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[Story] Göttertraum

Nero

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3 Oktober 2008
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Hallihallo,
nach einigen Spielberichten bin ich nun zurückgekehrt, um erneut zu berichten - diesmal aber auf andere Art und Weise und mit etwas mehr Ernsthaftigkeit. ;)
Eigentlich kann ich gar nichts weiter sagen. Steht ja im Titel: Hier gibts eine Story.
Ich habe sehr wenig Zeit, aber ich gebe mir Mühe, zumindest jede Woche etwas hier einstellen zu können. :)


Göttertraum

Am einen Ende der Welt verliebt sich ein Zauberer in eine Göttin. Am anderen Ende öffnen sich die Tore zur Unterwelt, und eine junge Kriegerin wird vor die schwerste Prüfung ihres Lebens gestellt. Schicksal verknüpft die Lebensfäden der beiden, und die Konturen von Göttern und Dämonen verschwimmen. Die Grenzen der Dimensionen zerfallen, und die beiden Menschen müssen ihren Weg in einer Welt erkämpfen, die nicht mehr die ihre ist - und vielleicht, wie sie erkennen müssen, es noch nie war.

Inhaltsverzeichnis
I Der Bruder (Kapitel entfernt, da einfach schlecht und für die Geschichte unnötig bis hinderlich. Bei großem Interesse an dem Fragment bitte eine PN senden ;))
II Die letzte Order
III Ewige Wacht
IV Himmel in Flammen
V Reise mit dem Dämon
VI Teufelssöhne
VII Blutgeboren
VIII An der Schwelle
IX Die Legende
X Der Arm eines Gottes
XI Baphomet
XII Ein gerechter Preis
XIII Das größte Geschenk
XIV Gläserne Wüste
XV Prinzessin Hundertwaffe
XVI Göttertraum
XVII Zwei Königinnen
XVIII Unsterblich
XIX Epilog: Das Ende des Traums
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Ok, inhaltlich kann man noch nicht so viel sagen aber gespannt wie es weitergeht bin ich jetzt schon :)
Ein bißchen komisch ist es vielleicht, dass eine Königin wie du sie hier beschreibst plötzlich "Freundentränen" vergießt?

Von der Sprache her find ich das jedenfalls sehr angenehm zu lesen.

Hoffe du findest möglichst bald Zeit für ein neues Kapitel :angel:
 
bin mal gespannt, wie die geschichte weitergeht, fängt ja schonmal vielversprechend an. (obwohl, das mit den fackeln aus männern, das muss doch nicht sein :D )

Mit dem schreibstil hab ich persönlich noch ein paar schwierigkeiten. klingt finde ich noch etwas steif. liegt aber wahrscheinlich daran, dass du bis jetzt fast nur erzählst und kaum wörtliche rede oder gedanken vorkommen.
fazit: als einleitung durchaus gelungen (toller wortschatz btw.), wenn du weiterschreibst solltest du finde ich im schreibstil etwas varieren.
 
liest sich ja mal extrem gut :)

wie mein vorposter sagte schöne einleitung und leider bissle steif :p
 
Jawoll! Erstmal danke. Und: Ich werde das ändern - weniger erzählen und mehr Aktion. ;)
 
Verzeihung, ich bin gerade etwas krank und habe das Kapitel nicht ganz in einer Woche geschafft. Deshalb hier schon einmal ein Großteil, Rest wird nachgereicht.
Ich hoffe, ich habe mich etwas gebessert! :)

II Die letzte Order

Die Flamme auf dem Altar verbreitete den Duft, der den Tod brachte. Der Rauch schloss den gesamten Tempelraum ein, trennte ihn ab von dem Dorf, dem Dschungel und den Mooren. Maro hielt die Hände gefaltet, die Beine auf dem Meditationskissen gekreuzt. Die Gesichter der anderen Akolythen verschwammen hinter der Wand aus Rauch. Die Dämpfe brannten in seiner Nase, sogar auf seiner Haut, doch er rührte keinen Muskel. Manche Jungen wiegte das Gift der schwarzen Yata-Pflanze in ewigen Schlaf. Ihn nicht. Er würde leben.
Die Schädelfratzen an den Wänden starrten auf ihn hinab. Durch die vor Hitze zitternde Luft verzerrten sich ihre Mienen, als würden sie lächeln.
Schweißtropfen rannen durch seine Augenbrauen hindurch und in die Augen. Er schloss sie nicht. Der Schweiß brannte kaum mehr darin als die Dämpfe der verbrennenden Pflanzen.
Das Gleichgewicht halten. Zu sehr den Geist vom Körper lösen, und beide würden nie mehr zueinander finden, getrennt durch die Wand des tödlichen Dufts. Zu sehr den Geist von den Schmerzen ablenken lassen, und er würde den Moment nicht wahrnehmen können, auf den er zusammen mit den dreizehn Jungen wartete.
Ein Luftzug strich über ihn und schickte einen Schauer wie ein eiskaltes Rinnsal seinen Rücken hinab. Die Flamme in der Altarschale wand sich und zitterte, schließlich drückte der Wind sie zur Seite und erstickte sie. Maro hielt den Atem an. Endlich.
Nur noch das Licht der Dämmerung erhellte den Raum. Die Stunde zwischen Nacht und Tag – wann sonst hätte es geschehen können?
Schritte tappten die Treppe hinunter zu ihm. Da war plötzlich ein anderer Duft neben dem bitteren der Pflanzen. Ein süßer, der sich ihm in die Glieder senkte und die Anspannung löste.
Nicht einmal mehr den eigenen Atem hörte er. Nur die Schritte.
Barfuß ging die Göttin an ihm vorüber. Ihr wehte ein Schleier nach, schwarz wie der Nachthimmel, und ihre Haare tanzten in der Luft, als gäbe es keine Schwerkraft.
Sie beugte sich zu dem Jungen neben ihm hinab und nahm sein Gesicht in ihre Hände. Die Arme sackten ihm herab, und der Kopf fiel auf die Brust. Er hatte es nicht geschafft.
Die Göttin ging zum nächsten, und der Rauch verschluckte sie.
Er würde der letzte sein, den sie prüfte. Sechs würden nicht bestehen, Sieben die Weihe erhalten. Wenn sie sechsen vor ihm die Augen für immer schloss, dann durfte er leben.
Aber der Rauch verbarg, was mit den Jungen geschah. Tod oder Leben. Er ließ sich hineinfallen in den süßen Duft, den die Göttin gebracht hatte.
Die Schleier tanzten ihr voran, und sie trat vor ihn. Ihre Haut war wie geschnitzt aus Elfenbein, und in ihren Augen funkelte ein Meer. An den Fingern, mit dem sie ihm über die Wangen strich, funkelten die Nägel wie Kristalle. Sie lächelte. Sein Herz wollte schneller schlagen, doch das Gift der Yata betäubte es. Er verstand. Tod oder Leben, Leben oder Tod. Kein Unterschied. Was sie ihm bringen würde, würde er hinnehmen. Das Lächeln und die silbernen Lippen konnte er nicht behalten. Egal, was geschah.
Sie löste ihre Berührung, und er fühlte etwas aus sich herausgerissen. Tränen sickerten ihm in die Mundwinkel. Ihr Gesicht tauchte in den Rauch zurück, noch immer das Lächeln darauf. Nein, dachte er. Keine Bewegung wollte in seine Arme, Hände, Finger. Er saß auf dem Meditationskissen und starrte in die graue Dunkelheit des Raumes, und eine schwarze Schwere griff nach seinem Geist und zog ihn hinab.

