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[Story]Lehrjahre - Der kleine Paladin

Reeba

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30 November 2003
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Hallo, liebes FAS. Ich dachte, ich bringe nach langer Zeit mal wieder versuchshalber eine Geschichte an den Start.
Sie spielt noch vor den Ereignissen von D2 LoD, hat also mit D3 nicht viel zu tun.

Ich habe die einzelnen Stücke des Kapitels in kürzere Abschnitte unterteilt, um walls of text zu vermeiden.
Über Rückmeldungen freue ich mich selbstverständlich sehr.
LG, Reeba


Disclaimer: Die Welt von Sanktuario, sämtliche Klassen und Hintergründe sind Eigentum von Blizzard. Die Geschichte wurde ausschließlich zu Zwecken der Unterhaltung geschrieben.
Zusatz aus aktuellem Anlass: Sämtliche Originalcharaktere und Originalhandlungen hingegen sind meine. Diese Geschichte darf nicht ohne meine Zustimmung kopiert oder weiterverbreitet werden. Zuwiderhandlungen ziehen rechtliche Konsequenzen nach sich.

****



I. Das vergessene Gebiet




Die Morgensonne lugte über den Rand der östlichen Wälder.
Je weiter man nach Norden kam, so die Meinung hiesiger Siedler, desto wahrscheinlicher war die Dämmerung eine sich unglaublich hinauszögernde Angelegenheit mit viel Nebel und verwaschenen Farben, kein bisschen wie diese herrlichen Sonnenaufgänge in Kingsport oder Bramwell. Die Gegend, in der unsere Geschichte beginnt, musste sich eine Menge für sie unvorteilhafter Vergleiche gefallen lassen, zuvorderst den mit der Westmarsch.

Die Siedler und Freiwilligen der Zeit waren nicht gerade für Nachsicht bekannt. Ihnen fiel die undankbare Aufgabe zu, eine Region bewohnbar zu machen, bei deren Erwähnung jeder besser gestellte Mann die Augen verdrehte. Da sie das wussten, blieb ihnen als kleine Rache nur der Vergleich mit ihrer Heimat.

Unvoreingenommen betrachtet, war der Landstrich nicht schlechter als andere.
Gelbe Wiesen erstreckten sich von Horizont zu Horizont. Der Boden war flach genug für den Ackerbau und stieß an die dunklen Zungen von Waldstücken, Ausläufer der riesigen Wälder des Nordens. Es regnete oft, aber das Wetter war bei Weitem nicht so unberechenbar wie hundert Meilen weiter nördlich, und die Sonne war im Großen und Ganzen dieselbe wie in der Westmarsch.
Heute Früh allerdings kämpfte die Sonne einen zähen Kampf. Sie hatte sich den aus dem Wald kriechenden Nebel kaum vorgenommen, da machte man ihr auch schon einen Strich durch die Rechnung.

Es donnerte.
Dicker Rauch entfaltete sich über dem Boden. Er quoll auf, zog dann gemächlich westwärts über die Ebene und bekleckerte das Gras mit Resten von Asche und Erdreich. Ein paar Vögel verließen die Waldborten unter Protest. Der Rauch gewann an Höhe und versteckte ungefähr eine halbe Quadratmeile Landschaft hinter grauem Dunst.
Die Luft war warm. Der Sommer hatte sich noch nicht ganz verzogen.

Wieder donnerte es, diesmal so heftig, dass der Boden der Ebene erzitterte.
Die Erschütterung erreichte sogar ein Feldstück weit abseits des Einschlags, wo die Männer einen Tisch und ein paar Stühle aufgebaut hatten. Wachen, denen das Beben in die Beine fuhr, machten verbissen gleichgültige Mienen und hielten die Ordensstandarten fest, damit sie nicht umfielen.
Auf dem Tisch klirrte Kristallglas.

Alban Rathard Jaronas, Kommandant der fast vierzigköpfigen Truppe, die sich am heutigen Morgen über die kleine Ebene verteilte, griff nach der Weinkaraffe und wartete, bis das Beben abgeklungen war.
Er schnüffelte interessiert. Der Gestank von Pulver war trotz der Entfernung durchdringend.
„Kommandant!“ Ein hustender Bote stieß gegen den Tisch. „Ein Radius von sieben Metern! Eine junge Eiche hat's fast weggerissen.“
„Was sagt der Büchsenmeister?“ Alban ließ die Karaffe los und streckte die Beine unterm Tisch aus.
„Bittet um Erlaubnis, es noch einmal versuchen zu dürfen“, vermeldete der Bote.

Alban seufzte. Natürlich war die Übung, erste ihrer Art so weit im Norden, notwendig.
Aber Bramwell hatte ihm einen Zerstörungswütigen geschickt, einen dieser unterbeschäftigten Waffenbauer, die mangels echter Gelegenheiten, ihre Haubitzen einzusetzen, kaum an der Leine zu halten waren. Jeder Kommandant in bedrohten Gebieten musste die Vorteile schwerer Büchsen einsehen, doch dieser wahnwitzige Geselle da hinten mit seinem Tross halb tauber Geschützgardisten, der die drei Eisenungetüme überwachte, begann ihm gehörig auf die Nerven zu gehen.

„Na, meinetwegen“, sagte er zu dem Boten. „Einen Schuss noch. Aber danach soll er seinen Kram wieder zusammenpacken, klar? Das Nächste, was wir hören, sind vielleicht die Beschwerden irgendwelcher Siedler, denen der Stall überm Kopf eingestürzt ist.“
„Ja, Kommandant.“ Der Bote schien einen Moment lang nachzudenken. „Ach, der Büchsenmeister lässt Euch fragen, was mit dem Maultier ist.“
Alban schenkte sich neuen Wein ein, nippte und spähte über die Ebene. Der Rauch hatte sich ein wenig verzogen. Er konnte einen Pulk von Leuten links am Waldrand erkennen und, weiter in nördlicher Richtung, einen vierbeinigen Umriss.
„Mir egal“, setzte er das Glas ab. „Macht nur. Je eher das vorüber ist, desto besser.“
Der Bote hastete davon.

Die Männer, die um Albans Tisch herumstanden, beäugten den fernen Punkt, an dem die Haubitzen aufragten, mit tiefer Abneigung. Vielleicht war es der Anblick ihrer düsteren Gesichter, doch Alban bekam endgültig schlechte Laune.
Bislang hatte er seine Aufgabe hier als notwendiges Übel begriffen. Er machte sich keine falschen Vorstellungen über die Gründe für seine Versetzung ins Grenzland. Er war ein erfahrener Kommandant, aber ohne Auszeichnungen, ohne mit seinen fast fünfundvierzig Jahren höher als bis zum Vorsteher eines Außenpostens aufgestiegen zu sein. Kingsport, da biss die Maus keinen Faden ab, brauchte Männer wie ihn. Zuverlässige, nicht übermäßig intelligente Männer, die für ihren Wagemut keinen besonderen Lohn verlangten.

Seine Aufgabe hier hatte sogar ihre Vorteile, trotz der Risiken, mit denen die Festung seit Jahren leben musste. Hier war man wenigstens sicher vor Stadtschreibern und pflichteifrigen Ordensbrüdern.
Das Land unterhalb der Nordwälder galt als unstete, aber belanglose Region. Daher sandte der Lichtorden kaum je Erkundungstrupps hierher, nur mittelmäßige Soldaten, so wie Alban selbst, und eben hin und wieder einen überspannten Strategen wie diesen lästigen Büchsenmeister. Neue Methoden zur Kriegsführung ließen sich weitab belebter Gebiete besser erproben.
Heute früh allerdings, fand Alban, hatte die Ebene etwas Gedrücktes, Unheilverkündendes. Sobald er einen Erfolgsbericht in die Stadt geschickt hatte, würde man den Büchsenmeister samt seinen Eisenungetümen abkommandieren. Und sobald im Norden frische Unruhen aufbrachen, würden die Haubitzen wiederkommen.

Alban hatte es nicht nötig, sich die Krater anzusehen, die die Eisenkugeln in die Landschaft rissen. Mustersoldat oder nicht, als alter Haudegen wusste er ziemlich genau, was so eine Waffe an Gebäuden oder Menschen anrichtete.
Sich über die Lippen leckend, schaute er zum Wald. Die Masse der Bäume stand still, unbeeindruckt, scheinbar verlassen. Eine Handvoll Meilen weiter nördlich gab es keine gelben Felder mehr, keine Waldaufschlüsse, nur noch dichten, dunklen Forst.
Kingsport hatte das Hochland längst annektiert, indem es die eigentlichen Bewohner dieses Teils von Sanktuario einfach übersah. Sie waren der Macht einer paladinischen Ordensstadt in offener Schlacht nicht gewachsen, geschweige denn den Siedlern, Landmessungen und Verträgen der gegnerischen Zivilisation.
Der mittlere Westen befand sich schlicht in der Überzahl. Sobald sich die Barbaren ins Hochland zurückziehen mussten, um ihre Wunden zu lecken, rückten die Paladine nach. Sie verfügten über alles, was einen Jahrhundertkonflikt entschied: Eisenminen, Gießereien, unerschöpflichen Nahrungsnachschub. Und eine höhere Geburtenrate.

Alban war in so tiefes Nachdenken versunken, dass die neuerliche Erschütterung, die dem Ohren betäubenden Knall der nächsten Haubitze folgte, ihn kaum erreichte. Erst als schmutziger, schlapper Wind auf den Tisch zuwehte, blinzelte er. Teufel auch, er fing an zu grübeln. Das ging entschieden zu weit.
Entgegen der Ansicht der Städte war die Gegend einigermaßen ruhig, die letzte Begegnung mit Barbaren – oder Druiden, wer kannte da schon immer den Unterschied – lag Wochen zurück, und es waren nur zwei Leute getötet worden. Keine große Sache.

In der Absicht, seiner merkwürdigen Stimmung ein Ende zu bereiten, rief Alban seinen anwesenden Unterkommandanten her.
„He, Brandulf!“ Eine Hand über dem Glas, um den Wein vor herab rieselndem Staub zu schützen, nickte er einer der Gestalten im Dunst zu. „Beweg deinen Hintern zu mir.“
Der Mann tat wie befohlen und nahm am Tisch Habachtstellung an. Er war hager, muskulös, untypisch dunkel für einen westlichen Paladin, und von Kopf bis Fuß in eisenbeschlagenes Leder gekleidet. So weit von Kingsport entfernt legte man keinen besonderen Wert auf Äußerlichkeiten. Was zählte, waren starke Nerven und ein ungerührtes, im besten Fall lakonisches Gemüt.
Daher trug Brandulf einen Bart, genauso schwarz wie sein nackenlanges Haupthaar. Sein Blick allerdings drückte deutliche Missbilligung Albans lockerer Redeweise aus.
„Kommandant“, sagte er flach.

Alban schaute nachdenklich an ihm hinauf. Der grimmige Gesichtsausdruck seines Unterkommandanten erinnerte ihn nicht zum ersten Mal an etwas.
„Ich weiß nicht, ob man dir das schon gesagt hat, Brandulf“, meinte er, „aber du siehst wie ein Barbar aus. Ja tatsächlich. Eigenartig.“
Brandulfs schwarze Augen starrten auf irgendeinen Fleck im Dunst.
„Möglich, dass hier nach einer Weile alles barbarische Züge annimmt, Kommandant“, erwiderte er, ohne die Miene zu verziehen.
„Ja. Gut möglich.“ Alban lächelte versuchshalber, ließ es aber bald bleiben. Er war sich unsicher, ob er den Anderen gerade nicht fürchterlich beleidigt hatte.

Eigentlich kannte er Brandulf nicht sehr gut – die Zeiten brüderlicher Gemeinschaftsideale waren zumindest in den Grenzgebieten vorbei. Er wusste nur, dass Brandulf nicht aus Kingsport stammte und dem Orden früher als Söldner gedient hatte. Das war längst nicht mehr unüblich. Sofern sie sich als tüchtige Kämpfer erwiesen, sah der Orden großzügig über die Herkunft seiner minderen Paladine hinweg.
Alban schätzte Brandulfs Qualitäten. Die Männer gehorchten dem Unterkommandanten widerspruchslos, nicht aus Sympathie, sondern weil sie ganz einfach Angst vor ihm hatten. Zu Recht. Ein von Dieben besetztes Haus, ein mit Gegnern vollgestopfter Winkel – man brauchte bloß Brandulf hineinzuschicken, ihn allein mit seinen zwei langstieligen Äxten, die er anstelle von Schwert oder Szepter benutzte, und schon löste sich das Problem. Da er die Gesellschaft anderer Menschen mied, war er eine ausgezeichnete Wache, am besten auf Mauern oder vor Kerkertüren aufgehoben.
Was in Brandulf vorging, war unmöglich zu sagen. Doch Alban hatte gelernt, sich auf ihn zu verlassen.

„Machen wir Schluss für heute“, sagte er jetzt zu ihm. „Sieh zu, dass die Männer ihr Zeug einpacken, und dann zurück zum Posten.“ Er gähnte offen. „Mir dröhnt der Kopf von diesem vermaledeiten Krach, und ich habe Hunger. Außerdem erwarten wir spätestens gegen Mittag unseren Gast.“
„Wie Ihr befehlt, Kommandant.“ Brandulf gab den nebenan wartenden Paladinen ein Zeichen, die Standarten einzurollen, bellte zwei, drei Befehle und entfernte sich über das verrauchte Feld.
Als Alban aufstand, ging sein Blick unwillkürlich zu der Stelle, an der bis vor Kurzem noch das Maultier gestanden hatte. Der letzte Haubitzenschuss hatte die unglückliche Kreatur im wahrsten Sinn des Wortes pulverisiert. Nicht einmal der Pflock, an dem sie festgebunden gewesen war, war noch zu sehen.
„Neue Waffen, verflucht noch eins“, murrte der Kommandant. Gleichzeitig, als Entschuldigung für seine Wortwahl, schlug er die Himmelsgeste.
Von rechts polterte ein niedriger Wagen heran. Knechte sprangen ab und beeilten sich damit, Tisch und Stühle aufzuladen.

~

Die eng stehenden Baumstämme boten ausreichende Deckung.
Doch selbst ohne den Schutz des Waldes, war den Männern aufgegangen, hätten die Feinde sie vermutlich nicht bemerkt. Ausgerechnet der Rauch, Atem der eisernen Monstren, verschaffte ihnen einen Vorteil.
Jetzt verfolgten sie den Abzug der Paladine. Durch die vernebelte Luft schallten gedämpfte Befehle, das übliche Gebrüll und Herumgetrampel, das die Gruppen dieser Menschen überall begleitete.
Trotzdem lachten die Beobachter nicht. Das Lachen über die Westmarsch war ihnen schon vor einiger Zeit vergangen.
Stattdessen standen sie da, mit verengten Nasenflügeln wegen des Gestanks und mit den klobigen Fäusten an ihren Waffen, weil sie dem Abzug, der völligen Ahnungslosigkeit des Gegners, noch nicht ganz trauten. Donner hallte in ihren Ohren nach. Vermutlich hatte man ihn auf Meilen hinaus hören können, aber die Männer waren hergekommen, um die Verheerungen der furchtbaren neuen Ausrüstung ihrer Feinde mit eigenen Augen zu sehen.

Sie schwiegen. Ihnen war nicht nach Reden zumute.
Schließlich aber öffnete Einer von ihnen doch den Mund. „Jetzt wissen wir es“, sagte er. „Die Kundschafter haben nicht gelogen.“
„Pah.“ Ein Anderer spuckte auf den Boden. „Teufelswerk!“
Ein Dritter, ein Hüne von einem Kerl, mit langem, grauem Haar, das rechte Auge völlig vernarbt, strafte den Spucker mit einem abfälligen Blick. „Sei still, Morac. Teufelswerk? Bist du so versessen darauf, der Meinung der Paladine über uns nachzueifern? Das da eben hat mit dem Bösen nichts zu tun.“
„Sondern?“ Der Gescholtene zog die Brauen zusammen.
„Das ist nur der Geist der Städte.“ Der Grauhaarige wandte sich wieder nach vorn, um über das Feld zu spähen. „Eine Laune der Zeit, weiter nichts.“

Unter den Anwesenden entstand Gebrumm, ein merkwürdiger Laut aus den Kehlen von Menschen, fast tierisch – und unbedingt ein Ausdruck des Missfallens. Den Grauhaarigen schien es nicht zu kümmern.
„Du hast gut reden“, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort. „Deine Halle steht noch. Aber was, wenn eine von diesen Kugeln sie trifft? Wie lange steht sie dann, was meinst du?“
Wieder wurde gebrummt, jetzt allerdings zustimmend.
„Meine Halle“, antwortete der alternde Krieger, „wird Gegenstand meiner Sorge sein, wenn es soweit ist. Vorerst haben wir andere Aufgaben. Gemeinsame Aufgaben, wie ihr hoffentlich noch wisst.“
Niemand sagte etwas. Es war auch nicht nötig.
„Gut.“ Der Grauhaarige nickte. „Wir haben die Wirkung ihrer Waffen bezeugt. Die Clans müssen gewarnt werden.“
„Alle?“, erkundigte sich der Mann mit Namen Morac zweifelnd.
„Nach Möglichkeit, ja.“

Der Mann, der als Vierter gesprochen hatte, räusperte sich unterdrückt. Kritik am Entschluss eines Häuptlings gleich mehrerer Dörfer war eine verzwickte Angelegenheit. Doch die Entscheidung, ob er es wagen sollte, wurde ihm abgenommen.
„Du hast Einwände, Carden?“, fragte der Grauhaarige.
„Ich denke, die haben Mehrere hier“, entgegnete der Mann und sah in die Runde. Falls er auf Unterstützung gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Die restlichen fünf Männer waren plötzlich still wie tote Karnickel. Er runzelte die Stirn und fuhr fort: „Die Rotbärte und die Schwarzfelsler lassen sich schon seit Monaten nicht mehr blicken. Vielleicht sind sie niedergemacht worden.“
„Sie aufzusuchen, könnte gefährlich sein“, warf ein Mann ein, der bisher geschwiegen hatte. „Ich habe noch zwei Dutzend Krieger. Ich will sie nicht an eine aussichtslose Sache verlieren.“
Der Grauhaarige lächelte schmal. Bei ihm war das kein gutes Zeichen. „Unsere Brüder zu verständigen, gilt inzwischen also als aussichtslose Sache?“

Erneut wurde es still. Die Männer warfen sich verstohlene Blicke zu, wussten nicht, ob sie besorgt, erbost oder beschämt sein sollten.
„Hört her“, beendete ihr Anführer das Schweigen. „Ich verstehe eure Zweifel. Aber ihr habt mir Treue geschworen. Ihr habt mich gewählt. Ich sage, wir arbeiten der Westmarsch nur in die Hand, wenn wir uns weiter entzweien lassen. Und genau das plant sie, das wisst ihr.“
Hier und da bedenkliches Kopfwiegen und Nicken.
„Schickt eure unbrauchbarsten Krieger zu den anderen Stämmen. Auf sie könnt ihr verzichten. Spätestens, wenn die Paladine euch überrennen.“ Die Stimme des Grauhaarigen war hart. „Bringt in Erfahrung, wie es um die Hochwälder steht. Und tut es schnell. Das ist kein Rat, das ist ein Befehl.“
Ein paar Augenblicke verstrichen, vornehmlich mit unfreiwilligem Wittern der verschmutzten Luft.
Dann nickten die Männer wieder.

Zwei oder drei von ihnen hätten nicht übel Lust gehabt, dem Grauhaarigen eine Faust in die Zähne zu stoßen und ihn zu fragen, ob der folgende Geschmack ihn nicht vielleicht an etwas erinnerte, aber er war in der Tat ihr Häuptling. Darüber hinaus hatte er Recht.
„Schön“, sagte er, und nur wer ihn sehr gut kannte, hätte an dieser Stelle einen Schatten der Ermüdung an ihm bemerken können. „Das wäre also entschieden. Aber du hast mir noch etwas anderes ins Gedächtnis gerufen, Carden.“
„Schwarzfels“, raunte jemand.

Obwohl Ihresgleichen nicht oft erbleichte, wurden die Männer jetzt ein bisschen blasser und vergaßen vorübergehend sowohl das zersprengte Feld als auch die Nähe der abziehenden Paladine.
„So ist es“, sagte der Grauhaarige. „Die Kundschafter haben Nachrichten von unserem Ohr in der Festung. Der Anführer der Paladine erwartet Besuch. Einen Gesandten, der in die Wälder weiterzieht. Um den Posten dort wieder zu besetzen.“
„Die Festung ist besetzt“, merkte einer der Männer leise an.
„Vom Wahnsinn vielleicht“, sagte ihr Häuptling. „Aber was auch immer die Paladine dazu unternehmen, ich will wissen, was da oben vor sich geht. Wer geht freiwillig?“
Er wartete kurz. Die Männer starrten angestrengt in alle möglichen Richtungen, nur nicht in seine.
„Das erstaunt mich nicht“, verzog er abschätzig den Mund. „Sei's drum. Da werde ich wohl einen Glücklichen bestimmen müssen, was?“

~

Die Festung erhob sich auf einem weiten, flachen Landstreifen. Von den benachbarten Ebenen unterschied er sich höchstens in der Farbe, durch häufige Begegnung mit Hufen, Stiefeln und Rädern etwas brauner getönt.
Es gab keine Bodenwellen, keine Felsen oder sonstige natürliche Deckung. Bäume fehlten ebenfalls. Die Knechte des Postens mussten alles benötigte Holz aus den eine halbe Wegstunde entfernten Waldzungen herbeischaffen, an die man die Festung aus strategischen Gründen nicht zu nah hatte heranbauen wollen. Auch die offene Lage hatte den Planern des Postens nicht sonderlich gefallen, aber gezwungen, zwischen Wald und Ebene zu wählen, hatten sie sich für Letzteres entschieden.

So stand die Festung nun also weithin sichtbar in der Gegend herum.
Sie war kein schönes Gebäude. Kaum zehn Jahre alt, mitten im Krieg und in dementsprechender Hast errichtet, wirkte sie klobig und irgendwie unfertig. Sie bestand aus einem einzigen, viereckigen Klotz, halb Turm, halb Haus, umgeben von einer nach außen hin leicht abgeschrägten Mauer. Die Mauer, einige Meter dick, war bis auf zwei Tore, vier Ecktürme und eine Reihe schmaler Schießscharten schmucklos, glatt, abweisend wie der ganze Rest.
Das Beste, was sich von ihr sagen ließ, war, dass sie einen Hof mit Gesindehäusern und Stallungen vollständig vor feindlichen Blicken verbarg, und das Beste an der Festung selbst war die Tatsache, dass hundertfünfzig Männer in ihr knappe zehn Jahre überlebt hatten.
Zudem konnte, wer an einem der Fenster des obersten Stockwerks stand, Meilen und Meilen ins Land hinaussehen.

Das war, was Alban Rathard Jaronas, Kommandant zu Madalën, gerade tat.
Unten im Hof herrschte ungewöhnliche Ruhe. Die Paladine waren tief im Bauch der Festung zum Mittagsmahl versammelt. Ein Stallbursche führte ein Pferd quer über die Einfriedung. Am Ziehbrunnen döste Brandulfs grauer Wolfshund.
Mehr war nicht zu beobachten, aber Alban interessierte sich ohnehin nicht für den Hof.
Er hatte bereits vor einer Viertelstunde zwei sich langsam der Festung nähernde Punkte am südlichen Horizont entdeckt. Genug Zeit, um sein Mittagessen zu beenden und dann erneut einen Blick auf die Punkte zu werfen.
Wegen zweier Reiter machten sich die Mauerwachen nicht einmal die Mühe, von ihren bequemen Plätzen im Schatten des einen Eckturms aufzuspringen. Wie Alban konnten sie sich schon denken, um wen es sich bei den Ankömmlingen handelte.

Alban trat vom Fenster zurück und rief seine heutige Türgarde.
„Geh in den Hof hinunter“, wies er den Minderbruder an. „In Kürze trifft da dieser Gesandte aus Kingsport ein. Bring ihn her. Und sag dem Küchenmeister Bescheid. Wein und irgendetwas zu essen.“
Andernorts hätte er nach einem guten Bissen geschickt, der gemäß den Geboten der Höflichkeit selbst verhasstesten Besuchern zustand. Aber in Madalën suchte man vergebens nach für hochrangige Paladine reservierten Leckereien, und erwähnter Küchenmeister würde sich nicht hinter seinen Töpfen hervorquälen, nur weil da ein fremder Unterkommandant im Heranreiten begriffen war.
Die Türgarde entfernte sich beflissener als erwartet. Die gesamte Festung wurde ihrem abgebrühten Gehabe untreu. Man raunte sich Vermutungen über die Person des Gastes zu, denn Kingsport hatte sich sehr bedeckt gehalten, was Informationen anbetraf.

Alban selbst versuchte gar nicht erst, seine Neugier zu leugnen.
Er vergewisserte sich, dass im Arbeitszimmer alles an seinem Platz war, dann ging er wieder ans Fenster und lehnte sich in den Steinrahmen. Während seiner kurzen Beobachtungspause waren die Reiter an die Festung herangekommen, und die Mauer entzog sie nun jedem Blick von innen.
Im Hof begaben sich Männer an ihr übliches Tagewerk: Die Pflege von Waffen, die endlosen Gespräche über ihre Lage sowie, und das hauptsächlich, das müßige Umherstehen beim Brunnen oder längs der Mauern.
Sie legten bei allem eine bewundernswert ungenierte Lässigkeit an den Tag. Ohne ihre Rüstungen und schwere Bewaffnung wären sie kaum von Knechten zu unterscheiden gewesen. Vielleicht auch kaum von einer großen, schmutzigen Diebesbande.

Jeder Paladin der Westmarsch hätte angesichts solchen Verfalls von Disziplin und Sitte die Hände gerungen. Alban wusste seine Hände sinnvoller zu gebrauchen. Die Truppe, die er hier im letzten wahren Außenposten des Nordens befehligte, war mittlerweile ein bunt gescheckter Haufen – ein Haufen aus Nichtsnutzen zur einen und streitlustigen Bastarden zur anderen Hälfte, angeführt von ein paar Ausnahmekriegern, Mordbuben in Ordenstracht.
Sie taten ihre Arbeit im Ernstfall ganz vorzüglich. Ihre Angelegenheiten regelten sie fast immer hübsch untereinander, ohne Alban unnötig in seinem Arbeitszimmer zu belästigen. Er hatte keine Lust auf eine Festungsrevolte. Die erste und einzige unter seinem Kommando war glimpflich abgelaufen. Inzwischen machte sie als Anekdote von vier, fünf gebrochenen Nasen die Runde, und er würde den Teufel tun und daran etwas ändern.
Er hatte Brandulf. Insgesamt gehorchten die Männer ihnen Beiden. Für einen Ort wie Madalën war das mehr als ausreichend.

Im Hof ackerten sich jetzt Knechte an den Kettenwinden ab, um das südliche Tor zu öffnen. Es hob sich knarrend.
Die zwei Fremden ritten in die Festung. Auch wenn seine Leute es gut versteckten, bemerkte Alban zusätzliche umher Stehende und sogar Bedienstete, die nur vorgaben, den Boden vor den Stallungen zu fegen.
Er war hier oben zu weit vom Hof entfernt, als dass er viele Einzelheiten oder gar Gesichter hätte ausmachen können. Die zwei Reiter waren gleich gekleidet. Dem Zustand ihrer Pferde und einigen Beuteln sah man einen Ritt mehrerer Tage an.
Sie hielten, und während Knechte hinzu eilten und sich an die Köpfe der Tiere hängten, stiegen sie ab.
Einer der Reiter war sehr groß, der andere sehr klein. Ein drolliges Gespann.

