Joran noch ich etwas einzuwenden; doch als wir zu unseren Pferden gingen, winkte Inassara ab: "Ach nein, Kindchen, das dauert doch viel zu lange!", und mit diesen Worten drehte sie sich von uns weg und streckte eine Hand aus.
Sie rief etwas, das ich nicht verstand, und plötzlich veränderte sich die Welt um uns: Alles wurde zu einem glänzenden, rauschenden Farbwirbel, wir waren wie im Auge eines Sturmes. Ich meinte, eine leise, doch starke Melodie zu hören.
Wie betäubt fragte ich mich, ob ich vielleicht gerade verrückt würde. Wie konnte das sein? Erst war alles, wie es immer war; dann veränderte sich das Wetter, Joran tauchte auf, meine Familie, ja meine ganze Vergangenheit war mit einem Schlag ausgelöscht - und dann fanden wir nicht nur Inassara wieder, die wie durch ein Wunder überlebt hatte, nein, sie besaß plötzlich Kräfte, die für mich bis dahin nur in Geschichten existiert hatten! Ja, dachte ich, so muss es sich wahrhaftig anfühlen, wenn man den Verstand verliert, denn das alles kann unmöglich wirklich geschehen.
Während ich noch wie erstarrt diesen Gedanken nachhing, war der singende, glänzende Wirbel um uns herum auf einmal verschwunden, und wir standen zu dritt samt der vier Pferde auf dem Hof des Klosters.
Ich sah zu Joran, der nicht sehr intelligent das niedrige Gebäude anstarrte, vor dem wir standen, gerade so, als hätte er nie zuvor ein Haus gesehen. Ich schätze, dass ich selber wohl ähnlich dreinschaute, jedenfalls fühlte ich mich mehr als verwirrt. 'Aber das ist wohl normal, wenn man verrückt wird', beruhigte ich mich selber.
Inassara sah mich durchdringend an, dann führte sie Joran und mich schweigend ins Haus. Drinnen begegneten wir nur einigen Mönchen, die ihren Geschäften nachgingen und uns nicht weiter beachteten: Sie kannten mich, und wer in meiner Begleitung war, war für sie keine Bedrohung - was sollte bei Mönchen auch zu holen sein?!
Nachdem ich mit dem Vorsteher des Klosters gesprochen und die Pferde im Stall versorgt hatte, fühlte ich mich nicht mehr ganz so durcheinander. Denn auch die Mönche hatten natürlich den Wetterwechsel bemerkt und die alten Mauern des Klosters hatten von je her eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Ich fasste mich wieder und versuchte, zu akzeptieren, dass mein Leben nie wieder so sein würde, wie ich es kannte - es fiel mir sehr schwer.
Ich kehrte zu Inassara und Joran zurück, die in der Eingangshalle auf mich gewartet hatten, und gemeinsam nahmen wir im schlichten Speisesaal an einem der groben, langen Holztische Platz.
Inassara sah von Joran zu mir und wieder zurück, als würde sie uns abschätzen. Ich hielt es nicht länger aus, die Worte sprudelten nur so aus mir hervor: "Bitte, Inassara, sag endlich, was das war, was du da getan hast - du hast es doch getan, oder? Und wie hast du überlebt? Und warum wusste ich nie, dass du -" Sie unterbrach mich lächelnd: "Ach, Kindchen, „ - sie hatte mich immer Kindchen genannt, obwohl sie wohl nur zwanzig Jahre älter war als ich - "nun ist es wohl an der Zeit, dass ich dich einweihe. Deine Eltern haben mich nicht zufällig als Amme für dich ausgesucht; sieh mal, ich bin eine Magija, eine Magierin! Und mit jedem Schluck Milch, den ich dir gab, hast auch du etwas Magie in dir aufgenommen. Deine Mutter wollte immer, dass ich dich einmal ausbilde, dass du in meinen Orden eintrittst - und frei sein würdest. Sie wollte nie, dass du so endest wie sie. Aber dein Vater - nun ja, es kam ja dann ohnehin alles anders..."
Ihre Stimme verklang, sie blickte traurig an mir vorbei, als glitte ihr Blick zurück in die Vergangenheit, und wer weiß, vielleicht tat er das ja auch.
Ich brauchte einen Moment, um diese Erklärung zu verarbeiten. Meine Mutter hatte sich tatsächlich für mich eingesetzt. Sie war mir immer so schwach vorgekommen, und dann hatte sie doch den Mut, hinter dem Rücken meines Vaters so einen irrwitzigen Plan auszuhecken. Oh, wie Leid es mir tat, dass sie so ein grässliches Leben hatte führen müssen, und wie grausam mir meine Entscheidung, fortzugehen, nun erschien! Dabei hatte sie wirklich nur das Beste für mich gewollt...
Auch Joran schien erstaunt. Er fragte Inassara: "Ich dachte, es gäbe keine Magija mehr? Starben sie nicht aus?" Inassara schnaubte verächtlich und erwiderte: "Es gibt in der Tat nur noch wenige von uns, und sie müssen sich verborgen halten. Allerdings ist unser Orden nicht etwa ausgestorben, wie verbreitet wird, viele meiner Schwestern und Lehrerinnen wurden vielmehr verbannt oder hingerichtet! Viele von ihnen fanden den Tod im Namen des Tykar", fügte sie leise hinzu. Beim Namen dieser Gottheit zuckte Joran zusammen. Inassara nickte und bedachte ihn mit einem wissenden, mitleidigen Blick. Dann sagte sie leise: "Ja, Joran von Siltos, ich weiß, es schmerzt. Aber bedenke, dein Orden hat dich zwar verstoßen, nicht aber dein Gott. Denn Götter verstoßen nicht die, deren Herz ihnen treu ist. Und dein Herz ist treu, nicht wahr, mein Junge?" Dass sie zu Joran "mein Junge" sagte, hätte mir merkwürdig erscheinen können, war Inassara doch nur um die vierzig und er mit Sicherheit schon dreißig, aber die Art, wie sie sprach, ließ sie mit einem Male uralt erscheinen.