„Hoch mit dir“, sagte eine Stimme in der Ferne. Dann rüttelten Hände an seinen Schultern. Er öffnete die Augen, und die Sonne blendete ihn. Sie schien durch den Tempeleingang herein und spiegelte sich auf dem blanken Obsidianboden.
Am Altar lehnte Maester Varn und vertrieb mit den Händen die letzten Schwaden des Rauchs.
„Anderen Jungen bleibt wegen der Prüfung beinahe das Herz stehen, und du schläfst danach einfach ein.“
Ein Lachen schüttelte die Brust des Mannes, und seine weiße Mähne schüttelte sich mit.
Maro rieb sich den Kopf – ein leichtes Dröhnen war noch geblieben. Eine Sekunde lang zuckte ein Bild vor seinem Auge umher. Die Lippen aus Silber und die Haut aus Elfenbein.
„Wohin ist sie, Maester?“, fragte er.
„Die Göttin?“
Er nickte, und in seinem Schädel rumorte es.
„Sie ist nie hier gewesen. Müsstet ihr euch sonst den Dämpfen der schwarzen Yata aussetzen, um sie erblicken zu können?“
Natürlich nicht. Nur im Traum des Rauschs konnten die Nekromanten von Evra ihrer Göttin begegnen, die ihnen ihre Kraft gab.
Varn half ihm, sich aufzurichten.
„Du bist als Letzter ausgewählt worden, Maro. Es hat sich an Coren entschieden, der neben dir saß. Die Göttin hat lange vor ihm gestanden, und entweder hätte er zusammensinken müssen oder du.“
„Coren?“, fragte Maro. Der Fischerssohn mit dem flachsblonden Haar, der ihn nach der Prüfung mit auf eine Fahrt den Fluss hinunter hatte nehmen wollen, ins Herz des Dschungels.
Aber auch Coren hatte die Göttin gesehen und gespürt. Schauer krochen über Maros Arme, und Varn musste ihn festhalten, damit er nicht einknickte. Das Antlitz blitzte wieder vor ihm auf, und das Herz pochte ihm in der Brust. Sie war keines von den Mädchen mit der erdfarbenen Haut, die hier im Dorf wohnten und Körbe flochten oder Spinnenseide sponnen.
„Er hat gewusst, worauf er sich einließ, wie ihr alle. Gerade du solltest nicht an die Opfer der letzten Nacht denken. Es ist Morgen, und das Fest hat längst begonnen. Dein Fest.“
Maro fühlte einen Klaps auf den Rücken, Varns Hände ließen ihn los. Bis zu den Treppenstufen kam er, dann musste er sich wieder abstützen. Die Reihentänze und die meterlange Tafel dachte, die sich jedes Jahr aufs Neue auf dem Marktplatz ausbreitete... Es murmelte ungut in seinem Magen.
„Evra“, sagte er, „wann sehen wir sie wieder?“
Varn lachte und erklomm die Treppe neben ihm.
„Nicht alle können sich damit anfreunden, ein Leben lang einer Wesenheit zu dienen, die sie nur ein Mal, am Tag ihrer Initiation, sehen.“ In den Blick des alten Nekromanten trat etwas, das so hart war wie seine Züge. „Aber nun hat sie euch ihre Kraft verliehen.“
Die Kraft, Leben zu verleihen, wo es keines gab... Die Golems, die sie bisher nur aus der Kontrolle der Maester übernommen und dann selbst gelenkt hatten, würden sie jetzt selbst mit dem Funken des Lebendigen füllen können. Und mehr.
Doch das zählte nicht. Nichts davon.
„Was wäre, wenn wir sie rufen?“
Wieder ließ ein Lachen die Brust des Maesters erbeben.
„Sie rufen? Wie du einen gezähmten Paradiesvogel zu dir rufst? Stell dir vor, was geschehen würde, wenn wir sie und ihre Geschwister einfach auf die Erde holen könnten. Irgendjemand käme sicher auf die Idee, den Herrn der Zerstörung, den des Schreckens, oder die Herrin der Schmerzen in seine Hütte zu rufen.“
„Ich könnte bei der Initiation im nächsten Jahr wieder teilnehmen“, sagte Maro leise. Auch, wenn er dabei sterben würde. Ein Mal hätte er sie dann noch gesehen.
„Du sprichst wirr. Das ist nur die Nachwirkung des Giftes. Gib dir eine halbe Stunde, und dein Körper ist damit fertig geworden.“
In Maros Bauch brodelte die Wut.
„Das ist er längst, Maester.“
„Dafür torkelst du noch wie ein Betrunkener und redest ziemlichen Unsinn.“
Maro drehte sich zu Varn um und funkelte ihn an, doch der schob ihn nur die letzten Treppenstufen hinauf.
Wie hätte er erwarten können, dass der uralte Mann verstand. Längst musste er das Antlitz der Göttin vergessen haben. Ihm würde das nicht passieren, nie in seinem ganzen Leben.
„Die Nacht der Geister und des Todes ist vorüber“, sagte Varn, „vielleicht findet das endlich Einlass in deinen Schädel, wenn du das geschmückte Dorf gesehen hast.“
Viele Male hatte er das Dorf gesehen, wie es zu der Initiation der Nekromantengenerationen vor ihm in Licht und Farben gehüllt worden war. Doch diesmal strahlten die Straßen, als hätte sich aller Glanz und alles Licht für ein letztes Fest versammelt. Für ihn würde es das auch sein.
Während er mit Varn über die Stege ging, streuten Mädchen aus Körben rote Blütenblätter auf den Weg. Ein einziger Teppich aus rubinroter Farbe streckte sich über die Sümpfe hin, führte vom Tempel der Evra bis hin zum Marktplatz.
Der Blumenduft kam nicht an gegen den süßlichen Geruch des Moors. Aber kein Duft würde je ankommen gegen den, den die Göttin in den Tempel gebracht hatte. Eine Gänsehaut kroch ihm über die Arme.
Varn grinste ihm aus seinem rauen Gesicht zu, dann bog er an einer Abzweigung ab und brach aus dem Blütenblätterteppich aus. „Das Leben kehrt schon noch in dich zurück, wenn du erst eine Weile bei deinen Schurken gesessen hast.“
Maro sah ihm nicht nach. Er spürte die Blicke der Blumenmädchen auf sich und drehte sich zu ihnen um. Sie lächelten ihn an, aber er schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern. Krauses Haar trugen sie, und die Sonne hatte schon die Haut ihrer Gesichter verbrannt. Mit der Göttin würde das nie geschehen.
Schon von weitem schallte die Musik zu ihm herüber. Vom Marktplatz her leuchteten ihm Girlanden entgegen, die zwischen den leeren Ständen gespannt worden waren. Lampions aus gefärbtem Papyrus warfen ihr Licht auf den Platz wie bunte Sterne. Wo das Sonnenlicht durch die Bäume brach, leuchtete selbst der Sumpf wie Bronze. Am Ende der Blütenspur standen Alan und Zered und winkten ihm zu. Die beiden hatten es also auch geschafft.
„Ich dachte schon, die Göttin hätte ihre Gewohnheit geändert und diesmal Sieben mitgenommen!“, rief Alan ihm zu.
Vielleicht wäre es nicht das Schlechteste gewesen.
Zered, der feiste Junge mit dem Bartflaum, begrüßte Maro mit Handschlag und nahm ihn mit zu der Tafel in der Mitte des Platzes. Blaue Blütenkelche umkränzten die Suppentöpfe, Teller mit Mangotorte und Bretter voller gerösteter Affenschenkel.
„Aber sechs hat sie...“, begann Maro.
Zered reichte ihm einen Teller und häufte ihm Bananenmuß und Sahnefruchtbeutel darauf. „...und sieben nicht! Da sind kandierte Früchte drin, musst du probiert haben!“ Für sich selbst nahm Zered die doppelte Portion, obwohl sich noch die Ränder von Tortenstücken auf seinem Teller sammelten.
Wieder grummelte es in Maros Magen.
Seine Portion konnte Zered auch noch gleich haben...
Alan stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Die Zwillinge sind auch durchgekommen.“
Einige Plätze neben ihm erkannte er die Beiden mit den schulterlangen Haarschöpfen, die sie kämmen konnten, wie sie wollten, und doch immer wie das Spiegelbild des anderen aussahen. Alan öffnete den Mund wieder, doch Maro schnitt ihm das Wort ab.
„Wie war das, als du sie gesehen hast? Die Göttin.“
Sollte die Prüfung bestanden haben, wer wollte. Alles nach dem Moment, in dem die Göttin entschieden hatte, konnte ihm gestohlen bleiben.
Alan wurde ernst. Er beugte sich zu Maro und sprach erst, als er sich versichert hatte, dass Zered sich mit seinem Bananenmuß beschäftigte.
„Was meinst du, wieso ich selbst fast so spät bei dem Fest war wie du? Eine neue Hose habe ich von zu Hause holen müssen. Ich erzähl es dir. Ich weiß, dass du nicht herumschwatzt...“ Er verzog das Gesicht, als ob ihm ein Schmerz hineinführe. „Weil ich mir in die Hosen gepisst habe.“
„In die...“ Maro runzelte die Stirn.
„Das war zwischen Leben und Tod, Mann. Sie hat Wigald neben mir geholt. Er ist zusammengesunken, als hätte ihm jemand die Luft rausgelassen. Einen ziemlich langen Moment habe ich gedacht, mir lässt sie auch die Luft raus.“
Kopfschüttelnd drehte sich Maro weg. Wie überflüssig, Angst vor diesem Tod zu haben.
„Das meine ich nicht. Du hast sie doch gesehen...“
„Oh ja. Ein Schreckgespenst in Frauengestalt.“
Ein heißer Fluss brauste durch Maros Brust, und als er sich fasste, sah er seine Faust in Alans Kragen gekrallt. Der Junge starrte ihn aus weit geöffneten Augen an.
„Alles klar da drüben?“, fragte Zered, Affenschenkel in beiden Händen.
Alan hob abwehrend die Arme. „War ein bisschen viel, oder?“
Schwer atmend lockerte Maro den Griff.
Nicht den winzigsten Schimmer hatte Alan.
„Ja, etwas viel“, sagte er leise.
Zered rutschte auf der Bank ein Stück nach vorn und legte die Arme auf der Bank ab. „Tob dich lieber woanders aus. Wir sind heute die Könige!“ Sein Blick ging in Richtung der Mädchen, die Blumen in den Haare geflochten trugen und zur Tafel herüberschielten. „Die spekulieren doch auf uns!“
Wie ein König fühlte er sich nicht. Könige mussten nicht mit diesem Zerren und Ziehen im Herzen kämpfen wie er es tat. Wahrscheinlich jedenfalls.
„Na los“, sagte Alan und erhob sich.
Maro schob einen Mundwinkel hoch. „Wusste ich doch, dass du da der erste bist, der aufspringt.“ Aber seine Gedanken hingen anderswo.
Während Alan sich einen Weg zu den Mädchen kämpfte, durch Tanzpaare und Köchinnen mit neuen Fleischplatten, deutete Zered auf Maros gefüllten Teller.
„Du solltest zumindest die Beutel versuchen.“
„Ich bin schon satt.“
Satt gesehen hatte er sich vielleicht, wenn das ging. Wenn überhaupt. Eigentlich... Nein, er würde sein Leben geben, um sie noch einmal zu sehen.
Wann immer er die Musik, die Farben und die süßen Gerüche des Fests ausblendete und in sich horchte, fasste er nur in Leere hinein.
„Schon satt, ja? Geschickt stellst du das an, wo du doch noch keinen Bissen genommen hast“, sagte Zered. Maro nickte nur.
Alan kam mit zwei Mädchen wieder, und Maro ließ sich zu einem Tanz überreden. Er erkannte das Mädchen, das die Blüten auf den Stegen verstreut hatte und nun selbst einige in die Haare geflochten trug. Sie lächelte schüchtern und zog ihn auf den Tanzplatz um das große Feuer. Aber er tanzte weniger, als dass er sich umherziehen ließ, und das Lied der Mandolinenspieler klang in seinen Ohren schief und falsch. Alan tanzte an ihm vorüber und führte eine Schönheit mit hochgesteckten, feuerroten Haaren. Vielleicht hätte er so etwas wie Neid empfinden sollen. Aber wenn er Alans Tanzpartnerin und dann seine ansah, erinnerten ihn beide gleichermaßen mit ihrer Hautfarbe an den Sumpf.
Die Kleine mit den krausen Haaren sah ihn traurig an. „Du musst dich nicht... von mir umherschleifen lassen“, flüsterte sie und schlug die Augen nieder.
Über ihren Schultern erhob sich in der Ferne der Tempelturm. Schwarz wie mit Pech bestrichen stand er neben der Sonne. Die Treppenstufen, die von unten bis zum Gipfelpunkt führten, ließen ihn an eines der Ziggurats aus den Ruinenstädten erinnern. Und an noch etwas anderes erinnerte er. Beim Blick auf das Mädchen mit der sonnengebräunten Haut und den von der Arbeit schwieligen Fingern musste er das Gesicht vor Ekel verziehen.
Wie hatte er all die Jahre die Mädchen ansehen können und nicht bemerken können, dass sie sich so unterschieden von dem, was das Schöne war – was die Göttin in sich hatte?
Alan hatte es noch nicht bemerkt. Er drehte sich noch immer auf der Tanzfläche mit der Rothaarigen zu einem neuen Festlied, das die Musikanten angestimmt hatten.
„Gut, das zu wissen“, sagte Maro und löste die Finger, die seine Hände umschlangen.
Augenblicklich bahnte er sich seinen Weg durch die Menge, den Tempel vor Augen. Wenn das Mädchen ihm noch etwas nachrief, ging es unter im Gewirr der Stimmen und dem Klang der Fideln um ihn. Er tauchte unter den Girlanden hindurch und schlüpfte durch einen Lücke zwischen zwei Ständen, um wieder auf die blütenbedeckten Stege zu kommen. Längst hatten viele eilige Füße die rote Decke fast gänzlich in den Sumpf gefegt, aber das Dröhnen des Festes begleitete ihn auf seinem Weg.
Er musste zurück. Auch, wenn er vielleicht nichts finden mochte. Schließlich wusste er nicht einmal genau, was er suchte.
Noch eine Biegung trennte ihn vom Eingang des Tempels, da trat aus dem Dämmerlicht eine Gestalt.
„Schon genug?“, fragte die Stimme Varns, und durch die Lederrüstung zeichneten sich die sehnigen Glieder des Maesters ab.
„Hatte ich schon, bevor ich auf dem Fest aufgetaucht bin.“
„Dann führt dein Weg dich jetzt...“
Maro fühlte sich ertappt. Als könnte all der Zauber zerstört werden, wenn er sein Ziel verriet. Aber vor ihm stand ein Maester, an dem jede Lüge ein Verrat war.
„Der Tempel“, sagte Maro. „Dorthin will ich.“
„Das trifft sich, denn in den Tempel wollte auch ich mit dir.“
Er fixierte den Alten eine Sekunde lang, dann setzte er sich in Bewegung. Die Schritte des Maesters ließen hinter ihm das Holz knarren.
Darauf hätte er verzichten können. Noch eine Lektion?
Der Tempel lag stumm und finster da, wie zuvor. Ein leichtes Kribbeln lief ihm Maro über die Hände.
Irgendetwas musste geschehen, wenn er zurückkehrte. Irgendetwas.
Er trat in den Innenraum.
Von den Wänden starrten die Schädelfratzen zu ihm, und in der Luft hing noch ein Hauch des Yata-Dufts. Nicht mehr genug, um die Halluzinationen auszulösen oder dem Körper mit Lähmungen gefährlich zu werden. Er fluchte innerlich. Die Meditationskissen lagen an ihren Plätzen, und in der Bronzeschale auf dem Altar häufte sich die dunkle Asche. Die Präsenz des Maesters lag ihm wie eine Gewitterfront im Nacken.
Wäre er allein gewesen... Er hätte alle Kissen umgedreht, die Schale ausgeschüttet und den Altar umgeworfen. Irgendwo. Irgendetwas! Aber so war es nur der Raum, in dem sie jahrelang die Formeln geübt, auf Tierhaut gezeichnet und nachgesprochen hatten.
„Die Treppe gegenüber“, sagte Varn.
„Der Duellplatz?“
Maro sah sich noch einmal zu allen Seiten um, dann erklomm er die Stufen und trat wieder ins Freie. Die Plattform, die sich über den Sumpf hob, mochte an die zwanzig Schritt messen, nach außen begrenzt durch Reihen von steinernen Speeren. „Wollt Ihr mich fordern, Maester?“
Varn kam die Treppe hinauf und stellte sich ihm gegenüber. „Nicht ganz. Aber es kann sein, dass du auf dumme Gedanken kommst. Du wärst nicht der erste junge Nekromant.“
„Sobald ich auf dumme Gedanken komme, gebe ich Bescheid.“
Varn reagierte nicht auf ihn, sondern löste von seinem Gürtel eine schmale Lederscheide. Mit einem Schwung warf er sie Maro zu. Das geschwärzte Leder lag kalt in seiner Hand. Der Griff der Waffe darin trug Verzierungen aus Obsidianstein, die sich um das Metall wanden wie eine Schlange.
Der Dolch der Initiierten. Er hatte es gewusst. Eine gezackte Klinge kam zum Vorschein, und das bleiche Material ließ keinen Zweifel. Knochen.
Er hielt sich den Dolch vor das Gesicht.
„Das soll mich von dummen Gedanken abhalten?“
„Auch ich habe damals nur Spott gehabt für die Wege der Alten. Aber es gab etwas, das mir die Augen geöffnet hat.“
Maester Varn öffnete eine behandschuhte Faust und streckte sie in Richtung des Dschungels. Hinter der Plattform lagen nur die tausend Inseln des Moors.
Plötzlich ging ein warmer Wind über die Tempelstätte. Aber er wehte in die Richtung, in die der Maester mit dem Arm wies. Als käme der Wind aus dem Innern des Tempels.
Aus den Tiefen des Dschungels drangen die Laute und Gerüche zu ihm. Das Surren von Stechmücken umgab ihn, so laut, als umschwirrten Schwärme von Insekten ihn. Der Geruch des Moors nach Verfall und der Süße von Kadavern hüllte ihn ein, und zwischen den Palmenstämmen der Dschungelwand keckerten und gurrten und grunzten die Affen, die Warane, und was sich noch im Unterholz verstecken mochte. Der Dschungel verschluckte die letzten Mandolinenklänge und Freudenrufe vom Fest, das die Menschen feierten.
Varns Augen stierten in seine, und an den Schläfen pulsten die Adern. Maros Schweiß nässte ihm die Weste. Eine unsichtbare Macht füllte das ganze Tempelareal und drückte von allen Seiten gegen ihn. Die Wege der Alten, die nicht nur Schlamm und Knochen beleben konnten?
„Du hast die Macht des Lebens und des Todes in dir, und dein Dolch gestattet dir, sie zu nutzen. Aber nur dafür.“
Dafür?
Maro wollte sich Ohren und Nase verschließen vor den Dämpfen, die ihn kaum atmen ließen, und den Rufen und Schreien, die in seinen Ohren hämmerten. Aber Varn sah zu, und wenn es eines gab, das der alte Maester nicht duldete, dann war es Schwäche.
Da schlug der warme Wind um, wechselte die Richtung, und ein kalter Zug kam hinzu, der Maro frösteln ließ. Etwas, das sich nicht greifen ließ, fuhr wie ein Messer in den Brodem aus Sumpfgestank und schrillen Tierstimmen. Die Luft verlor jeglichen Geruch. Maro rang nach Atem. Er atmete, aber nichts füllte seine Lungen. Die Affen und Warane in der Ferne verstummten, als hätte sich eine Decke über sie gebreitet. Seine Luftröhre verkrampfte sich, und er ging auf die Knie. Nicht ein Laut mehr verriet den Dschungel um ihn. Das Dickicht der Palmen stand noch immer da, und noch immer segelten die grünen Farbtupfer der Papageien umher. Doch dann fielen ihm die Augen zu, und nicht ein einziges Geräusch verriet ihm, dass es noch eine Welt hinter der Schwärze vor seinen Lidern gab.
Ohne Ankündigung endete der Spuk.
Luft drang in seine Lungen, der Knochendolch klirrte auf den Obsidianstein.
Varn kam langsam auf ihn zu. In der Ferne des Dschungels hinter ihm rauschten die Laute der Tiere ineinander. So weit entfernt, dass Maro sie nicht mehr auseinanderhalten konnte.
„Verstehst du es?“, fragte Varn. In Maros Brust regte sich nur eine kleine Flamme. Aber sie loderte hoch.
Der Maester fing den Fausthieb auf sein Gesicht mit dem Unterarm ab.
„Verstehen? Ihr habt es Euch doch anders überlegt und wolltet mich umbringen, das habe ich verstanden.“
Maro drückte den Arm in einer zwecklosen Anstrengung gegen den des Älteren.
„Schade. Hättest du die Augen geöffnet, hättest du es bemerkt.“
Maro ließ die Anstrengung sein und atmete wieder gleichmäßig, aber immer noch krallte er seine Blicke in die Varns.
„Dass Ihr Macht über die Tiere und die Winde habt?“
„Die habe ich nicht. Nur über Leben und Tod, wie du. Über das Gleichgewicht. Ein Übermaß an Leben ist laut und leidig, es betäubt dir die Sinne. Ein Übermaß an Tod macht die Erde öde und freudlos. Kein Ort, an dem du noch leben willst oder kannst.“
„Ohne Euer Zutun hätte es kein Übermaß gegeben“, murmelte Maro. Er steckte den Dolch wieder zurück in die Scheide, da packte Varn sein Handgelenk.
