Hi Gandalf,
letzte Woche ist doch Kapitel 6 gekommen!
Aber in der Tat wäre heute Deadline für Kapitel 7 gewesen, und ich komme wieder mal nur mit einer halben Sache an... Diesmal nicht wegen Zeit-, sondern Inspirationsmangel. Gerne behaupte ich eigentlich, sowas nicht zu kennen, aber diesmal war es schlimm. Das, was hier kommt, ist auch nicht das Beste, was ich aus mir rauskriegen kann, habe ich irgendwie gespürt. Die nächsten Tage kommt das Ende dazu!
Hey martini,
wenn keiner nörgelt, wird nichts besser!
Auf den zweiten Blick ist die von dir zitierte Stelle wirklich kaum zu verstehen, da füge ich noch eine Änderung ein.
Auch, wenn ich von der Güte des Kapitels nicht ganz überzeugt bin - vielleicht kommt zumindest der erste Hauch davon durch, dass das hier keine schwarz-weiß-epic-fantasy wird.
VII Blutgeboren
Jilis krallte sich die Fingernägel in die Arme. Der Wind strich ihr über die Wangen und machte ihr die Tränen auf der Haut kalt wie Eis. Wieder zu spät. Sie sah Marika in den Klingen des Skelettmanns baumeln wie eine Gehängte. Dann wich das Bild und vor ihr tat sich wieder die Heide auf, mit dem bleichen Körper ihrer Schwester darin. Der tödliche Pfeil,
ihr Pfeil, ragte Marika aus der Stirn wie eine schwarze Blume. Zu spät. Hätte sie einen Augenblick gezögert, länger aus dem Fenster gespäht... vielleicht hätte sie die beiden erkannt. Kerill lag über Marikas Beine hingestreckt.
Hinter ihr raschelte das Gras, das pechschwarze Leder des Nekromanten trat neben sie.
„Was...?“, fragte er. Seine Stimme wurde vom Wind davongetragen. Aber sie hörte laut genug. Noch ein Wort, Verfluchter. Noch ein Wort. Ihre Arme und Fäuste bebten. „Das sind nicht die Dämonen“, sagte er.
Jilis blieb still auf ihrem Platz im feuchten Gras sitzen. Der Wind trieb die hohen Halme gegen ihre Schultern und Knie. „Nein“, sagte sie leise, dann sprang sie auf und stellte sich dem Nekromanten gegenüber, dass ihre Stirnen sich beinahe berührten. „Nein, das sind nicht die Dämonen. Danke deinen schwarzen Göttern, sie haben dir Augen geschenkt!“
Er ging an ihr vorüber, seine weißen Haare streiften über ihr Gesicht und hinterließen einen Duft von fremdartigem Balsam. Konnte er sie nicht angehen, beschimpfen, auf dass sie ihm ihren Zorn entgegenwerfen konnte?
„Na los, sag etwas!“, befahl sie, aber ihre Worte brachen weg in ein Schluchzen.
„Du hast sie gekannt?“
Der Nekromant beugte sich über die beiden, Jilis zog ihn an der Schulter zurück.
„Weg da.“
Er wischte ihre Arme fort und sah sie durchdringend an.
„Hast du also.“
„Ich habe sie... getötet.“
Der Nekromant schüttelte den Kopf.
„Nein. Das hat jemand anders vor dir getan. Ihre Auren hatten schon vorhin kein Leben mehr in sich.“
„Ich habe
gesehen, wie sie gestorben sind, du Narr.“ Ihr Atem beruhigte sich. „Die Untoten, im Kloster.“
„Jetzt sind sie selbst zu diesen Untoten geworden.“
Jilis starrte auf die bleiche Haut der beiden. Wie mit Asche überzogen.
„Ändert das etwas?“
„Es sind nicht die Untoten, die ich kenne.“
„Oh, ich verstehe. Du ziehst dir die Leichen auf andere Weise aus der Erde?“
„Untote sind nichts als Hüllen, in denen der Splitter des Geistes eines Zauberers steckt.“
„Splitter?“, fragte Jilis. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging um die Gefallenen herum. „Ich sehe keine.“
„Du wirst auch keinen sehen, wenn du Oram anschaust. Doch der trägt einen Splitter in sich.“
Sie blieb vor dem Erdmonstrum stehen. Bis zur Brust ging sie ihm. Plötzlich flutete der Zorn in sie. Sie rammte der Kreatur die Faust in den Bauch, wieder und wieder. Das Material gab ihrer Faust nach. Fast, als würde sie in den Erdboden dreschen. Teilnahmslos blickte der Golem über sie hinweg. Sie wischte sich die Erdkruste von den Knöcheln.
„Und? Die Schwestern brauchen so einen Splitter nicht?“
Der Nekromant hatte einen Mundwinkel gehoben und sah sie an.
„Diese hier offensichtlich nicht mehr. Aber wenn ihr Herz nicht mehr schlägt und sie dennoch aufstehen, laufen... auf uns mit ihren Bögen schießen wollen, dann bräuchten sie ihn. Aber ich habe nichts in ihren Auren gelesen.“
„Dann hast du vielleicht nicht genau genug gelesen. Das ist wie mit den Gedichten der Altvorderen, die du hundert Mal lesen und doch keinen Sinn herausnehmen kannst.“
Der Nekromant lachte ein sanftes Lachen. Auch ihr wich der Knoten aus dem Hals.
„Möglich. Oder die beiden sind von einer anderen Kraft mit Leben jenseits des Todes ausgestattet worden. Von einer Kraft, die ich nicht verstehe.“
Sein Blick ging in die Ferne, verlor sich irgendwo zwischen den Reihen der Weiden am Waldrand. In diesem Moment zuckte etwas in ihrem Inneren auf. Der Junge war ein Totenbeschwörer, aber er suchte etwas, das nicht dem Wissen seiner Kaste entstammte und das keiner seiner Brüder verstehen würde. Jilis schüttelte sich. Sie würde es genau so wenig verstehen. Wirre Gedanken.