Alban verließ die Fensteröffnung und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.
Seiner Ansicht nach hatte er sich gut auf die Begegnung vorbereitet. Geringschätzige Beurteilungen seines Kommandos fürchtete er kaum. Selbst wenn einer dieser Gesandten Madalën als Schandfleck paladinischer Posten brandmarkte, würden bis zu neuerlichem Besuch aus Kingsport wenigstens zwei Monate vergehen.

Es klopfte an der Tür, aber es war nur ein Knecht, der Wein und Schmalzbrote brachte. Alban scheuchte den Mann hinaus und lauschte.
Nach einer Weile hörte er endlich Fußtritte auf den Treppen. Er setzte sich zurecht.
Vor der Tür Gerede, die Garde verlangte den Freibrief aus Bramwell zu sehen. Die eine Gestalt da unten im Hof hatte die Maße eines veritablen Hünen besessen, und Alban rechnete mit genau so jemandem, einem Veteran, einem unerschrockenen Klotzkopf.
Daher schaute er kurzzeitig ziemlich dumm aus der Wäsche, als sein Besuch eintrat.

Der Mann war klein. Alban hielt es zuerst für einen Trick der indirekten Beleuchtung. Er blinzelte, aber tatsächlich, der Eintretende hätte ihm bei stehender Begrüßung nur bis zur Schulter gereicht.
War das irgendeine neumodische Sitte der Städte, den Diener vorzuschicken, während der Mann höheren Ranges draußen wartete?
Doch da ertönte schon die Stimme der Türgarde: „Der Gesandte unseres Ordens zu Kingsport, der Unterkommandant und Bruder Pereîs.“
Alban nickte abwesend. Erst der Büchsenmeister und jetzt das.
Kingsport hatte auf seine alten Tage also doch einen Sinn für Humor entwickelt. Oder ihnen gingen unten im Süden die Soldaten aus. Anders war die Person des Angekommenen nicht zu erklären.
In die übliche leichte Rüstung für weite Reisen – Lederzeug, Teilharnisch, Beinschoner und derbe Stiefel - gekleidet, stand der Mann da und mutete dem Arbeitszimmer die volle Lächerlichkeit seiner Erscheinung zu.

Kurz und gedrungen, hatte seine Gestalt etwas kurios Zurückgenommenes, etwas, das ungebührlich wenig Raum beherrschte und sich für den wenigen Raum, den es einnahm, noch zu entschuldigen schien.
Das Bestimmende war ein großer Schädel mit sehr eigentümlichen Gesichtszügen. Alban studierte sie. Da musste es doch mehr geben als diese gestauchten Körpermaße, an denen der paladinische Habit fast deplatziert wirkte.
Er schätzte den Anderen auf knapp über Dreißig. Ein ungewöhnliches Gesicht. Es war in sich rund, fast kindlich, mit straffen Wangen, einer kurzen Nase, vollen, beinahe aufgetriebenen Lippen. Die hohe Stirn konnte vielleicht als klug gelten. Die übergroßen Augen standen ein wenig zu weit auseinander, waren schwerlidrig und schwermütig und von einer unbestimmten Sanftheit.

Alban regte sich.
„Seid gegrüßt“, sagte er in das Schweigen hinein. „Ich bin Alban Rathard Jaronas, Kommandant zu Madalën. Erfreut, Euch willkommen zu heißen. Tretet doch näher.“
Er war neugierig auf die Stimme, die zu diesem sonderbaren kleinen Mann gehörte, und er wurde nicht enttäuscht. Das antwortende Organ klang wie das eines Jungen vor dem Stimmbruch – flach, leise und weich.
„Danke, Kommandant. Ich bin Jonah Pereîs, Abgesandter unseres Ordens zu Kingsport. Man entbietet Euch Grüße.“ Es kam ein bisschen zu kraftlos, fast ohne Überzeugung.

Alban allerdings war hellwach.
Er hatte das Schreiben aus Kingsport vor sich liegen. Der Name stimmte, und da er stimmte, stand ihm hier einer der seltensten Brüder gegenüber, über die die Klasse der Paladine derzeit verfügte. Pereîs war an der erfolgreichen Beendigung diverser Konflikte mit Magiern nahe Lut Gholein maßgeblich beteiligt gewesen – ein Unterhändler, ein Schatten im Heer der Westmarsch-Krieger.
Alban bemühte sich redlich, Äußerlichkeiten auszuklammern, aber es gelang ihm nicht. Und sein Gast stand einfach da, klein und leicht zu übersehen und voll einer nachgiebigen Höflichkeit. Er war keineswegs unbewaffnet. Am Gürtel hing ein Kurzschwert, ein weiteres trug er in einer Lederscheide über dem Rücken. Jede andere Waffe, vermutete Alban, hätte ihm wahrscheinlich auch eher geschadet als genutzt.

An der Tür entstand leise Unruhe. Bedienstete warteten.
„Schön.“ Alban räusperte sich. Er hatte Lust, zu lachen, ohne zu wissen warum. „Brandulf?“
Übergangslos floss der hagere, dunkle Unterkommandant in den Raum. Schwarze Augen prüften den Angekommenen.
„Sieh zu, dass für Bruder Pereîs und seinen Begleiter Zimmer hergerichtet werden“, wies Alban ihn an.
Selbige Zimmer hatte man schon gestern freigeräumt. Aber er wollte Brandulf aus dem Weg haben – ihn und jeden, der der seinem wachsenden Interesse an Pereîs in die Quere zu kommen drohte.
Brandulf gehorchte und entfernte sich.

„Habt Ihr Briefe, oder Neuigkeiten vielleicht, die Ihr mir sofort überbringen wollt?“, wandte sich Alban an Pereîs. „Falls nicht – na, Ihr und Euer Begleiter seid lange unterwegs gewesen. Ein wenig Ruhe wird Euch sicher guttun.“
Auf Jonah Pereîs' merkwürdigem Gesicht breitete sich ein schmales Lächeln aus.
Alban war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel. Es war sehr höflich und sehr undurchschaubar.
„Da habt Ihr Recht, Kommandant Jaronas“, sagte der Gesandte. „Zu Eurer Frage – nein, keine Briefe, keine Neuigkeiten besonderer Natur. Nichts, das nicht warten könnte.“
„Fein.“ Alban erhob sich. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich beobachtet, nein, mehr noch, ausgespäht, bloßgestellt. „Seid ihr hungrig? Nein? Na gut. Ein Minderbruder wird Euch in die Räumlichkeiten führen. Sucht mich nach Mittag wieder auf. Vor morgen früh werdet Ihr doch gewiss nicht weiterreisen wollen?“
„Nein. Gewiss nicht.“
Pereîs stand noch kurz da, lächelte sein zuvorkommendes kleines Lächeln, bot sich so wenig Platz aus, wie es für einen Paladin eben noch denkbar war. Dann folgte er einem Knecht, der seinen struppigen Kopf in das Zimmer des Kommandanten gestreckt hatte, und verschwand.
 
Zuletzt bearbeitet:
Klingt ganz interessant. Ich mag den detailreichen (Be)Schreibstil. Die ganzen Andeutungen machen auf jeden Fall Lust auf mehr, und Paladine vs. Druiden ist schon allein deshalb super, weil die so überhaupt nicht zueinander passen - verspricht witzige Missverständnisse. Dazu ein paar Unstimmigkeiten in der Ordenshirachie und viel kann sich entwickeln... ich fang schon an zu spekulieren...
Schreib' auf jeden Fall weiter ;)
 
@Zitronenfalter: Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ich werde auf jeden Fall weiterschreiben; die ersten fünf Kapitel sind schon fertig.

Ich sollte vielleicht noch anmerken, dass ich die Paladine auf den westlichen Kontinent verpflanzt habe. Schien mir einfach besser zu passen.


***

II. Madalën




Jonah Pereîs betrat das Zimmer und wartete, bis der Knecht die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann sah er sich um.

Der Raum war klein, aber hell, da er im obersten Stockwerk der Festung lag. Die tiefe Fensteröffnung kam durch die Dicke der Außenmauer zustande, und es gab kein Glas, nur Holzläden an der Innenseite. Auch sonst wirkte das Zimmer karg, fast ärmlich, einzig ausgestattet mit einer Pritsche, einem Stuhl, einem wackligen Schrank und einem kleinen Tisch samt Holzzuber zum Waschen.
Sämtliche Dinge, mit denen man sich in Kingsport umgab, fehlten: gepolsterte Sitzgelegenheiten, Bücher, Bilder, Symbole des Lichts. Jonah war kein Mann, dem Luxus sonderlich viel bedeutete, aber er registrierte die Abwesenheit geistlicher Gegenstände – dieser Umstand führte einem noch viel deutlicher vor Augen, wo man sich befand, als die ungewaschenen, schwer bewaffneten Gestalten da unten im Hof.

Madalën war der äußerste Grenzposten der paladinischen Welt. Hierher wurden Männer strafversetzt, die sich weiter südlich des Ungehorsams oder der mangelnden Glaubenspflege schuldig gemacht hatten. Hier verwässerte das Ideal des edlen Ordensbruders und wurde durch Krieger ersetzt, denen ihr Überleben mehr wert war als die unablässige Verbreitung des Glaubens.
Ganz sicher platzten die Männer im Hof nicht gerade vor Treue zur Westmarsch – bei ihnen musste es sich notgedrungen um nüchterne Denker handeln. Wer Nase an Nase mit dem Feind lebte, hatte keine Zeit, irgendwen zu missionieren, auch nicht sich selbst.

Jonah waren die Blicke sehr wohl aufgefallen.
Misstrauische, abweisende Blicke. Er und sein Begleiter waren in eine Blase des Schweigens hineingeritten, vorbei an losen Spalieren von Paladinen oder Minderbrüdern, die sich an die Mauern lehnten, ihre Schwerter putzten und nicht einmal genau wissen mussten, wer er war, um sich gestört zu fühlen.

Er ging zum Fenster und versuchte, in den Hof hinunterzusehen, aber natürlich verhinderten das die tiefe Fensteröffnung und sein eigener geringer Wuchs. Kurzentschlossen holte er sich den einzigen Stuhl.
Jetzt klappte es etwas besser. Der Wehrgang der Mauer tauchte auf – mit zwei Wachen -, die massige Mauer selbst, ein Streifen Hof und die Ecke eines Stalles. Auf dem Hofstreifen hockten ein paar Männer in der Sonne und würfelten, wie es aussah.

Jonah stieg vom Stuhl. Danach wusch er sich die Hände im Wasserzuber, schnallte seinen Teilharnisch und die Beinschoner ab und postierte sie neben seinem Reisesack auf der Pritsche. Vom langen Reiten tat ihm gehörig der Hintern weh, seine Schultern waren verspannt und krachten, als er sie probehalber bewegte. Flüchtig erwog er, sich für eine Weile hinzulegen, aber nachdem er an der Decke geschnüffelt hatte, die roch, als sei sie seit Jahren nicht mehr gewaschen worden, verwarf er den Gedanken.
Stattdessen kniete er sich hin, schlug die Himmelgeste und versuchte, die innere Ruhe für ein Gebet zu finden. Die innere Ruhe ließ auf sich warten.
Daran war vermutlich die Nähe des Waldes schuld. Wenngleich aus den Fenstern der Festung kaum zu sehen, drängte er sich durch seine schiere Gegenwart auf – keiner der geregelten Forste der Westmarsch, in denen Siedler friedliche Weiler bauten und in die Gruppen von Holzfällern gingen. Das da drüben waren die Vorposten der ältesten Wälder Sanktuarios, von denen man sagte, sie seien ebenso wenig erforscht wie die Wüste.

Jonah erhob sich wieder. Dann eben kein Gebet.
Anders als in den Feldlagern der Heere, die er oft begleitete, beobachtete ihn niemand. Er konnte den pflichteifrigen Paladin, der zu jeder Gelegenheit mit den Mächten des Lichts Zwiesprache hielt, also steckenlassen.
Er stieg erneut auf den Stuhl und spähte in den Hof hinunter. Von irgendwoher drang schwaches Waffengeklirr zu ihm hinauf. Im Gegensatz zu Gebet und Reinlichkeit vernachlässigte man in Madalën seine Schwertübungen offensichtlich nicht. Jonah vergegenwärtigte sich die Lage dieser Männer: Wann immer sie einen Fuß vor die Mauern der Festung setzten, mussten sie mit feindlichen Angriffen rechnen, und innerhalb der Festung blieben ihnen nur der Übungskampf, das Würfelspiel und der Wachdienst. Oder eben das endlose Warten.

Alban Rathard Jaronas, der Kommandant, war nicht zu beneiden.
Jonah fand es schwer, ihn einzuschätzen. Hier hatte er weder einen strikten Heerführer vor sich noch einen städtischen Ordensbruder. Jaronas musste hundertfünfzig ausrangierte Paladine und Söldner zusammenhalten. Er wirkte erfahren, dabei aber so entspannt, regelrecht gemütlich, dass Jonah ihn verdächtigte, sich auf durchsetzungsfähige Handlanger zu stützen.
Einen davon hatte er schon gesehen, einen dunklen Mann namens Brandulf – und ihm war selten ein Mensch begegnet, der eine größere Aura schweigsamer Gefährlichkeit um sich herum verbreitete.
Den galt es im Auge zu behalten.

Es klopfte an der Tür. „Bruder Pereîs?“
„Herein“, bat Jonah und stieg vom Stuhl.
Derselbe Knecht, der ihm das Zimmer gezeigt hatte, war wieder da. „Kommandant Jaronas lässt fragen, ob Ihr an einem Rundgang durch die Festung interessiert seid. Auch möchte er wissen, ob es Euch und Eurem Begleiter an etwas fehlt.“
Jonah unterdrückte ein Lächeln. Alban Rathard Jaronas war ungeduldiger, als er hatte zugeben wollen, und neugierig – auf beide Gäste. Vermutlich hatten Knechte auch an der Tür des Nachbarzimmers gepocht, wo Jonahs Begleiter untergebracht war, aber keine Antwort erhalten.

„Uns fehlt es an nichts“, sagte Jonah zu dem Knecht. „An einem Rundgang wäre ich allerdings in der Tat interessiert.“
Der Aufbau, die Ausrüstung und die strategische Lage Madalëns kümmerten ihn kaum. Anders die Stimmung in der Festung. Auch wenn man Jonah noch nicht daraufhin angesprochen hatte, lebten die Männer hier in der Nachbarschaft eines ungeklärten Mysteriums.

Vor etwa einem halben Jahr war eine fadraîsche Gesandtschaft weiter nördlich in die Wälder vorgedrungen und dort auf eine Ansammlung alter Steine gestoßen. Die Berichte sprachen davon, dass diese Steine von Menschenhand errichtet sein mussten, ihre Anordnung aber wohl kaum aus Barbarenhand stammte – denn Barbaren bauten selten in Stein – und den idealen Mittelpunkt für die Errichtung von Gebäuden bildete. Daher, so die Schreiber, hatte sich die Gesandtschaft dazu entschlossen, sich dort häuslich einzurichten und unverzüglich mit Bauarbeiten zu beginnen.
Nächsten Berichten zufolge waren die Arbeiten zufriedenstellend vonstattengegangen, und es hatte kaum ernste Zwischenfälle mit in der Nähe lebenden Barbarenstämmen gegeben. Ein halbes Jahr nach Entdeckung der Festung waren die Berichte plötzlich ausgeblieben.
Besorgtes Stirnrunzeln in Fadraîs. Was war zu tun?

Bevor man den Paladinen in Madalën befahl, sich ein Bild von der Lage da oben im Wald zu machen, konnte man genauso gut eigene Kundschafter schicken.
Nicht gleich eine ganze Truppe. Schließlich ging es nicht um einen Krieg, sondern nur um grob fünfzig Männer, und Kingsport hatte eben erst einen lästigen Konflikt mit den Magierschulen der Wüste hinter sich.
Daher hatte man ihn, Jonah Pereîs, aus den erwähnten Unruhen abberufen und gen Norden gesandt.
„Reitet nach Madalën“, hatte ihn ein fadraîscher Stadtvater angewiesen, „und erstattet uns bei dieser Gelegenheit gleich Bericht, wie sich Jaronas anstellt. Er hat derzeit einen hiesigen Büchsenmeister zu Gast, da werdet Ihr nicht großartig auffallen, Bruder. Verfasst Euer Schreiben und reist dann in die angrenzenden Wälder weiter. Bis zu der Festung, von der wir seit Wochen nichts mehr gehört haben, sind es von Madalën aus ungefähr fünf Tagesritte. Schaut Euch da oben gründlich um. Gebe das Licht, dass Ihr den Verbleib der Truppe aufklären könnt.“

Jonah hatte vor seiner Abreise sämtliche Berichte, die aus genannter Festung eingegangen waren, gelesen, ohne etwas Auffälliges zu finden. Abgesehen vom ungeklärten Ursprung des Steinkreises vielleicht.
In Kingsport hielt man sich nicht lange mit fremdländischen Gegebenheiten auf. Wenn da irgendwo ein Haufen Steine herumstand, auf den niemand Anspruch erhob, ging er einfach in den Besitz des Ordens über. Wen kümmerte schon, wer die Steinhaufen zuerst dorthin gestellt hatte und ob sie zweihundert oder tausend Jahre alt waren?
Jonah dachte anders darüber.
Selbstverständlich ließ er seine Zweifel unerwähnt. Selbst der bekannteste Unterhändler der Paladine in ganz Sanktuario durfte es sich nicht erlauben, Kritik am Vorgehen der eigenen Klasse zu üben.
Daher hatte er die Berichte wieder in einen der aberhundert Schränke der Missionsbibliothek gestellt und sich an den Stadtvater gewandt.

„Laut dieser Schriften heißt die Festung Schwarzfels“, hatte er gesagt.
„Richtig. Siedler hörten von diesem Namen.“
„Das klingt nicht wie die Namensgebung durch einen Paladin.“ Jonah hatte es so nebensächlich betont wie irgend möglich. „In den Berichten taucht nicht auf, woher der Name stammt.“
„Dann geht und findet es heraus“, hatte der Stadtvater ihn aufgefordert. „Bis nach Madalën sind es anderthalb Wochen, wenn Ihr gute Pferde habt. Ich erwarte Eure Nachricht in spätestens einem Monat.“
Also war er losgeritten. Allein, wenn man seinen Begleiter unterschlug.

Und jetzt ging er hinter einem der Knechte von Madalën her und legte sich im Geiste einen Plan zurecht, wie er Alban Rathard Jaronas um Gehörtes und Gedachtes erleichtern konnte, ohne seine eigenen Gedanken durchschimmern zu lassen.
Man führte ihn ins Zimmer des Kommandanten. Jaronas saß hinter seinem Schreibtisch und arbeitete offenbar an einem Bericht, auch wenn das sonstige Fehlen von Pergament, das verkrustete Tintenfässchen und die arg mitgenommene Feder verrieten, dass er sich dieser Tätigkeit sonst selten widmete.
Der Kommandant von Madalën war selbst im Sitzen ein stattlicher Mann, dabei um die Mitte herum in die Breite gegangen. Diese Beleibtheit und seine ungepflegte Aufmachung – sein Oberhemd zierten Essensflecken, die Armschoner waren weder poliert noch vorschriftsmäßig zugeschnallt, die graugefleckten Haare ungekämmt und das Gesicht schlecht rasiert – kontrastierten stark mit seinen Zügen und seiner sonstigen Statur.
Das rechte Auge war durch einen alten Hieb beinahe geschlossen worden, was ihm das Aussehen eines alternden Vagabunden verlieh.

Jonah mochte selbst kein großer Kämpfer sein, aber dank seiner Schulung erkannte er in Jaronas einen dieser Männer, die schwerfällig und ungeschlacht wirken, mit einer vertrauten Waffe in der Hand aber zu fürchterlichen Gegnern werden.
„Ah, Bruder Pereîs.“ Jaronas erhob sich halb aus seinem Stuhl. „Kommt näher, nehmt Platz. Habt Ihr Euch ein wenig ausruhen können?“
Der Knecht holte einen abseits stehenden Stuhl heran, bevor er sich entfernte.
„Ein wenig“, entgegnete Jonah. Er setzte sich, was wie überall dazu führte, dass ihn sein Gegenüber, wenngleich ebenfalls sitzend, überragte.

Aber das war ihm nur recht. Sogar hier, in den Mauern einer heruntergekommenen Festung, zwischen zerfransten Wandtüchern, nach Pferdepisse stinkenden Dienern und Truppenführern mit Soßenflecken auf der Kleidung, galt die unwillkürliche Einordnung des anderen Mannes anhand von Äußerlichkeiten.
Jonah war klar, in den Amazonenhäusern hätte man ihn ausgesetzt, selbst wenn er weiblichen Geschlechts gewesen wäre, bei den Barbaren wäre es vielleicht gar nicht bis zur Aussetzung gekommen, und selbst seine eigene Klasse bedachte ihn mit versteckt spöttischen Blicken und einer Randstellung, weil man sonst nicht wusste, wohin mit ihm. Darum benutzte er sein Äußeres inzwischen mit einigem Geschick, und in Kombination mit seinen bescheidenen Begabungen hatte er Bruder Jonah Pereîs daraus gemacht.
Pereîs, den Heeresberater. Den Unterhändler.

„Fein“, sagte Jaronas. Auf seinem Tisch standen eine Karaffe mit Wein und zwei Gläser, die er jetzt füllte. „Wein?“
„Ist es dafür nicht etwas zu früh?“, fragte Jonah. Dabei wählte er den milden Tonfall, den er Höhergestellten gegenüber häufig anschlug.
„Nicht in Madalën.“ Der Kommandant schob im ein Glas hin.
Der Wein roch billig und war es wohl auch. Jaronas nippte und schmatzte freizügig mit den Lippen. Erst danach schien ihm aufzufallen, dass sein Gast den Wein noch nicht gekostet hatte.
„Ihr habt mich zuerst trinken lassen“, stellte er fest. „Zufall, Bruder?“
„Nein“, gab Jonah zu. „Ich wäre nicht der erste unbequeme Gesandte, den man durch einen simplen Kniff beseitigen will.“

Anfangs schwieg der Kommandant. Vielleicht, weil sein Gast sich so offenherzig geäußert hatte, vielleicht auch aus schierer Empörung über die Aussage. Doch auf einmal brach Jaronas in stummes Gelächter aus.
„Unbequemer Gesandter“, wiederholte er dann schmunzelnd. „Jemand hätte mich vor Euch warnen sollen, Bruder Pereîs. Sicher macht Euch Eure Stellung nicht eben beliebt in der Welt, was? Ich kann mir nur ungefähr ausmalen, wovor sich einer wie Ihr überall in Acht nehmen muss.“
Jonah begnügte sich mit einem sachten Lächeln und trank einen Schluck Wein. Sofort zog sich ihm der Magen zusammen – er hatte bis auf ein Stück Brot an diesem Tag noch nichts gegessen.
„Auf die Güte des Lichts“, prostete Jaronas ihm zu. Dann fuhr er fort: „Da Ihr offenbar ein Mann seid, der Direktheit schätzt, kann ich Euch auch etwas verraten. Ich war, wie Ihr Euch denken werdet, nicht begeistert über die Ankündigung Eures Besuchs.“
„Das ist selten jemand.“
„Außer Truppenführern in verfahrenen Lagen, wie man hört“, nickte Jaronas. „Versteht sich ja von selbst. Ich bin aber kein Truppenführer in einer verfahrenen Lage.“ Er klang nicht mehr ganz so gutmütig wie eben noch. „Ich muss hier einen Grenzposten verteidigen. Was meint Ihr, Bruder Pereîs, werdet ihr Kingsport Meldung darüber machen, dass Ihr einen verlotterten Sauhaufen angetroffen habt, dem man die Bezeichnung ‚Paladine‘ andernorts sofort entreißen würde?“

Jonah wählte seine Antwort mit Bedacht.
Der Mann, der ihm gegenübersaß, hatte sich laut früherer Berichte keiner schweren Fehltritte schuldig gemacht. Unter seinem Kommando hatte Madalën eine Weile in äußerst schwieriger Umgebung überdauert – da wurden weit schlimmere Verluste von Menschen oder Gebiet verzeichnet, wenn man sich die Heeresbücher anderer Schauplätze durchlas.
Und Jaronas konnte das selbstverständlich nicht wissen, aber Jonah zählte kaum zu den Paladinen, die angesichts gröber gewordener Umgangsformen und schmutziger Oberhemden erbleichten. Dafür hatte er schon an zu vielen Kriegen teilgenommen.

„Ich glaube nicht“, sagte er schließlich, „dass ich Kingsport Meldung über den Zustand hiesiger Gewänder oder Sitten machen werde. Das gehört auch nicht zu meinen Aufgaben, Bruder Jaronas.“ Er hielt ein bisschen schmeichlerisches Entgegenkommen für angebracht, also fuhr er fort: „Der, wie Ihr sagt, verlotterte Sauhaufen hält Madalën seit Jahren ohne ernste Verluste. Ich bin in vielen Kriegsgebieten gewesen. Ich weiß, dass das keine geringe Leistung ist.“
„Warum seid Ihr dann hier?“, fragte der Kommandant.
„Um herauszufinden, warum weder Ihr noch eine andere paladinische Niederlassung Nachricht über den Verbleib von fünfzig Menschen hat“, entgegnete Jonah. Er senkte die Lider, die sich für diese Art Blick hervorragend eigneten, spähte darunter hervor jedoch genau Jaronas‘ Regung aus.
Sein Gegenüber blieb gefasst. „Schwarzfels, ja. Eine komische Sache. Aber die Leute werden schon wieder auftauchen.“
Nur sehr vage, halb verdeckt von einem munteren Tonfall, hatte Jaronas‘ Stimme gewackelt. Er log. Er glaubte nicht daran, dass die Mitglieder der Missionstruppe demnächst fröhlich aus den Wäldern spaziert kamen.

„Habt Ihr eine Idee, was mit ihnen geschehen sein könnte?“, fragte Jonah.
„Nicht wirklich.“ Jaronas trank sein Weinglas in ein paar Zügen leer. „Da oben wimmelt es praktisch vor Barbaren. Na, wimmelt vielleicht nicht, dafür sind es zu wenige, aber sie behandeln den Wald als ihr Hoheitsgebiet. Womöglich ist diese Truppe mit ihnen aneinandergeraten – was ich ihnen nicht wünsche.“
Insgesamt, für einen Mann der Tat, lieferte er Jonah eine passable Vorstellung, doch er log unverändert.

Plötzlich erhob er sich, stellte sein Glas ab und reckte die Arme. „Aber meine Ansichten dazu setzte ich Euch gern später auseinander. Der Knecht hat mir ausrichten lassen, dass Ihr Euch für einen Rundgang interessiert?“
Jonah senkte bestätigend den Kopf.
„Dann kommt“, lud Jaronas ihn ein. „Schaut Euch unseren Sauhaufen an. Unten in der Küche sollten wir auch etwas zu essen finden. Von dem Wein da kann’s einem nämlich übel werden.“
Die Männer gingen zur Tür, Jonah hinter Jaronas, den Blick nachdenklich auf den ergrauten Kopf geheftet. Mit einem Griff versicherte er sich, dass sein Kurzschwert am richtigen Platz hing.
Ein Minderbruder hielt Dauerwache neben der Tür.