„Ja, richtig. Dazu können wir unsere Kräfte nutzen. Doch wir sind Hüter des Gleichgewichts. Evras Diener. Unsere Kräfte sollen nur dazu dienen, die Welt aufrecht auf dem schmalen Grat zu halten, der sie zwischen Leben und Tod hält.“
„Also muss ich nur das vermeiden, was Ihr eben getan habt.“
Varn ließ ihn los und lachte schallend. Wieder stieg die Wut in Maro auf.
Konnte der Maester ihn nicht hassen und verachten für seine Worte?
Er steckte sich die Scheide in den Gürtel und stand auf.
„Ein guter Anfang. Deshalb habe ich es dir gezeigt. Du wirst es nicht mehr vergessen.“
„Ich werde mir alle Mühe geben“, presste Maro zwischen den Zähnen hervor. Er stolperte gegen einen der Pfeiler, die den Tempeleingang stützten.
Nur weg. Kein Gleichgewicht konnte ihm sagen, was er mit seiner Kraft anstellen durfte.
Varn regte sich keinen Zentimeter.
„Du wirst noch lernen, was es mit diesen Geheimnissen auf sich hat. Wie alle anderen erwartet auch dich die erste Order heute Abend.“
Sollten sie ihre Order geben. Wertvollen Papyrus verschwenden.
Maro rannte die Treppen hinab und durch den Tempel. Varns Blicke brannten ihm auf dem Hinterkopf. Wie ein Raubvogel mit schwarzem Gefieder verfolgte der Maester ihn.
Er machte einen Umweg über die äußeren Stege, um das Fest möglichst weit zu umgehen, und an den Kreuzungen drehte er sich um, hielt Ausschau nach der schwarzen Lederrüstung. Dann eilte er weiter.
Vor den Barrackenquartieren saßen nur einige Jüngere, die ein Spiel mit Kieseln spielten. Als er vorüberkam, rückten sie unwillkürlich beiseite. Das fehlte ihm noch, dass die Leute in Ehrfurcht versteinerten, wenn er vorüberlief. Nur jetzt gerade kam es ihm recht. Jeder musste den mit Kalk getünchten Schädel sehen, den er an der Schulter trug. Zeichen, dass er die erste Schwelle zur Meisterschaft des Todes und des Lebens überschritten hatte.
Auf den Gängen drückten sich die Jungen an die Wände, um ihn durchzulassen.
In seiner Stube warf er die Tür zu und sich selbst auf die Matratze unter dem Fenster. Zwei von den Betten würden neu besetzt werden. Mit Jungen, die die Göttin noch nicht zu sich genommen hatte.
Seine Eingeweide wanden sich wie bei hohem Seegang. Verflucht.
Das Antlitz kehrte zurück. Er ließ sich gegen das Mauerwerk fallen und presste die Handballen gegen die geschlossenen Augen. Es gab einen Weg, nur wussten weder der Maester davon, noch die anderen Akolythen. Noch die Alten mit ihren Wegen, die er nicht verstand. Ganz gewiss gab es einen Weg.
Als er die Hände herunternahm, klebten Tränen daran.
Er ließ sich auf die Seite sinken und warf sich die Decke über. Bis zum Abend würde sich die Stimmung auf dem Fest nicht senken, und selbst dann würde es nur Zered sein, der in seine Stube kam.
Seine Gedanken liefen wild durcheinander wie im Fieber. Ihr Gesicht erschien vor seinem, und plötzlich waren es ihre Hände, die über seine Wangen strichen, nicht mehr seine.
Er tauchte in eine tiefe Dunkelheit, und für einige Stunden fand er Ruhe.
Dann legten sich Arme auf seine Schultern, Arme aus Elfenbein, und er schreckte hoch. Aus der Dunkelheit wurde die Stube in den Barracken der Lehrlinge, und aus den Armen aus Elfenbein wurden die von Zered.
„Du warst auf einmal weg, Maro.“
Er schob Zered beiseite und setzte sich auf. In seinem Kopf wirbelten die Bilder durcheinander, und Schweiß klebte ihm die Haut an die Weste.
„Mir ist nicht gut.“
„Dann ruh dich noch kurz aus – aber draußen warten die... Leute mit den Ordern.“
Maro schmunzelte bei der Pause, die Zered machte, bevor er das Wort Leute fand. Wenn Leute das waren, was auf dem Marktplatz hüpfte und trank und aß, dann waren die Überbringer der Ordern fraglos etwas anderes.
„Geh schon vor. Draußen ist sowieso jeder auf sich allein gestellt“, sagte Maro.
Zered sah sich einmal in Richtung Tür um, dann nickte er und legte sich die Faust auf die Brust. „Evra mit dir.“
„Und dir“, antwortete Maro.
Als das breite Kreuz seines Zimmermitbewohners in der Tür verschwunden war, streckte er sich wieder auf der Matratze aus.
Die Ordern würden die jungen Nekromanten für die Nacht im Dschungel verstreuen. Aber was auch immer die Order besagen würde, die für ihn ausgesprochen worden war... Er hatte seine eigene, und die war von keinem Gleichgewicht der Welt oder dessen Vertretern formuliert worden. Durch das Fenster beobachtete er, wie die ersten Schatten im Zwielicht in den Dschungel huschten, manche angeleuchtet von den Fackeln in ihren Händen. Hatte nicht einer von ihnen verstanden, was die Göttin war? Nicht einer in den ganzen Generationen, die nach dem schwarzen Traum in die Freiheit getreten waren?
Er packte die Dolchscheide und verließ den Raum. Um so besser, wenn er der Einzige war und sein würde.
Vor den Baracken stand noch ein Junge mit einer Fackel. In ihrem Licht stand Zered, der eine Papyrusrolle studierte.
Er drückte sich in den Eingang des Hauses und lauschte. Nach einer Ewigkeit entfernten sich Schritte von ihm.
Er linste um die Ecke – Zereds Fackel wanderte in Richtung der östlichen Dschungel mit den tausend Inseln.
Blieb noch eine einzige Gestalt, die gebückt vor Eingangsstufen wartete, die Hände wie zum Gebet erhoben.
Nicht, dass Maro nicht genügend Tote erblickt hatte. Aber dieser hier war der Überbringer seiner Order. Kein Unbekannter, wie all die anderen, die er mit seiner Macht in den zahllosen Übungen umhergelenkt hatte. Er schluckte und ging näher. Der Tote verhielt in seiner Haltung wie eine Statue. Eine Statue, der der Schädel fehlte. Der hing auf Maros Schulter.
„Ist das die letzte Order, die du mir bringst, Vater?“, fragte er in die Nacht.
Er legte die Hand auf die Bronzestäbe, die die Schriftrolle hielten, und der Untote lockerte den Griff.
Einen winzigen Teil in ihm drängte es, zumindest den Befehl anzusehen, den zu missachten er im Begriff war. Aber schon ließ er das wertvolle Papyrus fallen. Es platschte in den Sumpf, dunkle Blasen stiegen auf und verschluckten es. Mit einem Glucksen verschwand es unter der Oberfläche.
Der Untote wankte davon, zog die vermodernden Reste eines Mantels hinter sich her, zusammen mit dem Geruch des Todes. Der Weg, den jeder Vater unter den Nekromanten einst gehen würde. Der Weg, auf dem er dem Sohn die letzte Order brachte.
Maro lief im Schatten des wandelnden Leichnams. So mochten ihn Leute für einen weiteren der Toten halten, oder erst gar nicht erspähen. Auch, wenn er die Order seines Vaters fortgeworfen hatte, so gingen sie zumindest diesen letzten Weg zusammen.
Auf dem Festplatz hingen die Girlanden schief und jemand ging umher und löschte das Licht in den Lampions. Zumindest von dort würde ihn niemand sehen.
Er folgte dem Weg des Leichnams durch die laue Nacht. Erst am Tempel würde er sich trennen, wenn der Untote den Weg zurück zu seinem Meister nahm.
Aus den Fensterhöhlungen des Hauses der Evra drang, kaum sichtbar, ein goldener Lichtschein. Nicht mehr als die Flamme eines Herdfeuers, aber das genügte. Würden sie ihm seinen Besuch wieder verderben?
Der Untote wankte weiter, fegte mit dem verfaulten Leder seiner Schuhe achtlos den Blumenteppich des Steges in den Sumpf. Er hob seinen toten Körper auf die Tempelstufen und schlurfte auf das Licht zu.
Maro duckte sich hinter ein Büschel Schilf, das neben dem Steg aufragte. Wenn sein Vater diesen Weg einschlug... konnte es nur Varn sein, der im Tempel saß. Er schloss die Augen und lauschte. Stimmen. Ein Gemurmel aus vielen Stimmen. Aber auf die Distanz schmolzen die Geräusche zusammen. Er musste näher heran. Die Haupttreppe aber würde ihn direkt den Blicken derjenigen ausliefern, die im Tempel saßen. Blieb nur die Reihe aus Fensterlöchern an der Seite. Doch um an die heranzukommen, würde er über Sumpf wandeln müssen. Durch die Luft gehen, wie es den Hexern aus den westlichen Wüsten nachgesagt wurde...
Dann durchzuckte ihn ein Gedanke. Er tastete nach dem Dolch und fand das kalte Metall mit den Fingern an seiner Taille. Gut. Noch einmal sah er sich um. Er war der einzige Schatten auf den Stegen, und die Leute auf dem Festplatz würden beschäftigt genug sein.
Endlich nutzten ihm die alten Lehren, die Jahre in der Bibliothek über den vergilbten Schriften der Totenbeschwörern von einst.
Den Dolch erhoben, starrte er in die Finsternis, als die der Sumpf sich vor ihm ausbreitete. Sein Geist löste sich. Er huschte über die schwarze Masse, tief hinein, und suchte. Auren, die sich leicht von der Magie des Lebens beeinflussen lassen würden. Auren, die einst Lebendiges umgeben hatten, umhüllten sie nun auch nur noch tote Materie. Viele winzige Lichter blitzten in seinem Blickfeld auf wie Glühwürmchen.
Genug.
Mit einem Mal ballte er die Faust. Gab von seiner eigenen Aura Leben ab, um es den toten Dingen zu verleihen. Einen Moment schwindelte er, dann rückten die Auren unter der Sumpfoberfläche zusammen. Die dunkle Decke brodelte wie siedendes Wasser. Konnten die Menschen im Tempel es hören? Aus dem Sumpf hob sich ein weißes Gerüst, zusammengefügt aus Tausenden von Knochensplittern. Zusammengefügt von seiner Macht. Sein Herz machte einen Sprung. Die weiße Brücke hob sich so hoch, dass sie fast nahtlos an den Steg anschloss. Er prüfte mit der Fußspitze – die Brücke hielt stand, hart wie Obsidianstein.
Unter seinen Füßen knirschten kleine Knöchelchen, und ein Mal zertrat er einen Schädel, der einer Echse gehört haben konnte. Aber der Steg hielt. Schritt um Schritt setzte er, lauschte in die Halle hinein. Endlich kam er an der Außenwand des Tempels an und stützte sich dagegen. Nur einen Schritt über ihm hing die Fensteröffnung.
„...sind so alt wie die Märchen über die Pygmäenprinzen in den Urwäldern“, drang eine Stimme zu ihm hinaus. Varn? Ja.
„Und deshalb genau so unwahr, meint Ihr das?“
Das dunkle Organ von Orestar, der Maester des Klingenkampfes.
„Als würde das hier zur Debatte stehen“, mischte sich eine weitere Stimme dazu. Das anschließende Husten gehörte zu Merek, dem gebrechlichen Maester der Knochenkunst.
„Auf die Legenden der Vorzeit jedenfalls können wir unser Handeln nicht stützen“, sagte Varn und lachte.
„Ihr wartet, bis die Legenden lebendig werden, bis sie erwachen und sehen und riechen und töten“, sagte Orestar. Ihre Stimme trug den scharfen Klang, der an ihre zwei Knochenklingen denken ließ, die sie führte und mit denen sie allein ein halbes Dutzend Akolythen entwaffnen und zu Boden stoßen konnte.
„Wenn alles, was das träumende Orakel prophezeiht, zum Leben erwachen würde, wäre die Welt schon zum wiederholten Male in Flammen und Untergang gestürzt.“ Varn klang gereizt. Offenbar gelang Orestar das, woran er selbst gescheitert war.
„Es ist nicht so, dass es“, ein Husten unterbrach die Worte Mereks, „keine augenfälligen Anzeichen dafür gäbe, dass es Orestar-“
„Ja“, unterbrach die Frau ihn, „die Berichte der Bauern aus der Nordmark des westlichen Kontinents. Nicht nur ein Einzelner hat von den geflügelten Männern über dem Abendhimmel erzählt. Die Sichtungen ziehen sich bis an die Grenze der Westmark. Wenn das nur Märchen sind, Varn, dann haben sie den Märchen meiner Kindheit voraus, dass sie äußerst greifbar sind.“
„Geflügelte Gespenster nennt Ihr greifbar – wie wäre es dann, wenn Ihr eines von Ihnen nach Kurast brächtet?“
„Genug“, ächzte die Stimme von Merek, und eine Pause trat ein.
Maro rutschte die Wand herunter in eine bequemere Position. Wenn die Maester dort drinnen über das Gleichgewicht debattierten, hätte er besser daran getan, seine Kräfte nicht auf eine Knochenbrücke zu verwenden. Doch bei den nächsten Worten stand sein Herz still.
Es war Merek, der weitersprach.
„Die Sichtungen fügen sich im Zusammenhang mit dem Spruch des Orakels durchaus zu etwas zusammen, das bedenkenswert ist. Die Geschwister der Hölle... wir wissen alle, wovon ich spreche.“
Die Geschwister, von denen Varn gescherzt hatte, wie jemand sie in seine Hütte rufen konnte. Die Brüder und Schwestern von Evra.
Varn sprach mit gedämpfter Stimme weiter. „...und die Gebeine der Erde werden sich auftun und gebären, was weder in Hölle noch Himmel hätte geboren werden dürfen. Ihr meint tatsächlich...“
„Ich würde dafür nicht mit beiden Beinen in den Sumpf steigen“, sagte Orestar, „aber erinnert es nicht zu sehr an das, was vor Jahren geschehen ist? Die Übel, die aus dem Schoß der Erde steigen. So sehr, wie es nach einem Märchen klingt.“
Ja. Blitze fuhren durch seinen Körper und elektrisierten ihn. Ja. Wenn die Geschwister der Hölle einen Weg fanden, die Welt zu betreten… Wieso nicht auch Evra?
Sein Stiefel rutschte ab und brach einen Knochen aus der bleichen Brücke. Das Gebein platschte hörbar in den Sumpf und spritzte ihm Schlamm ins Gesicht.
Die Stimmen im Tempel verstummten. Maro hielt den Atem an.
„Da ist etwas“, vernahm er Varn.
Maro richtete sich auf.
Hätte der Maester ihn nicht für eine Riesenkröte halten können? Irgendetwas, das seine Aufmerksamkeit nicht wert war?
Er löste in Gedanken den Lebenszauber. Unter ihm sanken die Knochen schon wieder ein, bröckelten in ihre Einzelteile. Mit drei Sätzen war er wieder auf dem Steg, und hinter ihm ächzte das Knochengebilde.
Im Licht des Tempeleingangs zeichnete sich ein Schatten ab. Nicht der schlanke der Klingenmeisterin, und nicht der gebeugte des Knochenkunstzauberers.
Maro rannte. Varn. Schon wieder.
Er fegte in seinem Lauf die letzten Blüten von den Stegen. Varns Schatten regte sich nicht. Aber selbst in der Dunkelheit sah der alte Magier wie ein Adler.
Maro kürzte über den Festplatz ab. Jetzt war es auch egal, wer ihn sah. Seine Stiefel verhedderten sich in einer Girlande und zerrissen die Schnur. Er fegte zwischen den Leuten hindurch, die die Stände herrichteten. An der Ecke der Tafel lag ein Bündel. Was auch immer darin sein mochte – er streckte den Arm aus und riss das Paket an der Schleife mit sich.
„Die sind für die Götter!“, rief ihm eine schrille Frauenstimme nach. „Du siehst nicht gerade aus wie einer, Kerl!“
Er stürmte zurück in die Barracken, warf in seiner Stube den Riegel vor die Tür. Der Atem pfiff ihm aus Nase und Mund.
Die Nordmark. Vor seinen Augen stand das Bild der Landkarten, über die sie sich oft hatten beugen müssen. Über das Meer, durch die Wüsten, und dann in das Marschland. Ein Schiff brauchte er – der Hafen von Kurast. Einige dutzend Meilen über Dschungelpfade und die tausend Inseln von Kejistan.
Er lachte.
Und wären es zweitausend Inseln gewesen, drei Wüsten und vier Meere. Seine Gedanken überschlugen sich. Das Land, in dem die Götter und Teufel auf der Erde wandelten, würde das einzige sein, in das er ging.
Er öffnete das Bündel, und auf den Boden purzelte ein Affenschenkel. Einige weitere lagen noch im Bündel, zusammen mit noch mehr Speisen, die in Tücher gewickelt waren. Affenschenkel, zumal kalt und mindestens einen halben Tag alt, würden ihm keinen Genuss bescheren. Aber sie genügten, um einige Nächte durch den Dschungel zu kommen.
Instinktiv zog er die Kiste unter dem Bett hervor, die den Akolythen als Aufbewahrungsort für persönliche Dinge diente. Er ließ den Verschluss aufschnappen und hob den Deckel. Wieder lachte er. Gähnende Leere. Natürlich, als ob er jemals etwas hineingetan hätte.
Da pochten Schläge auf das Holz der Zimmertür. Varn? Oder die Frau, die die Götter beschenken wollte?
Er schloss die leere Truhe wieder und ging zum Fenster. Unter ihm rauschte einer der Arme des Themys dahin. Kaum zwei Schritt. Das mochte ihm zumindest den Schweiß abwaschen, den er in der Nacht des schwarzen Traums geschwitzt hatte.
Das geknotete Bündel zwischen den Zähnen, legte er ein Bein auf das Fenstersims. Ein weiterer Schlag ließ die Tür erzittern, die Bretter knirschten. Höchste Zeit.
„Die Mädchen haben dich gesehen, Halunke! Husch, aufgemacht, dann vergesse ich vielleicht, dass du die Götter bestohlen hast!“ Immerhin nicht Varn.
Er zog das andere Bein nach, und unter ihm tat sich die fast senkrecht verlaufende Uferböschung auf.
Für einen Augenblick zog sich ihm das Herz zusammen. Nie wieder die harte Matratze und nie wieder die Abende mit Zered, Alan, Coren... doch Coren, den hatte die Göttin ohnehin gefordert. Nie wieder die Tage im Tempel vor den Bergen aus Büchern. Doch das, was ihn wirklich im Tempel gehalten hatte, das würde er wiedersehen.
Eines gab es noch, das es wert war, ihn auf der Reise zu begleiten. Er schwang sich zurück ins Zimmer und griff unter sein Kopfkissen. Seine Finger schlossen sich um das raue Leder des Kompendiums. Zwei Schläge gegen die Tür. „Hat deine Mutter einen Feigling geboren? Sperr die Tür auf, und ich erspare ihr die Schande, zu sehen, wie ich dich an den Ohren zu ihr ziehe!“
Er durchblätterte die Seiten, die Staub in den Raum wirbelten. Bei Jiolan, der dunkle Heilige fand er die gepresste Yata-Blüte. Ein Schattenriss auf dem Papier. Selbst hatte er sie im Dschungel gepflückt und aufbewahrt, bis er ihre Blätter an Varn gegeben hatte, damit der mit ihnen das Feuer für den schwarzen Traum entfachen konnte. Aber die Blüte gehörte ihm, und sie war seine Erinnerung.
Er klappte das Buch zu und kletterte wieder ins Fenster. Sein Essensbündel warf er in Richtung des anderen Ufers – es landete auf dem Abhang und verfing sich in den Ästen eines Baumstamms. Der Almanach polterte daneben ins Gras.
Vor der Tür murmelte jetzt noch eine zweite Stimme. Maro rückte an den Rand des Fensters. Noch einen Stoß, dann gab es kein Zurück mehr und nur noch Vorwärts.
„Ihr könnt meiner Mutter nichts mehr ersparen“, rief er in den Raum, „seit langen Jahren ist sie tot.“
Dann stieß er sich ab, für einen Moment schwerelos. Bis er ins Wasser tauchte und der warme Strom über ihm zusammenschlug. Die Strömung zerrte an ihm, und er musste kräftige Schwimmzüge machen. Schließlich fanden seine Hände das andere Ufer. Mühsam zog er sich hoch, Kleidung und Haar triefend vor Wasser. An Wurzeln, die aus der Erde ragten, hangelte er sich den Hang hinauf, klemmte sich das Kompendium unter den einen Arm und schulterte das Bündel. Vor ihm lag die Straße, ein sandig gelber Pfad, der unter den Kronen von Palmen in einer endlosen Allee zum Hafen führte. Wer auch immer ihm folgen wollte, würde erschöpft sein von den Festlichkeiten des Tages, er hingegen hatte von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang geruht. Er schüttelte das Wasser aus seinen Haaren und kippte es aus den Stiefeln, dann marschierte er los. Es gab nur diesen einen Weg.
Bald verschluckte ihn das Unterholz und er folgte nur noch dem hellen Streifen Straße, von dem die Karten behaupteten, dass er ihn an sein Ziel führte.