„So oder so, ich will ein Grab für die beiden.“
„Was, wenn ich einfach weiterreise?“
Sie biss die Zähne aufeinander. Egal, was er suchte, es machte ihn nicht besser.
„Wir suchen einige Trümmer aus dem Haus zusammen, für einen Scheiterhaufen... gut?“
„Riskieren wir damit nicht einen Waldbrand?“
„Es ist hier nur kälter als dort, wo du herkommst. Aber der Boden ist hier genau so vollgesogen mit Wasser wie ein Schwamm.“
Der Nekromant nickte. Sein Helfer aus Erde beugte sich nach den beiden Leichnamen und lud sie sich auf die Schulter. Jilis wollte einen Arm ausstrecken, um ihn aufzuhalten, aber dann ließ sie es sein. Es waren nur noch die Körper der beiden. Ihre Geister waren lange fort.
Eine halbe Stunde später brannte nahe dem Fluss ein Feuer, genährt von den Überresten von Möbeln und den aus dem Dachboden gerissenen Brettern.
Jilis atmete den scharfen Geruch des Rauchs ein. Die zwei menschlichen Silhouetten auf dem Turm wurden undeutlicher, ihre Konturen verwischten hinter den Feuerschleiern. Was war es, das sich aus den Tiefen erhoben hatte? Nicht genug, die Schwestern zu vernichten – es
verdrehte sie, machte sie zu gräulichen Puppen, die ihm dienen mussten.
„Können wir weiter?“, fragte der Nekromant. Zusammen mit seinem Golem stand er unter den zerfetzten Windmühlenflügeln.
„Wir werden den Weg heute nicht mehr schaffen. Im Herbst ist der Nebel im Hochwald dicht, und wenn die Sonne erst untergegangen ist, laufen wir im besten Fall unseren eigenen Fußspuren nach.“
Gerade der Pfad zum alten Friedhof würde von gefallenen Blättern bedeckt und leicht zu verlieren sein.
Jilis starrte weiter in die Flammen. „Eine Sache ist da noch“, sagte sie. „Wenn die beiden keinen dieser
Splitter in sich hatten... Dann kann sie auch kein fremder Geist eines Hexers oder was auch immer gelenkt haben, oder?“
Sie erschrak, als der Junge in seiner schwarzen Kluft neben sie trat.
Der Geist eines Hexers, wie deiner.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Das heißt dann, dass sie sich selbst entschlossen haben, uns anzugreifen.“
Sie schluckte.
„Das heißt gar nichts.“ Der Nekromant schüttelte den Kopf, und seine Augen trugen wieder den durchdringenden Blick. Konnte er ihr in die Seele blicken?
Er wandte sich vom Feuer ab. „Sie hätten überhaupt nicht fähig sein sollen,
irgendjemanden anzugreifen. Diese Macht hier... Sie beugt sich nicht den Gesetzen meiner Magie.“
„Aber woher kommt sie dann?“
Das Feuer hielt Jilis noch gebannt. Ihre Schwestern brannten. Die Luft stank von ihrem brennenden Fleisch. Aber ihre Beine wollten sie nicht forttragen.
„Wir finden es umso schneller heraus, je früher wir aufbrechen.“
Sie schloss die Augen und riss sich endlich los.
Sie kehrten zurück auf die Straße, und Jilis betrachtete alle paar Schritte den Himmel. Diese fliegenden Teufel... Als sie mit Vega Iyademas Ende mitangesehen hatte, auch da waren diese geflügelten Schatten gewesen. Solche Geschöpfe konnte keine Laune der Natur geschaffen haben. Nur diese höllische Kraft, die die Klostergärten mit Flammen verheert und die Toten herbeigerufen hatte.
Jilis führte sie an, als sie die Straße verließen. Die Bäume des Hochwalds spannten sich bis weit in die Ebene hinein, aber sie schlugen den Weg zu den Bergen ein. Noch bevor die Sonne den Himmel verlassen hatte, wich das sumpfige Gras unter ihren Füßen festem Stein, und sie fanden einen Rastplatz unter einem Felsüberhang.
Bei Einbruch der Nacht hatten sie ihr Lager eingerichtet und schwiegen einander an. Der Nekromant saß gekrümmt von seinen Verletzungen auf dem Schlafsack, und auch Jilis' Wunden bohrten sich mit Schmerzen in ihr Fleisch.
Am Morgen saßen sie wieder genau so da, und der Nebel kroch vom Wald her über den Berghang.
„Es ist die Kälte, jetzt im Herbst. Die Luft wird nachts so kalt, dass der Nebel selbst noch über den Wald hinauskommt.“
Der Nekromant strich sich Käse auf einen Brotkanten und erhob sich ächzend von seinem Lager.
„Also zieht er sich mittags zurück, wenn es wärmer ist?“
„Falls du vorhast, so lange zu warten...“
„Nein. Wir müssen ohnehin ins Herz des Waldes.“
„Herz? Ein schönes Bild für einen Friedhof.“
Jilis rückte etwas näher an das Feuer, das zwischen ihnen brannte. Mit dem Nebel kam die Kälte. Eine feuchte Kälte, die sich auf die Haut legte wie Wadenwickel bei einem Fieberkranken.
„Es ist ein Ort, an dem sich die Toten versammeln. So, wie sich auf einem Fest die Lebenden versammeln.“
„So denkt ihr in deiner Heimat?“, fragte sie. „Außerdem... werden es nicht mehr viele Tote dort im Waldfriedhof sein. Zu viele von ihnen sind schon über die Grenze des Waldes hinausgewandert.“
„Genügt mir schon, wenn der noch dort ist, der sie gerufen hat.“
Jilis nickte, und nur noch das Knistern des Feuers durchbrach die Stille. Nichts mehr zu sagen. Eigentlich hatten sie sich überhaupt nie etwas zu sagen gehabt.
Sie brachen das Lager ab und näherten sich der Nebelbank, die zu ihnen heraufbrandete. Jilis' Geist spannte sich wieder an, kämpfte die Schmerzen nieder und lauschte mit allen Sinnen in den Wald. Endlich ließ sie die Muße der Wanderung hinter sich.