Jaronas wandte sich um. „Übrigens, Bruder Pereîs, was ist mit Eurem Begleiter? Der Knecht hat vor geraumer Zeit bei ihm geklopft, aber keine Antwort erhalten.“
„Das ist gut möglich.“
„Vielleicht ist er auch hungrig?“, schlug Jaronas vor. „Sollten wir ihn nicht mitnehmen?“
„Auf jeden Fall. Erlaubt bitte.“ Jonah trat an Jaronas vorbei zu dem Zimmer, in dem man seinen Mitreisenden untergebracht hatte.
Da er wusste, dass auf ein Klopfen niemand antworten würde, machte er die Tür ganz einfach auf.

***

Mit gerümpften Nasen angesichts der Bärte, Heuhaufen und geflickten Gewänder in Madalën hatte er gerechnet, mit einer gezückten Feder, die den feinen, sauberen Städtern da unten, wo der Orden seine Wiege und seinen Frieden hatte, eine erste missbilligende Nachricht kritzeln würde.
Stattdessen kam dieser merkwürdige kleine Mann daher und sprach von Schwarzfels.
Alban Rathard Jaronas knirschte innerlich mit den Zähnen und verfluchte seine eigene Dummheit.
Natürlich schickte der Orden seinen bekanntesten Unterhändler nicht, um die Wahrung von Sitte und Anstand im äußersten Grenzposten der Westmarsch zu überprüfen.

Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Es galt, Jonah Pereîs noch eine Weile hinzuhalten. Wenn der herausfand, dass Madalën in Bezug auf Schwarzfels zu wenig oder das Falsche getan hatte, endete die Sache vielleicht doch noch damit, dass man Alban sein Kommando unterm Hintern wegzog.
Das musste er um jeden Preis verhindern. Er hatte zu lange für den Status quo gekämpft.
Vorerst hielt er es für das Beste, den Gast durch den Rundgang abzulenken. Madalën würde ihm dabei assistieren. Soviel war garantiert.

Außerdem ließ sich Pereîs womöglich in lange Gespräche mit anderen Inhalten verwickeln, er und sein Begleiter – man nahm es hier mit der Behandlung von Dienern nicht allzu genau.
Insofern verfolgte Alban neugierig, wie die Tür zum Zimmer des zweiten Gastes aufschwang.

Jonah Pereîs ging wortlos hinein und bis zu der Pritsche, auf der ein Mann lag.
Der Mann erhob sich.
Alban klappte die Kinnlade herunter.
Schon vom Fenster aus, bei der Ankunft des sonderbaren Gespanns, war ihm Pereîs‘ Begleiter groß vorgekommen – nun sah er, dass es sich um einen regelrechten Riesen handelte. Die Zimmerdecke machte beinahe Bekanntschaft mit seinem Scheitel.
Doch dann entspannte sich Alban. Auf einen zweiten Blick hin war die Körpergröße das Einzige, was diesen Kerl bedrohlich wirken ließ.
Er war dick wie ein Bär, unbewaffnet, hatte stoppelkurzes Haar und ein langes, teigiges Gesicht. Der Mund mit einer tropfenförmigen Unterlippe stand ein wenig offen, die Augen waren klein und schauten mit einem nichtssagenden Ausdruck in die Welt, den Alban bereits in Armenhäusern und Klöstern gesehen hatte.
Pereîs‘ Begleiter war nichts weiter als ein tumber Geselle, ein zurückgebliebener Diener.

Trotzdem schrieb die Regel vor, dass man auch minderste Brüder freundlich empfing. Alban trat lächelnd auf den Riesen zu.
„Willkommen in Madalën, Bruder“, sagte er mit erhobener Stimme. „Euer Herr und meine Wenigkeit werden uns die Festung ansehen und unten in der Küche etwas essen. Du bist eingeladen, uns zu begleiten.“
Die kleinen Augen hefteten sich auf Albans Mund. Der Riese gab keine Antwort, nur seine Brust senkte sich im Ausatmen.

„Das ist Simon“, stellte Pereîs den Mann vor.
„Simon, soso“, nickte Alban dem ausdruckslosen Gesicht zu. „Also, du kannst uns gern begleiten, wenn du willst.“
Der Riese stand mit hängenden Armen da und stierte ihn an.
„Simon“, schaltete sich Pereîs ein, „hört Euch nicht, Kommandant. Er ist taub.“
„Taub?“
„Seit seiner Geburt.“
„Ach je“, sagte Alban. „Nun gut, Ihr werdet schon wissen, warum er Euch begleitet.“
Pereîs lächelte sein zurückhaltendes, weiches Lächeln. „Er kann ausgezeichnet mit Tieren umgehen. Er sorgt für die Pferde und für meine Waffen.“
„Und wie verständigt Ihr Euch mit ihm?“ Alban musterte den Riesen mitleidig und gleichermaßen fasziniert. Der schaute mit einfältiger Geduld zurück.
„Er folgt mir einfach“, sagte Pereîs. „Ansonsten weise ich ihn durch Zeichen oder Berührungen an. So, seht Ihr?“
Der viel kleinere Mann streifte den Arm seines Begleiters mit der Hand und wies, nachdem ihm das die Aufmerksamkeit des Dieners eingebracht hatte, auf seinen eigenen Mund. Er imitierte Kaubewegungen.
Simon nickte langsam.
„Gehen wir?“, wandte sich Pereîs an Alban.
„Sicher.“

Vor der Tür wandten sich die Männer nach links und folgten dem Gang. Jonah Pereîs behielt Recht: Der Diener Simon tappte ihnen folgsam hinterher. Auf der Treppe hörte Alban die Stufen unter seinem Gewicht knarren.
Nach einer kurzen Besichtigung der Waffenkammer traten sie auf den Hof hinaus. Die Sonne stand noch hoch genug, um über die Wehrmauern zu scheinen.
Alban bemerkte mit einer gewissen Erleichterung, dass das Auftauchen des Gesandten zunächst weniger Aufmerksamkeit erregte als befürchtet. Er kannte seine Männer, die in Madalën am ehesten unter Langeweile litten und sich daher mit derselben Gier auf kleinste Neuigkeiten warfen wie ordinäre Waschweiber.
Da das Aufeinandertreffen unvermeidlich war, hatte er ihnen Pereîs und seinen Diener hiermit endgültig vorführen wollen. Aber im Hof hielten sich nur schätzungsweise dreißig bis vierzig Männer auf, von denen die Hälfte mit Waffenpflege oder Schwertübungen beschäftigt war.
Der Rest steckte vermutlich in den Stallungen oder in den Schlafquartieren.

Alban blieb stehen, um seinem Gast Gelegenheit zu geben, sich umzuschauen.
Von der Seite her beobachtete er, wie Pereîs übergroße, verträumte Augen über Mauern, Tore, Stallgebäude und Gruppen von Männern wanderten.
„Wie viele Paladine leben in Madalën?“, erkundigte sich Pereîs.
„Zweiundsiebzig“, sagte Alban. „Dazu noch neunundzwanzig Minderbrüder sowie sechsundvierzig Laien, das heißt Knechte, Stallburschen und ein wackerer, aber talentloser Küchenmeister.“
„Macht hundertsiebenundvierzig Männer.“ Pereîs sah zu den übenden Paladinen hinüber.
„Stimmt genau“, sagte Alban mit gerunzelter Stirn. „Aber die Besetzung müsste Fadraîs doch aus den jüngsten Listen bekannt sein, die wir geschickt haben.“
„Da waren es noch hunderteinundfünfzig Männer“, merkte Pereîs an.

„Richtig. Vier haben wir in den letzten zwei Monaten verloren.“ Der Kommandant fragte sich, ob Pereîs nicht vielleicht doch fand, man habe hier zu hohe Verluste zu beklagen. „Zwei Paladine, Bruder Ephraim und Bruder Agnesto, sind im bis dato allerletzten Angriff der Barbaren gefallen, und später wurde noch ein Trupp von Knechten attackiert, die im Wald Holz schlagen sollten. Dabei starben nochmal zwei Männer, Harvel und Udlo.“
„Konntet Ihr die Angreifer zur Verantwortung ziehen?“
„Nein.“ Allmählich überkam Alban ein Anflug von Ärger. Pereîs, dafür sprachen seine Statur und seine Stellung, hatte sich immer nur hübsch am Rand der Heere gehalten. Und er hatte höchstwahrscheinlich schlicht keine Ahnung von der Gefährlichkeit der hiesigen Gegner. Alban atmete durch und beherrschte sich. „Ihr müsst Folgendes bedenken: Wir treten hier nicht gegen einen überschaubaren Feind an. Die Barbaren, die Pest soll sie holen, entziehen sich den meisten Einschätzungen ihrer Zahl und Verteilung. Wenn wir da für eine Strafaktion in den Wald reiten, kann uns an einem Tag ein Grüppchen von ihnen gegenüberstehen, am nächsten Tag aber gleich eine ganze Hundertschaft.“
Pereîs hörte mit seinem nachsichtigen Lächeln zu, das dem Kommandanten immer weniger behagte.
„Dazu noch dieser dämliche Wald“, fuhr er fort. „Ein richtiger Mistwald ist das. Fast undurchdringlich, da kommen wir mit Pferden schlecht voran.“ An diesem Punkt seiner zunehmend hitzig gewordenen Rede fiel Alban ein, wohin Pereîs‘ Weg am folgenden Tag führte. Daher schloss er nicht ohne innere Genugtuung mit den Worten: „Aber das werdet Ihr morgen ja alles selbst sehen.“
„Zweifellos“, nickte sein Gast.
„Jedenfalls kann ich nicht für jeden Toten auf unserer Seite mal so eben Truppen in den Wald schicken“, sagte Alban. „Da stünde ich vermutlich innerhalb einiger Wochen mit blankem Hintern da.“

Er bemerkte, dass Pereîs‘ Diener ihn ansah und begegnete seinem Blick. Der Kerl hatte den Mund immer noch offenstehen. Eine Schmeißfliege krabbelte ihm über die Stirn, aber er scheuchte sie nicht weg.
Jonah Pereîs hingegen musterte den Kommandanten von unten her, inzwischen ohne ein Lächeln, dafür jedoch mit einer ruhigen, fast heiteren Miene.
Auf einmal waren sie beide Alban heftig zuwider, diese zu kurz geratene, verweichlichte Ausgabe eines Paladins und ihr tumber Klotz von Diener. In diesem Moment sprach Pereîs.

„Ich habe Euch nicht nach diesen Dingen gefragt, weil ich Eure Führungsqualitäten anzweifeln will, Bruder Jaronas“, sagte er, „sondern um etwas über Euch herauszufinden.“
„Und das wäre?“, brummte Alban.
„Ihr befindet Euch hier in Madalën nicht in einer gewöhnlichen Belagerungssituation“, entgegnete Pereîs. „Ihr seid auch kein gewöhnlicher Anführer. Euch liegt etwas an diesem verlotterten Sauhaufen, wie Ihr es genannt habt, sonst wüsstet ihr die Namen der Toten nicht mehr so genau. Außerdem habt Ihr Euch – wenn auch unnötigerweise – zu rechtfertigen versucht.“
Albans Gefühlsaufruhr verpuffte. Ihm ging nicht recht auf, ob Pereîs ihn wirklich loben oder bloß besänftigen wollte.
„Sind ja nur hundertfünfzig Männer“, sagte er barsch, um seine Verwirrung zu überspielen, „die alle ziemlich eng aufeinander hocken. Da kennt man die Namen nach einiger Zeit.“
„Trotzdem“, meinte Pereîs.

Nach dieser Unterhaltung setzten sie den Rundgang fort.
Pereîs wollte die Stallungen, die Unterkünfte und die Wehrmauer sehen, aber weder stellte er viele Fragen, noch betrat er die entsprechenden Gebäudeteile. Das verschaffte Alban, der sich wider Willen über das eben geführte Gespräch den Kopf zerbrach, Raum zum Nachdenken.
Er wusste, dass er kein scharfer Denker war. Nichtsdestoweniger wurde er den Eindruck nicht los, ihm gleite in Pereîs Gegenwart dauernd etwas durch die Finger.
Aber dann beruhigte er sich mit der Vermutung, dass ein Unterhändler wahrscheinlich per definitionem von solchem Schlag sein musste: kein anständiger Krieger, sondern ein Leisetreter, der kam und ging wie ein Schatten.

Obendrein lenkte den Kommandanten ein anderer Umstand ab. Die Sonne begann zu sinken, in den Hofecken herrschte schon Halbdunkel, und immer mehr Männer bewegten sich Richtung Wehrturm, in dessen Keller Küche und Speisesaal lagen. Pereîs samt seinem Diener rückte langsam in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Dem Gesandten schien das nicht aufzufallen. Alban jedoch sah die hier feindseligen, dort grinsenden Gesichter der Haudegen, denen er vorstand. Er stellte zu so vielen Männern Augenkontakt her, wie möglich war, und befahl ihnen stumm, sich gefälligst um ihren eigenen Kram zu scheren.
Sonderlich zufriedenstellende Reaktionen erreichte er damit nicht. Sicher, sie respektierten ihn weitestgehend, aber Pereîs war eine zu willkommene Abwechslung. Für sie würden sie sich notfalls eine Zurechtweisung oder Schlimmeres einhandeln. Und er vermochte es ihnen nicht mal ganz zu verübeln.

Er ließ sämtliche Männer vorausgehen. Dann lud er seinen Besuch mit einer Geste ein, ihm in den Speisesaal zu folgen.
Eine breite, steinerne Treppe führte unter die Erde. An diesem Teil der Festung hatte man am längsten gebaut, denn hierhin konnte sich Albans Truppe im Fall einer schweren Belagerung zurückziehen.
Der Speisesaal glich denn auch eher einem unterirdischen Gewölbe als einem Ordensraum. Die Wände waren rußgeschwärzt, die Decke hoch und kuppelartig. Fackeln und eiserne Kronleuchter verbreiteten höchstens Dämmerlicht. Eine der Wände öffnete sich zu der kleinen Küche hin, wo der Küchenmeister samt einigen Knechten geräuschvoll in seinen Töpfen herumfuhrwerkte.
Spätestens hier musste jedem Besucher auffallen, dass er nicht in Kingsport oder einer anderen Ordensstadt war.

Albans Eintreten bewirkte weder ein allgemeines Aufstehen bei den bereits sitzenden Männern, noch eine Veränderung im Gerede und Gemurmel. Die Paladine und Minderbrüder hatten sich bereits an den langen Tischen niedergelassen und unterhielten sich. Niemand betete. Die Knechte saßen in einer für sie vorgesehenen Ecke.
„Kommt“, sagte Alban zu Pereîs. Er steuerte auf den der Treppe am nächsten gelegenen Tisch zu, an dem bislang nur Brandulf saß.

Der Unterkommandant sah hoch. Wie üblich blieb seine Miene gleichgültig, aber seine schwarzen Augen hefteten sich auf Pereîs.
„Das sind der Gesandte aus Kingsport, Bruder Jonah Pereîs, und sein Diener Simon“, stellte Alban die Gäste vor. „Bruder Pereîs, hier seht Ihr meinen Unterkommandanten Brandulf, der meistens allein zu speisen beliebt, doch sicher nichts dagegen hat, wenn wir uns zu ihm setzen.“
Brandulfs Augen hatten Simon erreicht. Ein überaus seltenes Verziehen der Lippen erschien, kaum ein Lächeln. Alban konnte höchstens vermuten, dass Brandulf sich auf seine persönliche Weise über die kuriosen Gestalten belustigte.
Er selbst nahm an seinem angestammten Ort Platz: Brandulf gegenüber, die Wand im Rücken. Die Bank erzitterte unter dem Gewicht des Dieners, der an Albans Seite beordert worden war, während Pereîs sich neben Brandulf setzte.

Ihre Vierergruppe blieb unter sich. Für den Anfang.
Während Brandulf sich über seinen bereits vollen Teller hermachte und die Gäste unverhohlen musterte, teilte Alban Becher und Bier aus.
Neben ihm grunzte es zufrieden. Simon freute sich offenbar über das Bier. Alban versuchte, sich von den schlürfenden Geräuschen nicht ablenken zu lassen, und gab dem Küchenmeister ein Zeichen.
Man brachte ihnen Teller mit in Soße schwimmendem Fleisch und Graupen.
„Ich bin der Einzige, der sich sein Essen hier nicht selber holt“, verriet Alban Pereîs. „Aber ansonsten geht es in Madalën etwas zwangloser zu als bei Euch im Süden, denke ich.“
Pereîs antwortete mit einem Lächeln und Heben der Schultern, das wohl ausdrücken sollte, er störe sich nicht an dieser Zwanglosigkeit.

Das servierte Fleisch war zäh und voller Fettklumpen, die Soße erbärmlich, der Mus aus Graupen halbgar. Weder Pereîs noch sein Diener beschwerten sich. Letzterer aß sogar mit größter Hingabe und war zu Albans Erstaunen ziemlich gut zum Benutzen eines Löffels imstande.
Alban versuchte, Pereîs in ein Gespräch über die Lage in der Wüste zu verwickeln. Immer noch fürchtete er jedes Aufkommen des Themas Schwarzfels, und mit Brandulf am Tisch konnte er nicht unbedacht mit Pereîs sprechen.
Sein Gast allerdings gab nur ausweichend klingende Antworten. Er schien nicht sonderlich erpicht darauf, irgendetwas über seine Beteiligung an den Verhandlungen mit den Magiern preiszugeben, und nach einer Weile unterhielt man sich über die Erbauung von Madalën und andere Dinge, die die Festung betrafen.
Eher gesagt, Alban und Pereîs unterhielten sich. Brandulf und der Diener Simon schwiegen beharrlich.
Insgesamt war Alban froh über das belanglose Geplauder. Es erlaubte ihm nämlich, die Umgebung im Auge zu behalten.

Bei ihm selbst handelte es sich um einen halben Paladin. Auren und solches Zeug gingen fast über seine Begabung. Er bekam mit Mühe eine verstärkte Resistenz gegen Feuer hin oder eine Konzentrationssammlung, und das auch nur an einem guten Tag. Aber er besaß ein Gespür für Stimmungen. Eine Art Gefahrensinn.
Und dieser Sinn führte jetzt dazu, dass er den Speisesaal verstärkt beobachtete.

Für einen paladinischen Ort der Zusammenkunft ging es lebhaft zu. Fast ungehobelt.
Viele Männer redeten mit beachtlicher Lautstärke, rissen Witze oder unterhielten sich über mehrere Tische hinweg. Auch die Essmanieren ließen – zumindest aus Ordenssicht – zu wünschen übrig. Es wurde mit den Blechtellern gescharrt, mit Besteck gekratzt, Becher knallten, wenn sie leer waren, auf die Tischplatten. Nur wenige Anwesende machten sich die Mühe, Rülpser oder andere Kundgebungen des Körpers zu unterdrücken.
So entstand die für Madalën klassische Kulisse.
Bloß war sie heute noch etwas unruhiger als sonst. Pereîs, der mit dem Rücken zum Saal saß, konnte es nicht sehen, doch Madalën hängte sich jetzt mit gehässiger Beharrlichkeit an die Gegenwart des Gastes.
Über die Teller gebeugt, nickten Männer zu ihm hin, feixten oder starrten feindselig, je nach Charakter. Auf der anderen Saalseite wurde sogar ganz offen über den schmächtigen Gesandten hergezogen, das las Alban aus den vielsagenden Blicken und gewendeten Köpfen.

Er persönlich war zweigespalten.
Noch hatte Pereîs ihm keine Schwierigkeiten gemacht. Da gebot es die Stellung als Kommandant, den Gesandten in Schutz zu nehmen. Alban wusste, dass Übergriffe seitens seiner Männer möglich waren – schließlich hatte er eine Festungsrevolte erlebt und niedergezwungen.
Andererseits regte sich der Schatten böswilliger Neugier in ihm. Pereîs mochte geschickt im Reden sein, aber was würde er offenen Anfeindungen entgegenzusetzen haben? Seine Sonderposition bewahrte ihn wahrscheinlich überall vor unerfreulichen Erlebnissen, also spazierte er hier herein und steckte seine Nase in Dinge, die die Außenwelt nichts angingen. Vielleicht würde ihm ein bisschen echter Widerstand guttun.

Der echte Widerstand formierte sich Minuten später.
Die ersten Männer waren bereits fertig mit der Abendmahlzeit. Entsprechend des losen Tagesablaufs in Madalën hatten sie Erlaubnis, den Speisesaal nach Gutdünken zu verlassen und ihren freien Abend zu beginnen.
Alban sah zwei von ihnen Richtung Treppe gehen. Dabei mussten sie dicht am Tisch des Kommandanten vorbei. Es waren Bruder Laurus, einer der Krieger, die Madalën seit seiner Errichtung dienten, und ein zum Minderbruder erhobener Söldner namens Elric.
Beide gehörten zum härtesten Eisen der Truppe. Speziell Laurus galt als aufbrausend und tat sich schwer damit, Obrigkeiten anzuerkennen.
Die Männer erreichten den Tisch. Alban stellte den Becher ab und warf ihnen warnende Blicke zu, doch sie konzentrierten sich auf Pereîs. Sie gingen langsam, suchten Ärger. Laurus sah finster drein, Elric grinste.
Hinter Pereîs blieben sie stehen.
Der Geräuschpegel im Speisesaal sank. Knapp hundertfünfzig Männer verfolgten das Zusammentreffen mit blanken Augen.
 
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Vor der Tür lehnte wandten sich die Männer nach links und folgten dem Gang

...
„Aber meine Ansichten dazu setzte ich Euch gern später auseinander

Das ist mir aufgefallen ;)

Insgesamt erinnert mich Pereis an Tyrion Lannister, kann das sein? ^^


Und ich frage mich wer mit "der kleine Paladin" gemeint sein soll. Pereis kann es nicht sein. Aber wahrscheinlich ist diese Figur noch nicht aufgetaucht und wird noch in das Geschehen eingreifen.
 
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@Horseback: Danke für die Anmerkungen, ich hab's korrigiert. - Tyrion, stimmt, aber den hatte ich nicht im Kopf. Doch, Pereis ist durchaus der 'kleine Paladin'. 'Lehrjahre' muss sich ja nicht unbedingt auf ihn beziehen.



III. Worte und Taten




„Heda, Bruder Pereîs oder wie immer Ihr auch heißt.“ Laurus hatte sich hinter dem Gast aufgebaut.
Er war ein großer, breitschultriger Mann mit kurzen blonden Haaren, der praktisch nie sein Rüstzeug ablegte. Sein Begleiter Elric, der ehemalige Söldner, glich ihm stark. Beide waren, wie ein Großteil der Anwesenden, bewaffnet.
Inzwischen herrschte bis auf gespanntes und schadenfrohes Gemurmel beinahe Ruhe im Speisesaal der Paladine.

Jonah Pereîs legte den Löffel weg. Er drehte nur den Kopf, ohne das Gesäß von der Bank zu bewegen, konnte von den Männern, die ihn ansprachen, also nicht viel sehen.
„Pereîs ist richtig“, sagte er. „Und mit wem habe ich die Ehre?“ Seine helle, kraftlose Stimme hing ein bisschen verloren im Saal.
Alban beobachtete die Szene aus verengten Augen, immer noch im Zwiespalt mit seiner Pflicht auf der einen und seiner Neugier auf der anderen Seite.

„Hör sich das einer an“, meldete sich Elric, Laurus‘ Kumpan, zu Wort. „Den versteht man ja kaum. Klingt wie eine Frau. Oder wie ein Kerl, dem man zu oft in die Klöten getreten hat.“
Die Bemerkung trug ihm die ersten Lacher seitens der Zuschauer ein. Aber beileibe nicht alle Männer lachten – viele warteten noch ab, wie sich die Sache entwickeln würde.

Pereîs‘ Gesicht wirkte ruhig. Höchstens sah er so aus, als seien ihm solche Sprüche nicht gänzlich neu.
Brandulf, der neben ihm saß, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und stach müßig mit seiner Gabel nach ein paar liegengebliebenen Graupen. An Albans Seite wurde unverändert Bier geschlürft: Der Diener Simon widmete den Vorgängen nicht die geringste Aufmerksamkeit.

„Ich finde, Elric hat Recht“, sagte Laurus jetzt.
„Hab‘ ich doch immer.“
„Trotzdem“ – Laurus ignorierte seinen Kumpan – „müsst Ihr seine ungehobelte Ausdrucksweise entschuldigen. Elric hat zwei Drittel seines Lebens auf dem Schlachtfeld verbracht. Er mag keine Leute wie Euch, Bruder Pereîs.“ Er betonte die Anrede übermäßig.
Irgendwo wurde erneut gelacht.
„Und ich“, fuhr Laurus fort, „mag sie auch nicht.“
Pereîs‘ Rechte lag inzwischen in der Nähe seines Schwertknaufs, wie Alban bemerkte.
„Ausgesprochen schade“, entgegnete Pereîs. Falls er all das Feixen und Starren an den anderen Tischen aus dem Augenwinkel erfasste, führte es nur dazu, dass seine Miene fortwährend glatter wurde. „Im Übrigen würde ich gern weiteressen, die Herren.“

Alban hatte seine liebe Mühe damit, zu entscheiden, ob er Pereîs‘ Verhalten klug finden sollte. Es war nicht unterwürfig genug, um gereizte Gegner zu beruhigen, und sein Tonfall eine Spur zu leutselig. Der Kommandant schielte noch einmal zu Pereîs‘ kurzer Hand hin, die dicht am Waffenknauf lag. Falls er dachte, das Schwert gegen Laurus oder Elric auch nur ziehen zu können, hatte er sich verrechnet.

„Ihr wollt weiteressen, soso“, sagte Laurus eben. „Und danach lauft Ihr rum und guckt in alle Ecken, oder wozu auch immer der Orden Euch hergeschickt hat, hm?“
„Das reicht jetzt“, schaltete sich Alban ein.
Laurus beachtete ihn nicht. „Ich weiß genau, was Ihr für einer seid“, sagte er zu Pereîs. „Ein Schwächling und ein verdammter Drückeberger. Lasst mich Euch mal vorführen, was wir hier in Madalën mit solchen Witzfiguren machen.“

Mehrere schnelle Bewegungen flossen ineinander.
Neben Pereîs ging plötzlich ein Ruck durch Brandulf, als habe er den Übergriff auf die Sekunde vorausgesehen. An Albans Seite stand übergangslos der Diener Simon auf den Beinen. Sie waren beide zu langsam.
Laurus packte Pereîs am Genick und stieß ihn mit dem Gesicht nach vorn auf die Tischplatte.
Pereîs schaffte es nicht, sich abzufangen. Es krachte.
Gelächter und Zurufe brachen los, Letztere entweder warnend oder höhnisch, es war nicht klar zu unterscheiden.

Alban wurde bewusst, dass es ihn selbst auf die Beine gehoben hatte.
„Schluss, verflucht noch eins!“, brüllte er über den Tumult hinweg. Laurus war nach seiner Attacke zurückgetreten, stand mit der Faust an der Waffe neben dem lachenden Elric. „Das macht fünf Schläge mit dem Stock, Bruder Laurus!“
Sein Gebrüll ging fast unter – die Männer im Speisesaal hatten zum Teil ihre Plätze verlassen und kamen heran, und die, die noch saßen, veranstalteten einen Höllenlärm.