Doch wie sehr hatte er Kejistans Dschungel unterschätzt.
Von den Vorräten zehrte er bis zum nächsten Morgen. Von den süßen Sahnefrüchten hatte er nichts übrig gelassen, doch die Affenschenkel hätten ihn noch Tage lang versorgen können. Als er sich zur Ruhe niederlegte, zupften sich lange Finger aus dem Gesträuch das Bündel heran. Maro drehte sich um, aber vom Dieb blieb nur noch ein Rascheln von Blättern. Wenn es einer der Makaken gewesen war, begriff er zumindest nicht die Ironie, dass er die gerösteten Gliedmaßen seiner Artgenossen gestohlen hatte und ihnen nun wiederbrachte.
Trotz dieser Befriedigung musste Maro hungrig einschlafen.
Am nächsten Tag trank er brackiges Wasser aus dem Fluss, von dem er die Hälfte wieder erbrach, und die Hälfte der kandierten Früchte dazu. Von dem Beerengestrüpp, von dem er aß, musste er ständig mit Fußtritten die Echsen vertreiben, die ihm seine Speise neideten und mit ebenso gierigem Blick auf ihn starrten wie auf die Beeren.
Bis zum nächsten Abend trugen seine Arme mehr als ein Dutzend Beulen von Stechmückenstichen. Zumindest im Schlaf konnte er nicht dauernd um sich schlagen, um die Insekten zu vertreiben.
Den nächsten Teil des Marschs setzte er mit Fieber fort, und oft trugen ihn seine Füße abseits des Weges, bis die müden Augen erkannten, dass er drohte, in den Themys zu stürzen. Um ihn schmolzen die Geräusche des Dschungels zum Brodeln eines Kessels zusammen. Varns Magie benötigte er dazu gar nicht. Mit einem bitteren Lächeln gedachte er des Nekromanten. Die meiste Zeit aber hingen seine Augen und sein Geist starr an dem Streifen Straße. Wie an einem Tau zwang er sich daran entlang. Bis er Nächte und Tage nicht mehr unterscheiden konnte und sein Gesicht geschwollen und taub war – ob von den Beeren, die er aß, von den Stechmückenstichen, oder von den Dschungelseuchen, die wie Stürme durch die Wälder zogen; bedeutungslos.
Irgendwann wankten seine Beine ab von der Straße, er prallte gegen den gerippten Stamm eines Palmbaums und rutschte daran herab und stand nicht wieder auf.
Durch den milchigen Schleier vor seinen Augen drang kaum noch Licht, der Dschungel wurde ein einziges Theater aus Schatten. Wenn er genau hinsah, verformten sich die Schatten zu einer Frau, die hinter sich einen Schleier zog. Evra. Sie wartete auf ihn. Schaffte er den Weg zu ihr nicht, dann würde sie zu ihm kommen, gewiss. Sie schritt durch den Dschungel, über den Fluss schwebte sie hinüber und durch Palmstämme sickerte sie hindurch. Unsterblich. Unbesiegbar. Unaufhaltsam. Das Elfenbein ihrer Haut schimmerte vor ihm, und sie beugte sich nieder.
Da zerbrach das Bild. Ein Ruck ging durch ihn, als sei sein Körper aus einem Wachschlaf erwacht.
„Heh! Ein unüblicher Rastplatz, oder nicht?“, fragte jemand.
Die wabernden Umrisse eines Planwagens zeichneten sich vor ihm ab. Zwei Bullen schnauften und glotzten ihn an, und auf dem Kutschbock saß ein Mann in weißen Gewändern. Kein Nekromant, ganz gewiss.
„Ich spreche mit Euch. Hier liegen zu bleiben, wird Eurer Gesundheit nicht zuträglich sein, im Übrigen ähnelt Ihr im Gesicht einem aufgeblasenen Kugelfisch.“
Irgendwoher fuhr die Kraft in ihn, aufstehen zu können. Hitzewellen des Fiebers schüttelten ihn, doch er wankte in Richtung des Wagens. Erst auf dem Trittbrett brach er zusammen.
„Seid Ihr... ein Gott?“, fragte Maro. Obwohl das Land, in dem die Götter und Teufel wandeln sollten, noch Hunderte von Meilen von ihm entfernt lang.
„Sehr freundlich von Euch. Die meisten nennen mich eher einen Dämon. Wenn es ein guter Tag ist.“
Ein Hustenkrampf warf Maro hin und her. Als wollte etwas aus ihm herausbrechen. Unter Schmerzen richtete er den Kopf auf und versuchte, in den weißen Gewändern ein Gesicht zu erkennen. Aber alles flimmerte.
„Ihr seid ein Magier...?“
„Wohl kaum. Obwohl ich nicht leugne, dass dem Gold eine gewisse Magie innewohnt... Ich bin ein fahrender Händler.“
Maro formte nur ein Wort. „Wohin?“
„Oh, in den Westen. Die Gerüchte auf den Basaren sagen, dass dort Schilde und Schwerter in Bälde guten Absatz finden werden. Aber zu Euch... Ihr macht es nicht mehr lange, wenn ich das recht überschaue.“
Mit bebenden Händen erklomm Maro den Kutschbock. Der Westen... In seinen Gedanken flackerte etwas auf. Die Nordmark. Ja.
„Ich komme mit“, lallte er. Der Mann rückte beiseite und zog ein Taschentuch hervor, das er sich vor die Nase presste.
„Sehr eilig sind die jungen Leute, sogar noch kurz vor dem Ende... Hört, ich transportiere auch Medikamente, heilende Wasser aus den Beständen der Magierärzte der Wüstenlande. Die Frage ist nur: Was könnt Ihr mir geben?“
„Nehmt mich mit Euch“, sagte Maro und zog sich noch ein Stück weiter. „Ich schütze Euch.“
„Ihr? Denkt nicht, dass ich ohne einige Lohnklingen als Begleitschutz hier angereist wäre. Vier gute Männer mit Lanzenspitzen so scharf wie der Verstand.“ Der Händler seufzte. „Was soll ich sagen, der Dschungel hat sie von mir gefordert. Und Ihr, mit Verlaub, selbst wenn Euch die Heilwasser wiederherstellen...“
Der Blick des Mannes tastete über Maro. Als wüsste er nicht selbst, wie schmal er schon von Natur aus war. Dazu noch die Krankheit – wahrhaftig einem lebenden Toten musste er ähneln. Aber er hatte einen Trumpf.
„Nekromant“, sagte er, und schob das Kompendium auf den Sitz neben dem Mann.
„Ihr seid...“
Die Gesichtsfarbe des Händlers änderte sich schlagartig. Maro streckte seine Hand in Richtung des Flussbetts, und seinen Geist dazu. Die Auren verschwammen ineinander, aber eine packte er sich heraus. Das letzte an fiebrigem Leben, das in ihm steckte, den letzten Willen und den letzten Glauben gab er fort und nährte die Aura. Sie schwoll an zu der eines Lebendigen, überragte fast die des Händlers. Was auch immer seine Kraft belebt hatte, dem Mann auf dem Wagen öffnete sich der Mund und schloss sich nicht wieder.
„Ihr Götter!“, rief er aus. Einen langen Herzschlag lang starrte er Maro an, dann streckte er die Hand aus. Schmerzhaft legte sich der Griff um seine schwieligen Finger.
Stöhnend hievte der Mann ihn auf den Kutschbock neben sich.
„Bin ich... dabei?“, fragte Maro.
„Hoh, mehr als das! Lasst mich rasch die Wasser und Salben holen.“
Der Reisende schickte noch einen Ruck durch das Zaumzeug, und die Tiere setzten sich wieder in Bewegung. Das Taschentuch noch immer vor dem Gesicht, kletterte Maros neuer Gefährte in die Öffnung der Plane hinter sich.
Maro sank auf dem Kutschbock zusammen. Aber der Wagen schaukelte unter ihm. Sie bewegten sich. Vorwärts, in die eine Richtung, die nur möglich war.
„Ich bin Maro“, sagte er, und spuckte den Schleim fort, der mit den Worten zusammen hochgekommen war.
„Erfreut, Nekromant“, kam es hohl aus dem Wageninneren. „Nennt mich Gheed.“
Maro wiederholte den Namen für sich. Gheed. Aber wie alle Namen war auch dieser bedeutungslos. Evra. Der einzige, den zu behalten es notwendig war.
Palmwedel kratzten über die Wagenplane hinweg, so laut, dass es in Maros Kopf dröhnte. Am Ende der Allee vor ihm drang Licht durch das Urwalddickicht. Sonnenlicht, Mondlicht. Wer wusste es schon - und wen interessierte es.
Sie bewegten sich. Mit jeder Stunde würde die Entfernung weiter dahinschmelzen. Er lächelte. Evra.
 