Joran sah sie ungläubig an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen - und schloss ihn wieder. Unter Inassaras durchdringendem Blick senkte er den Kopf. Sie wandte sich nun wieder mir zu: "Und du, meine liebe Larina. Ich bin so froh, dich wieder zu sehen; ich habe dich immer aus der Ferne beobachtet, und ich habe dich so vermisst! Aber nun" - ihre Stimme wurde ernst - "ist es an der Zeit, dass ich dich in dem unterrichte, was deine Mutter mir einst auftrug.
Ich weiß, dass du alles über diese Seuche und vielleicht auch das merkwürdige Wetter wissen willst, und du wirst bald alles erfahren. Aber ich kenne dich, wenn du erst einmal Bescheid weißt, wird dich hier nichts mehr halten - und ich kann dich nicht unvorbereitet ziehen lassen! Ich werde dir -"
"Aber Inassara!", rief ich ungeduldig, "Bitte sag mir -"
"Nein!", rief sie laut und erhob sich, was beeindruckend aussah - Inassara überragte selbst den großen Joran um ein paar Zoll.
"Nein, Larina, dieses Wissen kann ich dir erst anvertrauen, wenn ich dich gründlich darauf vorbereitet habe. Sei unbesorgt, ich habe die Zeichen gelesen, uns bleibt noch genug Zeit, um dich die Grundbegriffe der Kunst meines Ordens zu lehren."
Ich gab auf. Ich kannte Inassara, sie würde nicht nachgeben, und so fügte ich mich in das Unvermeidliche.
Fünftes Kapitel
Während der folgenden Wochen bekam ich Joran - oder jemand anderen - kaum zu Gesicht, so sehr beanspruchte mich meine Schnellausbildung in der Kunst der Magie, die mir bis dahin völlig fremd gewesen war.
Es war ganz anders, als ich und meine Freundinnen uns als Kinder immer ausgemalt hatten: Es gab wohl magische Formeln, seltsame Zutaten und mystische Gesten. Aber sie waren nur Spielerei im Vergleich zu dem, was den Kern der Magie ausmachte: Die Kraft, die in meinem Blut sang, in meinen Haaren prickelte und über meine Haut strömte. Als Inassara sie mir gezeigt hatte, konnte ich kaum verstehen, wie ich den Gesang der Magie in meinem eigenen Körper so lange hatte überhören können.
Inassara erklärte mir, dass jede Magija eine eigene Melodie habe, in deren Rhythmus sie ihre Kraft forme. Deshalb war der Zauber jeder Magierin einzigartig und unverwechselbar.
Als ich meine eigene Melodie das erste Mal hörte, musste ich fast mitsingen, so sehr beeindruckte mich ihre Kraft.
Und ich konnte nun auch Inassaras Melodie hören, sie war klar und ruhig, aber voller Macht. Ich hatte wahrhaftig das Gefühl, als könne ich erst jetzt wirklich Sehen und Hören - ja als würde mein ganzes Leben nun erst eine Bedeutung erlangen!
Inassara lehrte mich keine Zaubertricks oder dergleichen, sie meinte, ich müsse sehr schnell die Kampfmagie beherrschen lernen. Dazu sollte ich meine magische Melodie mit meinem Willen, nein, meinem Fühlen so beschleunigen, dass aus der harmonischen Musik ein tosendes Brausen wurde. Als ich es nach einigen Tagen schaffte, war es so mächtig, dass ich meine körperliche Kraft förmlich wachsen fühlte.
Ich selbst schien zu wachsen, ich hatte das Gefühl, ich könnte alles zerstören, wenn ich es nur wollte. Und tatsächlich war der Drang dazu plötzlich so stark und überwältigend, dass ich nach einem Stuhl griff und ihn durch die bloße Berührung meiner Finger in einer lodernden Stichflamme zu Asche verbrannte.
Das erschreckte mich selber so sehr, dass ich zurücksprang und meine Melodie ganz automatisch abbremste, verlangsamte, leiser werden und verklingen ließ.
Ich sah Inassara entsetzt an. Sie jedoch lächelte und sagte: "Das war schon sehr gut, Larina; aber das wahre Ausmaß deiner Kräfte wird sich erst entfalten, wenn du gelernt hast, sie bewusst zu bündeln und kontrolliert einzusetzen. Allerdings", sie sah plötzlich besorgt aus, "bleibt uns dafür wohl nicht mehr genug Zeit." Sie dachte kurz nach. "Du wirst es unterwegs von mir lernen!", fügte sie schließlich bestimmt hinzu. Ich war erstaunt: "Du kommst mit uns?" Inassara gluckste nachsichtig. "Kindchen, das hatte ich sowieso vor! Denkst du, ich lasse dich und deinen Freund" - sie zwinkerte mir zu, und zu meinem Ärger wurde ich mal wieder rot - "ganz alleine losziehen? Nein, nein, mit mir seid ihr besser dran. Und ich kann dich unterwegs weiter ausbilden... Obwohl ich natürlich hoffe, dass wir unsere Kräfte gar nicht brauchen werden.", schloss sie etwas leiser.