Pereîs setzte sich auf. Seine Nase blutete.
Offenbar rechnete sein Angreifer damit, er werde zum Schwert greifen und für den bislang kürzesten Aufenthalt eines Ordensgesandten in Madalën sorgen – Laurus wartete, das Szepter bereits halb aus dem Futteral gezogen. Auch Brandulf dachte wohl ähnlich, denn er war aufgestanden, um notfalls zwischen die Männer zu gehen.
Doch Pereîs griff nicht nach seiner Waffe.
Mit der Linken wischte er sich Blut von der Nase. Dann erhob er sich und schwang ein Bein über die Bank.
Sein Gesicht prägte sich Alban ein. Es war für einen Moment verwandelt. Er hatte das Kinn fast auf die Brust gesenkt, den Mund mit der blutverschmierten Oberlippe halb offen. Von ihren schweren Lidern konnten sich seine Augen schlecht befreien, aber sie sahen nicht mehr im Mindesten verträumt und schwermütig drein, sondern hasserfüllt, kalt berechnend.

Sorge durchzuckte den Kommandanten. Er hatte den Zwischenfall nicht rechtzeitig abgewendet, er hatte sich angucken wollen, was passierte. Wenn unter seinem Oberbefehl ein Untergebener und ein Gast aufeinander lossprangen, bedeutete das eine Menge peinlichen Ärgers für Madalën.
Er erhielt allerdings keine Gelegenheit mehr zum Eingreifen. Eine praktisch außer Acht gelassene Partei kam ihm zuvor.

Zwischen der Attacke und der momentanen Szene – der schmächtige Pereîs und der körperlich weit überlegene Laurus vor dem Hintergrund hechelnder Männer – waren nur ein paar Sekunden vergangen.
Jetzt mischte sich ein neuer Ton in den Tumult. Für die Dauer einiger Herzschläge dachte Alban unsinnigerweise, irgendein wutbrüllendes Tier habe sich unter sie alle verirrt, doch es handelte sich um Simon.
Mit einem Laut, halb Geheul, halb Schnauben, stürzte der Riese hinter dem Tisch hervor. Er warf sich auf Laurus.
„Simon, nein!“, hörte Alban Pereîs schreien. Ganz vergeblich.

Laurus, der den ihm entgegen polternden Hünen anstarrte wie vom Donner gerührt, wurde erst bleich, dann spaltete ein Lachen sein angespanntes Gesicht. Das Lachen verzog sich jedoch sehr schnell. Gleichzeitig mit den anderen Zuschauern begriff er, dass da kein blöder Trampel auf ihn losstürmte, sondern gewissermaßen eine entfesselte Naturgewalt.
Er riss sein Szepter heraus. Simon erreichte ihn, schlug es ihm aus der Hand und stieß Elric weg. Elric wurde in die zusehenden Männer geschleudert.

Alban traute seinen Augen kaum. Er hatte Laurus in einigen Kämpfen beobachtet, einen vorzüglich ausgebildeten Paladin mit wie an den Erdboden geschmiedeten Standfüßen.
Von selbigen Füßen hob ihn jetzt Pereîs‘ Diener. Er schwang den anderen, an der Hüfte gepackten Mann herum und ließ ihn mit Kopf, Schultern und Rücken auf die Tischplatte niederkrachen.
Teller flogen davon. Becher rollten nach allen Seiten weg.
„Simon!“ Pereîs war da, immer noch mit diesen kalten, lebendigen Augen. Er hängte sich an einen freien Arm des Riesen.
Alle weiteren Anwesenden standen da und glotzten, Alban inbegriffen. Doch dann erwachte er aus seiner Erstarrung.

„Raus!“, brüllte er. „Alle! Du auch, Elric! Laurus, hoch mit deinem Hintern und Abmarsch, aber ein bisschen plötzlich! Wir sprechen uns noch.“
Der Geschundene rappelte sich auf, gekrümmt vor Schmerzen und von der Wucht des Aufpralls betäubt. Etwas weiter weg war Elric mithilfe einiger Hände auf die Beine gekommen, Verwirrung, aber auch pure Mordlust im Blick.
Die anderen Männer begannen nach dem allgemeinen, kurzen Schock wieder durcheinanderzureden. Immerhin machten ein paar Klügere den Anfang und bewegten sich in Richtung Treppe.
„Raus!“, befahl Alban denen, die noch zögerten. „Sonst bleibt Laurus nicht der Einzige, der morgen den Stock zu schmecken kriegt!“ Er wandte sich an Brandulf. „Sorg dafür, dass dieser Speisesaal innerhalb einer Minute leer ist! Und dann stehst du oben Wache.“
Brandulf nickte und verschwand wie ein Schatten in der Menge.

In Trüppchen verließen die Paladine den Saal. Alban wartete, bis nur noch er, Pereîs, Simon und der Küchenmeister übrig waren. Letzterer spähte hinter seinen Töpfen hervor, verzog sich aber in die Küche, als Alban ihn wegwinkte.
Dann wandte er sich seinen Gästen zu.
Die Verwandlung des tumben Riesen in einen tobenden Beschützer hatte nur einen Moment lang angehalten. Inzwischen saß er auf der äußeren Bank und äugte mit leerer Miene in einen Becher, wohl um zu sehen, ob ein Schluck Bier den Tumult überlebt hatte.
Pereîs stand daneben. Er schaute zur Treppe, aber sein Blick war nach innen gekehrt. Dem Blutgerinnsel, das ihm von der Nase aus Richtung Kinn lief, schenkte er keine Beachtung.

Alban schnappte sich einen vollen Bierkrug von einem Nachbartisch, kehrte zu seinem Platz zurück und ließ sich auf die Bank plumpsen.
„Setzt Euch“, forderte er Pereîs mit gedämpfter Stimme auf.
Nachdem sein Gast der Einladung gefolgt war, schenkte Alban ihm und sich selbst neues Bier ein.
„Ich muss mich für den Zwischenfall entschuldigen“, begann er. „Auch wenn man sich über die Einstellung meiner Leute einem Gesandten gegenüber keine Illusionen machen sollte – er war unnötig. Ich werde Bruder Laurus bestrafen lassen.“
Pereîs bedachte ihn mit einem langen Blick. Alban wünschte, er würde sich endlich das verdammte Blut vom Gesicht wischen. „Das solltet Ihr vielleicht vermeiden, Bruder Jaronas.“
„Was? Wieso das denn?“
Das Kalte und Harte in Pereîs‘ Augen war weg. Sie hatten wieder ihren sanften, unschuldigen Ausdruck angenommen. „Weil ihr Gehorsam wichtiger sein dürfte als dieser Zwischenfall“, sagte er und lächelte. „Ihr wisst, dass ich morgen früh weiterreite. Ihr hingegen, Kommandant, müsst Madalën befehligen.“

Widerwillig gab Alban ihm Recht, aber da hing etwas an Pereîs‘ Gegenwart, das ihn mittlerweile beunruhigte. Zwischen seiner Tatenlosigkeit und seiner Miene nach Laurus‘ Attacke hatte es einen merkwürdigen Widerspruch gegeben, und der Kommandant begriff, dass Pereîs‘ Gebaren und Auftritt eine Finte waren, eine Maske.
Das befremdete ihn, genauer gesagt, seinen Instinkt. Kein Lichtkrieger, dessen Weg er in vier Jahrzehnten gekreuzt hatte, ging so durchs Leben.

„Wie auch immer“, sagte er. „Hier, nehmt mein Tuch. Ihr habt da noch was im Gesicht.“
„Danke.“
„Nein, ich will das nicht zurück. Steckt es meinethalben ein.“
Pereîs verstaute das blutbefleckte Tuch in der Brusttasche. Dann sah er auf. „Was wisst Ihr über die in der Nähe lebenden Barbarenstämme?“, fragte er unvermittelt.
„Oh… nicht viel.“ Alban, durch den abrupten Wechsel des Gesprächsgegenstandes überrascht, trank einen Schluck Bier, um überlegen zu können. „Wie ich bereits sagte, halten diese Bastarde sich nicht an irgendeine Ordnung, die einem vernünftigen Menschen einsichtig wäre.“
„Sie sind fest in Stämmen organisiert, soweit ich weiß“, merkte Pereîs mit nicht ganz echt klingender Bescheidenheit an.
„Sicher. Aber wenn Ihr meint, man könne sich so einen Barbaren einfach aus dem Wald pflücken und ihn fragen, zu welcher Rotte er gehört, dann habt Ihr Euch geschnitten“, antwortete Alban mürrisch. „Freiwillig geben die keine Auskunft. Die sterben lieber auf der Streckbank, anstatt den Mund aufzumachen. Haben wir alles schon hinter uns.“

Hinter Pereîs‘ aufmerksamer Miene huschte kurz ein Schatten entlang. „Das erklärt, warum nicht einmal Kingsport verlässliche Angaben zu den hiesigen Stämmen hat“, sagte er dann.
„Irgendwo nördlich von hier muss es mehrere Dörfer geben“, wies Alban mit dem Kopf auf die Treppe. „Da kommen die Mistkerle nämlich her. Im Wald haben wir auf viele Meilen hinaus nichts gefunden, das an Niederlassungen erinnert.“
Pereîs lächelte wieder. „Ausgenommen Schwarzfels.“
Der Kommandant unterdrückte eine unbehagliche Regung. „Ausgenommen Schwarzfels, ja. Doch das ist keine Barbarenfestung.“
„Ich weiß“, entgegnete sein Gast. „Sie wurde verlassen aufgefunden und offenbar nicht verteidigt. Wofür haltet Ihr Schwarzfels, wenn ich fragen darf?“

Nun waren sie beim leidigsten Thema angelangt. Inzwischen hatte Alban entschieden, dass es das Klügste war, dieselbe Position zu dieser Waldfestung einzunehmen wie augenscheinlich der Orden, und zu leugnen, er habe irgendetwas Weitergehendes gehört.
„Keine Ahnung“, sagte er. „Für einen Haufen alter Steine.“
Erneut stellte Pereîs eine unerwartete Frage. „Leben Druiden in diesen Wäldern?“
„Warum?“
„Sie könnten die Festung gebaut haben.“
„Nein, nein.“ Alban schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Da seid Ihr schlecht unterrichtet worden. Möglich, dass Ihr Euch auf Magier und Amazonen und das andere Kroppzeug da unten im Süden versteht, aber… Druiden und eine Festung? Nie und nimmer. Das sind keine zivilisierten Menschen. Die bauen gar nichts, die hausen im Wald wie echte Wilde.“
„Ach so.“ Pereîs sah eine Spur verlegen aus. „Gut, also keine Druiden. Aber es leben welche in der Nähe?“

Langsam überkam Alban ein entspannteres Gefühl. Der Zwischenfall hatte ihm ein Häufchen sonderbarer Eindrücke beschert, und er wurde aus Pereîs nicht schlau – aber hier zeigte sich, dass er sich auf fremdem Boden bewegte und Alban ihm Hilfe anbieten konnte, ohne an Gesicht zu verlieren.
„Mit ziemlicher Sicherheit“, goss er sich den Becher noch einmal voll. „Sie sind von den Barbaren nicht immer leicht zu unterscheiden. Wir in Madalën halten uns da an eine Grundregel: Wenn es zwei Meter groß ist, Äxte trägt und sofort angreift, ist es ein Barbar. Wenn es sich Blätter, Federn und sonstiges Zeug an die Lumpen genäht hat und lieber verduftet, ist es ein Druide. Im Allgemeinen jedenfalls.“
„Dann sollte ich also dafür beten, dass mir eher ein Druide über den Weg läuft.“
„Das solltet Ihr.“ Plötzlich verspürte Alban einen Anflug von Besorgnis, gemischt mit Großmut. „Und Ihr wollt da wirklich allein in die Wälder reiten? Ich könnte Euch zwei, drei Männer mitgeben. Zumindest für den Weg bis nach Schwarzfels.“

Pereîs‘ Gesicht wirkte verschlossen. „Ich bezweifle, dass mir Eure Männer sehr nützlich wären, Bruder Jaronas. Außerdem habe ich strikte Anweisung von Kingsport, nur einen kleinen Erkundigungsgang zu unternehmen. Man will möglichst wenig Aufmerksamkeit erwecken, wenn Ihr versteht.“
„Verstehe ich voll und ganz“, sagte Alban.
Insgeheim dachte er allerdings, dass er Pereîs soeben zum ersten Mal bei einer offenen Lüge ertappt hatte – er wünschte klar keine Einmischung.
Dann eben nicht. Das Angebot war ohnehin eher halbherzig gewesen. Sollte er sich halt in die Wälder schlagen und zusehen, wie er zurechtkam.

Alban wusste, dass Pereîs‘ Ordensbrief, den er ihm noch nicht vorgelegt hatte, einen Befehl an den Kommandanten zu Madalën enthielt: Für den Fall, dass der Gesandte innerhalb einer bestimmten Frist nicht zurückkehrte, musste man losreiten und ihn suchen. Doch in solchen Briefen stand für gewöhnlich nichts vom erforderten Zustand des zu Suchenden.
Vielleicht erledigte sich das Problem von selbst.

Die Männer saßen noch eine Weile im leeren Speisesaal zusammen, während der Küchenmeister die Tische abräumte und der Diener Simon mit dem Kopf auf der Tischplatte zu schnarchen begann. Pereîs hatte nur noch taktische Fragen.
Alban sah keinen Grund, ihm derartige Erkenntnisse vorzuenthalten – sonderlich viel hatte Madalën über die Umgebung sowieso nicht herausgefunden -, und beschrieb ihm den bekannten Teil des Waldes, Stellen, an denen Holz geschlagen wurde, Bäche, Gegebenheiten des Terrains und die wenigen Weiler, die lebensmüde Siedler hatten bauen können.

Schließlich erhob sich Pereîs mit dem Hinweis, er sei erschöpft und wolle am nächsten Morgen zeitig aufbrechen.
„Gut.“ Alban stand ebenfalls auf. Er musterte seinen Gast. „Seid Ihr sicher, dass Ihr keine Begleitung wollt?“
„Ich bin sicher.“ Pereîs rüttelte seinen Diener an der Schulter. Der hob den Kopf und grunzte schläfrig.
„Dann aber wenigstens eine Wache vor Eurer Tür“, schlug der Kommandant vor. Als Pereîs ihn mit lächelnd hochgezogenen Brauen ansah, fügte er hinzu: „Jemand Vertrauenswürdiges natürlich.“
„Das ist nicht nötig“, entgegnete Pereîs.
„Fein. Wie Ihr meint. Dann kommt.“ Alban führte die Männer die Treppe hinauf.
Oben hielt Brandulf Wache, unverrückbar wie ein Standbild. Draußen war längst Dunkelheit angebrochen.


***


In seinem Zimmer wusch Jonah sich das Gesicht und betastete seine Nase. Sie war nicht gebrochen, der Blutfluss schon verebbt.
Danach stand er eine Weile da und lauschte in die frühe Nacht hinaus. Durch das Fenster kam leichter Wind, kaum kalt zu nennen. An Geräuschen hörte er nur noch schwache Stimmen vom Hof her, aus Richtung der Stallungen, wo Knechte vielleicht ein letztes Mal nach den Pferden und Nutztieren der Festung schauten.
Er hatte sich darauf gefreut, Rüstung und Schwert ablegen zu können, sah jetzt jedoch ein, dass er hier in Madalën besser damit beraten war, bewaffnet zu bleiben.

Draußen vor der Tür entdeckte er, als er es nachprüfte, tatsächlich keine Wache. Also hatte sich Jaronas seinem Wunsch gebeugt, entweder aus echter Höflichkeit oder weil er bei möglichen nächtlichen Vorgängen bewusst ein Auge zudrückte, wie es so hübsch hieß.
In jedem Fall mussten sie vorsichtig sein.

Jonah trat auf den Gang hinaus, die Hand am Schwert – obwohl er wusste, dass zwei Gäste einer Hundertschaft missgestimmter Paladine nicht mehr entgegenzusetzen hatten als einen feuchten Furz -, und öffnete die Tür zu Simons Zimmer.
Simon war nicht da.
Vielleicht befand er sich unten in den Ställen, um sicherzugehen, dass es den Pferden an nichts fehlte. Jonah erwog, den Weg in den Hof anzutreten. Plötzlich fühlte er sich wie gelähmt und zusätzlich zittrig vor Selbstverachtung. Er setzte sich im Zimmer seines Dieners auf die Pritsche, griff nach einer im Mondlicht sichtbaren Öllampe und zündete sie an.

Nach einiger Zeit hörte er Schritte – nicht auf dem Gang, sondern von viel weiter her, von der Treppe. Nur ein ihm bekannter Mensch konnte eine wuchtige Holzkonstruktion so zum Knarren bringen.
Wenig später trat Simon ein. Im flackernden Halblicht der Öllampe ragte er bis an die Decke hinauf, breit, untersetzt, die Hände wie zierliche Bratpfannen. Die Männer wechselten einen Blick. Dann kam Simon herüber und ließ sich auf der einzigen weiteren Sitzgelegenheit nieder, einem Stuhl, der gequält knirschte. Jonah beugte sich vor und stellte die Lampe näher an sein eigenes Gesicht, damit sein Mund leichter zu sehen war.

„Ist alles in Ordnung mit den Pferden?“, fragte er.
Sein Diener schüttelte den Kopf. Seine kleinen, wachen Augen zuckten zur Tür hin.
Man hatte ihn also beobachtet und würde vielleicht versuchen, sie zu belauschen.
Jonah hob die Hände und formte die Zeichen für ‚haben‘ und ‚Recht‘.
‚Du hast Recht.‘
Simon war unvergleichlich viel schneller als er. Mit seinen dicken Fingern bildete er so gewandte Wortabfolgen, dass Jonah im schwachen Licht Mühe hatte, sie zu lesen.
„Den Pferden geht es gut“, sagten Simons Hände. „Aber was ist mit dir? Deine Nase?“
„Nicht weiter schlimm.“

Der Hüne nickte. Trotz der beachtlichen Menge Biers, die er sich einverleibt hatte, zeigte sich da nicht der geringste Hauch von Trunkenheit auf seinen Zügen – das war eine seiner vielen beachtenswerten Begabungen. Jetzt legte er den Kopf schief.
„Nein“, beantwortete Jonah per Handzeichen die ungestellte Frage, „schlau war das nicht gerade. Weder von mir noch von dir.“ Er musste lächeln, und seine Gesichtsmuskulatur bedankte sich für die erste echte Regung seit der Ankunft. „Aber du hast dich gleich wieder eingekriegt, dich gut im Griff gehabt. Trotzdem, so etwas darf nicht noch einmal passieren. Nicht hier.“
„Was hat Jaronas“ – sieben Buchstaben, ein flinkes Fingergefecht – „dir über den Wald und die Barbaren gesagt? Gegen Ende habe ich nichts mehr mitbekommen. Ich dachte, der weggepennte Klotz würde ganz gut zu dem tobenden Einfaltspinsel passen.“
„Langsamer, ich komme kaum hinterher“, bat Jonah. „Viel hat er mir nicht verraten. Er scheint die Barbaren für lästige, aber unmethodisch vorgehende Gegner zu halten.“
„Dann ist er ein Dummkopf.“
„Das kann sein.“ Jonah biss sich auf die Unterlippe. „Ich kenne mich mit den Barbaren nicht gut genug aus, Simon.“

Diesmal war es sein Diener, der lächelte. Zusammengenommen mit dem echten Ausdruck seiner Augen, die er sonst dümmlich in die Gegend stieren ließ, verwandelte das Lächeln sein feistes Gesicht in etwas überraschend Schlaues, Freundliches.
„Darum bist du ja hier“, merkte er an. „Um das zu ändern.“
„Auf Geheiß von Kingsport.“
„Und wenn schon.“ Simon winkte ab.
Aber Jonah sah sich im Moment außerstande, die Sache ähnlich munter zu betrachten. Sie saßen hier zwar nicht in einem von feindlichen Bolzen umsurrten Kriegstross, sie mussten sich nicht hinter Barrikaden ducken, während Jonah einem Boten schreiend Verhandlungsdokumente diktierte, doch dieser Auftrag konnte dafür mit ganz anderen Gefahren aufwarten. Das zeigten sowohl Jaronas‘ Unkenntnis bezüglich der Gegner als auch seine schlecht verborgene Weigerung, irgendetwas über den Verbleib der Missionstruppe preiszugeben.

Jonah merkte erst, wie seine Gedanken gewandert waren, als Simon ihn an der Hand berührte.
„Was ist los?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Jonah. „An dieser Sache stimmt etwas nicht, aber ich kann den Finger nicht richtig darauflegen.“
„Glaubst du, dass Madalën in das Verschwinden der Missionare verwickelt ist?“ Simons Lächeln erstarb.
„Diese Möglichkeit habe ich auch schon in Betracht gezogen“, sagte Jonah. „Fragt sich nur, welchen Nutzen Madalën davon hätte.“
„Vielleicht wollen sie das letzte Bollwerk der Westmarsch bleiben“, hob Simon mit sprechenden Händen die Schultern. „Vielleicht passt diesem Jaronas ein weiterer Kommandant in seiner Nachbarschaft nicht in den Kram.“

Jonah seufzte und rief sich seine Eindrücke von Jaronas in Erinnerung. Das war, wie die letzte Stunde gezeigt hatte, entschieden mehr als ein behäbiger Soldat. Trotzdem war es schwierig, sich ihn als einen Ränkeschmied vorzustellen, der fünfzig Vertreter der eigenen Klasse auf dem Gewissen hatte.
„Das ist alles denkbar“, sagte er schließlich. „Und solange wir nicht genauer über die Angelegenheit Bescheid wissen, bleibt es ein reiner Verdacht.“
„Was willst du jetzt tun?“, fragte Simon.
„Weiterreiten. So schnell es geht.“
Sein Diener ließ die Knöchel knacken. „Wenn sie heute Nacht kommen, dann sollen sie ruhig. Ich bin vorbereitet.“

Jonah sah ihn traurig an. An Simons Kraft gab es keine Zweifel, genauso wenig am Ernst seiner Worte, und das war das Problem. Er würde sich den Angreifern in den Weg werfen, ein paar von ihnen das Genick brechen, bevor sie ihn niederhackten.
Das Ende einer seltsamen Freundschaft und zugleich das Ende einer wichtigen Mission. Aus diesen zwei Gründen war Jonah bereit, praktisch jedes Spiel mitzuspielen. Man würde irgendwo im Umkreis ein kleines und ein bedeutend größeres Grab ausheben, sie einfach verbuddeln, und damit war niemandem gedient – weder den zu gleichgültigen Stadtvätern im Süden noch den fünfzig verschwundenen Menschen.

Er stand mit pochenden Schläfen auf. „Legen wir uns schlafen. Bleib aber wachsam.“
„Immer“, entgegnete der Riese. „He, wo willst du hin?“
„In mein Zimmer.“
„Bist du lebensmüde?“ Simon erhob sich ebenfalls, schob Jonah zur Seite und trat vor die Tür. „Du bleibst hier.“ Irgendetwas in Jonahs Miene erweichte sein vorübergehend hart gewordenes Gesicht, und er fügte hinzu: „Ist besser so.“
„Ich weiß“, sagte Jonah.

Nachdem sie den Ölvorrat in der Lampe untersucht und festgestellt hatten, dass sie sie löschen mussten, damit sie nachts bei Bedarf überhaupt wieder angezündet werden konnte, legten sie sich hin – Jonah auf die Pritsche, Simon auf den Boden mit einem zusammengerollten Mantel als Kopfkissen.
Irgendwann schoben sich draußen Wolken vor den Mond, und es wurde wirklich finster.
Jonah lag auf der Seite, ein Schwert in der Hand neben sich, das andere auf den Rücken gebunden. Es war unbequem, aber er fand nicht nur deswegen lange nicht in den Schlaf.
Seine Nase war zugeschwollen, er bekam schlecht Luft.
Ein schöner Paladin, wirklich.

Hier lag er mit seinen Kurzschwertern, besseren Brotmessern, über die andere Männer lachten, mit der Blessur aus einer allzu bekannten Art von Zusammenstoß, mit seiner ganzen, im Kampf beinahe unbrauchbaren Gestalt, und musste sich hinter Simon verstecken. Er war gezwungen, sich auf einen Begleiter zu verlassen, den ein reiner Unglücksfall ans untere Ende der Befehlskette verbannt hatte.
Obendrein würde er doch einnicken, und Simon würde derjenige sein, der kein Auge zutat.
Sie waren nicht weit davon entfernt, in Madalën umgebracht zu werden.
Oder noch schlimmer: Man würde ihr Geheimnis aufdecken, bevor man sie einsperrte und später zur allgemeinen Belustigung im Hof aufknüpfte, und tief im verrotteten Geist dieser Festung würde sich genug Grausamkeit finden, damit man ihnen die Hände abschnitt. Dann konnten sie nicht einmal mehr miteinander sprechen.


***


In allertiefster Nacht lag Madalën schweigend da.
Die Paladine in ihren Quartieren schliefen, die Pferde im Stall, die Knechte schliefen selig neben dem Büchsenmeister und seinen schnarchenden Geschützgardisten, und am festesten schliefen die Hofwachen. Höchstens drei, vier Männer auf den Mauern behielten das Umland im Blick. Nachtdienst hatten meistens diejenigen, die im letzten Kampf verwundet worden waren – das garantierte nützliche Aufmerksamkeit.

Ein weiterer Mann trat aus dem Wehrturm auf den Hof. Er brauchte sich nicht darum zu sorgen, dass man ihn vielleicht sah. Er kam bekanntermaßen mit sehr wenig Schlaf aus und war in Madalën seit jeher seine eigenen Wege gegangen.
Obendrein bekleidete er den Rang eines Unterkommandanten.
Brandulf passierte eine der schlummernden Hofwachen, bog um die Ecke des wuchtigen Wehrturms und legte, als er die richtige Stelle erreicht hatte, den Kopf in den Nacken. Weit über ihm waren alle Fenster dunkel, auch die der Gästeräume.

Er schaute lange hinauf. Überkreuz auf dem Rücken trug er seine zwei vielerprobten, langstieligen Äxte. Seit Beginn der Dunkelheit schon liebkoste er den Gedanken, die Treppe im Turm hinaufzusteigen und dem Leben von Jonah Pereîs und seinem Diener ein Ende zu setzen.
Für das Auskosten einer zu selten befreiten Kampfesgier würde sich das sicher lohnen, und bis Kingsport einen neuen Gesandten schickte, konnten Wochen vergehen. Wertvolle Zeit.
Aber Brandulf hatte noch keinen derartigen Befehl erhalten.
Nachdem er sich nachdenklich über den Bart gestrichen hatte, hörte er auf, zu den Fenstern empor zu starren. Fast bedauernd wandte er sich zum Gehen.

Kein kurzes Ausbrechen aus eisernen Klammern. Kein abrupter Schnitt nach einer zähen, ewig scheinenden Wartezeit.
Allerdings konnte er etwas anderes tun – konnte und musste. Alban und die sonstigen raren Köpfe mit ein bisschen Grips in dieser Festung unterschätzten deutlich, wie gefährlich Pereîs war. Man hatte natürlich den Wald als Verbündeten, der Wald kümmerte sich um viele Probleme, aber eine sichere Sache war das nicht.
Womöglich wühlte sich dieser kleine Mann durch das Unterholz des Nordens, ohne größeren Schaden zu nehmen, entging den druidischen Spähern und barbarischen Schwertern, erreichte schließlich noch irgendwen, den er beschwatzte und der tatsächlich zuhörte.