Zuletzt bearbeitet:
Sooo, Forum geht wieder, dann kann ich ja jetzt antworten :D

Kritik wird schwer, da ich keine habe. Im Ernst, exzellentes Kapitel, fantastisch geschrieben, passende Länge und macht Lust auf mehr!
Habe seit ich im FAS herumsteuer selten einen so gelungenen Part gesehn :)

Meine Kritik von oben kannst du nach diesem Kapitel auch getrost vergessen.

Gruß Krauth
 
Kann mich meinem Vorredner nur anschließen. Super Kapitel.

Ein Sache ist mir aufgefallen wobei ich nicht weiß ob das vielleicht sogar Absicht von dir war.
Doch diesmal strahlten die Straßen, als sei der letzte Tag angebrochen.

Das klingt ein bißchen merkwürdig, weil mit "strahlen" verbindet man ja eigentlich etwas positives (meistens jedenfalls wenn man mal radioaktivität außen vor lässt). Dagegen ist die assoziation mit "letzter Tag" eher negativ weil (find ich zumindest) damit verbindet man eher sowas wie Weltuntergang und so.
Darum ist die Kombination aus beidem in einem Satz irgendwie komisch.
 
Hab heute nachmittag durchgelesen und mir gefallen speziell die Beschreibungen der etwas ungewöhnlichen Geschehnisse, wie z.B. im ersten Kapitel oder der Kontakt mit der Göttin.
Beim Rest habe ich zu sehr den Hafen von Kurast und einen dürren Nekro im Kopf, aber auch der Rest ist gut geschrieben und beinhaltet interessante Charaktere, deren Namen ich mir sogar fast merken konnte (Maro? und der feiste Bub, dessen Namen ich jetzt raten müsste, obwohl mir schon etwas auf der Zunge liegt ~ Fede irgendwas?).
Dafür, dass ich mich nicht allzu gut auf deine Geschichte konzentrieren konnte/ konzentriert habe, hat sie dennoch einen guten Eindruck hinterlassen, weiter so!
 
Ich danke euch ganz herzlich für die aufmunternden Kommentare! :)

@martini-dry: Freut mich, dass es besser geworden ist! Wenn dir trotzdem irgendetwas aufstößt, lass es nur hören. :)

@Jyroshi: Danke für den Tip. Mir ist das nämlich nicht aufgefallen. Ich hatte in meinen Gedanken die Verbindung "letzter Tag -> letzte Party -> die tollste Party überhaupt", aber man kann das natürlich auch anders sehen und das liegt sogar wahrscheinlich näher.
Beizeiten ersetze ich die Formulierung, Missverständnisse sind ja unschön.

@Ryumaou: Zered, das ist der Dicke.
Vielleicht liest du die Geschichte ja nochmal mit vollem Bewusstsein, aber auch so danke ich dir für deinen Post. ;)


Ende des ersten Kapitels wird in wenigen Sekunden nacheditiert. Wobei "Ende" etwas kurzgegriffen ist. Es ist fast so lang wie der andere Teil... Da habe ich etwas falsch eingeschätzt. Ich markiere die Trennlinie zwischen dem zweiten und ersten Teil mal mit roter Farbe für die nächsten Tage, damit alle, die schon gelesen haben, direkt ohne zu suchen weiterlesen können.
 
der 2te teil des kaps ist ja mal echt hammer :eek:

weiter so
 
Kann ich nur zustimmen :) Ist wirklich klasse geworden, liest sich genauso toll wie der Anfang.

Zwei kleine Vorschläge hätte ich noch:
1. Ich würde mir überlegen, statt "Zombie" nen anderen Begriff zu nehmen. Ich finde, das Wort passt nicht so gut zur restlichen Sprache. Mir fällt grad selbst keine Alternative ein, aber vielleicht findest du ja eine.
2. Wär find ich gut, wenn du die "Skills" nicht allzu häufig verwenden würdest. Ich finde, das geht bei dem Kapitel gerade noch (vor allem weils ja den Hauptakteur einführt), bei den nächsten solltest du das find ich etwas zurückfahren. Oder, was ich sehr schön fände, du verwendest kleinere und vllt. auch etwas nutzlosere Effekte.

Aber vielleicht lieg ich da jetzt auch völlig falsch :D aber egal, sind eh nur Kleinigkeiten, die im überwältigenden Rest untergehen ;)

gruß Krauth

Btw.: köstlich das mit Gheed am Ende, obwohl ich ein "Guten Tag auch, ich bin Gheed" vorgezogen hätte :lol:
 
Da freue ich mich! @Cleglaw

@martini-dry: Ich kann deine Vorschläge gut nachvollziehen!
Bei dem Wort Zombie habe ich auch gestutzt(aber nicht lange und stark genug, offenbar). Das ist zu sehr verbraucht und besetzt von B-Movies und löst falsche Assoziationen aus.
Ich habe jetzt etwas hilflos einfach den Begriff "Untoter" etwas großzügiger gebraucht. ;)
Bei den "Skills" ist mir auch schon etwas unwohl geworden. Das ist das Problem, dass die Charaktere übermächtig erscheinen, denke ich, und da habe ich auch schon etwas gebangt. Ich werde da in zukünftigen Kapiteln zurückschrauben.
Gerade deine Detailkritik hilft mir sehr, martini, also nicht aufhören.
Übrigens, Hauptakteur - mal sehen, was noch so im zweiten Kapitel passiert...

@Jyroshi: Hier meine Korrektur des Satzes mit dem letzten Tag:
"Doch diesmal strahlten die Straßen, als hätte sich aller Glanz und alles Licht für ein letztes Fest versammelt. Für ihn würde es das auch sein."
Gefällt mir noch besser und dürfte eindeutig sein!

Ich hoffe, das nächste Kapitel bis zum Montag liefern zu können, aber am Ende überrascht mich die Länge dann vielleicht doch wieder und ich muss passen.
Das erste Kapitel waren jetzt 32 Norm-Seiten(der Standard bei Verlagen), also doch vielleicht etwas arg viel. :rolleyes:
Zumal da noch einige Kapitel kommen. ;)
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Geschichte gefällt mir bisher sehr gut. Der Schreibstil ist klasse und die Beschreibungen sind so detailliert, dass die Welt richtig echt wirkt.

Ich freu mich aufs nächste Kapitel. Hoffentlich wird es wieder so lang ;)
 
für Zombie kannste ja Ghul schreiben das passt eher zu den nekromanten:)
 
War ein Bischen kurz, das Kapitel. Von den einkalkulierten 2 1/2 Stunden blieben am Ende fast 3 volle Minuten, in denen nichts mehr zu lesen war. :D
Im Ernst: echt super! Und wie Esme sagte: Sehr detaillierte Beschreibungen, die einen die Umgebung (von Kurast;)) sehen lassen. :top:
 
Danke, Esme, ich kann dir versprechen, dass das nächste Kapitel ähnliche Ausmaße annehmen wird... Und ich habe wieder nicht damit gerechnet.

@Cleglaw: Mh, zumindest dem Ursprung nach ist ein Ghul aber etwas anderes als ein Zombie. Ich werde lieber versuchen, diese Begriffe zu vermeiden, da schwingt dann immer zu viel mit.

@Diderot: 2 1/2 Stunden? Da hast du aber sehr langsam und genießerisch gelesen, oder? :D

Ich bin jedenfalls sehr motiviert, aber kann wieder nicht versprechen, dass das Kapitel pünktlich kommt. Dafür gibt es jetzt etwas Action, und das Lesen macht euch dann hoffentlich so viel Spaß wie mir das Schreiben. :)
Wenn ich es nicht rechtzeitig fertig schaffe, gibt es dann wieder so ein halbes Kapitel mit Cliffhanger. Das ist so ganz unangenehm sicher auch nicht. ;)
 
Sorry. Doppelpost, weil ich statt auf Edit auf Zitat geklickt habe...
 
Dreifachpost. Diesmal vielleicht zu verzeihen. :)


III Ewige Wacht

„Du willst schon wieder Schacht spielen, Falke?“, fragte Jilis. Sie zog ihr Jagdmesser aus dem Tisch der Wachstube und deutete mit der Spitze auf das Spielbrett, das die junge Frau mit dem Knabengesicht ausbreitete.
„Bevor ich dir die Regeln beibringe, sollte ich vielleicht mit dem Namen anfangen: Es nennt sich Schach. Das Spiel der Könige.“
Sie trug ein feines Lächeln auf den Lippen und schüttete einen Becher weißer und schwarzer Spielsteine aus. Jilis drehte eine der schwarzen Holzfiguren zwischen den Fingern.
„Wenn Iyadema wüsste, dass wir während unserer Wache... Schach spielen, würde sie uns die nächsten Wochen zur Übung die Bögen abnehmen und die Verpflegung für das gesamte Kloster mit bloßen Händen erjagen lassen.“
„Weil sie nicht weiß, dass Schach eine weit bessere Vorbereitung auf die nächste Schlacht ist als die Schwestern Tag und Nacht damit zu beschäftigen, in die Wälder im Westen zu starren. Es schult den Geist. Und das ist ein Bauer.“
Falke rollte ihr über den Tisch eine weitere der Figuren zu. Das weiße Gegenstück zu der, die sie in der Hand hielt. Eigentlich ähnelte es einem Türknauf mehr als einem Bauer. Sie lachte und schob die Figuren zurück zu Falke.
„Die Ähnlichkeit ist ganz verblüffend, nur wo ist seine Heugabel?“
Die Schwester hob den Finger und sah sie durchdringend an. Dann fuhr sie fort, die Spielsteine auf dem Feld aufzustellen.
„Du solltest sie nicht unterschätzen, im Schach hat jede Figur ihre Berechtigung.“
Jilis ließ ihr Messer zwischen den Fingern hin- und hergleiten. Letzten Endes würde die Klinge ihr im Kampf doch mehr nutzen als die Fähigkeit, Figuren auf einem Holzbrett umherzuschieben.
„Erzähl das den Bauern in der Mark, das würde sie gewiss freuen."
Sorgenfalten zogen sich über Falkes Stirn.
„Hat es wieder Berichte gegeben?“
„Was weiß ich. Wir sind auch nur Bauern, die für unsere Königin in die Wälder im Westen starren. Aber einer muss es tun.“
„Der letzte Angriff liegt länger als zehn Jahre zurück, und damals hat nicht einer der Steppenräuber es bis an unsere Tore geschafft.“
Jilis straffte ihre Muskeln und richtete sich auf.
„Weil jeden Tag und jede Nacht Wachen Ausschau gehalten haben.“
Falke seufzte und begann, auf Jilis Seite des Feldes schwarze Figuren aufzustellen.
„Und deshalb müssen wir es wohl bis in die Ewigkeit tun?“
Wenn es notwendig würde...
Jilis zog ihren Langbogen aus der Ecke des Zimmers und legte ihn sich über die Oberschenkel. Mit den Fingern strich sie über das Holz.
„Für jede neue Schwester wird ein Baum gepflanzt, aus dessen Holz ihr Bogen gefertigt wird. Genau so, wie die Bäume an den Grenzen Wacht halten, müssen es auch die Schwestern auf den Mauern des Klosters tun.“
Falke sah sie schief an. „Im Auswendiglernen bist du gut.“
Jilis lächelte und zuckte mit den Schultern. „Es gibt eben Dinge, die man nicht vergessen sollte.“
Der Stuhl kratzte über das Mauerwerk, als Falke an das Fenster heranrutschte. Sie beugte sich spielerisch durch die Öffnung und machte einen spitzen Mund, als sie wieder hochkam.
„Schwester Jilis, mach Meldung bei der Oberin: Keine geflügelten Dämonen gesichtet, und nur der Schatten eines Barbarenreiters, der sich allerdings späterhin als der eines Himbeergesträuchs herausstellte.“
Jilis schob weiter ihr Messer auf dem Tisch herum. Auch, wenn Falke schon vier Jahre über der Ganzjährigkeit stand und ihr damit zwei voraus hatte... Manches würde sie nie begreifen, so oft sie auch den Psalmen in der Kathedrale lauschen mochte.
Ein leichter Wind wehte vom Hochland in ihre Wachstube auf den Zinnen des Klosters herüber. Nicht eine Bewegung in den Hügeln, und die Sonne versank erst hinter der Grenze der Wälder. Bis der Mond seinen höchsten Punkt erreichte und damit die Wachablösung herbeirief, würde es noch dauern.
„Na los. Zeig mir, wie man Schach spielt.“ Sie steckte ihr Messer weg und Falke stellte eben die letzten Bauern in der vorderen Reihe auf. Jilis betrachtete sich die dunklen Holzfiguren auf ihrer und die hellen auf der Seite ihrer Freundin. „Und sag mir, wieso ich die schwarzen Figuren habe. Sind das die einfallenden Horden der Finsternis?“
„Wenn dir ein Pakt mit ihnen genehm ist.“ Auch Falke warf noch einen Blick nach draußen, bevor sie zu erklären begann.
Sie spielten drei Partien, und jedes Mal richteten die weißen Krieger unter den schwarzen ein Massaker an. Schon nach dem ersten Spiel fühlte sich Jilis Kopf an, als wäre er mit Eisen gefüllt. Ein Gefühl, das dem beim endlosen Hocken über den Schriften in der Klosterakademie ähnelte.
Dann mochte dieses Spiel vielleicht wirklich den Geist schulen...
In der Mitte der vierten Partie genügte das Licht, das durchs Fenster einfiel, nicht mehr, um die Farben der Spielsteine zu unterscheiden.
Jilis warf sich einen der Bärenfellmäntel über. „Ich hole uns eine Kerze. Sonst schnappst du mir noch meinen König fort, ohne, dass ich es in der Dunkelheit merke.“
Außerdem purzelten in ihrem Kopf nur noch schwarze und weiße Steine durcheinander, und ohnehin war ihr Schädel wie taub.
„Hätte ich das denn nötig?“
Als Jilis sich eben erheben wollte, bewegte sich ein Lichtschimmer die Treppe von den Wehrgängen her zu ihnen nach oben. Sofort fuhr ihre Hand zum Messer an der Seite. Auch, wenn die einzigen Kämpfe, die sie noch fochten, die in Übungsgefechten in den Klosterhöfen und bei der Jagd in den Dunkelwäldern waren, so ermüdeten die Reflexe doch nie.
Der Lichtwurf einer Kerze flackerte die Wände entlang, getragen von einer verhüllten Gestalt.
„Wir haben Besuch“, sagte sie. Das dünne Organ von Vega. Jilis atmete auf und öffnete die Arme.
„Du bist der Besuch?“
Sie umarmte die junge Köchin, und heißes Kerzenwachs troff auf ihre Hände. Sie zuckte zurück und rieb sich die halbflüssige Substanz von den Fingern. Lange nicht so schlimm wie der Hauer eines Ebers zwischen den Rippen.
Die Jüngere zog die Kerze fort und flüsterte mit gesenktem Kopf eine Entschuldigung. Dann schob sie ihre Gugel zurück, und die Sommersprossen und der blonde Zopf leuchteten im Kerzenlicht.
„Nein, nein. Eine Wanderin ist durch die östlichen Tore gekommen, und nun sitzt sie mit Iyadema bei einem späten Mahl im Innenhof.“
„Iyadema selbst?“, fragte Jilis und sah sich zu Falke um, die die geschlagenen Spielfiguren studierte.
„Wenn wir irgendwann Hauptmänner sind, werden auch wir ohne Angabe von Gründen von den Köchen ein Nachtmahl verlangen können. Nur, weil eine alte Bekannte aufgetaucht ist.“
Ganz ohne Gründe würde auch Iyadema kein mitternächtliches Mahl in Auftrag geben lassen. Jilis schüttelte den Kopf.
„Ich will es sehen.“
Falkes Lachen füllte den ganzen Raum. „Das wird ihr gefallen. Du verlässt deinen Posten, um ihr nachzuspionieren.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Im schlimmsten Fall muss ich allein wilde Schweine jagen gehen. Etwas Abwechslung könnte ich ohnehin vertragen.“
„Allein musst du nicht gehen; ich komme mit“, sagte Vega und stellte ihre Kerze auf Falkes Tisch neben dem Spielbrett ab.
Jilis nickte.
„Zehn Minuten, Falke.“
„Die Könige warten auf dich, vergiss das nicht.“
Sie legte einen Arm um die Taille ihrer Freundin und schritt mit ihr die Treppe hinunter. Wer musste nicht lächeln, wenn er das Gesicht der jungen Schwester sah?
„Lass uns das schreckliche Geheimnis aufdecken“, sagte Jilis. Vega nickte eifrig.
„Ich wusste, dass du dabei sein würdest.“
Von den Wehrgängen aus nahmen sie die Verbindungstore zu den Terrassen, die um den Innenhof liefen. Die Kälte bohrte sich in Jilis Beine. Sie zog den Fellmantel enger um sich.
In der Finsternis boten die Statuen der Herrin des verborgenen Auges gute Deckung. Die vier Schwanenflügel, die aus ihrem Rücken sprossen, gaben genug Schutz für sie beide. Jilis winkte Vega zu sich, und die trippelte zu ihr hinter den Sockel der Statue. Der Schein der Fackeln im Innenhof schloss den Springbrunnen und die Sträucher und Beete ein, doch die Terrasse lag im Dunkeln.
Jilis spähte zwischen dem Flügelpaar auf ihrer Seite hindurch. Tatsächlich saß Iyadema hinter dem Holztischchen zwischen den Rebstöcken, Geschirr und einen Topf vor sich. Die Gestalt ihr gegenüber stand neben ihrem Stuhl und blickte auf den Hauptmann hinab. Durch das Fackellicht blieb die Fremde ein schwarzer Schattenriss.
„Sie essen nicht mehr“, flüsterte Vega.
„Hat die Fremde überhaupt gegessen?“
Das Geschirr lag in sauberster Ordnung an seinem Platz.
„Vielleicht ist sie gar nicht gekommen, um mit Iyadema zu speisen...“
Über ihnen zog ein Schwarm Fledermäuse vorbei. Zumindest ähnelten ihre Körper denen von Fledermäusen. So nah, wie sie vorüberflogen, hätten ihre Flügelschläge hörbar werden müssen. Kalt kroch es Jilis über die Arme, obwohl die im dicken Fell steckten. Oder die Wesen waren nicht nah vorübergeflogen, sondern von riesigen Ausmaßen, die sie in der Ferne so groß machten wie Fledermäuse in der Nähe...
„Etwas stimmt nicht“, sagte sie.
„Der Instinkt der Jägerin?“, fragte Vega und grinste breit.
„Ich verstehe zwar kein Wort von dem, was sie bereden, aber...“
„Aber was?“
„Aber das“, sagte sie unwillig. „Hast du deinen Bogen bei dir?“
„Sicher.“
Jilis verfluchte sich. Ihr Bogen lag gut dort bei Falke im Wachturm. Im Innenhof geschah etwas, und sie hatte dieses Stechen in der Stirn...
Iyadema redete auf ihre Besucherin ein, wedelte mit den Händen in wilden Gesten umher. Währenddessen stand ihr Gegenüber still wie eine Statue. Iyadema, die ihre Ruhe nicht einmal brach, wenn ein Bogen zu Bruch ging?
„Sie hat Angst“, sagte Vega. Jilis Wangen wurden warm. So etwas auszusprechen... Aber Recht hatte sie.
„Iyadema...“ Sie biss die Zähne aufeinander. Ein Gedanke fuhr in sie. „Vega, wir müssen näher heran. Wie viele Wachen hat der Innenhof?“
„Schau dich um.“ Vega breitete die Arme aus und umspannte den gesamten Terrassenpfad. „Wenn wir uns spontan verpflichten, könnten wir sagen: Zwei.“ Natürlich. Wachen an den Toren. Aber was auch immer den Weg hindurchgefunden hatte, das benötigte keine Aufsicht mehr. Sie krallte die Finger in die Flügel der steinernen Herrin, um deren Schutz sie täglich beteten.
„Dann tun wir das“, sagte sie.
„Was?“
„Uns verpflichten. Und wenn es darauf Strafe gibt, dann soll es so sein. Bist du dabei?“
Vega legte die Arme um ihre Brust und duckte sich etwas weiter hinter die Statue.
„Wenn du mir sagst, was du vorhast?“
Jilis antwortete nicht mehr. Sie presste das Gesicht so weit zwischen die Flügel, wie sie konnte. Bis der Stein an ihrem Hals schmerzte.
Die Fremde löste die Bänder ihres Gewandes und warf es von sich wie einen Schleier. Für die Dauer eines Lidschlages erstarrte die Welt. Jilis bohrte ihren Blick in die Gestalt, die dort zwischen den Rosenstöcken stand, um sie zu erkennen. Die Formen wichen zur Seite wie Wasser, wie das Hitzeflimmern über den Handelsstraßen im Hochsommer, wenn man genau hinsah. Der Wind stand still, und aus dem Körper der Besucherin wand sich etwas, das an eine Schlange erinnerte – eine Schlange aus Glut und Flammen. Sie steuerte wie schwerelos auf das Tor zum Außenhof zu. Dorthin, woher die Wanderin gekommen sein mochte.
Dann bewegte sich die Welt wieder. Ein schwaches Glühen strahlte von der Gestalt im Hof ab, und von einer Sekunde zur anderen schwoll es an zur Leuchtkraft einer Sonne. Weißes Feuer rauschte durch die Klostermauern, rasselte und knisterte – wie Holzperlen, die auf den Boden schepperten. Die Hitze umschloss Jilis Körper, stach zugleich in jede Pore ihrer Haut mit flammenden Lanzen. Ihre Augen brannten ihr im Schädel, als hätten sie sich in Feuerbälle verwandelt. Der Innenhof und die Statue der Göttin verschwanden hinter einer weißen Wand aus Taubheit. Harte Substanz stieß ihr in die Schulter. Sie stürzte. Auf den Boden der Terrasse, vielleicht auch durch den Stein hindurch und durch den Erdboden hindurch. Die weißen Flammen brannten ihr die Sinne fort, schnitten ihr den Atem ab. „Vega“, sagte sie. Oder dachte es. Vielleicht nicht einmal mehr das.