Plötzlich fiel mir etwas ein. "Inassara", sagte ich und begann dabei, die Asche vom Boden aufzufegen. "ich weiß, ich sollte dich nicht mehr danach fragen, aber... Willst du mir jetzt nicht endlich sagen, wohin wir überhaupt gehen werden?"
Als Inassara nicht antwortete, blickte ich auf und sah, dass sie am Fenster stand; wieder einmal schien ihr Blick in eine andere Zeit, vielleicht eine andere Welt abzuschweifen. Ich stand auf und trat neben sie, um auch aus dem Fenster zu sehen; aber ich sah nur den Hof des Klosters, groß, von den langen Wohn- und Arbeitsgebäuden eingesäumt. Der Boden war mit Schnee bedeckt, denn obwohl es inzwischen Juni geworden war, hielt das unnatürliche Winterwetter die Welt fest in seinem eisigen Griff, und die Bäume, die den Hof umstanden, hatten ihr Laubkleid gänzlich eingebüßt und streckten nur noch kahle Äste wie in stummer Klage zum Himmel.
Inassara seufzte und wandte sich vom Fenster ab, ging hinüber zum Tisch und setzte sich. Sie ordnete umständlich die Falten des fließenden, langen Gewandes, dass sie aus der Kleiderstube des Klosters bekommen hatte. Schließlich blickte sie auf.
"Ich werde dir nun sagen, was ich weiß, Kind. Es ist nicht allzu viel, und vieles wird dir merkwürdig erscheinen, aber es ist an der Zeit, dass du erfährst, worauf du dich da einlassen willst." Sie sah mir ernst in die Augen. "Du sollst wissen, dass ich dich zu nichts zwingen will. Du kannst dich immer noch entscheiden, nicht zu gehen!" Ich lief zu ihr hinüber und ging vor ihr in die Hocke, so dass wir uns ansehen konnten. "Inassara, es war doch meine Idee, diesem Wetter und der merkwürdigen Seuche auf den Grund zu gehen! Wie könnte ich da jetzt noch nein sagen, jetzt, da ich entdeckt habe, was für Kräfte ich dank dir habe! Wie könnte ich dich - euch alleine gehen lassen? Nein, was immer uns erwartet, ich werde mitkommen!"
Später bereute ich mehr als nur einmal, so große Töne gespuckt zu haben, aber da war es bereits zu spät, viel zu spät... Aber zurück zu jenem winterlichen Junitag im Kloster. Ich hatte mich zu Inassara gesetzt, und sie erzählte mir nun in knappen Sätzen, was sie wusste.
Sechstes Kapitel
"Zunächst, Kind, möchte ich dir sagen, dass du nicht als einzige den Entschluss gefasst hast, den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Ich habe noch vor dem Beginn der schrecklichen Seuche gespürt, dass etwas vor sich geht, und mir war sofort klar, dass ich früher oder später etwas unternehmen würde. Weißt du, ich gehöre einer alten Schwesternschaft von Magija und weisen Frauen an - gehörte, muss es wohl heißen. Denn als ich beschloss, deine Amme zu werden, musste ich mich von meinen Schwestern trennen. Unser Kodex verbot uns den Kontakt zu Nichtmagiern, jenen Menschen, die uns so lange gejagt und gequält hatten, bis der Rest von uns dazu gezwungen war, ins Exil zu gehen und im Geheimen zu leben.
Nun ja, in unserer Schwesternschaft lernten wir, Gefahren zu erspüren und Bedrohungen vorauszusehen, nur so konnten wir vor Verfolgung einigermaßen sicher sein. Aber was ich in Karus spürte, war viel mächtiger als alles, was ich mit meinen magischen Sinnen jemals gefühlt hatte! Eine Bedrohung, die so übermächtig war, dass ich das Gefühl kaum ertragen konnte.
Auch ich war wie gefangen in Ängsten und bösen Vorahnungen, und nur mit äußerster Mühe konnte ich mich so weit daraus lösen, dass ich wieder klar denken und handeln konnte.
Du hast dich sicher gefragt, warum fast Niemand Karus beim ersten Anzeichen verließ - das lag daran, dass fast alle gleichzeitig heimgesucht wurden. Es gab auch keine körperlichen Symptome, die Leute wurden wie von einer Art Geisteskrankheit befallen, die sie in den Wahnsinn und zuletzt in den Selbstmord trieb.