Der Nebel schloss sich um sie. Verflucht dicht. Nach einem Dutzend Schritte tauchten die Stämme in eine Wand aus weißen Schleiern. Zwar mieden selbst die Tiere für gewöhnlich den Wald, aber in diesen Zeiten konnten sich auch andere Geschöpfe im Schutz der Nebel verbergen.
„Das ist die richtige Richtung?“, fragte der Nekromant.
Jilis führte sie mehr aus der Erinnerung. Das Laub lag so hoch, dass der Waldboden eine überall ebene Fläche bot, unter der ein Fußpfad liegen mochte oder auch nicht. Aber in Jilis Erinnerung hatte sich der Weg von den Begräbnisprozessionen eingebrannt, von denen mehr als die Hälfte auch in dichtem Nebel begangen worden waren.
„Du hast keine Wahl, als dich darauf zu verlassen.“
„Es ist nur eine Frage gewesen.“
„Und ich habe nur Antwort gegeben.“
Sie bewegten sich wie eingeschlossen in einer Glocke, die den Nebel abhielt. Vogelrufe und das Rascheln von Blättern drangen zu ihnen herein, aber nur selten flatterte ein Rabe über ihre Köpfe.
Hatten die Baumreihen sich am Eingang des Waldes noch zu einem Bild in ihrem Innern geformt, das immer auf das ihrer Erinnerung gepasst hatte, so verformte sich die Umgebung jetzt immer mehr. Die Birkenstämme standen zu eng beieinander, dann zu weit von einander entfernt, dann nahmen sie völlig andere Formationen an. Der Wald hatte sich verändert. Wie Wälder es taten, mit den Jahren. Ja.
„Wir dürfen uns nicht trennen“, sagte der Nekromant. Es war, als schluckte der Nebel seine Stimme, dämpfte sie. Die weißen Schleier zogen sich enger um sie, sie war sicher. Volle zehn Schritt konnte sie schon lange nicht mehr geradeaus blicken.
„Gestern morgen noch hättest du nichts dagegen gehabt, wenn wir uns wieder getrennt hätten.“
„Ja, am gestrigen Morgen hatten wir auch keine Nebelsuppe um uns herum, wenn ich mich recht erinnere.“
„Eure Magie hat den Nebel wohl von euren Dschungelmooren vertrieben?“
Angst?
„Wir kennen sehr wohl Nebel... Aber keinen, der so nahe herankriecht, dass man denken könnte, er wolle einen verschlingen.“
Jilis lächelte spöttisch. Verschlingen. Aber in ihrer Brust zog sich etwas zusammen. Nicht mehr lange, und der Nebel würde ihre Stiefelspitzen bedecken. Vielleicht waren sie bis jetzt nur im Kreis gelaufen, vielleicht tappten sie am Rande des Waldes herum und waren nur einige Minuten Marsch von den Berghängen entfernt. Oder aber Stunden. Der Nebel verschluckte auch ihr Zeitgefühl.
Sie setzte einen Schritt voran, doch ihr Fuß fand keinen Halt. Ihr Stiefel sank in den Nebel ein wie in Wasser. Kein Boden mehr. Sie bog den Oberkörper nach hinten, suchte nach Gleichgewicht. Etwas streifte ihren Arm, die Hand des Nekromanten griff ins Leere. Sie stürzte. Eine Klippe?
Der Nebel öffnete sich vor ihr und gab einen Abhang frei. Ihre Schulter schmetterte gegen einen gebrochenen Ast, sie überschlug sich auf der Böschung und Blätter wirbelten um sie. Steine ritzten sie und droschen auf ihren Körper ein. Sie streckte die Arme aus, suchte nach einem Halt, rutschte von feuchten Felsen und Baumrinden mit den Fingern ab. Harter Stein schlug ihr gegen die Schläfe. Die Welt entglitt ihr, Taubheit flutete in ihre Glieder. Jeder Aufprall wurde weich wie auf Watte, ihr Verstand schmolz. Verdammter Weg, verdammter Nekromant. Verdammte Zeiten. Vor ihren Augen schlossen sich Vorhänge aus Dunkelheit.
Als sie erwachte, beugte sich ein Vogelschnabel über sie. Das Nebelmeer umgab sie, und Blätter und zerbrochene Zweige bedeckten ihren Körper. Die Schmerzen drangen ihr in jeden Knochen, gesellten sich zu den anderen, die sie schon plagten.
„Dass dein Weg dich doch noch zu mir führt“, sagte der Vogelschnabel.
Jilis Sicht klärte sich langsam. Der Schnabel mündete in eine Kapuze, unter der sich der Schatten eines Gesichts verbarg. Die Gestalt richtete sich auf und bot Jilis eine Hand an.
„Wo ist er?“, fragte sie.
„Wen suchst du?“ Nur der Mund der Fremden bewegte sich. Der Schnabel war nur die Spitze einer Maske, die die ganze obere Gesichtshälfte bedeckte. Die Maskierte zog ihre Hand zurück. „Ah, ich verstehe. Du reist mit einem anderen.“
Jilis setzte sich auf, kämpfte sich in eine aufrechte Position. Eine Vogelmaske? In die Hände welcher Hexe war sie geraten? Und wohin hatte sich der verdammte Nekromant geflüchtet?
„Was soll das...“, sagte sie und schüttelte den Kopf.
„Erinner dich. Lange ist es nicht her, da haben
wir zusammen die Wälder bejagt.“
Sie richtete sich vollends auf. Offensichtliche Waffen trug die Frau nicht bei sich, aber der Mantel konnte einige Verstecke bieten.
„Seltsam. Keiner von den Menschen, mit denen ich je gejagt habe, hat eine Maske nötig gehabt.“
„Oh, Jilis“, sagte die andere. Jilis lief es eisig den Rücken herunter. Es war nicht nur, dass die Fremde ihren Namen kannte. Wie sie ihn aussprach. Wie sie alles aussprach. Erst jetzt fiel es ihr auf.