Im Eingang des hintersten Stalles lag Brandulfs grauer Wolfshund.
Brandulf schnippte leise mit den Fingern, woraufhin sich das zottige Ungetüm erhob und herüber getrottet kam.
Gemeinsam machten sie sich zum nordwestlichen Tor der Festung auf. In die massiven Stämme, die nicht einmal Barbarenäxte zerhacken konnten und die auch nur mühsam Feuer fingen, hatten Madalëns Erbauer eine wesentlich kleinere Tür eingefügt.
Übrigens unter anderem auf Brandulfs Vorschlag hin. Für Boten, während einer verzweifelten Belagerungssituation, oder für Leute, die man von draußen – in ähnlicher Situation – hineinlassen wollte, ohne dafür das gesamte Tor hochwuchten zu müssen.
Solange nicht belagert wurde, entließ Brandulf durch diese Tür manchmal den Hund in die Nacht.

Jetzt wartete das Tier geduldig neben ihm, während er einen zuvor verfassten Brief in ein Stück Leder einrollte. Es handelte sich bloß um ein paar Sätze, die er für den Fall geschrieben hatte, dass er sich die Sache mit Pereîs‘ gespaltenem Schädel doch anders überlegte – was ja nun eingetreten war.
Brandulf befestigte die Lederrolle mit einem dünnen Faden am Halsband des Hundes. Dann kniff er ihm sacht in eins der Ohren und öffnete die Riegel. Der Hund brauchte keine langen Anweisungen. Er kannte den Weg zur vereinbarten Stelle im Wald und wusste genau, was zu tun war. Wie ein grauer Pfeil schoss er davon.


***


Morgens erwachte Jonah davon, dass ihm eine Fliege über die Nase krabbelte.
Jählings setzte er sich auf, tastete nach den Waffen. Aber die Tür zum Zimmer war nicht aufgebrochen, er und Simon lebten noch. Die Fliege summte in graues Zwielicht hinaus – es dämmerte eben erst.

Jonah schwang die Beine vorsichtig, um seinen Begleiter nicht zu wecken, über den Pritschenrand. Das starre Schlafen auf einer Seite – wegen der Waffen und der inneren Anspannung – hatte dazu geführt, dass er sich verspannt fühlte. Und außerdem deutlich älter als sechsunddreißig Jahre.
Simon lag wie aufgebahrt auf dem Rücken und atmete gleichmäßig. Er wachte erst auf, als Jonah die Füße auf den Boden setzte. Sie vergewisserten sich mittels simpler Blicke von der Unversehrtheit des jeweils Anderen, dann wuschen sie sich in Jonahs Zuber Gesicht und Hände.
Draußen klangen allmählich Geräusche auf. Hühner gackerten, eine Stalltür wurde geöffnet, Menschen überquerten den Hof.

Auf dem Gang war niemand. Während Simon ins benachbarte Zimmer ging, um die wenigen Habseligkeiten seines Herrn zu holen, drehte Jonah seine Schreibfeder in der Hand und starrte sie an.
Noch hatte er Kingsport nichts mitzuteilen. Jaronas‘ Kommandantur interessierte die fernen Ordensoberhäupter nur am Rande und seine spärlichen Aussagen zum hiesigen ‚Barbarenproblem‘ waren es kaum wert, zu Pergament gebracht zu werden. Außerdem würde Madalën vielleicht versuchen, jeden von hier aus gesendeten Brief zu lesen – es sei denn, Jonah versiegelte ihn, aber selbst dann blieb Jaronas immer noch, das Siegel aufzubrechen und das Schriftstück überhaupt nicht auf den Weg zu bringen.
Der Einzige, der einen Brief mit bedenklichem Inhalt zum nächsten paladinischen Posten bringen konnte, war Simon, und sie hatten geschworen, sich nicht zu trennen. Nicht ohne absolute Notwendigkeit.

Er verstaute die Feder wieder in seinem Reisesack, dann übergab er Simon das Gepäck und trat auf den Gang hinaus.
Hier kam ihnen Kommandant Jaronas entgegen.
„Guten Morgen, Bruder Pereîs“, begrüßte er Jonah schwungvoll. „Ihr steht mit den Hühnern auf, so wie ich. Habt Ihr gut geschlafen?“
„Großartig“, log Jonah. Über Nacht war er zu dem Schluss gekommen, dass er Jaronas keinen Zoll breit über den Weg trauen durfte, und das leutselige Lächeln seines Gegenübers erinnerte ihn unangenehm an die munter ausweichende Art, mit der der Kommandant auf das Thema ‚Schwarzfels‘ reagiert hatte.
Er würde in Madalën niemanden mehr um etwas bitten. Ehrliche Antworten waren nur oben in den Wäldern zu finden.

„Begleitet mich nach unten“, lud Jaronas ihn ein. „Ich weiß, dass Ihr frühestmöglich aufbrechen wollt, doch Ihr solltet wenigstens frühstücken.“
„Aber wirklich nur eine Kleinigkeit“, sagte Jonah. Diesmal musste er nicht von künstlichen Tonfällen oder Mienen Gebrauch machen: Sein Unbehagen angesichts der Aussicht, den Schauplatz des gestrigen Zwischenfalls noch einmal zu betreten, war echt.
„Keine Sorge.“ Jaronas, der seinen Einwand richtig interpretierte, schaute gönnerhaft auf ihn herab. „Die meisten Männer schlafen noch. Und dann müssen sie sowieso erst warten, bis der Küchenmeister genug Grütze gekocht hat.“

Als sie auf dem Weg nach unten am Ausgang zum Hof vorbeikamen, zeigte sich, dass tatsächlich erst ein Häuflein Leute auf den Beinen war.
Im Speisesaal trafen sie lediglich den speckigen, mürrischen Küchenmeister und seine Gehilfen sowie den angereisten Tross aus dem Süden an, der seine Haubitze in der freien Landschaft erprobte. Jonah musterte die Geschützgardisten. Doch dann ließ er den Gedanken, ihnen heimlich ein Schreiben zuzustecken, wieder fallen – er besaß keinerlei Kenntnis ihrer Vertrauenswürdigkeit.
Außerdem erhoben sie sich bald und verschwanden in Richtung Hof, um, wie Jaronas berichtete, auf den Feldern rings um die Festung weitere Manöver durchzuführen.

„Bin froh, wenn die weg sind“, brummte der Kommandant. „Die rauben mir mit ihrem Monstrum auf Rädern noch den letzten Nerv. Natürlich weiß jeder Barbar dieser Gegend, wo Madalën steht, aber vielleicht kommen sie bald mal vorbei und greifen an, nur damit wieder Ruhe herrscht.“

Das Frühstück nahm nicht viel Zeit in Anspruch.
Jonah fragte seinen Gastgeber nach ein paar Kleinigkeiten wie zum Beispiel dem Wetter und der Möglichkeit, sich im Wald Nahrung zu beschaffen. Jaronas antwortete freundlich, konnte aber kaum verhehlen, dass er hauptsächlich wegen der nahenden Abreise seiner Gäste so gute Laune hatte. Er hatte einen Sack mit Lebensmitteln füllen lassen, der bereits im Stall bei den Pferden wartete.
Nebenan gab Simon inzwischen eine neue Kostprobe seiner Schauspielkunst zum Besten, schaufelte sich die ungewürzte Grütze hinein, bekleckerte den Tisch und kratzte sich ab und an mit einer Hand die braunen Haarborsten. Für einen Außenstehenden war in der Tat kaum zu sehen, dass er seine Umgebung und namentlich Jaronas‘ Mund, wenn dieser sprach, scharf beobachtete.

Schließlich befahl Jaronas einem Knecht, nach oben zu eilen und die Pferde der Gäste schon einmal zu satteln und aufzuzäumen.
Die Männer folgten langsamer.
Im Hof herrschte fast unverändertes Zwielicht.
„Nebel.“ Jaronas schnupperte. „Das kann hier auch so früh im Herbst vorkommen. Na, Euch wird‘s nicht weiter stören, sobald Ihr im Wald seid, Bruder Pereîs. Ich hoffe bloß, dass dieser schaffensfreudige Büchsenkerl uns nicht aus Versehen ein Loch in die Mauern schießt.“

Der erwähnte Kerl machte just in diesem Moment auf sich aufmerksam.
Irgendwo – zwar nicht in der Nähe der Mauern, aber auch nicht weit genug weg für die eigene Gemütsruhe – gab es einen gewaltigen Knall. Alles Lebendige im Hof schrak zusammen. Im Stall rissen Tiere an ihren Ketten. Hühner rannten aufgescheucht umher.
Erst Atemzüge später bebte der Boden.
Da das Laden einer Haubitze viel Zeit in Anspruch nahm, musste man das Geschütz bereits während der Nachstunden vorbereitet haben.

„Wenn man vom Teufel spricht“, meinte Jaronas. „Immerhin hat er uns nicht getroffen.“
Jonah lächelte abwesend. Ihm war trotz der Ablenkung durch Lärm und Erschütterung sehr wohl Jaronas‘ Blick zu Simon hin aufgefallen – Sekundenbruchteile nach dem Knall. Simon war vor dem Einschlag der Einzige ohne erschrockenes Zusammenzucken gewesen.
Also hatte der Kommandant Zweifel gehegt. Jetzt wusste er, dass der Diener wirklich nichts hörte.
Ein Knecht führte die Pferde heran, Jonahs braune Stute und Simons plumpen, graumelierten Wallach.

Jaronas wartete, bis sie aufgestiegen waren, dann begleitete er sie zum nordwestlichen Tor.
„Ich werde ein Schreiben an den nächsten Posten schicken“, sagte er, „das von Eurer Ankunft und Weiterreise berichtet.“
„Danke.“
„Viel Erfolg bei Euren Erkundigungen, Bruder Pereîs.“ Jaronas hob die Stimme, da das Tor bereits von einigen Männern geräuschvoll geöffnet wurde. „Sendet mir eine Nachricht, wenn Ihr Hilfe braucht.“
„Das werde ich.“ Jonah nickte ihm zu. „Geht mit dem Licht, Kommandant.“
„Ihr desgleichen.“
Das Tor stand offen. Sie ritten hindurch und tauchten bereits nach wenigen Metern in den Nebel ein.

Sofort wurden die Geräusche der Festung leiser, aber Jonah spürte, wie sich sein Nackenbereich verkrampfte.
In der Waffenkammer hatte er Armbrüste bemerkt. Sie waren noch in Schussreichweite.
Erst ein paar Minuten später wagte er es, sich im Sattel umzudrehen. Von Madalën erkannte man nur vage Umrisse der dicken, hohen Mauern. Wehrturm und Fahnen hatte der Nebel geschluckt.
Die Pferde gingen durch Gras, das ihnen unter den Bäuchen entlang strich. Einmal kam von irgendwo hinten der Widerhall von Stimmen: Der Büchsenmeister und seine Gehilfen werkelten am Kriegsgerät herum. Ansonsten hatte sich die Welt in ein Nebelland ohne Himmel verwandelt.
Jonah atmete auf.

Aus Jaronas‘ Berichten und seinen eigenen Beobachtungen während der Ankunft wusste er, dass die Grasebene nach einigen hundert Metern sanft ansteigen würde, woraufhin man bald auf erste Bäume traf.
Ringsum herrschte tiefes, gespenstisches Schweigen. Das Klirren des Zaumzeugs, atmende Pferde, knirschendes Leder, einmal ein Vogelruf – all diese Geräusche standen überdeutlich im Nichts. Dann wurde der Nebel unversehens dünner. Bäume erschienen.
Und das waren nicht die gewöhnlichen, meist im Zweitbewuchs entstandenen Bäume der bewirtschafteten Westmarsch, sondern ihre Vorfahren. Gewaltige Stämme ragten auf. Äste spannten sich über die gelben Wiesen wie die Stützstangen riesiger Baldachine, die den Nebel zurückhielten.
Sie hatten den Wald erreicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Da schaut man seit Monaten mal wieder im FAS vorbei und findet ne Story von dir :) *freu* Schön, dass du hier mal wieder etwas schreibst. Das muss Jahre her sein, dass ich zuletzt etwas von dir gelesen habe.

Ich werde mir die Geschichte die Tage mal durchlesen - wenn ich etwas mehr Zeit habe - und dann ein Feedback geben.
 
Hallo G4nd4lf, gibt es Dich auch noch :D
Ja, das ist wirklich lange her. Wenn Du dann irgendwann Zeit für ein Feedback findest, sehr gern. Bis dahin liebe Grüße, Reeba
 
Hallo Reeba,

ich finde deinen Schreibstil nach wie vor gut. Ich würde sagen du gehörst in diesem Forum mit zu den besten Autoren/Autorinnen. Auch in dieser Geschichte kann man lesen das dein Handwerk vorangeschrittener als das der meisten ist. Was dich noch zusätzlich auszeichnet, ist das Verständnis und das Einfließen lassen von tiefergehenden zwischenmenschlichen Beziehungen, was man besonders an dem Gespräch von Pereis und Jaronas erkennt, in welchem Pereis subtil versucht von Jaronas Informationen zu bekommen die dieser gar nicht preisgeben möchte. Damit so etwas auf Papier gebracht werden kann, muss man als schreibende Person das natürlich selber beherrschen, bzw. zumindest Ahnung davon haben. Das ist schon recht hochklassig und zeugt von einem gewissen Können.

Was die Geschichte selber angeht, ist sie noch nicht richtig in Fahrt gekommen finde ich (aber es waren ja auch erst 3 Kapitel). Und viel mehr über die Mission von Pereis hat man auch noch nicht erfahren. Aus diesen Gründen frage ich: In welchen Abständen möchtest du immer posten und wann kommt der nächste Teil? :)
 
@Horseback: Vielen Dank für das ausführliche Feedback :>
Ja, stimmt, die Geschichte hat noch nicht richtig Fahrt aufgenommen (wobei ich mir da gegenüber früher Mühe gebe, echt). Vielleicht schaffen das ja die nächsten Kapitel. Falls nicht, ruhig Bescheid sagen.
Gruß, Reeba :hy:

P.S.: Ach so, feste Termine für neue Kapitel habe ich eigentlich nicht.
 
So, dann geht's mal weiter.



IV. Der Wald




Das gelbe Gras begann fast sofort, zurückzubleiben. Es wurde durch federnden Boden ersetzt, den eine Schicht aus altem Laub bedeckte.
Da der Nebel an der Außengrenze des Waldes hing, als sei es ein zu schwieriges Geschäft, sich in den Bewuchs hineinzuarbeiten, war die Sicht überwiegend klar.
Jonah drückte seiner Stute die Fersen in die Seite. Er war ohne eine genaue Vorstellung davon, wie er mit den Begebenheiten in Madalën umgehen sollte, weggeritten. Jetzt wollte er vorerst so viel Raum zwischen sich und die Festung bringen wie möglich.

„Vorwärts, Mädchen“, trieb er das Pferd an.
Die Stute stellte bei der Nennung ihres Namens die Ohren auf. Jonah hatte sie ‚Mädchen‘ getauft, weil er einem mittelgroßen, unauffälligen Pferd nicht einen der altehrwürdigen, klangvollen Namen hatte anhängen wollen, mit dem Paladine ihre Reittiere sonst gern bedachten.
Er fand, dass sie ganz gut zueinander passten.

Mädchen war vom beginnenden Wald offenbar recht angetan. Sie schritt munter aus und suchte sich fast von selbst einen Pfad in nördliche Richtung, sodass Jonah sich in Ruhe umsehen konnte.
Die Bäume erreichten eine beachtliche Höhe. Hier, nahe der Waldgrenze, standen sie noch weit auseinander, aber das Blätterdach war trotzdem geschlossen. Unterholz fehlte bisher.
Wahrscheinlich hatte Madalën zuerst alle umherliegenden Äste und Stämme aus dem Wald geholt, bevor man sich überhaupt daran wagte, einen dieser Baumriesen zu fällen.

Etwa eine Viertelstunde nach Betreten des Waldes jedoch kamen die Reiter an einer frisch geschlagenen Lichtung vorbei.
Sie war das letzte Anzeichen für einen fremden Eingriff. Dahinter stieg der Boden an.
Jonah wandte sich im Sattel nach der Lichtung um und bemerkte, dass auch Simon zurückschaute. Von jetzt an waren sie auf sich selbst gestellt.

Die Westmarsch hatte die Gegend um Madalën längst annektiert. Jonah schüttelte innerlich den Kopf.
Ihm war jene besondere Form sogenannter ‚Missionspolitik‘ nie sympathisch gewesen, aber erst jetzt, genau auf diesem Fleck Erde, ging ihm das Groteske daran auf.
Sie ritten durch einen fremden Wald. Kingsport hatte ihn nie gesehen, und auch der Wald hatte den Lichtorden höchstens einige Male in Form vergänglicher Gestalten zu Gesicht bekommen. Natürlich konnten die Paladine Lichtungen schlagen, Wege anlegen, den Wald sogar niederbrennen, aber er würde trotzdem ein Wald bleiben, der sich einer dahergelaufenen Zivilisation nicht unterordnete.
Auch Jonah war hier nicht heimisch. Er war in der Marsch aufgewachsen, in Kingsport.
Während er jetzt staunend auf die Unberührtheit und Majestät dieser Bäume schaute, hatte er ziemlich deutlich das Gefühl, dass sie zu ihm sprachen. Gewissermaßen.

Das Benennen eines Gebiets, das Schlagen einer Lichtung und die Erbauung einer Festung aus ihren Stämmen, das Zusammenfließen waffenklappernder Zwerge, die mit Dokumenten wedelten – all das sagte den Bäumen nicht viel. Sie konnten weder Rache üben noch anderweitig Partei ergreifen, ihnen blieb nur, die Eindringlinge mit ewiger Fremdheit zu strafen.
Die Westmarsch würde hier keine zweite Heimat finden.

Die Männer ritten etwa drei Stunden lang stetig nordwärts. Egal wie oft man den Kopf in den Nacken legte, der Himmel blieb außer Sicht. Und wo vorher der Nebel alle von Menschen verursachten Geräusche gleichermaßen verschärft wie geschluckt hatte, tat der Wald jetzt dasselbe.
„Grob eine halbe Tagesreise von Madalën entfernt“, hatte Jaronas gesagt, „werdet Ihr auf einen Bach stoßen. Der verläuft einigermaßen genau von Westen nach Osten. Den überquert ihr. Danach gibt es da dann eine Bodenwelle und Felsen, auf die Ihr hinaufklettern könnt, wenn Ihr gerade nichts Besseres zu tun habt. Von den Felsen aus ist die Grasebene noch zu sehen. Bis zu der Stelle sind wir relativ regelmäßig vorgedrungen. Ab da geht’s mit Wald weiter, Wald, bis er Euch zum Hals heraushängt. In dem Gebiet kenne ich mich nicht mehr aus, ist einfach zu riskant.“

Gegen Mittag hörte Jonah den erwähnten Bach plätschern. Kurz danach tauchte er auf.
Am anderen Ufer krallten sich die Wurzeln der Bäume in einen langen Hang, den ein Haufen moosgrüner, enormer Felsen krönte.
Am Bach stiegen die Männer ab. Während die Pferde sich satttranken, aßen sie Trockenfleisch und Gerstenfladen aus Jaronas‘ Vorräten.
Simon hatte sich am Bachufer niedergehockt, aber Jonah aß im Stehen. Er sah mal in diese, mal in jene Richtung und versuchte, seinen Orientierungssinn zu wecken.

Ungefähr denselben Weg musste auch die Missionstruppe genommen haben.
Jonah wusste nicht viel über sie. Es waren Paladine, Minderbrüder und Knechte aus Kingsport gewesen. Unwahrscheinlich, dass sie sich sonderlich gut im Wald zurechtgefunden hatte. In Kingsport gab es keine verlässlichen Berichte über den Norden. Die Missionare waren trotzdem hierher aufgebrochen.
„Tragt ein Licht, das Licht unseres Ordens und unserer Städte, hin zu denen, die noch im Finstern leben“, wiederholte Jonah die bekannte Weisung der Missionarsschriften, „auf dass sie die Gelegenheit erhalten, ihren Irrwegen abzuschwören und sich uns anzuschließen.“ Er holte Luft. „…ihren Irrwegen abzuschwören, du lieber Himmel.“

Er stellte sich die Truppe vor, wie sie mühsam Pfade durch den Wald gesucht hatte, Gebete auf den Lippen. Die heimlich ratlosen, äußerlich in Zuversicht erstarrten Mienen. Die umherirrenden Blicke. Und dann die Wagen der Handwerker, praktisch unbrauchbar im Unterholz, gebrochene Deichseln, schwankende, schwitzende Männer und Zugtiere.
Die Missionare waren hier oben vermutlich die einzig Verirrten gewesen, und dass sie jemanden angetroffen hatten, der Lust verspürte, sich ihnen anzuschließen, bezweifelte er ernstlich.

Jonah drehte sich zu Simon um und deutete auf die Felsen. Die Rechte am Schwert, bildete er mit der linken Hand die Zeichen für ‚ich‘, ‚klettern‘ und ‚oben‘.
„Ich klettere auf diese Felsen da rauf.“
„Willst du dir den Hals brechen?“ Sein Diener grinste frech. „Zuhause bist du ja nicht mal vom Übungsholzstoß abgesprungen, ohne dir die Knöchel zu verstauchen.“
Jonah antwortete mit einem Schmunzeln. Simon war der einzige Mensch, der ihn mit seiner körperlichen Unzulänglichkeit aufziehen konnte, ohne dass es wehtat. Außerdem war er der einzige Mensch, der von Jonahs ‚ausgleichenden‘ Fähigkeiten wusste.
„Na gut.“ Der Riese winkte ab. „Geh ruhig. Wenn du nicht mehr runter kannst, stell dich an einen sichtbaren Fleck und fuchtel mit den Armen, ich komme dich dann holen.“
„Großmaul.“ Jonah schnitt ihm eine Grimasse.

Nachdem er durch den Bach gewatet war, erklomm er den Hang und stand bald am Fuß der Felsen. Ihre Höhe schätzte er auf mindestens sieben, acht Meter.
An der östlichen Seite des äußersten Felsens entdeckte er, dass die Blöcke beinahe treppenartig aufeinanderlagen. Auf die ersten zwei kam er noch leidlich hinauf. Danach ging die Kletterei los. Jonah klammerte die Hände in Steinspalten und zog sich Stück für Stück nach oben. Manchmal drohte er, abzurutschen, eine Sache, die er ab der Hälfte des Aufwärtsweges lieber vermeiden wollte. Sein Lederhemd schabte über den Stein. Das am Gürtel hängende Schwert schlug ihm gegen die Beine, während der Brustriemen der zweiten Waffe ihn ähnlich stark behinderte.

Schließlich kam er auf dem vorletzten Felsblock aus, hievte die Knie über den Vorsprung – wobei er um ein Haar den Halt verlor – und richtete sich vorsichtig auf.
In seiner Erinnerung standen Männer unten und lachten, erweitert um den das Training überwachenden Paladin, der sich, seine Würde vergessend, am Kopf kratzte und murrte, er habe selten einen so hoffnungslosen Fall gesehen.

Zum Glück guckte diesmal niemand zu. Außer Simon.
Jonah hob eine Hand, dann wischte er sich den dünnen Schweißfilm von der Stirn und schaute sich um.
Da die Felsen am Kopf eines Steilhangs standen, der sich ein ordentliches Stück über dem darunterliegenden Gelände erhob, konnte man von hier aus über die Kronen der Bäume hinwegblicken. Jaronas hatte Recht: In der Ferne, jenseits einer gewaltigen Decke aus Laub, zeichnete sich schwach ein hellerer Streifen ab, die Grasebene bei Madalën. Von der Festung sah Jonah nichts. Der Himmel hing tief, fahl weiß, der Nebel hatte sich immer noch nicht verzogen.
In der anderen Richtung, im Norden, erkannte man nur weitere endlose Baumteppiche.
Und, wenn man die Augen zusammenkniff, eine Ahnung von Hügeln oder Bergen.

Jonah starrte eine Weile dorthin. Er wäre gern länger hier auf den Felsen geblieben, aber es half ja nichts. „Also los“, sagte er zu sich selbst.
Bedauernd wandte er sich ab und wagte sich an die umgekehrte Kletterpartie.
Die Männer ritten bald weiter. Nachdem Jonah dem Riesen seine Beobachtungen mitgeteilt hatte, war auch Simon der Meinung, dass sie vor der Nacht noch einige Meilen hinter sich bringen sollten.
Streckenweise kamen sie gut vorwärts. Buchenwälder hielten Unterholz weitestgehend von ihnen fort. Nach dem Hang war der Boden wieder eben, nur selten ritten sie spürbar bergan.
Gegen Nachmittag allerdings veränderte sich der Wald.

Felsige Passagen zwangen sie dazu, abzusteigen und die Pferde am Zügel zu führen. Stämme lagen im Weg, uralte Hinterlassenschaften, auf denen bereits Sprösslinge neuer Bäume wuchsen. Mehrere Male trotteten sie durch Farn, der ihnen bis an die Brust reichte.
Alles wirkte wie ineinander verwoben, unangetastet, so als seien sie die allerersten Menschen, die hier auftraten.
Jonah wusste, dass der Eindruck täuschte. Täuschen musste.

Irgendwo in diesen Wäldern oder dahinter lebten Barbaren. Madalën war schon während seiner Erbauung wieder und wieder angegriffen worden. Die Angreifer hatten Unterstützung erhalten – zwar nicht in Form ganzer Heere, aber doch zu viel Unterstützung für einen reinen Zufall.
Mit großer Sicherheit existierten Siedlungen im Umkreis weniger Tagesreisen, Niederlassungen verschiedener Clans, die miteinander kommunizierten, wie Jonah vermutete.
Die Krieger in Madalën interessierte die Herkunft der Gegner ausschließlich, wenn es darum ging, Siedlungen niederzumachen, um Nachschub zu unterbinden. Jaronas‘ ältere Berichte sprachen von ‚verschiedenen Barbarenstämmen‘, aber man hatte sich nie die Mühe gemacht, herauszufinden, welche Stämme das waren, und wie viele überhaupt.

Er, Jonah, war noch nie einem echten Barbaren begegnet.
Eben darum hatte er sich vor seiner Abreise durch sämtliche Schriften gewühlt, die das Thema betrafen. Genaue Vorbereitung war Bestandteil seiner meist erfolgreich verlaufenden Aufträge.
Barbaren lebten immer in einer Stammesstruktur, es sei denn, ein Konflikt hatte den Clan zersprengt. Dann, und nur dann, wanderten sie gezwungenermaßen einzeln oder in überlebenden Gruppen umher. Ein Clan bestand in der Regel aus ungefähr vierzig bis achtzig Menschen. Größere Clans waren selten – erstens aufgrund der hohen Kindersterblichkeit und der harten Lebensumstände, zweitens, weil sich ein Clanführer um die Belange seiner Stammesmitglieder persönlich zu kümmern hatte. Das wurde bei zu vielen Mitgliedern schwierig.