Sie kämpfte sich durch einen Schleier, der die Welt vor ihr verbarg. Barrieren aus geronnener Milch vor ihren Augen. Eine nach der anderen stieß sie beiseite.
Ihr Körper erbebte wie von einem Stoß, und der Schmerz von hundert Wunden rammte sich in sie.
„Jilis, nicht viel Zeit“, drang eine Stimme durch den Rauch, der den Innenhof füllte. Sie hustete und würgte, ein bitterer Geschmack setzte sich ihr in den Rachen. Vor ihr tauchte das Gesicht von Tyreé, einer der Anwärterinnen, auf. Ein Gesicht mit den Zügen eines Raubvogels.
Da setzte ihr Herz aus. Falke. Sie war noch immer dort in dem Turm.
„Was ist...“
Jilis setzte sich auf. Ruß und rot schimmernde Schrammen bedeckten ihr die Beine, und ihr Fellmantel trug verbrannte Stellen vom Kragen bis zu den Ärmelaufschlagen. Neben ihr saß Vega an der Wand, die Augen zusammengekniffen. Ein Glück.
„Eindringlinge“, sagte Tyreé, „Auf Geheiß des Hauptmanns: Sammeln bei den Ställen in den äußeren Höfen und die Verteidigung vorbereiten.“
„Schon klar“, murmelte Jilis. Sie kroch einige Schritt nach vorn, und bei jeder Bewegung rieb die aufgeschürfte Haut am steifen Leder ihrer Rüstung. Ein Feuerschein wie von hundert Fackelträgern hüllte den ganzen Innenhof ein, beleuchtete die Trümmer der Statue vor ihr. Nur noch einen Flügel trug sie, die anderen lagen neben ihrem Sockel, zwei davon in Trümmer gesprengt. Vom Rand der Terrasse aus öffnete sich ein Inferno vor ihr. Feuer loderten auf jedem Meter des Hofs, verwandelten den Rasen in eine glühende Decke und die Weiden in überlebensgroße Kerzen. Die Beete waren zu Feuerschalen geworden, und eben erkletterten die Flammen die Heckenpflanzen.
Was hatte Tyrée gesagt? Geheiß des Hauptmanns? Iyadema konnte vermutlich nie mehr ein Geheiß aufgeben... Dann hatte also die nächste ihren Platz eingenommen.
Durch den Rauch zogen Schemen. Das Knallen von Bogensehnen. Zu spät. Zwei Blitze durchbrachen die Rauchwand und rasten zu ihr. Ein Ruck fuhr ihr in den Nacken und riss sie zurück. Die Pfeile prallten gegen die Wand hinter ihr, Tyrée ließ ihre Kapuze los.
„Verrat?“, fragte Jilis. Aber wer würde die Herrin des verborgenen Auges betrügen?
„Nein.“ In die Züge der Anwärterin stahl sich etwas, das ihre Maske brechen ließ. „Die Toten haben ihre Gräber verlassen.“
„Wir kämpfen gegen Tote?“
Tyrée zuckte hilflos mit den Schultern, und Jilis wandte sich Vega zu. Erst jetzt kniete sie sich neben die Jüngere und sah ihr ins Gesicht. Einige dunkle Schrammen hatten sich zu den Sommersprossen hinzugesellt.
„Sie haben keine Haut und kein Fleisch mehr“, sagte Vega, ein Auge dabei mühsam geöffnet.
„Was haben sie dann noch, mit dem sie sich uns entgegenstellen können?“
Tyrée trat hinzu und zog Jilis an der Schulter zurück.
„Knochen. Es sind Knochenmänner.“ Im Licht des Feuers war Tyrée selbst so bleich wie ein Knochenmann. „Wir wissen nicht, wie sie durch die Tore brechen konnten. Das Holz trägt glimmende Löcher, als wäre ein Stern hindurchgestürzt.“
Oder eine Schlange? Eine Schlange aus Feuer? Vor Jilis Gesicht trat wieder die zuckende Flamme, die aus dem Körper der vermummten Frau gebrochen war.
„In jedem Fall“, fuhr Tyreé fort, „sollen wir uns bei den Ställen sammeln. Rasch.“
Jilis schüttelte den Kopf. Falke, die noch immer über ihrem Spiel sitzen mochte.
„Wir sind nicht komplett.“
„Ja“, stimmte Vega ihr zu. „Falke.“
„Wir haben genug Zeit verschwendet. Vega, lass dich von Jilis stützen. Wir müssen denen bei den Ställen beistehen.“
Tyreés Miene verhärtete sich und sie nahm Jilis am Ellenbogen. Ihre Blicke trafen sich.
Dass sie ihren Bogen nicht hatte, hätte als Grund dafür gereicht, zurückzugehen. Aber nicht wegen dem Bogen würde sie es tun. Ihr Blut pumpte ihr kochend heiß durch die Schläfen. Tyreé? Sie aufhalten?
„Eine Schwester hält noch Wacht auf den Zinnen“, zischte Jilis und riss sich los.
„Wenn sie ihren Platz jetzt noch nicht verlassen hat, hält sie vermutlich ab jetzt ewig dort Wacht.“ Die Anwärterin erneuerte ihren Griff und packte diesmal Jilis Handgelenk. „Kommt! Das ist ein Befehl des Hauptmanns!“
In Jilis Hals raste ein Wutschrei nach oben, doch mit gefletschten Zähnen unterdrückte sie ihn.
„Dann ist das eine Missachtung des Befehls des Hauptmanns!“
Sie legte den Kopf in den Nacken und schmetterte Tyreé die Stirn ins Gesicht. Die Schwester taumelte zurück und hielt sich mit beiden Händen die Nase. Zwischen den Fingern sickerte Blut hindurch.
„Drei Höllen!“, fluchte Tyrée, „du kommst nicht mehr zurück, wenn du jetzt gehst, Jilis!“
Und ob ich zurückkomme. Falke auch.“ Sie ergriff die Hand Vegas und drückte sie. „Ist ein Versprechen.“
„Klar.“
Jilis maß die Distanz bis zum überdachten Überweg zu den Wehrgängen. Dreißig Meter mindestens.
„Die Schützen zielen gut, auch ohne Fleisch an den Fingern!“
Mit dem Fuß stieß sie gegen den losgebrochenen Flügel der Statue.
„Die Herrin des verborgenen Auges behütet mich“, sagte sie.
Sie hob den Flügel hoch. Ihr Rücken protestierte mit stechendem Schmerz, doch der mischte sich schnell zu dem der Verbrennungen und Schürfwunden. Das steinerne Federglied neben sich gehalten, marschierte sie los.
Als hätte sie den Schussbefehl gegeben, prasselte eine Pfeilsalve zu ihr. Einige Schäfte brachen an der Wand vor ihr, viele splitterten an ihrem Schutzschild aus Stein. Der Wind drehte sich und trieb den Rauch direkt in ihre Richtung. Sie hustete mehr, als dass sie atmete, und die Augen kniff sie vor dem Beißen des Rauchs zusammen.
Was für eine Macht war das, die den gesamten Innenhof mit Feuer überschüttet und sogar noch sie oben auf den Terrassengängen verbrannt hatte?
Ein Pfeil schlug dicht neben ihrem Stiefel gegen den Stein. Sie senkte den Flügel, bis die Spitze auf dem Boden schleifte, und zog ihn neben sich her. „Hat euch der Tod verlernen lassen, dass die Pfeile mit der Spitze nach vorn in die Sehne gespannt werden?“, rief sie in den Innenhof hinunter. Einige Pfeile schlugen noch gegen ihren Schild, dann erreichte sie die Wehrgänge und lehnte ihren Schutz gegen die Zinnen. Der Lärm von Feuer und Bogenschüssen lag hinter ihr, und die Worte Tyreés kehrten zu ihr zurück. ...hält sie vermutlich ab jetzt ewig dort Wacht...
Sie schüttelte sich, um den Hall der Worte aus ihrem Kopf zu vertreiben. Vor ihr führte die Treppe hinauf in die Wachstube. „Falke!“, rief sie, und hetzte die Stufen hinauf.
Das Licht der Kerze spiegelte sich auf dem Gesicht der Schwester, die dort zurückgelehnt auf ihrem Stuhl saß. Ihr Blick kreuzte sich mit dem von Jilis.
„Falke?“, fragte sie. Das Schachbrett stand unberührt da, und Falkes Hand umklammerte die Königin, die Jilis ihr aus dem Spiel geworfen hatte.
Jilis machte noch einen Schritt. Falkes Blick folgte ihr nicht, sondern blieb auf die Mauer fixiert. Aus ihrer Schläfe ragte der Schaft eines Pfeils.
Sekunden stand sie vor dem Tisch. Oder Minuten. Oder Stunden. Sie ließ sich auf ihren Platz fallen. Irgendetwas hätte sie denken sollen.
Sie umschloss die schwarze Königin und steckte sie ein.
Falkes Bogen stand neben ihrem in der Ecke. Sie hob ihn auf und legte ihn der Freundin auf die Oberschenkel, schloss ihr die Augen. Den eigenen Bogen nahm sie mit und schnallte sich den Köcher über.
„Gute Nacht, Falke“, sagte sie.
Die Närrin. Gemeinsam hatten sie es in den Rang der Hohen Jägerin schaffen wollen. Jetzt musste sie es alleine tun.
Sie schleuderte die kleine Kerze aus dem Fenster. Ein letzter Lichtblitz huschte über Falkes Gesicht.
Unter dem Fenster die geborstenen Überreste des Westtors. Von zwei Seiten waren die Eindringlinge gekommen.
Sie rannte. Zurück zu den Flammen und den untoten Kriegern; dorthin, wo sie keinen Gedanken an etwas anderes verwenden konnte als daran, am Leben zu bleiben.
Erneut wuchtete sie den Statuenflügel hoch und lief in die Deckung hinter der Statue. Vega stand allein dort, die Beine zitterten ihr, als könnten sie den Körper der jungen Kriegerin nicht tragen.
„Ist Falke schon vorgegangen?“
Jilis biss sich die Zähne in die Lippen.
„Ja. Aber soweit, dass wir ihr nicht folgen können.“
„Was meinst du? Sonst redest du nicht so–“
Vega brach ab. Brauchte eigentlich keine Antwort mehr.
„Sonst sehe ich auch nicht, wie meine Freundin mit einem Pfeil im Schädel die Wand anstarrt!“ Einige Atemzüge später klärte sich ihr Denken wieder. „Tyreé aber – die ist vorgegangen, ja?“
In Vegas Augen glitzerte Feuchtigkeit. „Sie sagt, wir sollen selbst unseren Weg nach unten finden.“
Vega, die immer genau wusste, wann sie sprechen und wann schweigen musste.
Alle Muskeln in Jilis Körper spannten sich. „Wenn du laufen kannst, dann komm.“
Zur Treppe zum Hof hinunter waren es zwanzig Schritt. Jilis nahm Vega mit in den Schutz des Flügels. Bei jedem Pfeileinschlag zuckte die Junge zusammen.
„Wir sind fast da“, presste Jilis hervor. „Geh direkt in die Ställe. Bitte.“
Bitte. Nicht so wie bei Falke.
„Kaschya und die anderen kämpfen schon im Hof.“
„Kaschya?“
„Sie besetzt jetzt Iyademas Posten.“
Wer auch sonst. Durch die Flammen des Hofs huschten tatsächlich mehr Schatten als zuvor, und die Pfeile durchschnitten die Luft nicht mehr nur in einer Richtung. Jilis stemmte ihren Flügelschild vor den Eingang des Treppenhauses und nickte Vega zu.
„Die Säulen, die die Terrasse halten, sind breit genug. Geh und such dir eine gute Deckung. Eine gute Deckung, klar?“
„Gute Deckung. Mache ich.“
„Egal, was dir Tyreé oder Kaschya befehlen.”
„Dann kommst du und gibst ihnen auf die Nasen?“
„Erst einmal sind diese verrotteten Schützen dran.“
„Welchen Weg nimmst du?“
„Einen anderen. Los, fort mit dir.“
Jilis wartete noch, bis Vegas blonder Schopf im Treppenhaus verschwunden war.
Sie schob den Flügel mit den Knien näher an die Kante der Terrasse heran. Über ihr Schild hinweg nahm sie den Hof in Augenschein. Die Feuer wüteten schlimmer, verzehrten das letzte Grün der Bäume. Bis zum Boden mochten es vier, fünf Schritt sein. Zwei Bogenschützen wichen vor einem Schusshagel zurück, unmittelbar unter sie. Kahle Schädel, nackte Knochen, und die Skelettfinger in eine Bogensehne gekrallt. Als wäre eine der Zeichnungen aus den Büchern über die Anatomie des Menschen lebendig geworden. Lebendig nicht mehr lange – dafür würde sie sorgen. Sie schob den Flügel noch einen Deut näher an die Kante, dann ließ sie ihn los. Er wankte. Bis zum Treppenhaus ging sie zurück, nahm Anlauf und stieß mit dem Stiefel gegen den Stein. Sie warf sich in die Tiefe, zusammen mit dem Flügel.
Eine der Knochenfratzen wandte ihre leeren Augenhöhlen nach oben. Zu spät. Jilis grinste. Der Flügel der Herrin stürzte auf die untoten Krieger und riss sie mit zu Boden. Einer wurde vollends begraben, dem zweiten stürzte das Gewicht in die Beine und ließ ihn fallen. Knochensplitter spritzten unter dem Stein hervor, und der Übriggebliebene grub seine Fingerknochen in das Erdreich unter dem glimmenden Gras, um sich unter dem Stein hervorzuziehen.
Jilis landete in die Flammenhölle und rollte sich ab. Dennoch fuhr ihr ein Ruck durch die Schenkel. Die Hitze wehte um sie wie ein unerträglicher Sommerwind.
Sie trat zu den verschütteten Skeletten. Vielleicht hatte eines von diesen beiden zu verantworten, was Falke widerfahren war.
Sie trat dem zappelnden Krieger auf die Knochenfinger und suchte in den leeren Augenhöhlen nach einem Funken von Begreifen, Intelligenz. Ebenso gut hätte sie bei einer wahrhaftigen Leiche suchen können. Das einzige was diese hier unterschied, war die schaurige Bewegung.
Ihr Stiefel zerdrückte den Schädel. Es knirschte, der Kiefer brach entzwei und die Hirnschale splitterte. Die Knochenarme erschlafften.
„Jilis! Runter mit dir!“, gellte ein Ruf von dem überdachten Teil des Hofs. Eine Reihe von Silhouetten hielt die Bögen auf sie gerichtet. Sie warf sich hin und rollte über das Gras. Eine Skelettfigur tauchte aus einer der Rosenhecken und raste auf sie zu, zwei Breitschwerter in den Händen. Fast ein Dutzend Pfeile sirrte durch die Luft. Einige prallten an der eisernen Haube des Kriegers ab, die nächsten bohrten sich in Handgelenk und Finger und öffneten den Griff soweit, dass das Schwert hinausglitt. Die Wucht der Einschläge ließ das Gerippe schwanken, die Schäfte vibrierten in seinen Knochen. Es fasste das verbliebene Schwert mit beiden Händen und hob es im Sprung gegen Jilis.
Nicht genug Zeit zum Aufspringen oder, um eine Waffe zu ziehen. Sie stieß sich von den Steinen ab, die ein brennendes Beet neben ihr umkränzten, und rollte sich auf den Gegner zu. Die Klinge stieß eine Handbreite neben ihr ins Gras, sie warf sich gegen die knöchernen Schienbeine. Die Knochengestalt kippte. Im Fallen hämmerte sich ihr die nächste Pfeilsalve in die Brust.
Jilis rappelte sich auf. Sofort schoss die Schwertspitze in ihre Richtung. Sie landete einen Rückhandschlag gegen den Unterarm des Skeletts. Das Schwert zuckte zurück, doch Blut färbte die Klinge, und an Jilis Hals rann es warm hinab. Sie setzte nach und prellte dem Krieger mit der Faust die Waffe aus der Hand. Skelettfinger reckten sich nach ihrem Gesicht wie bleiche Dolche. Blitzschnell warf sie den Kopf herum und tauchte unter der Reichweite der Arme hindurch. Das fallende Schwert fing sie auf, stieß mit dem Knauf gegen den Schädel des Untoten. Risse zogen sich über das Knochengesicht. Plötzlich drückte ihr etwas die Brust zusammen. Ihr Gegner schloss die Arme um sie in einer schrecklichen Umarmung. Die Rippen pressten sich gegen ihre und quetschten ihr die Lunge. Eine Macht steckte in den toten Gebeinen, die den Muskeln der Lebenden ebenbürtig war.
Jilis führte die Hände hinter dem Rücken des Skeletts zusammen und richtete das Schwert auf dessen Hinterkopf. Sie legte den Kopf zur Seite und riss die Waffe zu sich. Die Spitze brach aus Nasen- und Augenhöhle und überschüttete sie mit Knochensplittern. Ruckartig zog sie die Waffe hoch und brach durch die Schädeldecke hindurch, riss den Spitzhelm mit herunter.
Sofort löste sich der Griff um ihre Brust. Sie schüttelte die Arme ab, die sich um sie geschlungen hatten und atmete wieder frei.
„Hierher!“, rief die Stimme von eben.
Weiter pfiffen die Pfeile aus beiden Richtungen über den Hof. Jilis duckte sich hinter einen Rosenbusch und nahm das zweite Breitschwert des Besiegten auf. Zwei Schwerter hatte er getragen, und nicht eine Scheide. Doch die Scheiden würde sie so schnell nicht brauchen.
Im Fell ihres Mantels tanzten Funken, und sie warf ihn auf dem Weg zu den Schwestern fort.
In den Säulengang gekauert kniete Tyrée mit den ihr unterstellten Schwestern. Kaschya, in Kettenhemd und mit einem Bogen bewaffnet, der sie weit überragte, füllte ihren Köcher mit den Pfeilen aus dem Vorrat einer Schwester, die in ihrem eigenen Blut neben ihr lag.