„Ja?“, fragte sie leise. Die dunklen Augenpaare starrten sie durch die Löcher der Maske an.
„Denkst du, ich liebe diese Larve? Denkst du, ich hätte sie je freiwillig aufgesetzt?“
„Ich bin Euch noch nie begegnet, und über Fremde denke ich gewöhnlich zunächst einmal überhaupt nichts.“
Aber die Stimme...
Die Fremde schlug ihre Kapuze zurück und legte eine Hand an die Maske.
„
Du, Jilis, trägst die Schuld daran, dass ich dieses
Ding tragen muss.“
Ruckartig riss sie die Rabenmaske herunter.
Wie Jilis es geahnt hatte.
Sie schloss die Augen.
„Weißt du noch, was du mir gesagt hast, als du gegangen bist?“, fragte Falke. Wulstige Brandnarben entstellten ihr Gesicht, zogen sich wie geschwollene Adern über die Wangen. Ihr Mantel enthüllte eine blutrote Lederrüstung mit Nieten.
Und ihre Haut trug das gleiche Grau wie die von Marika und Kerill.
„Falke... Du bist am Leben“, stotterte sie. Sie streckte eine Hand aus, um ihre Freundin zu berühren. Etwas daran war falsch, furchtbar falsch.
Falke sah sie traurig an.
„
Zehn Minuten, das hast du gesagt. Ich habe gewartet. Als ich erwachte, standen sie um mich herum und ich sagte ihnen, dass du kommen würdest. Sie alle zerstören. Das würdest du.
Zusammen hätten wir es getan. Aber du hast die Zeiten vergessen, nicht wahr?“
Eine Last zog an Jilis Gliedern, schwerer als die zahllosen Wunden. Falkes Augen glänzten.
„Ich... habe nichts vergessen.“
„Dennoch bist du nicht zurückgekehrt. Ich habe gewartet... Aber dein Gefährte ist jetzt ein anderer, ist es nicht so?“
Langsam strömte die Kraft in sie zurück, allen Schmerzen zum Trotz.
„Gefährte – was soll das?“
Falke setzte ihre Maske wieder auf und wies mit der Hand in den Nebel voraus.
„Ja, du hast Recht.
Hier ist es bedeutungslos.“ In der Richtung, in die sie zeigte, wogte der Nebel zur Seite, gab eine Gasse frei. „Wer auch immer er ist, er wird den Weg nicht finden.“
Hexerei? Allein, dass Falke nicht mit den anderen unter der Erde lag.
„Du musst mir erklären, was geschehen ist! ...mit dir.“
Falke ging mit leichtem Schritt, wie bei einem Spaziergang, den nebelfreien Weg entlang. Jilis folgte ihr.
Sie waren keine Feinde, auch durch keinen Fluch der Untoten.
„Das hier meinst du.“ Noch einmal hob Falke ihren Arm, diesmal hob sich der Nebel neben ihnen. Als tauchten sie durch eine Wolkendecke hindurch, zeigten sich die Birkenstämme für einen Moment. Dann ließ Falke den Arm wieder sinken, und die Mauer aus weißem Schleier bedeckte den Wald von Neuem. „Es ist ein Geschenk. Als ich ihnen gesagt habe, dass du kommen würdest, da habe ich gelacht. Als du dann nicht kamst, haben
sie gelacht, und ich geweint. Aber ihre Königin hat mich getröstet und mir diese Kraft gegeben. Ein Kelch voll mit ihrem Blut... Es hat mich neu geboren.“
Die Worte stachen Jilis wie mit Messern ins Herz. Sie beschleunigte ihren Schritt und schloss zu Falke auf.
„Ich wäre gekommen, Falke! Aber du warst – du hattest einen Pfeil in der Schläfe, du warst tot! Nimm die Maske ab, die brauchst du nicht.“
„Oh, ich war tot?“, fragte Falke. Ein Hauch von Belustigung hing über der Trauer in ihrer Stimme. „Dafür fühle ich das Leben sehr heiß in mir. Mehr denn je. Ich sollte dir vielleicht sogar danken.“
„Was auch immer mit dir ist, du
solltest tot sein.“
„Das wünschst du dir also“, sagte Falke und seufzte.
„Nein, aber...“ Jilis knurrte. Falke drehte ihr die Worte im Mund herum, wie es ihr beliebte! „Ich wünsche mir nur, dass du mir erzählst, was geschehen ist! Diese Königin-“
„Aradeia. Es ist seltsam, dass die Menschen noch nie von ihr gehört haben. Sie ist sehr großzügig mit ihrer Macht.“
Eine Königin auf einem Friedhof... Die Königin der Nekromanten, so musste es sein.
„Was hat sie dir gegeben?“
„Die Fähigkeit, das Lebende und das Tote zu beherrschen. Es ist beeindruckend.“
Falke betrachtete ihre Hand von allen Seiten, als könne sie nicht glauben, dass es ihre Hand war.
Das Lebende und das Tote – so hätte auch der verdammte Nekromant reden können.
„Komm mit“, sagte Jilis plötzlich. „Wir gehen zurück zu den anderen. Wir finden heraus, was es mit deiner Fähigkeit auf sich hat. Kaschya hat ein Lager errichten lassen, wo sich alle überlebenden Jägerinnen versammelt haben. Dorthin können wir gehen.“
Falke war kein hirnloses Wesen geworden, sie konnte sich entscheiden. Ohne einen Splitter von irgendeinem Zauberer in ihrem Geist.
„Jägerinnen, so nennt Ihr Euch jetzt also wieder.“
„Diese Königin hat uns dazu gemacht! Wie sollen wir Schwestern sein, ohne ein Kloster?“
„Es ist vielleicht Zeit geworden, den alten Bau zurückzulassen.“
Das Blut hämmerte Jilis in den Schläfen. Nicht einmal Falke durfte so reden.