Unterhäuptlinge gab es bei den Barbaren nicht, höchstens ausgewählte Krieger, die dem Clanführer nahestanden. Ein Häuptling konnte jederzeit herausgefordert werden, allerdings nur mit gutem Grund. Wenn er den Zweikampf gewann, stand es ihm frei, den Herausforderer zu verbannen – vorausgesetzt, der lebte noch – oder ihm freiwillig die Gründung eines neuen Clans zuzugestehen.
So kam es, dass Clans manchmal relativ dicht nebeneinander lebten und nicht selten auch eng miteinander verwandt waren. Da konnte ein Sohn, der zuvor seinen Vater vergeblich herausgefordert hatte, seine Siedlung durchaus in benachbarten Gebieten bauen.

Frauen spielten bei den Barbaren eine untergeordnete Rolle. Sie waren niemals in führenden Rollen anzutreffen.
Insgesamt war das Wissen über diese Klasse von Menschen sehr karg, verständlich vielleicht, wenn man seine Beobachtungen nur machen konnte, während man vor Äxte schwingenden Hünen stand. Kingsport hatte die Barbaren schon vor langer Zeit als halbe Wilde abgestempelt. Einzig die körperliche Stärke der Nordländer wurde mit widerwilliger Hochachtung vermerkt.
Ansonsten übersah Kingsport den gesamten privaten Bereich des Barbarenlebens – die Familien, die offensichtliche Heimatverbundenheit, die Treue, die Prägung durch ein strenges Land, in dem viele Kinder starben und jeder Mitmensch einen besonderen Wert hatte.
Den Lichtorden kümmerte all das nicht. Und das war der große, bedeutende Fehler.

***

Ungefähr zur selben Zeit, als zwei Paladine tiefer im Wald Rast an einem Bach machten, beugte sich weiter südlich ein anderer Mann zur Erde und untersuchte den Boden.
Der liegende Stamm der mächtigen, toten Buche war seit Monaten der Ort für die geheime Nachrichtenübergabe. Hierhin schickten die Clans Männer, die ohnehin in der Nähe waren, um den Feind zu beobachten.
Sie fanden nicht immer etwas. Manchmal vergingen Wochen ohne ein Lebenszeichen.

Aber insgesamt riss der Nachrichtenfluss kaum ab, obwohl er riskant und deshalb nur einem einzigen Mann anvertraut war. Durch ihn erfuhren die Clans, wann der Feind neue Waffen bezog, welche Manöver er plante, wen er als Gast erwartete, und vielerlei nützliche Dinge mehr.
Anfangs hatten gerade die älteren Krieger gemurrt.
„Den Gegner aushorchen“, hatten sie gesagt. „Das ist vielleicht üblich bei den Städtern, aber bei uns? Ein mutiger Mann verlässt sich auf seine Kraft. Sollen wir uns selbst erniedrigen, indem wir die Eigenarten derer annehmen, die wir bekämpfen?“

Dann war es zu den ersten Angriffen auf den Feind gekommen. Man rannte vergebens gegen seine Mauern an, musste sich unter tödlichen Armbrustbolzen hinweg ducken, sich mit knirschenden Zähnen zurückziehen, die Verluste zählen – immer und immer wieder.
Nach ein paar Monaten war das Murren der älteren Krieger verstummt.
Ein alter Krieger unter den mächtigsten Clanführern, der moderner dachte, hatte bereits bei Beginn der Bautätigkeiten des Feindes einen Mann in deren Mitte platziert. Das war eine bisher einzigartige Vorgehensweise für einen Barbaren.
Diesen Mann nannten sie einfach ‚das Ohr‘.

Der Barbar, der diesmal die mögliche Nachricht aufsammeln sollte, beendete sein Absuchen des Bodens. Er hatte zuvor die Festung in der Ebene beobachtet, für viele Stunden, und jetzt zog es ihn zur Halle seines Häuptlings zurück.
Er wollte sich schon zum Gehen wenden, als ihm einfiel, dass er noch nicht innerhalb des toten Baums nachgesehen hatte. Der Stamm war hohl.
Gebückt spähte der Barbar hinein. Weiter drinnen, sichtbar wegen eines Lichtflecks, der durch ein Astloch fiel, lag eine kleine Lederrolle.

Der Barbar musste sich ziemlich anstrengen, um an sie heranzukommen. Wie fast alle Vertreter seiner Klasse war er groß und breitschultrig und wollte die Äxte, die er auf dem Rücken mit sich führte, nicht ablegen. Schließlich, als er bereits ganz im hohlen Stamm steckte, gelang es ihm, die Lederrolle zu fassen.
Er arbeitete sich rückwärts aus dem Versteck heraus und hielt sie in der Hand. Sie war mit einem dünnen Faden zugebunden.
Das ‚Ohr‘ hatte der Barbar nie kennengelernt. Der Mann, der sich hinter der vielsagenden Bezeichnung verbarg, kam nur selten aus der Festung heraus, weil er keinen Verdacht erwecken durfte. Es hieß, er sei ein Bastard – ein Mischling mit vermengt paladinischem und barbarischem Blut – und bediene sich merkwürdiger Boten.

Immer noch starrte der Barbar auf die Lederrolle.
Das waren fürwahr seltsame Zeiten. Die Clans einer ganzen Region bissen sich an einer einzigen Niederlassung des Gegners die Zähne aus, im Norden saß ein Querdenker auf dem Stuhl des größten Stammesführers, und Hunderte Krieger waren genötigt, sich nach den Mitteilungen eines einzelnen Mannes zu richten.
Zu allem Überfluss hatte man viele von ihnen dazu angehalten, sich mit den Fähigkeiten des Feindes vertraut zu machen – genauer gesagt, Lesen und Schreiben zu lernen.
Der Barbar, der die Lederrolle entdeckt hatte, war einer von denen, die es bereits konnten.
In seiner Heimat, unter seinem Volk, war das nicht üblich. Dinge, die nachfolgenden Generationen anvertraut werden mussten, wurden mündlich weitergegeben.

Der Krieger öffnete die Lederrolle und entnahm ihr eine zweite Rolle, diesmal aus Pergament.
Die Nachricht war für seinen Häuptling bestimmt. Schon nachdem er die ersten paar Zeilen entziffert hatte, begann der Barbar loszugehen. Er las im Laufen weiter, fiel in behäbigen, aber nimmermüden Trab.
Davon, dass die Paladine Besuch erwartet hatten, war man durch das ‚Ohr‘ längst unterrichtet gewesen. Aber es hatte keine Sicherheit über den Zweck dieses Besuches bestanden. Bis jetzt.
Der Brief endete mit den gewohnten Grußworten unter Barbaren und außerdem mit der Frage, was nun unternommen werden sollte.

Der Barbar legte an Lauftempo zu. Eile war geboten.
Ungefähr zur selben Zeit, als Jonah Pereîs tiefer im Wald wieder von den Felsen herunterkletterte, erreichte der Barbar einen altvertrauten Pfad etwas weiter südwestlich. Obwohl er nicht beritten war, überholte der Läufer die Gesandten gegen Nachmittag. Denn anders als sie war er in den Wäldern zuhause.

***

Der Abend brach früh herein.
Über den Kronen der Bäume war die Sonne vielleicht noch zu sehen, aber unter dem Blätterdach tauchte die Welt in graugrüne Dämmerung.
Jonah und Simon waren seit dem Nachmittag nicht mehr ungehindert geritten. Der Wald entfaltete sich zu einem Labyrinth aus kreuz und quer liegenden Stämmen, moosigen Felsen und dicht verknotetem Unterholz.

Trotzdem wurden Jonah die Augen auf unwiderstehliche Art für seine Schönheit geöffnet. Anstatt sich über das schwer gangbare Gelände zu ärgern, ertappte er sich dabei, dass er wie im Traum durch Säulenhallen riesiger Buchen ritt, durch Mooslandschaften, in denen Walderdbeeren und Pilze wuchsen, durch aus Quellen hervor rieselnde, winzige Bäche.
Er vergaß dauernd, nach eventuellen Beobachtern und Feinden Ausschau zu halten. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob der Wald sie mit seinen Geheimnissen zurücktreiben oder locken wollte.

Als es zu dunkel wurde, um sich noch zurechtzufinden, saßen die Männer ab, sammelten umherliegendes Holz und entzündeten ein Lagerfeuer. Simon versorgte die Pferde. Ihm war diese Tätigkeit seit jeher überantwortet, aber Jonah bemerkte, dass er die Tiere zum ersten Mal seit Reisebeginn nur absattelte, um sie abzureiben.
Natürlich hatte er Recht. Sie mussten vielleicht jederzeit aufbrechen können. Man durfte sich von der trügerischen Verlassenheit des Waldes nicht irreführen lassen.
Danach hockten sie am Lagerfeuer und aßen sparsam von ihren Vorräten.

Jonah hatte die Waffen nicht abgeschnallt. Er lauschte in die zunehmende Finsternis hinaus, in der das Feuer eine warme, aber sehr begrenzte Kugel aus Helligkeit bildete.
Manchmal raschelte es im Unterholz. Weit über ihnen knarrten gelegentlich Äste. Ferner im Wald schlugen Vögel an.
„‘Onah“, sagte eine unbeholfene Stimme – das Organ eines Menschen, der sich selber nicht hört.
Jonah sah auf. Er hatte sich so ins Lauschen vertieft, dass ihm entgangen war, wie Simon ihn beobachtete.
Unbemerkt hervorgeholt, ruhte ein großes, grobes Schwert auf den dicken Schenkeln des Riesen. Sein langes, feistes Gesicht war aufmerksam.

„Was hörst du?“, fragten Simons Hände.
„Birkhühner.“ Jonah räusperte sich. „Glaube ich zumindest. Rotschwänze. Spechte. Stämme, die in Windbrüchen hängen und knarren.“ Er musste für die Tiernamen Buchstabenabfolgen benutzen. Das dauerte etwas länger, als wenn Simon seine Lippen las, und zum allerersten Mal seit Beginn ihrer Freundschaft störte es ihn.
Er hätte dieses Horchen gern mit Simon geteilt, erstens weil man Derartiges wahrscheinlich nirgendwo sonst auf Sanktuario mehr hören konnte, zweitens weil er sich kaum zutraute, die Tierstimmen, das Knacken und die sonstigen Lautäußerungen des Waldes hinsichtlich einer Gefahr zu filtern, und drittens, weil er sich allein fühlte.
Sie hatten kein Heer, hinter das sie sich notfalls zurückziehen konnten. Sie kamen nicht als Boten im Rahmen einer Abfolge von vereinbarten Treffen.
Das Zuhören war hier noch sehr, sehr viel wichtiger als sonst. Auf andere Weise wichtig. Lebenswichtig.

„Klingt es schön?“, wollte Simon wissen.
„Ja. Sehr schön. Aber es beunruhigt mich auch.“
„Warum?“
„Weil ich diese Klänge nicht lesen kann“, versuchte Jonah, seine Stimmung in Worte zu kleiden. „Das ist kein idyllisches Gehölz wie zuhause. Ich habe Angst, etwas zu übersehen.“
Gleich darauf bereute er seine Formulierung. Simons Gesicht fiel ein.
„Du hättest jemand anderen mitnehmen sollen“, sagte er. „Jemanden, der dir mehr nützt.“
„Unsinn. Du -”
„Ich kann dich ja nicht mal ordentlich bewachen“, unterbrach ihn eine der wuchtigen Hände. Der Riese seufzte. „Verdammtes Pulver. Hat einen verdammten Taugenichts aus mir gemacht. Einen halben Mann.“

Jonah schüttelte den Kopf, aber Simon schaute demonstrativ weg, und danach saßen sie schweigend da – reglos und ohne Blickkontakt in ihrem Fall.
Die Taubheit des Dieners wurde fast nie erwähnt. Sie war leider vollkommen – daher konnte man ein Gegenüber wie Jaronas leicht davon überzeugen, dass es sich um einen unglücklichen Geburtsfehler handelte.
In Wahrheit hatte Simon sein Gehör durch einen Zwischenfall verloren. Völlig unbewandert in jeglicher Form paladinischer Auren oder Kampfkräfte, war er in einer Kommandantur zu Kingsport als Waffen- und Pferdeknecht angestellt gewesen. Kaum mit der Chance, je auch nur zum Minderbruder aufzusteigen, aber geduldet. Wertvoll, zufrieden.

Bis zu dem Tag, an dem ein unachtsamer Waffenmeister Pulver aus einer anderen Kommandantur geordert hatte. Man wollte mit der neuesten Möglichkeit, Mengen von Gegnern und darüber hinaus Gebäuden schaden zu können, experimentieren.
Inzwischen war der Lichtorden vorsichtiger. Ein paar Zwischenfälle beschleunigten den Lernprozess manchmal ungemein.
Der Zwischenfall in Simons Kommandantur hatte zwei Ställe, das halbe Gewölbe der Waffenkammer und einen beachtlichen Mauerteil weggerissen und insgesamt sechs Menschen das Leben gekostet. Simon war mit angesengtem Fell davongekommen, aber taub wie ein Fels.

Also blieb er ein Knecht. Die Weisungen des Lichtordens geboten, benachteiligten Individuen gegenüber Milde walten zu lassen. Doch niemand hatte wirklich Verwendung für einen gehörlosen Diener. Niemand wusste, wie man mit ihm sprechen sollte, und daher blieb er außerhalb der ihn umgebenden Welt, verlernte, seine Zunge zu benutzen und galt im Allgemeinen als schwer von Begriff.
Dann, über zehn Jahre später, hatte man Simon eines Morgens aus dem Stall der Kommandantur geholt und ihn im Hof vor einen kleinen, leicht zu übersehenden Mann gestellt. Der hatte den Hünen gemustert und sich daraufhin mit dem Unterkommandanten unterhalten. Simon, der ein bisschen Lippen lesen konnte, war dem Gesprächsverlauf verwundert, aber höchst aufmerksam gefolgt.
Allerdings nicht für lange.

„Unterkommandant“, hatte der kleine Mann plötzlich gesagt, „seid Ihr wirklich sicher, dass dieser Knecht nichts hört?“
„Absolut sicher“, war die Entgegnung gewesen. „Simon ist so taub wie ein Wurm.“
„Aha.“ Der kleine Mann hatte Simon mit einem sanften, rätselhaften Lächeln bedacht. „Dann hat der Wurm aber gelernt, anhand unserer Mundbewegungen zu erraten, was wir sagen.“
Das war die erste Begegnung der Männer gewesen.

Jonah hatte diese Begegnung auch aus Simons Sicht gesehen, einige Zeit später, als sie sich mittels erfundener Zeichen unterhalten konnten. Dazu waren Jahre nötig gewesen, aber erstaunlich wenige.
Der vermeintliche tumbe Klotz hatte sich als überaus gelehriger und nützlicher Begleiter entpuppt. Für Jonah, der selbst niemals zu einem hochrangigen Paladin aufsteigen würde, war er je nach Bedarf Pferdeknecht, Waffenbruder oder zweites Augenpaar. Wenn Simon ein Schwert zur Hand nahm, tat jeder Gegner gut daran, sich vorzusehen. Da er den Tauben nicht mimen musste und gelernt hatte, den Idioten zu spielen, störte sich niemand an seiner Gegenwart, und sei es am allerwichtigsten Verhandlungstisch.
Die beiden Männer ergänzten sich. Sie waren sogar zu Freunden geworden.

Trotzdem, das wusste Jonah, konnte er Simon seine Verletzung nicht nehmen. Genauso wenig, wie Simon imstande war, ihn, Jonah, von der Bürde seiner Herkunft und seiner körperlichen Beschränkungen zu befreien.
Sie sprachen an diesem Abend nicht mehr viel miteinander.
Simon übernahm die erste Wache.
Jonah legte sich mit dem Kopf auf eine leidlich bequeme Wurzel und behielt die Fäuste an den Schwertgriffen.
Es war nicht kalt. Noch nicht. Tage später, in höheren Lagen, mochte sich das ändern. Ringsum wisperte und knackte der fremde Wald.


***


Die Nacht war längst hereingebrochen, als der Läufer die Siedlung erreichte.
Zu seinem Glück hielt sich der Clanführer, für den die Nachricht aus Madalën bestimmt war, derzeit nicht in seiner Stammhalle weiter im Norden auf, sondern in einer Langhütte eine Tagesreise vom Feind entfernt.
Sterne blinkten am Himmel. Die Walddecke brach hier auf und machte ausgedehnten Wiesen Platz. Der Barbar atmete die frischere Luft dankbar ein. Er war seit der Entdeckung der Nachricht gerannt wie ein Getriebener, jetzt schweißbedeckt und am Ende seiner Kraft.

In der Dunkelheit standen Lichter, der Widerschein von Wachfeuern.
Mit einer letzten Anstrengung eilte der Barbar auf sie zu. Gegen den Himmel begannen sich Häuser abzuzeichnen, acht, neun kleinere und ein großes, das inmitten der anderen Gebäude leicht erhöht auf flachen Felsen stand.

„He, wer da?“ Aus der Dunkelheit näherte sich eine Gestalt, die, vom Läufer unbemerkt, dort gewacht haben musste. „Veynor, bist du das?“
„Ardic.“ Der Barbar hielt an, keuchte vornübergebeugt. „Wo ist er?“
„Im Langhaus.“ Der Mann namens Ardic musste nicht nachhaken, wer gemeint war. „Aber was ist mit dir? Solltest du nicht die elenden Städter ausspähen?“
Veynor wischte sich Schweiß vom Gesicht. Sofort war seine Haut wieder nass. In seiner Brust schlug das Herz wie ein Schmiedehammer.
„Ich habe eine Nachricht“, brachte er hervor.

Sein Gegenüber hielt ihn nicht mit weiteren Fragen auf. Wenn ein Mann mitten in der Nacht auftauchte, nachdem er einen ganzen Tag lang gelaufen war, verriet das viel über die Dringlichkeit der Sache. Besonders unter einem Volk, das sich nur in höchster Not zur Eile zwingen ließ.
„Komm.“ Ardic schulterte seine Waffe. „Ich bringe dich zu ihm.“
Die Männer ließen die Wachfeuer hinter sich. Hier und dort standen Krieger auf und schauten her, aber niemand sprach sie an.
Am Fuß des großen Langhauses allerdings vertrat man ihnen den Weg. Das Dorf beherbergte zurzeit etwa zwei Dutzend Krieger eines befreundeten Clans, die ihre Aufgabe, den Stammesführer zu beschützen, sehr genau nahmen.
Als man Veynor erkannte, ließ man sie jedoch vor.

Eine breite Treppe führte auf den Unterbau des Langhauses hinauf. Die Tür war enorm, im Innern des Gebäudes flackerte ein Herdfeuer.
Bevor Veynor und Ardic das Langhaus betreten konnten, kam ihnen ein Mann entgegen, hochgewachsen, breitschultrig, grauhaarig. Er war älter als die Mehrzahl seiner Krieger und trug auch keine Rüstung, aber selbst ein fremdes Auge hätte in ihm einen Häuptling erkannt.
Ohne den Läufer zu begrüßen, streckte er die Hand nach der Mitteilung aus. Jemand leuchtete ihm mit einer Fackel, damit er sie lesen konnte.

Im einvernehmlichen Schweigen beobachtete Veynor das vertraute Gesicht. Nachdem der Mann die Nachricht zu Ende entziffert hatte, starrte er für eine Weile nachdenklich in die Nacht.
„Ich brauche einen weiteren Boten“, sagte er dann und schaute reihum. „Unsere Antwort muss spätestens morgen um die Mittagsstunde in Madalën sein. Das ‚Ohr‘ wird seinen Hund bei der vereinbarten Stelle im Wald haben. Eile tut Not.“
Fragende Blicke antworteten ihm.
„Die Paladine haben ihren Gesandten in den Wald geschickt“, klärte er die Barbaren auf. „Bis auf einen Bediensteten ist er allein. Offenbar reist er wirklich nach Schwarzfels.“
Einer der Krieger räusperte sich. „Und wenn wir Schwarzfels die Sache überlassen? Von dort kehrt niemand zurück.“

„Das ist zu unsicher“, schüttelte der Grauhaarige den Kopf. „Wir wissen nicht, wie es um die Festung herum aussieht. Und hier steht, dass unser Verbündeter diesen Paladin und seinen Begleiter beobachtet hat. Ihm zufolge ist etwas faul an diesen Männern.“
„Dann lass mich und ein paar Krieger sofort nach Osten aufbrechen“, bot ein anderer Barbar an. „Zwei Paladine, das sollte nicht mehr als ein paar Axthiebe kosten.“
„Nein.“ Der Häuptling winkte ins Halbdunkel des Langhauses. „Das ‚Ohr‘ wird sich um den Gesandten kümmern. Keine Widerrede, Sahawc. Ich brauche dich und die anderen Krieger hier. Außerdem hat mich unser Verbündeter darum gebeten, ihm den Gesandten zu überlassen. Vielleicht will er ihn noch befragen.“

Die derben Mienen ringsum hellten sich verstehend auf.
Der mühselige Widerstand gegen die Eindringlinge aus der Westmarsch hatte begonnen, ihnen das tiefverwurzelte Misstrauen gegen neue Denkweisen auszutreiben. Und über das ‚Ohr‘ kursierten Gerüchte – seine Herkunft betreffend.
Sollte also der angebliche halbe Paladin gegen seinen Bruder, mit dem ‚etwas faul war‘, antreten. Vielleicht wollten die Ahnen es so.
 
Zuletzt bearbeitet:
Schließlich kam er auf dem vorletzten Felsblock aus

Ansonsten nichts was ich als Fehler erkannt hätte.

Ja ich wiederhole mich: Du schiebst die Action immer noch auf :D Aber im nächsten Kapitel sollte es dann endlich soweit sein denke ich. Trotzdem interessant zu erfahren wer die Barbaren sind. Ok, wir alle kennen D2, deswegen kann man sich schon einige Vorstellungen machen. Aber ich fühle mich im Moment eher an die Menschen aus Nordmar (Gothic 3) errinnert.

Hm, irgendwas wollte ich noch fragen, habs aber vergessen.

Deswegen meine zweite Frage: Wird der Umfang ungefähr so wie Gipfel der Welt? Die Story hab ich btw. immer noch nicht ganz gelesen...
 
Zuletzt bearbeitet:
@Horseback: Wie stets danke für Dein Feedback! Gothic 3 sagt mir nichts, ich bin so eine Spiele-Ignorantin (bis auf Diablo). Action wird es immer wieder mal geben, aber nur, wenn es auch in die Storyline passt ;>
Was den Umfang angeht: ich schätze mal so etwa zwanzig Kapitel. 'Gipfel der Welt' kann ich Dir nicht empfehlen, es sei denn, Du möchtest den fünften Akt von D2 noch mal 'nachlesen' und stehst total auf Drama und Herzschmerz.
Ach so, Moment, Frage: wenn ich von Dir mal etwas lesen möchte, welche Geschichte nehme ich denn da?

So, weiter geht's.


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V. Ältere Völker




Sonnenstrahlen weckten Simon.
Verwundert blinzelte er nach oben, wo Tausende von Blättern das Licht filterten, bis ihm einfiel, dass er unter freiem Himmel übernachtet hatte. Er drehte den Kopf und schaute auf eine Decke verschiedenfarbiger Blätter, die hier und dort an einem Stamm endete.
Dann setzte er sich ruckartig auf. Während der Wache einzunicken, stand ihm nicht zu, nicht in den Feldlagern, wo man sich mit unbekannten Kriegern Zelte teilen musste, und schon gar nicht in diesem Wald.

Der Lagerplatz, über den er jetzt rasch die Augen wandern ließ, bot ein friedliches Bild.
Vom Feuer waren nur noch geschwärzte Aststümpfe und Asche übrig. Die Pferde standen mit gesenkten Köpfen da, an einen Baum gebunden. Jonah hatte sich im Schlaf auf die Seite gerollt, das Gesicht wie immer dem Feuer zugekehrt, und atmete tief.
Nirgendwo verriet eine Bewegung oder eine Spur, dass Menschen in der Nähe waren.

Trotzdem saß Simon wie erstarrt und spürte, dass sich allmählich ein tiefes Unbehagen in ihm festsetzte, ein Misstrauen, das über die Wachsamkeit in einer neuen Region hinausging.
Er war kein glühend gläubiger Mann. Nicht nach den Maßstäben des Ordens. Seiner Ansicht nach hatten die Paladine den Begriff des Lichts banalisiert und obendrein in Widersprüchlichkeit herabgezogen – das Licht gebot Milde allen Schwächeren gegenüber, was die Stadtväter der Westmarsch aber keinesfalls davon abhielt, auf Expansionskurs zu gehen.
Im Fahrwasser der Expansion trieben auch Missionare mit, sicher. Und viele von ihnen meinten es ehrlich. Doch sobald sich ihre Arbeit irgendwo als vergebens herausstellte – was mit hübscher Regelmäßigkeit vorkam -, stellten sie sich den nachrückenden Truppen nicht in den Weg. Wer sich weigerte, zu hören, musste eben fühlen.
Darum und womöglich auch wegen seiner eigenen Geschichte hatte Simon das absolute Vertrauen in den paladinischen Glauben verloren.

Die prägende Denkweise seiner Klasse konnte er hingegen nicht vollständig loswerden. Zum Minderbruder oder gar zum Paladin würde er es kaum bringen, das verhinderten seine Taubheit und seine fehlende Begabung für Auren. Aber irgendeine verschärfte Wahrnehmung war da, etwas, für das es keinen Namen gab. Es machte ihn wie jeden Paladin anfällig für Verdacht, für Zweifel, für Dinge jenseits des Verstandes.
Die Vorahnung traf ihn mit Wucht.
In diesem Wald lauerte der Tod. Nur wessen Tod, das konnte er nicht sagen.

Die Kinderreime und die unsterblichen Erzählungen seiner Heimat steckten voller Geister, voller Dinge, die selbst ein so gestrenger Orden wie der des Lichts nicht vollständig hatte ausmerzen können. Laut des Leitfadens der paladinischen Lehren gab es keine Geister, aber das hieß ja nicht, dass manche Momente eine Vorstellung von ihnen nicht geradezu herausforderten. Als Simon den Wald erneut mit den Augen absuchte, kam ihm das Konzept einer Natur, die irgendeine Merkwürdigkeit in sich aufsaugte und widerspiegelte, nicht besonders weit hergeholt vor.

Ihm wurde bewusst, dass er schwer atmete. Trotz der Morgenkühle war ihm Schweiß ausgebrochen.
Aus dem Augenwinkel erspähte er einen wippenden Zweig, erstarrte, und drehte dann langsam den Kopf. Ein Eichelhäher war auf einem Baum direkt in der Nähe gelandet. Der Vogel beäugte Simon. Dann streckte sich sein kleiner Leib und erbebte, während der Schnabel aufklappte. Er sang, kein Zweifel, oder zwitscherte oder keckerte, oder was auch immer Eichelhäher taten.
Im Allgemeinen, das wusste auch ein Tauber, pflegten Vögel zu schweigen, wenn ringsum Gefahr drohte. Also war dieser kleine Kerl entweder nicht über erwähnte Regel aufgeklärt, oder sein Verhalten war wirklich Anlass zu vorsichtiger Entspannung.