„Hauptmann“, grüßte Jilis, sah zuerst Kaschya und dann die anderen an.
„Das müsste in eine Legende, wie du die zwei zertrümmert –“, sagte eine der Kriegerinnen.
Tyreé schnitt ihr das Wort ab. „Sorg dich darum, dass es nach dieser Nacht überhaupt noch jemanden gibt, der hiervon berichten kann.“ Eine Blutkruste färbte ihr Lippen und Kinn, dass sie wie ein Raubtier nach der Mahlzeit aussah. Tyrée bemerkte Jilis Blick. „Nach der nächsten Übung wirst du so aussehen.“
Wenn es je noch eine Übung geben würde.
Kaschya stellte sich auf, gedeckt vor den Pfeilschüssen durch eine Säule. Ihre kurzen blonden Haare glühten im Feuerlicht selbst wie Flammen.
„Die Schlacht ist verloren gewesen im Moment, da sie begonnen hat. Diese Feinde haben kein Herz, auf das wir zielen können.“
„Und sie mit Pfeilen zu spicken, bis sie Igeln ähnlicher als Menschen sind, dient uns nicht besonders“, fügte Tyreé hinzu.
Auf dem Innenhof flogen die Pfeile noch immer. Verschwendet gegen diese Feinde, denen eine böse Macht jeglichen Schwachpunkt genommen hatte. Allein Iyadema mochte diese böse Macht erblickt haben, und im selben Moment zu Asche verbrannt sein. Über ihrem Leichnam fochten die Schwestern einen aussichtslosen Kampf. Der Rauch verdeckte das Kampfgeschehen, aber immer wieder wateten dürre Schemen auf andere zu, unaufhaltsam, und streckten sie nieder.
„Was hat diese Verfluchten aus ihren Gräbern kriechen lassen?“, fragte Jilis.
„Fragen wir uns das an einem Ort, an dem die Luft uns nicht die Lungen mit jedem Atemzug verbrennt“, sagte Kaschya. Als einzige stand sie aufrecht von den Schwestern. „Wir sammeln uns in der Kathedrale. Die Tore erkaufen uns Zeit.“
Auch, wenn die Flammenschlange zurückkehrte? Zwar sagte ihr jeglicher Verstand, dass auch die Zauberin selbst in den Feuern umgekommen sein musste. Doch dagegen stand die Tatsache, dass in dieser Nacht genug Teufelei geschehen war, um jede Gespenstergeschichte am Lagerfeuer zu einer Komödie zu machen.
Jilis Blick wanderte über die Gesichter der kauernden Schwestern. Ein zweites Mal. Vegas Gesicht fehlte.
„Vega ist schon in den Mauern der Kathedrale?“
„Sie ist mit Kerill und Marika in der Bibliothek, um Akara zu suchen. Bei allen grausamen Wundern in dieser Nacht ist es doch keins, dass unsere Priesterin unsere größte Schlacht seit Jahren über ihren Büchern verpasst.“ Kaschya wies auf den Durchlass, der hinab in den Bibliothekskeller führte. Jilis rannte los, bevor der Hauptmann den Arm sinken lassen konnte.
„Welchen Pfad hat Falke genommen?“, rief Tyreé ihr nach.
„Du triffst sie wieder, wenn du dir von einer dieser Bestien hier deinen Schädel zerspalten lässt.“
Hatte sie Vega nicht gesagt, in Sicherheit bei den anderen zu bleiben? Jilis Schritte rasten die Treppe hinunter. Sie wog die Schwerter in den Händen. Schmucklose Eisenwaffen ohne Wappengravur, die jeder Räuberbande gedient haben konnten.
Zumindest brachten die Eindringlinge die Waffen mit, mit denen sie sich bekämpfen ließen.
Ihre Stiefel ließen das Blut hochspritzen, dass sich auf einer der Stufen in einer Pfütze sammelte. Kerills Körper lehnte an der Wand, das Haar bedeckte ihr Gesicht. Von der Schulter bis zur Hüfte lief ein Schnitt durch ihre Rüstung, aus dem das Blut sickerte. Die Hände um den Bogen und einen Pfeil geschlossen. So musste sie gefallen sein.
Sie lief noch schneller, sprang die Stufen der gewundenen Treppe herab. Die Echos von Rufen und des Klangs von Metall auf Metall schallten zu ihr hoch.
Nur Kerzen erhellten alle paar Meter die Wände der Bibliothek. Klingenhiebe auf Stein drangen von der linken Regalreihe zu ihr. Sie bog ab, und ein gurgelnder Schrei erschallte. Im Licht einer der Kerzen stand Marika einem Skelettfeind gegenüber. Die zwei Schwerter, die er führte, hefteten sie durch den Hals hindurch an die Kellerwand. Marikas Bogen polterte auf den Boden, und ihr Kopf neigte sich zu Jilis hinüber, ohne ihn so hoch heben zu können, dass sie sie hätte anblicken können. Der Feind riss die Schwerter zurück, und Schweife aus Blut folgten den Klingen, malten sich wie Striche vergossener Farbe auf die Reihen der Buchrücken. Marikas schlaffer Leib gab dem eigenen Gewicht nach und kippte zur Seite. „Jil…“, hauchte sie.
Im selben Moment wandte sich der Totenschädel ihr zu, die fleischlosen Zahnreihen in ein ewiges Grinsen gebannt.
Ein glühender Fluss rauschte ihr vom Nacken bis in Zehen und Fingerspitzen. Sie nahm Schwung und warf sich voran. Marikas Mörder machte einen Schritt zurück und verschwand fast im dämmrigen Licht. Jilis ließ die Klingen im Wechsel von oben und unten zu ihm zucken, riss Stücke aus den Rippen und Schulterblättern. Er hob eine Klinge zur Verteidigung, parierte einen Streich und stieß selbst mit der zweiten Waffe auf ihre Brust. Ein Sprung nach hinten brachte sie außer Reichweite, und ihr Gegner musste zurück ins Licht treten. Seine Breitschwerter kamen in einer Kaskade aus Angriffen auf sie zu. Ihr Geist fokussierte sich auf das Blitzen des Metalls. Links, rechts, Ausfall. Ihre eigenen Waffen warfen sich wie automatisch zur Parade dagegen. Diesmal zog der Skelettkrieger sich nicht zurück. Er presste die flache Seite seiner Schwerter gegen ihre und drückte sie zurück.
Ihr schwindelte, die übermannshohen Regale drehten und wanden sich um sie in die Höhe. Das Blut bedeckte ihren Hals wie ein Schal. Zuviel Blut. Der Krieger drückte sie soweit zurück, dass sie den Rücken nach hinten biegen musste. Noch immer unverändert das grässliche Grinsen des Todes.
Mit einem Mal rutschte ein Bein ihres Gegners nach hinten und der Druck ließ nach. Hatte Marikas Körper gezuckt?
Sie nutzte den Moment, in dem das Skelett nach Halt suchte und trieb ihm mit einem Ruck die Klingen auseinander, öffnete seine Deckung.
„Mich nicht auch noch!“
Sie hämmerte ihm das Knie gegen die Rippen, und als er zurücktaumelte, setzte sie mit einem Fußtritt nach. Er fand sein Gleichgewicht wieder und setzte zu einem neuerlichen Ansturm an. Vor ihren Augen verblich die Welt. Den Schädel sah sie noch, wie er zurück ins Kerzenlicht rückte. Vier Schritt. Sie schleuderte die erste Klinge los. Bis zur Hälfte drang die Klinge durch das Nasenbein in den Schädel. Der Tote lief weiter. Noch zwei Schritt. Sie holte aus und warf die zweite Klinge. In einem Wirbel aus Silber bohrte sie sich in die Schädeldecke und spaltete sie. Ein Schritt. Der Tote stürmte zu ihr, im letzten Satz knickten ihm die Beine ein wie gebrochene Streichhölzer. Die Magie, die seine Knochen zusammengehalten hatte, brach nieder und der Krieger mit ihr. Als ein Haufen weißer Scherben und Bruchstücke verteilte er sich auf dem Boden.
„Vega“, rief Jilis. Weiter verschwamm die Welt, als ginge ein dichter Regen vor ihr nieder. Sie presste sich die Hände an den Kopf und schloss die Augen. Nur noch ein paar Minuten. Mehr brauchte sie nicht. Bitte.
Vom anderen Ende des Bibliothekskellers erwiderte jemand ihren Ruf. Jemand, dessen Stimme sie unfehlbar kannte.
Sie schleppte sich über den Mittelgang, an dessen Ende der große Foliantenständer ruhte. Dünne Blitze zuckten vor der Wand über den Gang. Pfeile. Nur aus einer Richtung.
„Sinnlos, Schwester“, vernahm sie die Oberin Akara. Die Pfeile flogen weiter.
Auf der einen Seite stand Vega und legte Pfeil um Pfeil in die Sehne ein, hinter sich Akara. Was auf der anderen Seite stand, war kein Rätsel. Jilis fasste eines der oberen Regalbretter und drückte dagegen. Dafür noch mussten ihre Kräfte reichen. Dann konnte die Welt hinter einem grauen Schleier versinken, wenn sie mochte.
Mit einem Schrei warf sie sich gegen das Regal. Es neigte sich, stand schwerelos. Noch einmal schleuderte sie ihren Körper dagegen, und bei dem Aufprall tanzten schwarze Flecke vor ihren Augen.
Der Aufprall dröhnte durch das ganze Gemäuer, übertönte das Knirschen der Knochen. Staubwolken erhoben sich um das gestürzte Regal, und einzelne Pergamentseiten und geöffnete Schriftrollen segelten durch die Luft.
Jilis Welt kehrte sich um, die Schwerkraft zog sie zu Boden wie eine fallende Frucht. Weiche Arme hielten sie.
„Hab dich.“ Die Junge richtete sie wieder auf. Noch immer schwankten die Wände. Jilis stützte sich an der Schulter von Vega.
Neben ihnen huschte der violette Umhang der Oberin umher.
„Bitte kommt, Akara“, bat Vega, „jede Minute fallen mehr unserer Schwestern auf den Höfen.“
„Wir werden all diese Weisheit zurücklassen müssen...“
Jilis würgte, ein saurer Geschmack trat ihr in die Kehle. Sie schluckte herunter, was auch immer in ihr hochkommen wollte. Langsam schärfte sich ihr Blick wieder, und Vega sah sie hilflos an.
Jilis hob sich etwas höher.
„Besser, als wenn die Untoten dafür sorgen, dass die Schwesternschaft unsere zerschmetterten Körper hier zurücklassen muss.“
Eine Halle voller staubiger Bücher beinahe über das eigene Leben zu stellen – eine seltsame Denkweise.
Mit geöffnetem Mund wandte sich die Oberin zu der Verwundeten um.
„Sicher, Schwester... Wir sollten gehen.“
Am Treppenaufgang machte Jilis sich von Vega los und setzte einen Fuß auf den Schädel des Besiegten neben Marika. Sie zog die Schwerter wieder heraus. Ein leichter Taumel griff sie.
Vega kam sofort, um sie wieder zu stützen.
„Du hast viel Blut verloren.“
„Und du hast dich nicht an meinen Rat gehalten.“
„Kaschya meinte, es wäre wichtig. Akara...“
„Ja, ja, sicher. Es ist auch wichtig gewesen, dich nächtens zu wecken und dich ein Mahl für Iyadema und ihre Zauberin zubereiten zu lassen.“
Genau so gut wie Kerill und Iyadema hätte auch ihre Freundin jetzt in ihrem Blut liegen können.
Sie wichen dem Leichnam Kerills auf der Treppe aus und kehrten in den Innenhof zurück. Zwei der Weiden waren gestürzt und bedeckten das brennende Schlachtfeld nun mit ihren geschwärzten Stämmen. Vom Rasen blieb an vielen Stellen nur noch die blanke Erde, bedeckt mit Aschehaufen. Hustend und keuchend kämpften sie sich in Richtung des Kathedralenportals. Zwei Schwestern, die in ihrer Deckung hockten, schlossen sich ihnen an, und alle fünf Schritte mussten sie über zersplitterte Knochen oder den erschlafften Leib eines weiteren Mädchens steigen. Aus den Seitengängen zum Speisesaal sprangen die Toten sie erneut an. Jilis drosch einem den Schwertgriff in den Schädel und dem nächsten hieb sie erst das Becken von der Wirbelsäule, dann den Kopf vom Hals. Den Rest des Weges führte Vega sie. Sie pochten an das Kathedralenportal, während Jilis nach Skeletten im Hof Ausschau hielt.
Schließlich öffneten sich die Torflügel und sogen sie hinein in den Chorraum. Zwei Schwestern wuchteten das Portal wieder zu und sperrten die Rauchschwaden des Hofs aus. Auch der Balken, mit dem sie den Eingang versperrten, würde nicht ewig halten.
Jilis schleppte sich auf eine der Bänke in den vordersten Reihen, Vega setzte sich neben sie. Noch vier Dutzend Schwestern insgesamt bevölkerten die Kathedrale, und Akara stellte sich zu Kaschya am Altar.
„Das hier ist die dunkelste Stunde der Schwesternschaft“, begann der Hauptmann. „Wir werden unser Heim verlassen müssen.“
Akara faltete die Hände vor der Brust. „Über Jahrzehnte haben wir hier gelebt...“
„Ein Wolf, der seine Beute am ersten Tag ziehen lässt, kehrt am zweiten zurück, um sie zu schlagen“, rief Kaschya, und die jüngeren Schwestern applaudierten. In den Applaus mischte sich das Hämmern von Schlägen gegen das große Eichenportal, aber niemand wandte sich von Kaschya ab. „Schwestern sind wir jetzt, Jägerinnen gewesen. Aber Jägerinnen müssen wir wieder werden.“
„Sie ist gut, für ihren ersten Tag“, flüsterte Vega in Jilis Ohr.
Im Portal klafften Risse, die Schneiden von Schwertern brachen hindurch und hackten sich in das Holz, wo die Eisenbeschläge es nicht schützten. Die Klingen fanden den Balken, der den Eingang verbarrikadierte und stürzten sich auf ihn.
„Wir holen unsere Heimstatt zurück. An einem anderen Tag.“
Auf ihren Wink hin packten zwei Schwestern die meterhohen Kerzenständer neben dem Altar und trieben sie durch die Buntglasfenster, die fast ebenerdig abschlossen. Das Gesicht der Herrin des verborgenen Auges, zusammengesetzt aus Glas in allen Farben des Regenbogens, brach im selben Moment wie der Balken vor dem Kirchenportal.
Jilis sprang auf den Gang.
Der Widerschein des Infernos im Hof kroch über die Bänke, fast bis zum Altar, und zahllos stürmten die lebenden Toten in die Kapelle.
„Nein, Jilis! Du hast genug gekämpft.“
Vega zog sie mit sich zu den anderen, die durch die durchstoßenen Fenster in die Nacht hinauskletterten.
„Habe ich nicht. Die Hunde aus der Hölle nehmen sich unser Kloster, und ich renne nach draußen in die Wälder...“
Aber Vega hatte recht...
Sie folgte Vega und reihte sich in den Strom der Jägerinnen. Jägerinnen, das klang besser als Schwestern.
Akara folgte ihnen als eine der letzten. Eine Oberin würde schwerlich unter Jägerinnen einen Platz haben.
Die Skelettkrieger schwärmten aus, besetzten die Seitenschiffe und ließen kaum einen Schritt Platz. Keiner folgte ihnen, sie schnitten ihnen nur den Rückweg ab.
Jilis schleuderte die Breitschwerter von sich und kletterte aus dem Fenster. Die Feuer des Innenhofs zeigten ihr die Konturen einer Gestalt, die durch das niedergerissene Tor trat. Nicht so schmal und ohne Fleisch wie die Untoten. Das Feuer blendete sie, und sie sprang in die dichten Büsche unterhalb des Fensters.
Mit Vega zusammen, mit all den Jägerinnen, rannte sie in das Hügelland der Nordmark. Kaschyas Kettenhemd blitzte an der Front des Zuges, dahinter verteilten sich einzelne Mädchen und kleine Grüppchen über die gesamte Fläche zwischen den Fronten der Wälder um sie herum. Sie stolperten über sumpfiges Gras, und nur das eigene Keuchen begleitete sie. Auf einem seichten Hügel hielten die ersten an, denen der Atem ausging, und Kaschya hob die Hand. Der ganze Trupp stoppte, und Jilis schleppte sich noch auf die Hügelkuppe. Um sie schnaufende und schwitzende Kriegerinnen, denen Blut und Ruß an den Rüstungen klebte. Rüstungen, die so lange nicht benutzt worden waren.
Feuerarme griffen hoch in den Himmel hinein, in ihrem Zentrum die Klostermauern. Alles brannte. Alles, was ihre Welt gewesen war. Fast.
Sie legte Vega einen Arm um die Schulter, und die lächelte ihr aus einem dreckverkrusteten Gesicht zu.
„Falke will, dass wir das wieder geradebiegen“, sagte Jilis. Ewig Wacht halten würde sie, wie Tyreé gesagt hatte. Ausgerechnet Falke, die über die Wachstunden immer gegrollt hatte. Und letztlich, geholfen hatten sie nicht.
„Ja.“