Auch ich spürte die Auswirkungen, es war ein Gefühl tiefster Verzweiflung, dem ich nur dank eines magischen geistigen Schutzwalles widerstehen konnte, sonst hätte der Drang nach Erlösung sicher auch mich in den Selbstmord getrieben..." Als sie das sagte, sah ich sie erschrocken an, die Vorstellung, sie hätte sich umbringen können, konnte ich kaum ertragen. Daran, wie meine Eltern, meine Geschwister gestorben waren, konnte ich noch nicht einmal denken, ich musste es verdrängen, wenn ich nicht auch wahnsinnig werden wollte. Inassara schien zu spüren, was in mir vorging, denn sie legte mir die Hand auf den Arm und sagte: "Die Zeit zu Trauern wird kommen, Larina. Doch so schwer es auch sein mag, jetzt ist die Zeit, um stark zu sein! Lass mich nun meinen Bericht beenden." Ich atmete tief durch, blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und nickte dann. "Aber eines möchte ich vorher noch wissen, Inassara. Du hattest einen magischen Schutzwall. Aber wie konnte Joran der Krankheit widerstehen? Er hat nicht das geringste Anzeichen jener Verzweiflung gespürt, die du mir beschrieben hast!" Sie dachte kurz nach und sagte dann: "Ehrlich gesagt kann ich dir das nicht genau sagen. Es mag sein, dass sein Geist durch die Ausbildung zum Paladin gefestigter ist als bei anderen - ich weiß es nicht." Ich nickte. "Die Hauptsache ist, dass er nicht erkrankte. Vielleicht finden wir das Warum später noch heraus; bitte erzähle weiter!" Und Inassara fuhr fort: "Durch den schlagartigen Befall so vieler Menschen auf einmal war eine normale Krankheit natürlich auszuschließen. Und spätestens als das Wetter sich veränderte, war mir klar, dass das alles einen magischen Ursprung haben musste, vielleicht sogar in Zusammenhang miteinander stand. Ich streckte meine magischen Sinne aus, um den Ursprung dieser Phänomene zu finden. Ich traf auf einen mächtigen Strom einer alten Magie, die vor langer Zeit in meiner Schwesternschaft verboten wurde, weil niemand sie beherrschen konnte, ohne wahnsinnig zu werden. Doch ich spürte, dass irgendjemand diese Magie nicht nur nutzte, sondern auch korrumpiert und zum Bösen gewandelt hatte. Ich konnte nicht erkennen, wer es ist, aber etwas im Muster des Stromes kam mir bekannt vor.
Doch ich konnte nicht weiter vordringen, und so musste ich nach einiger Zeit aufgeben. Meine geistige Abwehr war durch die Anstrengung so geschwächt, dass ich zwar nicht verrückt wurde, aber von einer mächtigen Welle der Trauer und Hilflosigkeit überwältigt wurde. Wenn ich schon nicht herausfinden konnte, wer dahinter steckte, wie sollte ich dann überhaupt dagegen ankommen? An meine ehemaligen Schwestern konnte ich mich nicht wenden, wer nicht dazugehört, kann sie ohne ihren ausdrücklichen Wunsch nicht finden, auch ich nicht. Ich war also allein und fast verzweifelt, als ihr mich fandet, und als ich dich sah, keimte in mir neue Hoffnung: Auch du trugst ja Magie in dir, ich war nicht mehr allein! Und nun, da ich weiß, was du bewirken kannst - und es ist weit mehr, als du jetzt selber ahnst! -, habe ich wieder Mut und bin zuversichtlich, dass wir beide, zusammen mit Joran, vielleicht doch etwas bewirken können.
Denn wenn ich auch nicht weiß, wer dahinter steckt, so konnte ich doch wenigstens herausfinden, woher die Magie kommt, und dorthin werden wir auch gehen: Zur alten Tempelstadt Tykarhast."
Siebtes Kapitel
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Tykarhast? Jene legendäre Stadt, in der einst der Orden des Tykar, dem auch Joran angehört hatte, seinen Sitz hatte? Aber diese Stadt war verschwunden, sie war solange von niemandem gesehen oder gar betreten worden, dass man ihre Lage vergessen hatte - in den Herzen der Menschen war sie zu einem Mythos geworden, einem Märchen für lange Winterabende...
Mein Gesicht schien meine Gedanken widergespiegelt zu haben, denn Inassara lächelte schwach und sagte: "Ja, mein Kind, ich weiß, für dich ist diese Stadt nicht mehr als eine Erzählung. Aber es gibt sie noch immer, und wie man merkt, lebt dort wohl auch Jemand - und dieser Jemand ist weit mächtiger, als meine Schwestern seit Generationen zu sein vermochten! Wir müssen aus zwei Gründen dorthin, Larina: Wir müssen herausfinden, was dort vor sich geht und wer es verursacht - und wir müssen es aufhalten. Dieser Strom, den ich gespürt habe - wer immer ihn verursacht hat, er wird sich nicht damit begnügen, eine Stadt auszurotten oder ein Land im Winter zu versenken!" Während sie sprach, war Inassara aufgesprungen und wanderte nun unruhig durch den Raum. Ich erhob mich ebenfalls. "Ich kann kaum fassen, dass diese Stadt tatsächlich existieren soll, aber ich vertraue dir, und wenn wir dort die Ursache all dieser Ereignisse finden können, dann gehen wir natürlich dorthin! Aber nun sag mir, wo liegt Tykarhast?"