Simon stand auf. Plötzlich verging das ungute Gefühl, das ihn im Griff gehabt hatte. Er holte tief Luft und schaute auf Jonah hinunter. Es war gut, dass sie den Außenposten hinter sich gelassen hatten. Sein Freund mochte von Kindesbeinen an die Rolle des Außenseiters geschultert haben und war in ähnlicher Weise an Spott und Herabsetzung gewöhnt wie Simon selbst, aber eingepfercht in eine Festung, zusammen mit Dutzenden gelangweilter, verrohter Kämpfer, konnte er den Urhebern nicht aus dem Weg gehen.

Simon hatte ihn irgendwann einmal gefragt, warum er sich ausgerechnet den Orden als Weg gewählt hatte – als ein Mann, dem seine körperliche Unterlegenheit in einer Stellung als Magistrat oder Händler weit weniger zur Last gefallen wäre. Zu seiner Überraschung hatte Jonah da gelächelt, ein breites, neckisches Lächeln, das sogar seine merkwürdigen Augen erreichte. Und er hatte Simon geantwortet, er habe mit seinem Vater gewettet, er könne es bis zum Hohen Bruder der Paladine schaffen.
Simon wusste nicht, ob das stimmte. Er hatte Jonahs Vater, einen Köhler, einen ständig verrußten, sehr leisen alten Mann, bei einer einzigen Gelegenheit gesehen. Steivan Pereîs war ihm nicht wie jemand vorgekommen, der mit dem eigenen Sohn Wetten über Lebenswege und Lebensinhalte abschloss, aber Simon hatte es nicht gewagt, ihn zu fragen. Die Mutter war kurz nach Jonahs Geburt gestorben. Vielleicht hatte Jonah ihr seine Redegewandtheit und enorme Dickköpfigkeit zu verdanken.

Eine Welle der Zuneigung überrollte Simon nun, da er den schlafenden Freund betrachtete. Es war allerdings an der Zeit, sich auf den Weiterritt vorzubereiten, also stupste er Jonahs Knie mit der Stiefelspitze an.
Nur sehr selten wurde deutlich, dass der Andere trotz aller Makel eine jahrelange kriegerische Ausbildung genossen hatte. Dies war einer jener seltenen Momente. Jonahs Blick klärte sich unmittelbar, nachdem er die Augen geöffnet hatte, und während er sich aufsetzte, lag seine Rechte schon am Schwertknauf. Er schaute umher, und erst dann zu Simon hinauf.

„Alles in Ordnung“, signalisierte der Hüne ihm.
Jonah musterte ihn. „Wirklich? Du siehst nicht so aus.“
„Vor einer Weile hatte ich den Eindruck, wir würden beobachtet“, erwiderte Simon und wies mit dem Kinn vage auf einige umstehende Baumgruppen. „Von überallher. Also wohl nur ein ungutes Gefühl.“
„Ich weiß nicht.“ Jonah begann, seine Decke zusammenzurollen. „Wir sind auf fremdem Boden. Unbefugte Eindringlinge, wenn du so willst. Vielleicht will man uns vorsorglich im Auge behalten, auch wenn wir keine echte Bedrohung darstellen.“

Sie nahmen ein leichtes Frühstück zu sich, während die Pferde in ihren Hafersäcken wühlten, löschten dann die Feuerstelle und saßen auf. Falls der Wald Späher verbarg, ließen sich die Reittiere zumindest nichts anmerken. Sie trotteten gemächlich durch das lichte Unterholz.
Jonah ritt voran, was Simon erlaubte, seinen Freund von hinten zu mustern, seine gedrungene Statur mit den überraschend breiten Schultern, seinen großen Schädel, seine nachlässige Haltung im Sattel. Jonah war kein besonders guter Reiter, aber er kannte seine Stute und ließ sie sich selbst einen Pfad suchen.
Lange konnten sie allerdings nicht reiten. Bald überzog sich der Waldboden wieder mit dichten Wurzeln und bemoosten Findlingen, und um ihre Tiere nicht zu gefährden, stiegen die Paladine ab. Es ging nun fast stetig bergauf.

Sie waren nach ihrem Absitzen etwa eine Stunde unterwegs gewesen, als Simons Unbehagen auf einmal wieder zuzunehmen begann. Seinen Wallach am Zügel führend, spähte er angestrengt umher. Der Buchenwald, durch den sie gerade zogen, bot nicht viele Verstecke, aber Simon wusste, dass er hier nicht wie ein Städter denken durfte. Auf einer ihrer Reisen in die südliche Wüste hatte er mit ansehen dürfen, wie einheimische Beduinen regelrecht mit Dünen und ein paar dürftigen Felsen verschmolzen – warum sollte da Ähnliches den Bewohnern dieser Weltgegend schwerer fallen?
Alles, was er sah, waren Stämme und Blätter und wenige hüfthohe Findlinge. Keine Gestalten, keine Regung, nicht einmal ein wippender Zweig. Und doch, sowohl mit seinem gesunden Instinkt als auch mit einem weniger benennbaren Sinn, fühlte er, dass sie nicht allein waren. Der Wald schien den Atem anzuhalten. Simon blieb stehen.

Jonah hatte bemerkt, dass er ihm nicht länger folgte, stoppte ebenfalls und wandte sich um. Simon sah es sofort an seinem Blick: was auch immer er spürte, Jonah spürte es ebenso. Seine schwerlidrigen Augen hatten diesen ganz bestimmten Ausdruck verschärfter Wachsamkeit, den sie immer annahmen, wenn ihr Besitzer Gefahr witterte.

„Beobachter“, formte Simon mit den Lippen.
„Ich weiß“, gab Jonah zurück. Sein Mund bewegte sich, aber er hatte flüchtig seine Kehle berührt, um anzuzeigen, dass er die Worte nicht laut aussprach. „Aber ich sehe niemanden. Nicht einmal ein Haar von ihnen.“
„Vielleicht sollten wir warten“, schlug Simon vor. Er hatte keine Ahnung, was das bringen sollte. Wie verhielt man sich in der vermuteten Gegenwart von jemandem, den man nicht nur nicht sah, sondern dessen Identität und Absichten obendrein vollkommen im Dunkeln lagen?

Jonah schien zu lauschen, schüttelte dann den Kopf. „Wir gehen weiter, aber gemächlich und behutsam.“ Er verzog den Mund in der Andeutung eines angespannten Lächelns. „Ich vermute, wenn sie uns angreifen wollten, hätten sie das schon längst getan.“
„Das ist ein schwacher Trost“, entgegnete Simon.
„Natürlich. Komm.“ Damit wandte sich Jonah wieder dem ansteigenden Hang zu und setzte sich in Bewegung. Nach außen hin mochte er halbwegs gelassen wirken, aber Simon kannte ihn zu gut, um seine Besorgnis nicht zu spüren. Er selbst schwitzte inzwischen großzügig, und der Gedanke, dass ihre Beobachter seine Angst womöglich riechen konnten, war nicht eben aufmunternd.

Plötzlich erhaschte er aus dem Augenwinkel ein Huschen. Zur Rechten, etwa hundert Schritte entfernt. Als er genauer hinsah, war dort nichts mehr bis auf Stämme und immer noch mehr Stämme.
Entweder hatte er unwillkürlich einen Laut ausgestoßen, oder Jonah hatte die Bewegung auch gesehen, denn sein Freund zog jetzt seine Stute am Halfter, um sie zum Stehen zu bringen, und erstarrte. Gemeinsam standen sie da und versuchten, im Gewirr des Waldes etwas zu erkennen.

Schließlich machte Jonah mit der Linken das Zeichen für ‚weiter‘. Er ging genau in Richtung der Bewegung los.
Simon rang mit dem Impuls, ihn zu fragen, ob er es tatsächlich für klug hielt, schnurstracks auf ihre wahrscheinlichen Gegner zuzulaufen. Doch im Grunde war ihm klar, dass Jonah wenig Anderes übrig blieb, als sich auf dieses merkwürdige Spielchen einzulassen – denn dass sich zuvor unsichtbare Beobachter soeben absichtlich eine Blöße gegeben hatten, schien sicher. Sie wollten auf sich aufmerksam machen. Sie wollten die Reaktion der Fremden testen, sie auskundschaften, vielleicht auch in eine bestimmte Richtung locken.
Mit enger Brust, sich bewusst, dass seine Kraft hier kaum von Nutzen war, folgte er Jonah. Nach einer kleinen Weile, während derer Simon sekündlich mit einem Angriff rechnete, erreichten sie die ungefähre Stelle, an der sie die Bewegung gesehen hatten. Es war ein Fleck Wald wie jeder andere auch.

Simon sah Jonah schlucken, und als sein Freund den Kopf drehte, um umherzuschauen, glänzte seine Stirn feucht. Schließlich wechselte er einen Blick mit Simon.
„Nichts“, sagte er.
„Und was tun wir, falls wir noch so eine Bewegung bemerken?“ fragte der Hüne.
„Ihr diesmal nicht folgen“, entgegnete Jonah. „Wir sind bereits ein gutes Stück von unserem ursprünglichen Pfad abgewichen. Sollte sich das hier wiederholen, verirren wir uns womöglich. Nein, wer mit uns Kontakt aufnehmen will, muss sich schon etwas anderes –”
Er brach mit geweiteten Augen ab.
Simon folgte seiner Blickrichtung. Ein Stückchen entfernt, zu Füßen einer freistehenden Buche, steckte etwas in der Erde. Als Simon erkannte, was es war, hielt er den Atem an.


***

Die Paladine standen da und starrten. Jonah ging auf, dass der eigentlich wenig bemerkenswerte Fleck Boden vor ihnen eine regelrecht sakrale Aura verströmte. Ähnliches war ihm bisher nur in Gebetshäusern begegnet, wo ein Altar, eine Statue oder sonst ein geheiligtes Objekt über Jahrzehnte hinweg genug Hingabe der Gläubigen aufgesogen hatte, um sich in Bedeutung zu kleiden.
Zu einer anderen Zeit hätte er über die Tatsache gestaunt, dass solcherart Transformation eines simplen Gegenstandes offenbar klassenübergreifend funktionierte, aber jetzt war er zu nervös, um zu staunen.

Das Ding vor ihnen bestand aus einem armlangen Stock, mit Schnitzereien verziert, und zwei Schädeln, die ihn krönten. Der untere Schädel schien Jonah der eines Rehs zu sein. Der obere war der eines Menschen. Beide Schädel sahen sauber aus, fast poliert, und leuchteten matt weiß vor dem Waldhintergrund.
Jonah ließ seine Augen über den Boden wandern, doch außer der Blätterschicht, Moos und kleineren Steinen entdeckte er nichts, auch keine Spuren. Trotzdem war er sich sicher, dass der Verursacher der Bewegung den Stock hier in die Erde gerammt haben musste, und zwar vor Kurzem erst. Er hob den Blick und spähte umher. Nichts, nur dieser verteufelt unbeteiligte Wald.

Als er zu Simon schaute, wollte der mittels Zeichen von ihm wissen, was der Gegenstand bedeutete. Sein feistes Gesicht war ernst und bleich.
„Ich weiß es nicht“, sagte Jonah halblaut. „Mir ist nicht bekannt, dass Tiere bei den Barbaren eine besondere Rolle spielen. Sie jagen sie, und vielleicht schafft es ein seltener Schädel auch mal an die Wand einer ihrer Langhütten, aber sonst… Ich könnte mich natürlich irren. Trotzdem, das hier lässt eher auf ein anderes Volk schließen.“
Er sah an Simons Nicken, dass dieser begriff.
„Man hat das Ding für uns da hingestellt“, sagten die Hände des Hünen. „Aber warum? Als Markierung? ‚Das hier ist unser Hoheitsbereich, haut bitte ab‘?“
„Schon möglich.“ Jonah musste sich dazu zwingen, den Stock anstelle des Waldes zu betrachten. „Es könnte auch eine Warnung sein. Das ist ein Menschenschädel. Womöglich will man uns mitteilen, dass wir Gefahr laufen, als zusätzliche Schmuckstücke zu enden, wenn wir nicht umkehren.“

Simon fragte nicht weiter, auch nicht, ob sie der mutmaßlichen Anordnung Folge leisten würden.
Jonah bemerkte, dass ihm der Schweiß in kleinen Bächen den Rücken hinab lief und er die Rechte unwillkürlich auf seinen Schwertknauf gestemmt hatte. Er holte Atem, trat einen Schritt von dem Totem zurück, und rief dann in den lauschenden Wald hinaus: „Wir sind Gesandte des Lichtordens zu Kingsport! Wir befinden uns auf einer friedlichen Erkundungsmission nach Schwarzfels, um verschollene Brüder zu suchen! Sollten sich die rechtmäßigen Bewohner dieser Gegend zeigen und sich mit uns verständigen wollen, wären wir ihnen zu großem Dank verpflichtet.“

Während seiner Ausbildung und auch in den Feldlagern hatte man ihm diverse Male verkündet, er sei ein wirklich erbärmlicher Schreier, doch in der Stille des Waldes trug sogar seine Stimme weit. Jonah wartete und lauschte. Allerdings vergebens. Wer auch immer sie in diesem Moment beobachtete, hatte offenbar nicht vor, sich zu zeigen.
„Wir kehren zu unserem Ausgangspunkt zurück“, bedeutete er Simon.

Sie bewegten sich langsam und rückwärts von der Stelle fort, etwas, das wegen der Pferde nach ein paar Schritten unmöglich wurde. Dem Ort und dem vage gespenstischen Gegenstand den Rücken zu kehren, kostete einige Überwindung. Sie konnten nur hoffen, dass man sie nicht aus dem Hinterhalt attackieren würde.
Barbaren, hieß es, griffen niemals an, ohne sich dem Gegner zuvor offenbart zu haben. Aber das hier waren wahrscheinlich keine Barbaren, und über Druiden wusste Jonah zu wenig, um daraus Rückschlüsse auf ihr Kampfverhalten ziehen zu können.
Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er Stelle und Schädel aus seinem Blickfeld gleiten. Vorsichtig auftretend, Mädchen am Halfter, lauschte er nach hinten, doch er, Simon und die Pferde machten zu viel Krach.

Es erfolgte kein Angriff. Sie erreichten den Fleck, von dem aus sie die undeutliche Bewegung gesehen hatten. Dort hielten sie und wandten sich um. Stämme verbargen den seltsamen Ort jetzt völlig. Nach einem weiteren Blickwechsel, zu angespannt und befremdet, um Erleichterung zu empfinden, setzten sie den Weg hangaufwärts fort.

Der Rest des Tages verließ ereignislos, und sie kamen einigermaßen vorwärts. Doch mit dem schwindenden Licht wurde der Wald gleichzeitig undurchdringlicher. Jonah versuchte erneut, sich vorzustellen, wie der Trupp der nach Schwarzfels reisenden Missionare hier vorangekommen sein sollte, und entschied, dass die Gruppe einen leicht versetzten, besseren Weg gefunden haben musste.
Die Hänge waren inzwischen steil, von Bächen durchschnitten und oft von Felsen durchsetzt. Die Bäume rückten immer enger zusammen, und stellenweise zwang das dichte Unterholz die Männer dazu, ganze Waldflecken zu umgehen. Sie bewegten sich nur noch im Schneckentempo vorwärts. Das Terrain war für die Pferde ebenso mühselig wie für die sie führenden Paladine.

Als der Abend endgültig hereinbrach, gab Jonah auf. Es war unsinnig, heute noch weiterzuziehen. Sie befanden sich in einem aus Buchen und Eichen gemischten Stück leidlich lichten Waldes, und waren fußmüde, hungrig und verschwitzt. Die Tiere hatten sie vor Kurzem an einem Bach getränkt, also konnten sie hier ihr Nachtlager aufschlagen.
Als sie die Pferde abgerieben und ihnen Hafersäcke umgebunden hatten, hob Simon einen Ast auf. „Feuer oder kein Feuer?“
„Wir entzünden eins“, entschied Jonah.

Trotz seiner Unruhe hatte er keine Lust, ihrer Lage auch noch den raren Trost eines Lagerfeuers zu opfern. Eine kleine Weile später saß er Simon gegenüber, die Hitze der Flammen auf der Haut, und nagte an einem getrockneten Gerstenfladen.
Sie unterhielten sich nicht. Die Stimmung war seltsam. Jonah vermutete, dass sein Freund eigenen Gedanken nachhing, und er selbst starrte ins Feuer, wie immer unwillkürlich vom ruckartigen Tanzen der Flämmchen angezogen.

Sie begannen, seinen Blick auszufüllen. Er wusste, dass seine Miene sich in solchen Momenten veränderte, straffer und grimmiger wurde. Abseits der Massen, abseits seiner Ordensbrüder, die besonders unten im Süden wachsam und misstrauisch auf kleinste Abweichungen im Verhalten anderer Lichtkrieger reagierten, konnte er die Zügel ein wenig schleifen lassen.
Vielleicht war dieser Umstand Schuld, vielleicht auch seine und Simons unsichere Lage – die Lage zweier von jeglicher Unterstützung abgeschnittener Männer mitten in einem unbekannten, feindlichen Wald. Etwas stieß sein Inneres an. Es flatterte unter seiner Schädeldecke umher, drängte dann nach außen.

Jonah hörte sich selbst leise seufzen, als er die Hand nach dem nächstliegenden Zweig ausstreckte. In diesem Moment kümmerte ihn nicht einmal mehr sonderlich, ob Simon sein Tun verfolgte. Er nahm den brennenden Zweig auf.
Dann formte er mit der rechten Hand ein Gefäß. Als er es an die Flammen heranführte, sprangen sie sofort über. Jetzt sah es so aus, als halte er ein kleines Feuer in der offenen Faust.
In seiner Erinnerung hastete sein Vater herbei, fiel vor ihm auf die Knie, fragte heiser, ob er sich wehgetan habe, und schlug ihm dann, als er verneinte, das brennende Spielzeug aus den Fingern. Niemand dürfe das sehen! Ob er wahnsinnig geworden sei? Niemand dürfe davon wissen, nicht die Nachbarn, nicht die anderen Kinder, schon gar nicht die Kunden, die kamen, um Kohle zu ordern.
Jonah führte unter geschlossenen Lippen die Zunge über die Zähne. Langsam erstickte er die Flammen in der Faust.

Er blinzelte und dachte verschwommen an die Echsen, die er in der südlichen Wüste auf Steinen hatte liegen sehen, fremdartige Geschöpfe, ruhend, mit Hitze vollgesogen. Er schaute hoch zu Simon und erwartete, ihn den Kopf schütteln zu sehen, wie er es immer tat, wenn Jonah sich vergaß.
Aber Simon sah ihn gar nicht an. Der Hüne war im Sitzen erstarrt, den Blick auf einen Punkt hinter Jonah geheftet.

Erst jetzt ging Jonah auf, wie still es war. In der sie umgebenden Dunkelheit regte sich nichts. Nicht einmal die Pferde machten Geräusche. Nur das Feuer knisterte matt.
Das Herz in der Kehle, drehte Jonah sich um. Als er die Gestalt, die im äußersten Lichtschein des Lagerfeuers stand, in ihrer gesamten Bedeutung erfasste, erhob er sich hölzern und mit einem Gefühl, als habe man ihm siedendes Öl in die Eingeweide gegossen.

Ein monströser Hirsch hatte sich ihrem Lager genähert, ein Hirsch, dem das Maul, der Hinterleib und die hinteren Läufe fehlten. Doch nein.
Das ausladende Geweih hing noch an einem Teil des Kopf- und Nackenfells, und das hatte sich ein Mensch übergezogen. Ein Mann stand in ihrer Nähe, der ein Hirschgeweih trug.
Er war groß und hager. Sein Alter ließ sich schlecht schätzen, aber das Wenige, was Jonah von dem flackernd beleuchteten Gesicht erkennen konnte, wirkte wettergegerbt. Auch die bloßen Unterarme und Hände wiesen Merkmale fortgeschrittenen Alters auf.
Der Fremde war in weiche Stiefel, lederne Hosen und ein ledernes, offenes Hemd gekleidet. Auf der entblößten Brust blinkten Ketten, vielleicht aus Knochen oder geschnitzten Zweigstücken hergestellt. Hinter der einen Schulter, eben noch sichtbar, ragte der Wurfarm eines Bogens auf.

Der Fremde regte sich nicht. Tiefliegende Augen waren auf die beiden Paladine gerichtet.
Jonahs Gedanken rannten irr im Kreis. Trotz seiner Taubheit war Simon im Allgemeinen ein guter Wächter. Doch offensichtlich hatte er nicht bemerkt, dass sich ein Dritter ihrem Feuer näherte, bis es zu spät war.
Aus den Schatten im Gesicht des Fremden blinkten Zähne. Er schien die Lippen zurückzuziehen, wie ein Hund, und Jonah wurde von dem beunruhigenden Verdacht heimgesucht, dass er und Simon und die Pferde störende Gerüche aussandten.
Bevor er sich zu irgendeiner Handlung entschließen konnte, sprach ihr Besucher. Seine Stimme passte zu seinem vermuteten Alter. Jedenfalls war es nicht die Stimme eines jungen Mannes.

„Ihr müsst gehen“, verkündete der Fremde.
Jonah räusperte sich mit Mühe. Es kam selten vor, dass er direkt mit Gegnern sprach. An den Verhandlungen in der südlichen Wüste hatten zahlreiche Vertreter teilgenommen, Vertreter sowohl der Paladine als auch der Magierschulen, gewichtige, von Helfern begleitete Gestalten, die sich an die Gepflogenheiten langer Gespräche hielten.
Er, Jonah, wurde immer erst hinzugezogen, wenn die gegenseitigen Vorstellungen schon abgewickelt waren. Hier war das anders. Hier hatte er niemanden, der ihn ankündigte, niemanden, der dem Gegenüber erklärte, wer er war und was er wollte.

„Habt Ihr uns beobachtet?“ hörte er sich fragen.
Der Mann regte sich nicht. Vielleicht senkte er ein wenig den Kopf, selbstsicher, fast königlich, aber es war schwer zu bestimmen.
„Das Totem im Wald heute Mittag“, wagte Jonah sich vor. „Das wart Ihr, nicht wahr?“
Er musste lange warten, aber schließlich nickte der hirschköpfige Fremde.
Jonah nickte ebenfalls. „Wir haben nicht vor, Grenzen zu übertreten“, sagte er mit Bedacht und faltete die Hände vor dem Schritt, um zu zeigen, dass er nicht zu den Waffen greifen würde. Sein Mund war staubtrocken. „Wir sind zum ersten Mal in dieser Gegend. Unsere Sorge gilt allein dem ungeklärten Verbleib von fünfzig Brüdern unseres Ordens, die vor Monaten nach Schwarzfels gereist sind.“

Er brach ab, als sein Gegenüber eine rasche Geste machte, ein abschneidendes Winken mit einer Hand.
„Ihr müsst gehen“, wiederholte der Mann. „Schwarzfels hat keine Antworten für euch.“
„Warum nicht?“ wollte Jonah wissen.
Das Hirschgeweih schwankte sacht hin und her. Sein Träger wiegte den Kopf. Nach einer langen Pause sagte er: „Das überschreitet mein Wissen. Aber ihr solltet zu eurer Festung in der Ebene zurückkehren.“
Jonah leckte sich über die Lippen. „Ich kann meinen Auftrag nicht abbrechen. Die verschwundenen Männer haben Kommandeure, Familien, die wissen müssen, was mit ihnen geschehen ist.“ Er wartete erneut, und fügte dann hinzu: „Dieser Ort, Schwarzfels… Bedeutet er Eurem Volk viel?“
Wieder leuchteten Zähne im Halbdunkel. „Mein Volk, Paladin, meidet das Gemäuer seit Jahrzehnten. Eure Leute waren nicht so klug.“

Jonahs Gedanken hängten sich hastig an die hingeworfenen Informationsbrocken. „Was meint Ihr? Was ist da oben geschehen?“
„Damit kann ich dir nicht helfen, Lichtkrieger.“ Der Fremde gab ein heiseres Halblachen von sich. „Die Festung unten im Grasland kümmert uns nicht, aber dieser Wald gehört den älteren Völkern.“ Jede Spur von Belustigung verschwand. „Bleibt weg. Weil ihr nur zu zweit seid, verdient ihr eine Warnung. Mehr kann ich euch nicht sagen.“
Damit hob der Fremde eine Hand. Es wirkte wie ein Bann, und von ihm ging eine solch drastische Autorität aus, dass Jonah nur wortlos starren konnte. Erst als der Mann sich schrittweise aus dem Lichtschein des Lagerfeuers zurückzuziehen begann, fand er seine Handlungsfähigkeit wieder.
Sein Gegenüber meinte offenbar, alles Wichtige gesagt zu haben. Die Warnung war unmissverständlich. Doch wenn dieser Fremde jetzt verschwand, verloren die Paladine den einzigen Menschen, den sie bislang im Wald getroffen hatten, und damit die einzige Quelle vielleicht lebenswichtiger Auskünfte.

„Wartet!“ Jonah trat der Gestalt hinterher.
In einer fließenden Bewegungsabfolge, fast zu schnell, als dass das Auge folgen konnte, holte der Fremde den Bogen hinter der Schulter hervor, pflückte einen Pfeil aus einem verborgenen Köcher, und legte ihn auf die Sehne.
Jonah blieb wie angewurzelt stehen. Sie waren nur ein paar Schritte voneinander entfernt, aber sein Gegenüber wirkte stark und erfahren. Jonahs Brustpanzer ruhte in einer von Mädchens Satteltaschen. Sein nietenbesetzter Lederharnisch würde einen kraftvoll abgegangenen Pfeil nicht aufhalten.
Er versuchte, den Ausdruck der fremden Augen einzuschätzen, doch die Entfernung zum Feuer hatte sie in zwei matt glimmende Kohlestückchen verwandelt. Ihm schoss der Gedanke durch den Hinterkopf, dass der Andere sein, Jonahs, Spiel mit dem brennenden Zweig vielleicht beobachtet hatte.

„Bitte wartet“, bat er. Der Pfeil war unverändert auf seine Brust gerichtet. „Wir haben nicht vor, jemanden zu stören. Wir wollen wirklich nur aufklären, was aus unseren Brüdern geworden ist. Wenn Ihr mehr wisst, als Ihr sagtet -”
„Ihr habt gehört, was ihr wissen müsst“, unterbrach ihn der Fremde aus dem Dunkel. „Geht heim. Schwarzfels ist kein Ort für Menschen.“
Jonah holte bebend Luft. Doch anscheinend war das schon zu viel des Zögerns.
Als der Mann mit dem Geweih wieder sprach, klang seine Stimme flach und feindselig. „Genug jetzt! Keinen Schritt weiter, Städter, sonst lasse ich den Pfeil von der Sehne. Und denke nicht, dass du mir folgen kannst.“

Mit diesen Worten zog sich die Gestalt endgültig in die Dunkelheit jenseits des Feuerscheins zurück. Und es war, als bekomme sie dabei jede nur erdenkliche Unterstützung durch den Wald. Ohne ein Geräusch verschwand der Fremde einfach, fast als habe ihn die Nacht verschluckt. Nicht einmal sein sich entfernender Umriss war noch zu sehen, egal wie angestrengt Jonah starrte – und das, obwohl er Stämme und andere Einzelheiten auf mehrere Steinwürfe hinaus zumindest schwach erkennen konnte.
Der Impuls zu rufen ruckte an Jonah. Aber hier hockte er nicht hinter Barrikaden, hier war er nicht von gepanzerten Kriegern umringt, die ihn abschirmten. Beendete ein Pfeil aus der Dunkelheit sein Leben, starb sein Auftrag mit ihm. Simon würde sich auf eigene Faust zurück in die Westmarsch durschlagen können, und dass man in Kingsport Tränen über das Ableben eines einsamen Gesandten vergießen würde, war höchst unwahrscheinlich. Doch es bestand eine kleine, gefährliche Chance, dass der Lichtorden das fortdauernde Schweigen des Nordens zu Schwarzfels nicht hinnehmen würde, und dann rückte ein großer Krieg in greifbare Nähe.