Das wars.
Etwas kürzer als das zweite Kapitel, aber immernoch lang genug um zu lang zu sein. Ich will eigentlich etwas kürzer treten... Aber wenn es sich so ergibt und das Lesen Spaß macht, dürfte ja noch alles okay sein.
Für das Kapitel hatte ich eigentlich soviel mehr vorgesehen, aber beim Schreiben habe ich dann gemerkt, dass es zu viel wird. Leserische Überbelastung durch zu viel Gezaubere und abnormale Gestalten.
Aber Jilis macht mir jetzt schon viel Spaß, durch ihre kriegerisch-pragmatische Ader. :D Euch hoffentlich auch!
Sagt mal an, wie es war! Wie waren die Actionszenen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Hat mir sehr gut gefallen, auch die Action bringst du schön rüber. Und dieser "Automatismus", der Jilis während der ganzen Schlacht lenkt, macht das ganze unglaublich packend. Das man als Leser teilweise die Übersicht leicht verliert, gefällt mir übrigens, ob gewollt oder nicht, sehr.

Wo du allerdings aufpassen musst ist, wenn die ganz actionlastigen Szenen kommen. Da tendierst du dazu, zu viel "Sie-Sätze" zu verwenden. Wäre schön, wenn du da etwas abwechseln würdest, vllt durch passivsätze oder ähnliches. Ich hoffe es wird klar, sonst such ich dir die Stellen auch gerne raus, die ich meine :)
Außerdem sind mir noch folgende Sachen aufgefallen:

- „Der letzte Angriff liegt länger als zehn Jahre zurück, und damals hat nicht einer der Steppenräuber hat es bis an unsere Tore geschafft.“ -
da ist ein "hat" zuviel.

- Sie holt mit Kerill und Marika in der Bibliothek, um Akara zu suchen. -
falsches Verb (?)

- Das Adrenalin rauschte ihr vom Nacken bis in Zehen und Fingerspitzen. -
"Adrenalin" finde ich hier etwas unglücklich gewählt, vllt. findest du da noch ne andere Bezeichnung. Ich fände persönlich sowas wie "Ein Schauer rauschte..." ganz nett, nur vllt etwas aggressiver ;)

- Den Schädel sah sie noch, wie er in zurück ins Kerzenlicht rückte. -
Den Satz begreif ich nicht :D

Aber ansonsten echt wieder gelungen und wie man so schön sagt: Macht Lust auf mehr.

gruß
Krauth
 
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