Inassara blieb stehen und lächelte. "In den Legenden, die man sich erzählt, heißt es, sie läge dort, wo kein Mensch lebt, keine Pflanze atmet, kein Stern jemals zu sehen ist... Und in gewisser Weise stimmt das auch." Ich unterbrach sie. "Moment mal, soll das etwa heißen, sie ist für uns unerreichbar?" "Nein, ganz und gar nicht!", erwiderte Inassara, "Tykarhast liegt wirklich dort, wo kein Mensch lebt und kein Stern zu sehen ist - es liegt unter der Erde." Ich fühlte eine Welle der Enttäuschung. "Aber das ist unerreichbar! Sollen wir uns vielleicht bis dahin durchgraben?!", platzte ich heraus. Inassara wollte gerade antworten, da öffnete sich die Tür und Joran trat herein. "Darf ich eure Lehrstunde kurz unterbrechen? Es ist dringend!" Natürlich baten wir ihn herein und er legte sofort los: "Der Mönch, der die Rundgänge macht, ist eben zurückgekehrt, und er bringt schlechte Nachrichten. Das Winterwetter dehnt sich aus, und seltsamerweise scheint es in südlicher Richtung schlimmer zu werden, so, als käme es daher - wenn dem so sein sollte und unser Weg nach Süden führt, müssen wir Morgen aufbrechen, sonst kommen wir gegen den Schnee nicht mehr an!" Inassara nickte. "Es ist, wie ich mir dachte. Tykarhast liegt im Süden, wir sollten also Morgen früh aufbrechen." Bei der Erwähnung der Tempelstadt war Joran heftig zusammengezuckt. Er sah Inassara fragend an, aber ich kam ihr mit einer Antwort zuvor: "Inassara sagt, dass all unsere Probleme ihren Ursprung in Tykarhast haben. Wusstet ihr eigentlich, dass die Stadt unter der Erde liegt?" "Ja", erwiderte Joran, "sie liegt schon sehr lange dort unten, ein mächtiger Priester versenkte sie einst, um durch absolute Isolation vom Rest der Welt die Keuschheit und Konzentration des Ordens sicherzustellen und zu steigern. Ich erhielt meine Ausbildung in einem anderen Ordenssitz, aber viele der älteren Priester und Paladine sprachen oft davon, in Tykarhast wäre unsere Gemeinschaft besser dran... Und auch mein Ausstoß aus dem Orden hätte dort wohl verhindert werden können..." Er senkte den Kopf. Ich halte mich nicht für einen sehr sensiblen Menschen - im Gegenteil, manchmal bin ich geradezu taktlos - , aber selbst ich merkte damals, dass Jorans Status als "gefallener" Paladin sein wunder Punkt war und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, besprach mit Inassara die Reiseroute und bemerkte am Rande, wie Joran mir dankbar zulächelte. Und schon wieder wurde ich rot, wie mich das ärgerte!
Achtes Kapitel
Wir gingen an jenem Abend früh zu Bett, denn am nächsten Morgen wollten wir früh aufbrechen. Doch nach kurzem Schlaf wurden Inassara und ich in unserem gemeinsamen Schlafraum durch Lärm auf dem Flur geweckt, und als wir - ich zerwühlt und verschlafen, Inassara würdevoll wie immer - hinaustraten, war auch Joran bereits aus seiner Kammer gekommen, um nachzusehen, was los war. Am Eingang standen zwei Mönche, die einer zitternden Gestalt eine Decke umlegten und auf sie einredeten; es war ein junger Mann, vielleicht wie ich um die zwanzig, der verängstigt und ausgehungert aussah. Wir begleiteten ihn und die Mönche in die Küche, wo auch nachts ein behagliches Feuer im großen, offenen Ofen brannte und der durchgefrorene Mann erst einmal einen Becher heißen Wein bekam. Nachdem er sich etwas aufgewärmt hatte, bekam er auch etwas zu Essen, und zwischen den Bissen erzählte er seine Geschichte: "Mein Name ist Alessius, ich stamme aus Karus, vor kurzem wurde ich Mitglied der Stadtwache und - bei den Göttern, seid ihr nicht die verlorene Tochter des armen Seneschalls?", rief er plötzlich aus und verschluckte sich fast. Ich nickte, und da ich nicht bereit war, näher darauf einzugehen, zuckte Alessius die Achseln und erzählte weiter. "Als die Seuche ausbrach, war ich auf Patroullie und wurde deshalb verschont, denke ich. Ich schlug mich bis hierher durch, was ohne Pferd und alleine nicht leicht ist... Und da bin ich nun." Inassara nahm mich beiseite und flüsterte: "Etwas an ihm ist seltsam, Kind. Er lügt, da bin ich sicher, denn die Stadtpatroullie bestand immer aus mindestens fünf Mann! Wir sollten -" weiter kam sie nicht, denn Alessius rief lauthals, er habe soeben beschlossen, mit uns zu kommen, die Mönche hätten ihm von unserer Reise berichtet. Ich verdrehte die Augen, aber Inassara warf mir einen warnenden Blick zu und sagte Alessius, er könne uns gerne begleiten. Später, in unserer Kammer, sagte sie: "Wenn wir ihn bei uns haben, kann ich sofort eingreifen, wenn er irgendetwas im Schilde führt. Es mag dir merkwürdig erscheinen, aber in dieser Zeit bin ich lieber zu vorsichtig als zu nachlässig. Außerdem", fügte sie munter dazu, "können ein paar Hände mehr bei einer Reise nicht schaden. Und jetzt müssen wir uns ausruhen, Kind, sonst schlafen wir Morgen im Sattel ein!"
Nach reichlich wenig Schlaf brachen wir bei tiefster Finsternis am nächsten Tag auf. Wir hatten uns mit dicken Mänteln gegen die Kälte gewappnet, und Inassara und ich trugen Männerhosen und Schwertgurte, obwohl wir uns mit den Waffen an der Hüfte eher unbehaglich und eingeschränkt als sicher fühlten - doch Joran bestand darauf, dass wir uns nicht allein auf die Magie verließen. Wir hatten die vier Pferde, die Joran und ich mitgebracht hatten, erneut zur Verfügung gestellt bekommen und auch sie trugen dicke Überwürfe gegen die schneidende Winterluft, in der unser Atem weiße, dampfende Wolken bildete.