„Auch du hast einen Eid geschworen!“
„Wem gegenüber? Iyadema? Das letzte, was ich von ihr gesehen habe, ist ein zu Asche verbrannter Kadaver gewesen. Akara? Wenn sie noch lebt, dann wird ihre eigene Rachelust sie verzehren.“
„Rachelust?“
Von allen der Schwesternschaft war die alte Heilerin diejenige, die sich am wenigsten dem Gedanken nach Vergeltung hingab.
Falke lachte und schlug ihren Ärmel zurück. Sie gestikulierte nach vorn und fegte den Nebel beiseite. Er stieg hoch in die Blätter der Bäume und hing wie eine Kuppel über ihnen. Vor ihnen teilten sich die Nebelfronten.
„Jilis... Wir können auf der selben Seite kämpfen.“
„Ich
will mit dir zusammen kämpfen. Aber nicht auf der Seite dieser verfluchten Königin! Sie hat etwas mit dir gemacht, dass du nicht mehr...
du bist.“
Aus den Nebeln schälten sich niedrige Steinmauern, aus denen die Stäbe eines gusseisernen Zauns ragten. Rost färbte das Metall, und aus dem Mäuerchen waren ganze Brocken herausgesprungen. Der Nebel hob sich weiter und offenbarte die Statuen zweier Engel auf den Säulen des Torbogens. Einem war der Kopf hinuntergerissen worden, dem anderen die Züge des Gesichts weggebrochen.
Der Friedhof. Das war nicht gerecht.
„Nein“, sagte Jilis, und ihre Stimme gab nach, „geh nicht zurück. Deiner Königin mag dieser Friedhof gehören, aber das ist alles... Nur Tod! Falke, bitte!“
Jilis hielt einen Ärmel des Gewands ihrer Freundin fest.
Immer schneller zog sich der Nebel zurück, offenbarte Reihen von überwucherten Grabmälern und Mausoleen mit moosbewachsenen Dächern.
Falke machte sich los und trat auf das Tor zu.
„Ein Name aus der Vergangenheit.
Falke. Hör auf, mich damit zu rufen. Falken sind Jäger. Die Vögel, die die Nähe der Toten suchen, sind Raben. Du wirst Aradeia hier nicht finden.“ Sie riss den Mantel zurück und warf ihn über die Zinken des Zauns. Wie Rost schimmerte ihre Rüstung, und die Vogelmaske nahm ihr jede Ähnlichkeit mit einem Menschen. „Die Herrin dieser Stätte ist Blutrabe.“
Wie ein Schlag in den Magen, mit einem eisernen Kolben. Kein Nekromant hatte die Toten aus der Erde geholt... Falke. Die Feinde, gegen die sie im Kloster gekämpft hatte, mochten noch von einem anderen Herren geschaffen worden sein. Doch die, die jetzt durch die Lande zogen...
„Das bist du nicht!“, rief sie. „Du bist kein Rabe!“
„Zu spät, Jilis.“
Falke zog einen Flügel des Tores auf. Der andere hing mit verbeulten Eisenstreben und zerquetschtem Scharnier vornüber, als hätte ein Riese ihn niedergedrückt.
„Geh nicht! Verdammt!“
Ihre Freundin spazierte die verwitterten Pfade entlang, trieb den Nebel vor sich her wie ein Tier.
„Schweig endlich“, sagte Falke. Die Ruhe in ihrer Stimme erschütterte Jilis bis ins Mark. „Ich habe auf dich gewartet, Jilis. Vergiss das nicht.
Du bist nicht gekommen.“ Die Kriegerin pflückte die Blüte einer weißen Blume und ließ die Blätter eines um das andere hinter sich auf den Boden fallen.
Der Nebel gab die Sicht auf die Eiche in der Mitte des Friedhofs frei. Jilis hielt den Atem an. Blätter trug der Baum nicht mehr. Die Späherinnen – das also war mit ihnen geschehen. In den Ästen hingen ihre Körper, gespießt wie auf Speere. Unter ihren schlaffen Körpern war das Gras dunkel von Blut gefärbt.
„Das ist gegen alles, wofür wir gekämpft haben“, sagte Jilis. Alle Kraft sickerte ihr aus den Gliedern.
„Wir haben nie gekämpft, wenn ich mich recht erinnere. Die Schwestern vor unserer Zeit, die vielleicht. Aber es ist unwichtig,
wofür wir kämpfen.“
Jilis schüttelte den Kopf. Unmöglich. Ihre Hand betastete die Spielfigur in ihrer Tasche. Ein düsterer Gedanke schlich sich in ihr Bewusstsein.
„Wie in einem Schachspiel, Falke?“
Sie zog die schwarze Königin heraus und warf sie Falke vor die Füße.
„Du bist schnell. Das warst du immer.“ Wieder umwölkte sich der Blick ihrer Freundin. Der Spielstein rollte über die Fugen des Weges und hielt an Falkes Stiefelspitze an. „Die dort oben haben sich Aradeia in den Weg gestellt.“ Sie deutete auf die Jägerinnen, die gepfählt auf den Ästen hingen. Einige noch die Hände um den Bogen gekrampft. „Ich will nicht gegen dich kämpfen, Jilis. Ich will dich nicht töten müssen.“
Ein winziger Funke Hoffnung. Jilis lächelte.
„Weil du es nicht kannst.“
Aber falls Falke eine Regung zeigte, verbarg die Maske sie vollständig.
„Ich will mit dir wieder gemeinsam den Bogen spannen, wie bei den endlosen Jagden im Herbst. Wir haben zusammen mehr Schweine geschossen als all die anderen Jägertrupps, und wir waren nur zu zweit, alle anderen zu dritt.“ Diesmal ballte sich Falkes Hand zur Faust, und ihr Blick ging nach unten. Auf die Schachfigur. Vielleicht. „Aber ich kann dich nur noch einmal bitten. Komm mit mir, die Königin Aradeia ist so gnädig zu ihren Anhängern wie sie gnadenlos zu ihren Feinden ist. Bitte komm. Sonst muss dieser Bogen, wenn ich ihn das nächste Mal spanne, seinen Pfeil auf dich richten.“
Über ihrem Rücken hing der Bogen, den Jilis ihr im Tode wiedergegeben hatte. Mit roter Farbe lackiert, wirkte er wie eine gebogene, mit Blut bedeckte Klinge.