Wir ritten Richtung Süden, und schon am Mittag war das Schneetreiben so dicht geworden, dass wir anhalten und Rasten mussten. Joran und Alessius mühten sich mit tauben Fingern damit ab, ein Feuer in Gang zu bekommen, scheiterten jedoch kläglich. Inassara seufzte und sagte: "Lasst es gut sein, ich kümmere mich darum", und mit diesen Worten legte sie die Hände aneinander. Ich nahm eine schwache magische Welle wahr, und im nächsten Moment loderte wie aus dem Nichts ein herrliches, warmes Feuer in unserer Mitte, ganz ohne Holz. Joran pfiff anerkennend, Alessius dagegen sah Inassara erstaunt an und fragte, wie sie das gemacht hätte. Sie erwiderte: "Das ist doch unwichtig! Jetzt wärmt euch auf, meine Energie kann dieses Feuer nicht ewig in Gang halten und wir brauchen dringend einen Plan, wie wir bei dem Wetter weiterkommen." Wir stellten uns nah an das Feuer, die Pferde drängten sich etwas abseits zusammen. Ich dachte nach und meinte dann: "Sag, Inassara, können wir beide nicht eine Art Wärmeschild um uns herum aufbauen?" Sie lächelte nachsichtig und sagte: "Das könnten wir wohl, aber es birgt mehrere Nachteile. Erstens würde eine so große Anstrengung unser beider Kräfte sehr schwächen, und ich weiß nicht, wie lange wir damit haushalten müssen und ob wir sie dann noch genügend einsetzen können, wenn wir an unser Ziel gelangen. Zweitens wären wir mit einem solchen Wärmefeld nicht nur weithin zu sehen, sondern für Magija und andere Zauberer auch zu fühlen, lange bevor wir etwas erreichen! Wir müssen unterwegs so wenig Magie wie möglich einsetzen, um gar keinen Preis darf wer auch immer dahinter steckt uns jetzt schon erkennen! Und da wir schon davon sprechen, dieses Feuer kann ich nur noch ein paar Minuten aufrechterhalten, ohne dass wir entdeckt werden." Wir schwiegen. Wie sollte es weitergehen? Schließlich sah Joran grimmig in die Runde und sagte: "Es hilft nichts, wir müssen ohne Magie auskommen, und das bedeutet, dass wir uns so durchschlagen müssen. Ich schlage vor, wir reiten weiter, solange es irgendwie geht, mit euren magischen Sinnen könnt ihr die Richtung doch auch ausmachen, ohne dass man uns entdeckt, oder?" "Ja schon, aber -", setzte ich an, aber Joran fuhr unbeirrt fort: "Und wenn es nicht mehr anders geht, müssen wir eben die Pferde zurücklassen und zu Fuß weitergehen! Wenn Niemand etwas Besseres weiß, schlage ich vor, dass wir es so machen." Nach kurzem Nachdenken stimmten wir ihm zu, was blieb uns auch anderes übrig? Inassara ließ das magische Feuer wieder erlöschen und wir ritten frierend weiter, meine ehemalige Amme und ich an der Spitze. So bewegten wir uns wie blind durch das Schneetreiben, nur geleitet von unserem magischen Richtungssinn.
Neuntes Kapitel
Am Abend schlugen wir ein kaltes Lager auf, und ich konnte vor lauter Zittern kaum einschlafen. Ich fror entsetzlich, und die Anderen hatten es nicht besser, obwohl wir uns eng aneinander drängten. Am nächsten Morgen mussten wir auch noch feststellen, dass zwei der Pferde erfroren und die beiden anderen verschwunden waren. Ich war traurig und entsetzt, hatte ich die Tiere doch sehr geliebt. Und ohne sie würde unsere Reise noch um vieles bitterer werden, als sie ohnehin schon war - das entmutigte mich zusätzlich. Aber es half nichts, und nachdem Inassara mir gut zugeredet und ich mich wieder etwas beruhigt hatte, gingen wir zu Fuß weiter, so gut es ging.
Im Laufe der Tage wurde die Landschaft - oder das, was wir durch den dichten Schneeschleier und unsere eisverkrusteten Wimpern sehen konnten - immer verlassener und verheerter. Zu Beginn unserer Reise hatten wir noch ab und an kleine Siedlungen entdeckt, wo wir uns manchmal ausruhen und einige Vorräte mitnehmen konnten. Und auch wenn wir nur entsetzte Blicke ernteten, wenn wir davon sprachen, dass wir nach Süden unterwegs waren, so begegneten uns doch die meisten Menschen freundlich.
Aber nach einiger Zeit waren die Siedlungen, durch die wir kamen, verlassen, und die Menschen, die noch geblieben waren, wiesen uns ab. So sahen wir uns eines Tages genötigt, in ein verlassenes Haus einzubrechen, wir waren so durchgefroren und ausgehungert, dass wir nicht mehr anders weiter wussten. Zu unserem Glück schien die Hütte Hals über Kopf verlassen worden zu sein, denn wir entdeckten Feuerholz und einige Vorräte. Nachdem wir uns gewärmt und gestärkt hatten, verbrachten wir seit langer Zeit wieder einmal eine angenehme Nacht. Das heißt, wir konnten nur vermuten, dass es Nacht war, denn seit Tagen war es draußen permanent so dunkel gewesen, dass wir jedes Zeitgefühl verloren hatten.
Gestärkt verließen wir am nächsten Morgen - oder Abend - die Siedlung, beladen mit dem, was wir aus den Vorräten der Hütte tragen konnten. Der Wind blies uns mit unerbittlicher Kälte Schnee und winzige Eisnadeln ins Gesicht, die auf der Haut brannten. Unsere Winterkleidung schützte uns schon längst nur noch vor dem Erfrieren, wärmen konnte sie uns nicht mehr. Wir wanderten bald durch eine schier endlose Eiswüste, denn wo sich Inassaras und Jorans Berichten zufolge einstmals eine heiße Steppe erstreckt hatte, gab es nun nichts mehr als Schnee und klirrende Kälte - und natürlich den allgegenwärtigen Wind, der die Gesichter taub werden ließ. Von Zeit zu Zeit mussten Inassara und ich kleine magische Feuer entfachen, um uns wenigstens für einige kurze Augenblicke etwas aufzuwärmen.