Jilis neigte den Kopf. Wenn es keinen anderen Weg gab...
„Ich bin die Bessere von uns beiden. Willst du das riskieren?“
„Du hast artig die Ziele auf dem Schützenhof getroffen. Aber das hier ist keine Übung mehr, und es gibt keine Wettkampfregeln.“
Falke breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken, dass der Schnabel ihrer Maske in die Nebel vor dem Himmel zeigte. Ihr Mund bewegte sich, als flüstere sie unhörbare Worte.
Das Jagdmesser gezogen, duckte sich Jilis in Kampfhaltung. So sehr sie sich wünschte, dass es anders wäre, Falke hatte Recht. Keine Übung mehr. Kein Sieg durch Aufgabe. Nicht hier. Nicht, wenn all die Worte mehr als leere Hüllen gewesen waren. Sie schlich hinter eines der hohen Grabmäler. Falke ließ die Arme wieder sinken und blickte nach vorn.
„Verstecken kannst du dich nicht. Auf diesem Acker hier habe ich mehr als zwei Augen, die dich suchen, und mehr als zwei Arme, die dich packen können.“
Ein scharrendes Geräusch drang aus der Erde. Neben ihr, unter ihr, überall. Zu dem Geruch von feuchter Luft und Erde mischte sich ein dritter. Süßlich. Verwesendes Fleisch.
Etwas riss den Erdboden der Gräber auf und schaufelte ihn in Brocken beiseite. Gräser und Blumen rollten mit den Erdklumpen fort. Eine Hand griff an den Rand des Lochs, dann noch eine. Das Fleisch der Finger trug eine Farbe wie Sand, und Löcher klafften darin, als hätten sich Maden hindurchgefressen.
„Sind die Toten deine neuen Schachfiguren?“, rief Jilis. Ihr Versteck nützte ihr ohnehin nichts mehr.
„Nicht nur die Toten. Was bist du Jilis? Ein Bauer, ein Läufer – eine Königin? Du wirst es mir zeigen müssen.“
Aus dem Grab neben ihr zog sich eine Männergestalt. Lumpen hingen ihr vom gesamten Körper hinunter. Lumpen – oder Hautfetzen. Der Mund in dem Gesicht, von dem Wangen und Augen längst weggefault waren, öffnete sich zu einem gurgelnden Laut.
Das also waren jetzt die Verbündeten Falkes. Fremde wie dieser, aber ebenso würden ihre Schwestern dabei sein. Aus einem Grab neben ihr stieg eine Gestalt, mager bis auf die Knochen, der das Haar wie die Zweige einer Trauerweide über das Gesicht hingen.
Ein kalter Griff schloss sich um ihre Kehle, und Erdkrumen bröckelten auf ihre Rüstung hinunter. Die Finger drückten ihr die Luft ab, sie röchelte wie eine Ertrinkende. Gegen diese hier zumindest würde sie keine Gnade zeigen müssen. Sie packte eine der Hände am Gelenk und riss sie zur Seite, dass die Knochen krachten. An der anderen Hand zog sie den Arm des Angreifers über die Schulter und schleuderte ihn über sich hinweg. Der Kadaver stürzte mit dem Rückgrat und einem hässlichen Knacken auf einen der Grabsteine.
Von der Seite griffen die Knochenfinger der Frau nach ihrer Schulter. Die Haare verdeckten das Gesicht. Zum Glück. Jilis drehte sich zur Seite weg und holte mit dem Messer aus. Die gezahnte Klinge streifte die Kniekehle ihrer Gegnerin und zog einen Schweif aus Knochensplittern hinter sich her. Heulend wie ein Tier stürzte die Untote. Ein durchtrenntes Kniegelenk. Alle dunkle Magie bewahrte diese Feinde nicht vor solch einfachen Techniken. Jilis grinste.
Da bog sich der Leib der Toten nach hinten, und Knochenfinger schlugen sich Jilis in die Wange. Der Geschmack von Eisen auf der Zunge. Sie schrie auf, ließ ihr Messer fallen und krallte ihre Finger in die der Frau, zog sie langsam von sich fort. Ihre Muskeln bebten vor Anstrengung, und die Wunden an den Schultern gossen ihr den Schmerz wie kochendes Öl in die Arme. Die Haare fielen ihrer Gegnerin aus dem Gesicht, und Jilis starrte in eine Knochenfratze, in der sich Würmer durch Nasenbein und Zahnreihen ringelten.
Jilis stieß die Skelettarme von sich und griff nach ihrem Messer. Die Hände zuckten wieder vor, zielten auf ihre Schläfen. Sie duckte sich weg, aber etwas ziepte an ihren Haaren. Diesmal stieß sie ihr Messer in den Ellenbogenknochen und hebelte den des Unterarms los. Wie ein erschlagenes Insekt fiel das knöcherne Gliedmaß zu Boden. Die zweite Hand raste heran, Jilis ergriff sie mit der eigenen und stemmte sich dagegen.
„Hab dich, Gerippengesicht“, flüsterte sie. Sie setzte einen Tritt auf die Brust der Gegnerin, schmetterte sie zu Boden. Die Fingerknochen bohrten sich in ihren Handrücken, als wollten sie durch ihr Fleisch hindurchbrechen. Mit zusammengebissenen Zähnen sprang Jilis in die Luft, zog die Beine an und ging mit den Knien auf den Schädel der Toten nieder. Schmerzen fuhren ihr durch die Beine wie Metallsplitter, aber der Schädel zersprang unter ihr.
Sie richtete sich wieder auf. Hinter den blattlosen Sträuchern, die die Wege umschlossen, schwankten mehr der Toten heran. Erdfarbene Gestalten, spindeldürr.
„Rühr dich nicht.“
Falkes Stimme erklang hinter ihrem Rücken. Etwas kaltes, spitzes, drückte ihr gegen den Hals. Der Pfeil, der sie töten würde. Sie ließ die Anspannung in ihren Muskeln fallen.
„Glaubst du, du bist jetzt unverletzlich? Weil du dich nicht mehr an die Regeln halten musst?“
Falke lachte ein Lachen, dass sich unter die schlurfenden Schritte der näherrückenden Untoten mischte.
„Beileibe nicht. Aber unverletzlich muss ich nicht sein, wenn ich die Waffe an deiner Kehle habe.“
Jilis schob sich an die Pfeilspitze heran, so langsam es ging. Das Metall drückte sich ihr in die Haut. Weiter, weiter, aber durchstieß sie nicht. Sie drückte den Pfeil zurück. Um die Breite eines Haars. Aber
es ging. Falke konnte den Bogen noch nicht bis zur Gänze gespannt haben. Ihre Hand hätte nicht zugelassen, dass Jilis den Pfeil zurückdrückte.
„Das nützt dir nur etwas, wenn du den Mut hast-“
„Das ist doch keine Frage des Muts. Es gibt hier keine Frage, die sich an mich richtet. Nur an dich. Du kannst es beenden, Jilis. Den ganzen Spuk. Komm mit mir. Noch einmal frage ich nicht.“
Die Toten machten einige Schritt vor ihr Halt, Arme und Kopf baumelten herab wie die von Puppen ohne einen Puppenspieler. Sie warteten. Jilis würde nicht mehr warten. Ihre Gelegenheit. Jetzt.
Sie zog den Hals zurück. Haaresbreite um Haaresbreite. Falke würde den Bogen nicht rasch genug spannen und den Pfeil entlassen können. Selbst, wenn sie wollte.
„Wenn ich mit dir kommen würde, wäre ich keine Jägerin des verborgenen Auges mehr.“
„Was liegt dir daran? Ein leerer Begriff, nichts weiter.“
„In den Wüsten sollen sie sich Geschichten erzählen. Wenn ihre letzten Atemzüge nahe sind, fährt der Geist eines Wolfs in die Jägerinnen des Auges. Für einen einzigen Augenblick sind sie unsterblich und wild wie der Wolf selbst.“
„Ich weiß, sie erzählen sich gerne Geschichten über uns. Und, was ist Wahres daran?“
Jilis spannte alle Muskeln in ihrem Leib. Verwandelte sich in eine einzige Woge aus Kraft. Sie warf sich herum, die Pfeilspitze riss ihr den Hals auf. Der Pfeil wurde zurückgezogen. Ein halber Wimpernschlag blieb ihr. In der Drehung hob sie den Arm mit dem Messer. Falkes Finger entließen den Pfeil. Metall schlug auf Metall, eine unsagbare Kraft ließ die Knochen ihrer Arme vibrieren. Der Aufprall entriss ihr den Dolch. Zusammen mit dem Pfeil torkelte er durch die Luft.
Jilis preschte vor und schmetterte Falke einen Kniestoß gegen das Kinn.
„Vielleicht gar nichts. Aber dann wirst du dir das hier selbst erklären müssen.“
Falke torkelte nach hinten, ächzte. Ihre Hand riss in einer einzigen Bewegung das eigene Messer aus der Scheide und ließ es vorwärts fauchen. Jilis stieß die Waffenhand mit einem Ellenbogenhieb nach unten und warf sich durch Falkes Deckung hindurch. Die beste Chance, die sie bekommen würde. Die einzige. Sie holte mit der Rechten aus, nahm den Schwung ihres Ansturms dazu und schleuderte die Faust auf Falkes Maske.
Taubheit floss durch ihren Arm, das Holz knirschte.
Einen endlosen Herzschlag lang regte sich nichts. Falke keuchte. An drei feinen Rissen entlang brach das Rabengesicht. Der Schnabel fiel in die Blätterschicht auf dem Friedhofsweg, die Maskenhälften mit den Augenlöchern folgten.
„Du glaubst wirklich an all den Unsinn, den sie uns erzählt haben“, sagte Falke. Sie hielt sich den Kopf. Spürte sie auch noch in ihrem neuen,
falschen Leben etwas wie Schmerz? Zumindest ihr Geist schien noch wach.
„Das hat uns immer getrennt.“
Falke schlug die Handflächen gegeneinander, und augenblicklich erwachten die Untoten um sie aus der Starre.
„Wahrlich. Eine Tochter des Auges bist du vor allem anderen. Schade, sehr schade. Es tut mir Leid.“
Der Schwinger eines der Auferstandenen raste auf sie zu. Mit einem Seitwärtsschritt trat sie vom Weg hinunter auf die Gräber, und die Faust raste an ihrer Wange vorbei. Ein Luftzug strich daran vorüber. Sie setzte einen Fuß auf die Gedenktafel an einem Grabmal und sprang auf das Monument selbst hinauf. Der Untote setzte ihr nach, die Arme ausgestreckt. Sie hielt sich an den Armen der Engelsstatue neben ihr fest und winkelte ein Bein an, streckte es durch und schlug dem Angreifer die Ferse in den Nacken. Seine Schädeldecke zerbarst an der Kante des Grabmals. Jilis schwang sich an der Engelsfigur vorüber und sprang über eine der Hecken auf die andere Seite des Weges.
„Es tut dir Leid? Das kannst du noch fühlen in deinem verwesten Herzen?“
Sie rollte sich ab und wirbelte die Blätter um sich hoch.
Gegen die Toten half ihr Bogen soviel wie ein hölzernes Übungsschwert gegen eine Schuppenpanzerrüstung. Von der Eiche bis zu den Krypten, überall war die Erde auf den Gräbern aufgeworfen. Wo sich keine verrotteten Hände in die Freiheit tasteten, da standen die Körper bereits aufgerichtet. Hundert Feinde, und endlose Ersatztruppen.