Natürlich fuhren wir auch mit meiner Ausbildung fort, und ich konnte bald recht passable Brandlöcher in die dichte Schneedecke schießen. Allzu viel konnte ich leider nicht üben, da zu häufige Magieströme für magisch Begabte natürlich zu einem wahren Signalfeuer geworden wären.
Alessius hielt sich bei allen Gesprächen sehr zurück, wir erfuhren so gut wie nichts über ihn. Allerdings störte uns das nicht sehr, denn er war alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse: Er hatte grauenvolle Manieren, aß - oder besser fraß - wie ein Tier und ging uns auch sonst mit seiner Unfreundlichkeit und schlechten Laune mächtig auf die Nerven.
Mit Joran allerdings verband mich bald eine Vertrautheit, die ich mir am Tag unserer ersten Begegnung nie hätte träumen lassen. Dadurch, dass wir beide viel verloren hatten, konnten wir einander viel Verständnis entgegenbringen.
Eines Tages - wir waren nun wohl an die drei Wochen unterwegs - erzählte mir Joran auch, warum er aus dem Orden verstoßen worden war: Er war in einem Tempel außerhalb von Tykarhast aufgewachsen und die Mönche dort trieben regen Handel mit einem benachbarten Dorf. Eines Tages - Jorans Ausbildung zum Paladin war erst seit kurzem beendet - wurde er mit einem Botengang in jenes Dorf geschickt. Dort traf er zum ersten Mal auf ein Mädchen, das keine Priesterin war und ihn ziemlich direkt anschäkerte. Der arme Joran war völlig hin und weg, und so kam es, wie es kommen musste: Er verliebte sich in sie, und sie wurden ein heimliches Paar. Doch der Orden erfuhr natürlich davon, und da Joran als Paladin ein Keuschheitsgelübde hatte ablegen müssen, war diese Beziehung ein schwerer Verstoß gegen die Regeln, der nur eines zur Folge haben konnte - Verbannung. Als Joran völlig aufgelöst zu seiner Liebsten kam und ihr alles erzählte, freute sie sich und redete von einer freien Zukunft ohne alberne Klosterbräuche. Das war zuviel für ihn, und er verließ sie am gleichen Tag und machte sich auf den Weg nach Karus.
Zehntes Kapitel
Ich konnte zwar nicht ganz nachfühlen, wie ihm zumute gewesen sein musste, als seine Geliebte ihm soviel Unverständnis entgegenbrachte, aber ich versuchte trotzdem - wie dumm von mir! - , etwas dazu zu sagen: "Weißt du, sie war es wahrscheinlich sowieso nicht Wert, dass du sie mochtest, wenn sie dich so schlecht verstand." Daraufhin wurde Joran ärgerlich und erwiderte: "Zuerst einmal mochte ich sie nicht einfach bloß, ich habe sie geliebt. Und außerdem, woher nimmst du die Erfahrung, das zu beurteilen? Warst du etwa dabei, als ich aus dem Orden ausgeschlossen wurde? Nein. Und warst du dabei, als sie mich so missverstand? Wieder nein! Und schon gar nicht kannst du wissen, wie sie war, du kanntest sie nicht, und du kanntest mich nicht - du kennst mich ja nicht einmal jetzt, sonst würdest du nicht so etwas taktloses sagen! Ach, wie dumm von mir, dir das anzuvertrauen, ich hätte wissen müssen, dass du es falsch verstehst.", und mit diesen Worten stapfte er beleidigt davon. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, und gleichzeitig hätte ich mich selbst dafür ohrfeigen können, dass ich mal wieder mein vorlautes Mundwerk nicht hatte halten können. Joran hatte Recht, ich wusste nichts von dieser Frau - oder überhaupt von der Liebe, denn ich war niemals ernsthaft verliebt gewesen, mehr als ein paar harmlose Schwärmereien und eine kurze, aber heftige Romanze mit einem Stallburschen meines Vaters hatte ich nicht vorzuweisen. Und insgeheim konnte ich die Reaktion von Jorans Geliebter auch fast verstehen, wie schwer musste es ihr gefallen sein, immer an zweiter Stelle nach seinem Glauben zu kommen, der ihm so wichtig war, dass er dafür seine Liebe verleugnete! Und überhaupt, welcher normale Mensch konnte denn auch im Zölibat leben?! Aber da Joran das ja ganz und gar nicht so sah, behielt ich diese Meinung für mich. Ich dachte allerdings, wenn ich dieses Mädchen gewesen wäre, vielleicht wäre Jorans Verhältnis zu Frauen dann nicht so verkorkst. Überhaupt dachte ich in letzter Zeit viel öfter an ihn, als angemessen gewesen wäre, und als wir einmal - unser Streit war vergessen, keiner von uns rührte mehr an das Thema, und Joran hatte mir meinen Ausrutscher anscheinend verziehen - nebeneinander mit schneeverkrusteten Stiefeln durch die Kälte stapften, erschien vor meinem geistigen Auge plötzlich ein Bild von Joran und mir, in inniger Umarmung. Bei dem Gedanken wurde ich natürlich puterrot, und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass Joran das nicht verborgen blieb, jedenfalls sah er mich in den nächsten Tagen oft sehr merkwürdig an. Ich wurde jedes Mal rot, wenn mich sein durchdringender Blick traf, und dachte mir die unglaublichsten Ausflüchte für meine allzu gesunde Gesichtsfarbe aus (normalerweise waren unsere Gesichter grau vor Kälte, Hunger und Müdigkeit) - einmal behauptete ich allen Ernstes, mir wäre einfach so warm, was ich natürlich sofort bereute. Denn Joran - und auch Inassara - sahen von mir zur unendlichen Schneedecke und zurück, und Inassara konnte sich kaum ein Lächeln verkneifen. Joran dagegen wandte sich ab, und fast schien es mir, als werde er auch rot, was mich natürlich noch mehr aus der Fassung brachte. Ich stammelte etwas davon, dass ich etwas zu Essen besorgen wollte, und entfernte mich ein Stück von der Gruppe.
Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, und man konnte recht weit sehen. Ich streifte ein wenig umher und fand eine der Pflanzen, von denen wir uns seit Wochen ernährten: Ein eigenartiges Gewächs, dass entfernt an einen Kaktus erinnerte. Es speicherte auch Feuchtigkeit und hatte fleischige Blätter, war jedoch stachellos und als einzige Pflanze in dieser Ödnis nicht völlig steif gefroren. Inassara meinte, es handele sich vermutlich tatsächlich um ein Wüstengewächs, dass sich auf erstaunliche Art und Weise dem Wetterumschwung angepasst habe.
Ich trennte mit meinem Messer - die großen, unhandlichen Schwerter hatten Inassara und ich schon vor Tagen im Schnee "verloren", sie behinderten uns einfach zu stark beim Laufen; und obwohl Joran natürlich ahnte, dass wir sie absichtlich zurückgelassen hatten, hatte er nur resigniert die Achseln gezuckt und nichts weiter dazu gesagt - die ganze Pflanze ab und ging zu den Anderen zurück.
Wir legten eine Rast ein und kauten mäßig begeistert auf den Blättern der Pflanze herum, während unser Atem weiß in der Luft hing und wir uns immer wieder Schnee und Eiskristalle aus den Augen wischen mussten. Wir konnten die Teile der Pflanze kaum halten, unsere steifgefrorenen Finger versagten uns trotz der dicken Handschuhe, die wir alle trugen, immer wieder den Dienst und so musste ständig einer von uns die ihm entglittenen dicken Blätter mühsam wieder von der gefrorenen Schneedecke aufnehmen. Wenn wir nicht so erbärmlich gefroren hätten, wären diese unbeholfenen Versuche sicher lustig gewesen - doch das Lachen war uns in dieser Winterödnis schon längst vergangen.
Nach der Rast setzten wir unsere Reise fort, ständig gegen den immer stärker werdenden Wind gelehnt, der uns inzwischen mit seinem eisigen Hauch fast den Atem raubte. Wir hatten uns Tücher vor Mund und Nase gebunden, damit die Luft nicht ganz so eisig in unseren Lungen stach; trotzdem war das Atmen eine Qual, und wir kämpften uns in drückendem Schweigen voran.
In den nächsten Tagen sprachen Joran und ich sehr wenig miteinander, einmal, weil uns die Kälte jede Lust am Reden nahm, und außerdem brachten wir einfach kein vernünftiges Wort über die Lippen. Er war schroff und abweisend zu mir, und ich begnügte mich vorläufig damit, rot zu werden, sobald er nur neben mir her ging. Aber unser Herumgedruckse hatte auch ein Gutes: Es lenkte uns von der Bitternis unseres Unterfangens ab.
Eines Tages erreichten wir eine Hügelkuppe, und nachdem wir sie rutschend und schlitternd erklommen hatten, konnten wir einen weiten Talkessel überblicken, eine endlose, weiße Fläche.
Joran seufzte schwer. „Ich glaube, wenn ich noch mehr Schnee sehe, werde ich blind“, murrte er und rieb sich die Schläfen. Inassara ergriff meine kalte, behandschuhte Hand und flüsterte: „Spürst du das?“. Ich schloss die Augen und ließ meine magischen Sinne durch die klirrende Kälte schweifen. Und da war es, direkt in diesem Tal! Ich konnte ganz deutlich zwei magische Quellen ausmachen, die eine schwach und unbekannt, die andere - die andere war der Ursprung jenes Stromes, dem wir folgten, von ihr ging ein starkes magisches Geräusch aus - anders konnte man es nicht beschreiben, denn mit den zauberhaften Melodien, die ich inzwischen kannte, hatte dieses Getöse nichts zu tun. Es war noch ein gutes Stück entfernt, befand sich aber definitiv in diesem Talkessel und schmerzte selbst aus der Entfernung in meinem magischen Fühlen. Ich öffnete die Augen wieder. Mit einem Schlag lastete unser Vorhaben schwer auf mir, ich wünschte mir - nicht zum ersten Mal -, ich wäre nie hierher gekommen… Inassara drückte meine Hand kurz, dann sagte sie leise: „Und siehst du das dort unten?“.
Ich strengte meine Augen an, und tatsächlich erblickte ich talwärts am Fuße des Hügels, auf dem wir standen, etwas Großes, Grünes - es war ein Wald! Auch die beiden Männer hatten ihn entdeckt, und es war klar, dass wir uns das näher ansehen würden, sei es nur, um das erreichen unseres Zieles noch etwas hinaus zu zögern - denn was immer uns dort erwarten mochte, wir alle spürten, dass es nichts Gutes war und unser Schicksal ungewiss.