Jilis rannte zu der Eiche und presste sich gegen die von Falke abgewandte Seite. Tödlicher noch als die Umarmung der Leichname würde ihr Pfeil sein. Aus der Wunde an ihrem Hals sickerte das Blut in einem Rinnsal. Ein Kratzer, verglichen mit der Narbe auf der anderen Seite.
„Du hältst mich für eine von diesen Kreaturen, die ihren Verstand längst eingebüßt haben, ja?“, schallte Falkes Stimme über den Friedhof. Etwas geschah mit dem Nebel, der den Friedhof umhüllte. Mindestens zehn Schritt hatte er über ihr gehangen, jetzt sank er hinab. Falkes Magie...
Blutrabes Magie.
“Nein!”, rief sie über die Schulter hinweg. „
Du hast dich doch mit dem Blut dieser Königin betrunken. Du könntest deinen Püppchen mit einem einzigen Gedanken befehlen, wieder zurück in ihre Särge zu klettern, nicht wahr? Sie tragen in sich keine Bosheit.“
Du
tust es. Blutrabe. In ihren Mundwinkel rann etwas, das salzig schmeckte.
Der Nebel verhüllte schon die Äste des Baumes und ihre grausige Last, dann senkte er sich auf die Gräber nieder. Kein Schritt Sicht blieb Jilis. Würden die Toten sie sehen können? Immerhin brauchten sie auch ihre Augen nicht mehr, um ihre Beute zu finden. Sie tastete sich vorwärts, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Der Friedhof schwieg. Nur Schritte, die über den Stein schabten. Wenn sie nur die Richtung hätte ausmachen können, und die Nähe!
Sie beugte die Knie, kauerte sich in Kampfhaltung und drehte sich auf der Stelle. Aus allen Richtungen hallten die Schritte. Sie stieß mit dem Rücken gegen eine harte Oberfläche, fuhr mit erhobener Hand herum. Vor ihr hoben sich die wettergegerbten Säulen einer Krypta. War sie erst darin, konnten ihre Feinde sie nicht mehr umzingeln...
Eine Totenfratze durchbrach den Nebel und öffnete einen Mund voll verfaulter Zähne, an denen die Reste von dunklem Zahnfleisch hingen. Jilis lehnte sich nach hinten, die Hände griffen über sie hinweg. Mit einem Haken drosch sie den Angreifer zurück in den Nebel und schüttelte die Hand aus. Knochen gegen Knochen, lange würden ihre Fäuste und Knie ihr das nicht mehr verzeihen.
Skelettfinger schlossen sich von hinten um ihren Oberarm, und vor ihr schüttete der Nebel eine weitere Lumpengestalt aus. Jilis drehte sich und zog ihren Peiniger nach vorn, rammte die beiden Kadaver ineinander. Sie machte einen Schritt auf die Treppe der Krypta.
„Jilis!“, rief Falke von irgendwoher. Mit einem Mal brach der Nebel auf, gab einen Tunnel frei, wie schon im Wald. Der Tunnel grub sich in die weißen Dunstschleier und zeigte ihr einen Weg, der über Grabsteinreihen und blattlose Büsche führte. Die Schritte der Untoten auf dem Stein verstummten.
Am Ende des Nebeltunnels kam die rote Rüstung in Sicht, über ihr die Äste des Baums mit den gefallenen Jägerinnen. Falke griff mit einer Hand an ihrem Körper vorbei, mit der anderen über die Schulter hinweg. Jilis kannte die Bewegung. Hundert Male gesehen. Sie würde den Bogen ein zweites Mal hervornehmen. Aber sie war schneller gewesen als Falke. Immer. Aus dem Reflex heraus griff sie nach dem Bogen und einem Pfeil. Ihre Hände arbeiteten, ihre Augen beobachteten. Der Nebel schien die Zeit einzuhüllen, sie zu verzerren. Falke spannte ihren Bogen. Die Bewegungen eine exakte Kopie von denen, die Jilis ausführte. Aber verzögert. Um einen Herzschlag verzögert. Sie spannte den Bogen, die Sehne straffte sich. Ja, sie würde schneller sein.
Dann traf Falkes Pfeil sie. Bohrte sich in ihren Lederpanzer auf der Brust und warf sie zurück. Ihr eigener Pfeil sirrte von der Sehne in den nebligen Himmel über ihr. Unmöglich. Sie war schneller gewesen. Bis zu dem Moment, als die Wirklichkeit zerbrochen war und Falkes Pfeil viel zu früh den Tunnel auf sie zu durchquert hatte. Kein Schmerz. Aber sie sank auf die Knie, ihr Körper gab nach. Der Nebel, der um sie wallte, schlich sich in ihren Geist. Während die Welt verschwamm, fiel ihr Blick auf den Pfeil. Ein Stück des Metallkeils ragte aus der Rüstung heraus. Die Spitze konnte kaum eine Fingerbreite tief eingedrungen sein.
Kein tödlicher Schuss. Deswegen hatte Falke den Pfeil früher von der Sehne lassen können. Sie hatte die Wucht nicht gebracht, die Jilis das Geschoss bis ins Herz getrieben hätte. Sie lachte.
„Ich habe es dir gesagt, du wirst mich nicht töten.“
Fieberschauer rannen durch ihre Adern. Mit langsamen Schritten kam Falke den Weg heran. Der Nebel um sie hob sich, entblößte ihre auferstandene Armee. Nur der Nebel um Jilis Sinne nahm zu.
„Es mag wahr sein, dass das Gift der grünen Yata nicht tötet“, sagte Falke. Jilis fluchte innerlich.
Gift. Sie stemmte ihren Willen in die Muskeln, aber die blieben starr. Nein, das Gift tötete nicht. Aber es lähmte. „Doch mein nächster Schuss wird töten, Jilis. Ich wollte mit dir wieder gemeinsam ausziehen. Die Ebenen ohne Ende, und zwei Jäger.“
Für einen kurzen Augenblick sah sie beiseite, dann spannte sie den Bogen. Jilis wollte etwas sagen, aber das Gift kroch ihr in den Kiefer.
Sie sah Falke in die Augen, als die den Pfeil losließ.