Steif wandte Jonah sich um. Simon stand inzwischen auf den Beinen, aber der Hüne hatte sich ansonsten kaum gerührt.
Jonah ging zum Lagerfeuer zurück. Das Zittern seiner Knie ließ nach. Mit wirrem Erstaunen fühlte er, dass sich eine kalte Ruhe in ihm ausbreitete. Die Angst war noch da, sicher, und ließ das Lagefeuer ungeschützt und leichtsinnig aussehen, aber sie kam Jonahs Kopf nicht in die Quere.

Er setzte sich am Feuer nieder. Simon schaute mit gehobenen Brauen auf ihn herunter. „Du könntest wenigstens anstandshalber ein bisschen furchtsamer dreinblicken“, sagten seine Hände.
„Mir klebt das Unterzeug am Leib“, gab Jonah zurück.
Sein Freund grunzte und setzte sich ebenfalls wieder hin, doch langsam und mit den Wald oft abtastenden Augen.
Nach einer Weile wechselten sie einen ernsten Blick.
„Das war ein Druide“, stellte Simon fest.
„Höchstwahrscheinlich.“ Jonah rief sich die Gestalt in Erinnerung, das Traumähnliche an ihr, die Mischung aus Gefährlichkeit und immenser Selbstbeherrschung, die den Mann begleitet hatte.
„Was wollte er?“ fragte Simon.
Jonah wiederholte die Worte des Fremden, so gut er konnte, und ihm entging keineswegs, dass Simons Brust sich hob, als er ihm von den Warnungen berichtete.

„Denkst du, er macht seine Drohung wahr?“ erkundigte sich sein Freund nach Ende des Berichts.
„Du meinst mit einem Pfeilschuss? Nein, ich glaube nicht.“ Jonah spürte, wie sein Unterzeug zu trocknen begann, und sehnte sich nach einer Waschgelegenheit. „Zumindest nicht, solange wir es vermeiden, ihm hinterherzulaufen. Was er über Schwarzfels sagte, klang so, als müsse uns unser gesunder Menschenverstand davon abhalten, weiterzureisen.“
Der Hüne zerdrückte kleine Zweige mit den dicken Fingern der Rechten. Ohne einen Funken Belustigung in den Augen sagte seine Linke: „Wie schade, dass unser gesunder Menschenverstand in dieser Angelegenheit nicht gefragt ist.“
„Ja“, entgegnete Jonah leise.
In dieser Nacht schlief er kaum.


***


Meilen weiter südlich hastete ein Mann durch den Wald. Für gewöhnlich zeichneten Ruhe und kalter Bedacht seine Handlungen aus, aber jetzt war er in Eile wie selten zuvor.
Der Befehl war am Vortag gekommen. Er hatte Brandulf aus der zitternden Starre seiner jahrelangen, unseligen Warteposition befreit, und er konnte sich nicht an das kleinste Zögern erinnern. Gestern, direkt nach Einbruch der Dunkelheit hatte er Madalën verlassen.
Diesmal wohl endgültig. Die Lage verlangte, dass er sein Doppelleben aufgab.

Nur mit seinem Wolfshund als Begleiter trabte er hangaufwärts durch die Säulenhallen der Bäume. Die Verachtung für alles, was hinter ihm lag, feuerte ihn an, gab ihm zusätzliche Kraft. Wie oft hatte er den Gedanken liebkost, Alban Jaronas mit einem Axthieb niederzustrecken und sich dann den wenigen Kriegern zu stellen, die den Tod des Kommandanten würden rächen wollen? Sein eigenes Inneres war ihm zuletzt wie eine schwärende Wunde erschienen, oberflächlich vernarbt und verkrustet, aber beständig pochend, fiebrig – etwas, das ihn tagaus, tagein wissen ließ, dass er die Last der Verstellung nicht ewig würde tragen können.
Er war endlich frei.

An einem anderen Tag hätte er gejubelt. Nicht heute. Selbst höchste Eile, Geschick und eine genaue Kenntnis des Waldes konnten nichts dagegen tun, dass der Gegner einen enormen Vorsprung hatte.
Brandulf sprang Findlinge hinauf, die sich an immer größere Steine schmiegten. Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht.
Weiter unten hatte er Hufspuren gefunden. Pereîs und sein Diener waren unlängst hier vorbeigekommen. Wegen des unebenen Geländes konnten sie nicht reiten. Das würde Brandulf den Vorteil verschaffen, den er brauchte.
In der Dunkelheit waren sein eigener, hastiger Atem und das Hecheln seines Hundes die einzigen deutlichen Geräusche. Möglich, dass druidische Späher sein Vorbeikommen bemerkten, aber sie kümmerten ihn kaum.

Das alte Volk war erschreckend untätig, beinahe teilnahmslos in seiner Art, die Bewegungen der Barbaren und Paladine zu beobachten. Es kam so gut wie nie vor, dass sich ein Druide anderen Menschen näherte. Also war druidisches Eingreifen in die derzeitigen Vorgänge auch nicht zu fürchten.
Umso besser. Brandulf hatte Jonah Pereîs in Madalën genau studiert. Etwas an dem kleinen Mann beunruhigte ihn, und er wusste, er würde erst wieder Ruhe haben, wenn der Gesandte erfolgreich überwältigt und verscharrt war. Skrupel hatte Brandulf keine. Nicht wirklich.
Das Kommende würde seinen Brüdern wertvolle Wochen an Zeit verschaffen – nur ein Aufschub, aber einer, der Pereîs‘ Einmischung sicher vorzuziehen war.

Im Laufen legte er sich einen Angriffsplan zurecht. Der Vorfall im Speisesaal hatte ihm gezeigt, dass der Diener mit Vorsicht behandelt werden musste. Brandulf würde ihn nach Möglichkeit zuerst ausschalten und sich dann Pereîs widmen.
Und Pereîs war kein ernstzunehmender Gegner. Nicht für die meisten kampffähigen Männer, und schon gar nicht für Brandulf.
Nur ganz tief innen, in einer geheimen Kammer seiner Selbst, spürte er einen Stich des Bedauerns. Denn der Gesandte war sicher kein schlechter Mensch. Doch dann sagte sich Brandulf mit einer Art grimmiger Belustigung, dass Jonah Pereîs ein unerfreuliches Ende seines Lebens vermutlich längst vorausgesehen hatte, und dass ihn ein solches Ende kaum überraschen würde – anders war sein Wirken, seine ständige Einmischung in die Geschäfte stärkerer und mächtigerer Männer, nicht zu erklären.
 
Zuletzt bearbeitet:
:hy: Reeba.

Schön von Dir zu lesen. Ein erst kleines, dann immer größer und dunkler werdendes Setting und ständig steigende Spannung. Klasse. Schade dass wir noch auf Nachschub warten müssen. Verlernt hast Du nichts :)
Danke dass Du diese Geschichte mit uns teilst.
 
@DameVenusia: Danke für Dein Feedback. Aus Deinem Mund ist das besonders hohes Lob. :>

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VI. Das Attentat




Nach der Wachablösung durch Simon lag Jonah unruhig am Feuer und lauschte in die Dunkelheit hinaus. Seinen Berechnungen nach würden sie Schwarzfels irgendwann am folgenden Tag erreichen.
Wieder und wieder wendete er die wenigen Dinge, die er über die Festung wusste oder vermutete, im Kopf hin und her. Fünf Tagesreisen trennten Schwarzfels von Madalën. Der Wald mochte schwieriges Gelände sein, vor allem wenn man unvorhergesehenes Eingreifen seitens der Barbaren oder Druiden bedachte. Trotzdem war das völlige Ausbleiben von Meldungen aus der Festung merkwürdig.
Schließlich hatte es sich bei der Missionarstruppe nicht um täppische Kuttenträger gehandelt. Das waren erprobte Reisende gewesen, geschulte Krieger, die Späher und Boten abkommandierten, wenn ein Ort ihnen unsicher vorkam. Selbst wenn Schwarzfels angegriffen worden war, hätte, so sagte Jonah sich, ein Bote nach Madalën durchkommen müssen.

Doch dann zweifelte er wieder. So ein Bote konnte von einem äußeren Ring aus Angreifern oder Beobachtern aufgehalten worden sein. Oder er konnte sich, vielleicht verwundet, auch schlicht im Wald verirrt haben, um dann allein irgendwo zugrunde zu gehen.
Zu viele offene Fragen. Zu viele Möglichkeiten.
Schließlich nickte er über seinen Gedanken ein.

Ein abgesonderter Teil seines Bewusstseins hatte schon erwartet, dass er unruhig schlafen würde. Daher staunte dieser Teil auch nicht über das Traumbild, das ihn irgendwann in der Nacht heimsuchte.
Anfangs war er in diesem Traum nicht allein.
Er meinte, unter vielen anderen Menschen auf einer Waldlichtung zu stehen. Es war Nacht.
Irgendwo in seinem Rücken gähnte ein offener Platz, und er fühlte die Gegenwart alter Steine.
Um ihn herum wurde gemurmelt. Unverständliche Stimmen. Sie klangen ehrfürchtig.
Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass die schattenhaften Gestalten in seiner Nähe nach oben schauten. Sie schauten in den Himmel. Also tat er es ihnen nach.

Irgendetwas am Bild der Sterne wirkte falsch. In einem bestimmten Ausschnitt des Nachthimmels wurden sie blasser.
Aber das war keine Wolke, die sich davorschob, begriff Jonah. Die Sterne verblassten, weil eine andere Lichtquelle ihr Funkeln überdeckte.
Aus der unauslotbaren Tiefe des Raums kam ein blaues Leuchten. Es näherte sich. Und Jonah, oder vielmehr sein Traum-Ich, verstand, dass von diesem Leuchten etwas unermesslich Fremdes ausging, etwas, dessentwegen er und die anderen Gestalten anfangs gar nicht an Flucht dachten. Diese merkwürdige Farbe bannte, machte unbeweglich, betroffen.
Aber als ihr Näherkommen andeutete, dass die Lichtung der Ort des Aufeinandertreffens sein würde, ging ein Ruck durch die Menschen.

Das Gemurmel erreichte eine höhere, wirre Note. Erste begannen, zurückzuweichen.
Aus dem Augenwinkel erfasste Jonah, wie sie miteinander verschmolzen. Er wollte fragen, was ihre Gedanken zu diesem Ereignis waren. Er spürte die allumfassende Ehrfurcht in Besorgnis umschlagen.
Da begriff er, dass die Anderen hier heimisch waren. Er aber nicht. Er war nur ein Gast.
Das verstärkte seine Unruhe. Er wollte irgendjemanden aufhalten, aber wohin er sich auch wandte, die Anderen waren plötzlich fort.

Panisch drehte er sich um die eigene Achse. Das blaue Leuchten hatte mittlerweile auch einen Ton, ein singendes Schreien, das anschwellende Dröhnen stimmhaften nahenden Untergangs.
Dann, als habe das Schicksal die verbleibende knappe Zeit einfach weggerissen, erfolgte der Einschlag. Irgendetwas von beträchtlicher Größe und Masse kam inmitten der Waldlichtung auf. Der Boden bockte. Bäume erzitterten und neigten sich, Felsen barsten.
Jonah konnte nichts weiter tun, als sich zu ducken und die Arme vors Gesicht zu heben. Ein Regen aus Tannennadeln, Erdbrocken und kleinen Steinen ging auf ihn herab. Kurz blendete das blaue Leuchten alles Weitere aus.

Als es schließlich erstarb, ging Jonah auf wackligen Beinen in Richtung der Stelle, an der der Einschlag erfolgt war. Trotz seiner Angst musste er sehen, was der Himmel da auf die Wälder niedergeschleudert hatte.
Ganz alte Bücher sprachen von der Aufteilung der Sphären in einen höheren Bereich und einen unteren. Der untere hieß Sanktuario. Er sollte der Boden für die Belange der gewöhnlichen Sterblichen sein, ihr Schauplatz. Aber manchmal, berichteten die alten Bücher, gab es Übertretungen, Übergriffe seitens der oberen Sphäre, wo ganz eigene Schlachten tobten, und solche Übergriffe waren für die Menschen Sanktuarios selten ein Grund zur Freude.

Rings um einen flachen Krater hatte der Ursprung des blauen Leuchtens den nadelbedeckten Boden und die Zweige kleinerer Bäume in Brand gesetzt. Feurige Herde glommen vor der Vertiefung.
Sie lenkten Jonahs Aufmerksamkeit ab. Bevor er Gelegenheit hatte, sich klarzumachen, wie töricht das war, wachte er auf.

Das Erwachen ähnelte einem Schlag ins Gesicht. Jonah setzte sich auf, verstört, schnell atmend, als sei er meilenweit gerannt. Sein Gefahrensinn schlug an, deutlich wacher als er selbst, und zappelte, um sich von den an seinem Bewusstsein klebenden Nachwirkungen des Traums zu lösen.
Die Umgebung tauchte vor seinen Augen auf. Es war nicht mehr stockdunkel, vielleicht nahte der Morgen. Simon stand dicht bei ihm, hatte ihn womöglich geweckt.
Jonah kam auf die Füße und zog er ein Kurzschwert aus der Scheide.
Dieses elende blaue Leuchten. Diese Idee, dass der Traum ihm irgendetwas hatte sagen wollen.
Unwichtig. Da war eine andere Gefahr in der Nähe.

Jonah berührte seinen Freund an der Hand und wies ihn an, die Rüstungen aus den Satteltaschen zu holen. Immer noch hinkte sein Denken hinterher. Während er in den umgebenden Wald starrte, zerrte Simon die Teile ihrer Harnische aus dem Gepäck.
Damit beladen, trabte er zu Jonah zurück.
Sie kamen nicht mehr dazu, sich vollständig zu rüsten. Mit Simon als Wache legte sich Jonah den Brustpanzer an. Sein Kurzschwert hatte er in den weichen Waldboden gerammt.

Plötzlich war da ein böses, dunkles Zischen. Dann wurde es ganz still.
Neben Jonah war Simon erstarrt, sein langes Schwert in den Händen. Jetzt sank das Schwert langsam, und als die Spitze den Boden berührte, folgte sein Benutzer nach und fiel auf die Knie.
„Simon?“
Jonah wandte sich seinem Freund zu, aber bevor er mehr als den Anfang einer Bewegung gemacht hatte, trat aus den Waldschatten ein Mann. Er war vielleicht fünfzehn Schritte entfernt. Das wenige natürliche Licht und das schwache Glimmen der Äste des Lagerfeuers reichten kaum aus, um die Umgebung zu erhellen. Außerdem war der Mann ganz in Schwarz gekleidet. Jonah erkannte ihn trotzdem, oder vielleicht gerade wegen der schwarzen Sachen.

Er riss sein Schwert aus dem Boden. Neben ihm saß Simon noch so, wie es ihn in die Knie gezwungen hatte. Seine Waffe war ihm aus den Händen geglitten. Was Jonah aus dem äußersten Augenwinkel von seinem Gesicht sah, wirkte, als starre er verträumt vor sich hin.
Ihnen gegenüber hob Brandulf, Jaronas‘ Unterkommandant, eine Armbrust. Er zielte nur grob. Er sah auch gar nicht zu Simon hin, der in seiner Massigkeit selbst sitzend noch ein wunderbares Ziel abgab – stattdessen waren seine Augen mit denen Jonahs verschränkt, als er den Bolzen abfeuerte.
Jonah zuckte unter dem erneuten tiefen Zischen zusammen. So nah er auch bei Simon stand, so voll die Geschichten auch von tapferen Getreuen waren, die sich einem Pfeil oder Stein oder sonst einem Geschoss opferbereit in die Bahn warfen, er konnte rein gar nichts tun. Er musste hilflos mit verfolgen, wie der zweite Bolzen Simons Gleichgewicht endgültig zum Kippen brachte.
Ohne einen Laut fiel der Hüne zur Seite.

Brandulf ließ die Armbrust sinken. Als Jonah sein anderes Schwert aus der Rückenscheide holte und vor Simon trat, lächelte er. Hinter seinen Beinen rührte sich etwas. Einen Herzschlag später kam ein großer grauer Hund aus der Dunkelheit und setzte sich neben seinem Herrn hin.
Erst jetzt stürmte eine Empfindung auf Jonah ein. Offenbar war der Schock noch zu frisch. Er verspürte weder Angst noch Entsetzen, auch keine Empörung angesichts der Person des Angreifers. Das einzig greifbare Gefühl war eine Art grausamer Betäubung.

Doch dann, unter Brandulfs seltsam abwartendem Blick, drängten Bruchstücke von Erinnerungen und Gedanken in seinen Schädel. Wie dieser Mann im Speisesaal neben ihm auf der Bank gesessen hatte. Wie sein von den anderen Paladinen so abweichendes Verhalten Jonah beeindruckt hatte, und wie er selbst in einem lachhaften Anflug von Hoffnung heilfroh gewesen war – heilfroh um Einen, der kalt bedrohlich wirkte, aber sich wenigstens geweigert hatte, den üblichen Narrentanz mitzutanzen. Dass dieser Mann sich jetzt als ihr Feind entpuppte, war beinahe so ernüchternd und fatal wie sein Kalkül.
Er hatte sich nicht mit irgendwelchem Ehrgehabe aufgehalten. Völlig unpaladinisch hatte er aus der Dunkelheit auf Simon geschossen. Jonah würgte einen Aufschrei hinunter. Möglichst unauffällig verlagerte er sein Gewicht auf das linke Bein.

In diesem Moment sprach Brandulf.
„Das hat keinen Zweck“, sagte er sacht. Er schüttelte den Kopf, immer noch lächelnd.
Jonah erwiderte das Lächeln und fasste die Schwerter fester. Seine Augen brannten. Simon lag einen Schritt hinter ihm, und er konnte nicht einmal nachsehen, wie es um seinen Freund stand.
„Hat Jaronas dich geschickt?“, hörte er sich Brandulf fragen.
Sein Gegenüber lachte auf – ein lautloses Schnauben. So viel Geringschätzung in einem kurzen Atemausstoß. Abgesehen davon antwortete der hagere Unterkommandant nicht. Stattdessen beugte er die Knie und ließ die Armbrust zu Boden gleiten.
Dann, während Jonah halb schicksalsergeben, halb zitternd vor wachsender Wut zusah, griff er nach hinten und holte zwei Äxte aus ihren Rückenhalftern. Vielleicht waren es diese Äxte, die Wahl der Waffen. Jonah nickte.

„Natürlich nicht Jaronas“, sagte er. Jegliches Gerede war sinnlos, aber er musste die raren Erkenntnisse ein Mal aussprechen. „Der kann dich nicht einordnen. Mit oder ohne seinen Befehl hättest du uns in Madalën bequem töten können. Aber du wolltest erst mehr über uns in Erfahrung bringen. Oder auf einen Wink von außen warten.“
Sein Gegenüber schnalzte leise. Die zwei langstieligen Äxte hingen scheinbar schlaff aus Brandulfs Fäusten, aber wie er sie hielt stellte in Aussicht, dass der Kampf nur Augenblicke dauern würde.
Selbst wenn es Jonah wider Erwarten glückte, die ersten paar Hiebe dieser Äxte zu überleben, hatte der Andere noch seinen Hund. Der brauchte auf einen Pfiff hin nur kurz dazwischen zu springen, um Jonah abzulenken.

Jonah hob das Kinn. Der hagere Unterkommandant betrachtete ihn gleichmütig.
Dann sagte er überraschend: „Mit deinem Diener mache ich kurzen Prozess. Mit dir auch, Pereîs. Hieran ist nichts Persönliches.“
Jonah blinzelte. Die Bemerkung war sicherlich als Beweis von Großmut gedacht, vielleicht sogar als milder Trost. Sie bewirkte nicht, dass er sich geehrt oder beschwichtigt fühlte. Sie bewirkte das genaue Gegenteil.
Simon lebte vielleicht noch. Und Brandulf, obwohl vermutlich kein wahrer Paladin, wandte dasselbe Maß auf ihn, Jonah, an wie fast ausnahmslos alle Menschen vor ihm.

„Gut.“ Er holte tief Luft. „Sei’s drum.“
Dann beschwor er seine Auren herbei. In den vergangenen Jahren hatte er höchstens ein halbes Dutzend Male wirklich vor Gegnern gestanden, vor Kriegern entlegener Beduinenstämme oder vor Banditen, die den Tross, in dem er gereist war, in Nacht und Nebel attackiert hatten. Mangels echter Kampfpraxis beherrschte er diese Auren nicht zur Gänze.
Aber sie konnten sich sehen lassen. Besonders jene des sogenannten Heiligen Feuers. Jonah duckte sich, machte seine kurze, gedrungene Form noch kürzer und gedrungener, während rings um seinen Standort und entlang seiner Arme blasse Flammen aus dem Nichts wuchsen. Sie würden einem Gegner nur schaden, wenn der Jonah ganz nah kam, doch sie waren in der Dunkelheit gut zu erkennen.

Die zweite Aura folgte der ersten auf dem Fuße. Sie nannte sich Gedeihen und bewirkte, dass er länger aushielt, was auch immer die Umwelt seinem Körper abverlangte. Da sie zu den höheren Auren zählte und der Lichtorden Begabte genau im Auge behielt, hatte Jonah sie heimlich herangezogen, um den Anschein des schlechten Kämpfers wahren zu können.
Mit den kleinen Flammen als Begleitern und dem orangefarbenen Pulsen zu Füßen erwartete er Brandulfs Attacke.

Sein Gegenüber schien zu zögern. Die schwarzen Augen betasteten Jonahs Verteidigung.
Dann aber, urplötzlich, brach Brandulf aus seiner Starre aus und griff an.
Er überwand die zehn Schritte, die sie noch trennten, in Sekundenschnelle und war auf einmal da, ein dunkler Derwisch, der die Äxte wie natürliche Verlängerungen seiner Arme schwang. Jonah entging dem ersten, auf seinen Kopf gezielten Hieb, indem er sich bückte und danach unbeholfen zur Seite auswich. Er brachte zusätzliche Distanz zwischen sich und Simons reglose Gestalt, das Herz in der Kehle.

Wieder war Brandulf jäh direkt vor ihm. Diesmal gingen beide Äxte auf Jonah nieder, beschrieben ein hackendes Kreuz, das ihn ausgeweidet hätte, wäre da nicht sein eigenes rechtes Schwert gewesen, das den Schneiden in den Weg kam.
Eisen kreischte. Die Wucht des Hiebs fegte Jonah um ein Haar das Schwert aus der Hand.
Er stolperte weiter zurück. Seine Handknochen bestanden in gleißender Pein darauf, dass man ihnen eigentlich keinen weiteren Dienst abverlangen konnte, aber er schaffte es irgendwie, die Waffen nicht fallenzulassen.
Wieder ein Hieb. Er begegnete ihm ungelenk, und die Schneide seines Kurzschwertes und die der gegnerischen Axt verhakten sich.

Die Welt war keuchender Atem, gebleckte Zähne. Verzweifelt rang Jonah seiner kurzen Statur alles an Standfestigkeit ab, was sie besaß. Er blieb wie durch ein Wunder auf den Füßen und lenkte Brandulfs Axt nach unten ab.
Sein Gegner schlug jetzt grob und schnell auf ihn ein, um ihn zu ermüden und bestenfalls aus dem Gleichgewicht zu bringen. Jonah wusste, dass er nur abwehrte, dass jeder Hieb derjenige sein konnte, der seine Deckung durchbrach. Leder zischte, Haut stank. Seine Aura hatte sich an Brandulf festgefressen, aber wenn der den Kampf kurz genug hielt, würde er mit angesengtem Fell davonkommen.
Und er, Jonah, würde hier sterben. Mit Simon als ewiger Last auf seiner angeblich unsterblichen Seele und einem Auftrag im Hinterkopf, den er nicht einmal wirklich begonnen hatte.

Er ließ sich nach hinten fallen. Der Boden presste ihm die Luft aus den Lungen.
Über ihm ragte sein hagerer Gegner auf. Seine schwarze Lederrüstung schwelte. Er setzte einen Stiefel auf Jonahs Unterleib und holte mit einer Axt aus.
Jonah schlug im Liegen die Fäuste zusammen. Grimmig, idiotisch, sah er zu, wie ein Feuerstoß nach oben ging und den halb über ihn gebückten Brandulf ins Gesicht traf.

Übergangslos war der Stiefel weg. Jemand heulte auf. Dann kam das Rascheln taumelnder Schritte.
Keuchend rollte Jonah sich auf die Seite und erhob sich. Der kurze Kampf hatte die Männer wenige Meter vom Lagerfeuer weggeführt. Brandulf war über eine unbekannte Verletzung gekrümmt, und sein Hund war auch da, griff Jonah aber nicht an, sondern sprang um seinen Herrn herum, winselnd und schwanzwedelnd.
Jonah streckte sich. Für eine kurze Weile standen sie einfach herum. Dann stieß Brandulf einen gepressten Fluch aus – und wandte sich zur Flucht.
Mit seinem Hund auf den Fersen stolperte der geblendete Unterkommandant in den dunklen Wald.
Erhitzt und wirr starrte Jonah ihm nach. Bald war nichts mehr von Brandulf zu sehen. Nur entfernt zwischen den Bäumen, hangabwärts, knackte es noch, als breche der Angreifer blind durchs Unterholz, aber selbst dieses Knacken wurde schnell leiser und verschwand schließlich ganz.

Mit einem Aufstöhnen ließ Jonah die Kurschwerter sinken. Er tastete sich rückwärts zum Lagerfeuer hin und kam bei einem Hindernis an.
Simon war auf den Rücken gerollt. Nachdem er seine Waffen untergebracht hatte, untersuchte Jonah ihn. Die Bolzen waren auf beiden Seiten in das weichere Fleisch zwischen Schulter und Brustmuskeln eingedrungen. Die Wunden klafften schwarz um die Geschosse. Blut rann über Simons schweißgetränktes Hemd.
„Simon? Simon!“ Natürlich hörte sein Freund ihn nicht. Wie dumm.

Jonah berührte das lange, kräftige Gesicht mit den schmutzverklebten Fingern der Rechten. Simon stöhnte auf, und seine Lider flatterten, aber ansonsten zeigte er keine Reaktion.
Ein Feldarzt hätte Jonah sagen können, ob es klug war, die Bolzen zu entfernen, oder vielleicht besser, sie an Ort und Stelle zu lassen, damit sie den Wundkanal vorübergehend verstopften. Er fluchte leise, Tränen in den Augen.

Hier durften sie nicht bleiben. Jonah hatte keine Ahnung, ob Brandulf zurückkommen würde.
Inzwischen zeigte das Licht zweifelsfrei an, dass der Morgen nahte.
Wohin jetzt? Jaronas hatte von Weilern im Wald gesprochen, aber davon hatten sie auf ihrem Weg nichts gesehen.
Simon brauchte Ruhe. Die Wunden waren ernst, und ohne Behandlung würden sie sich binnen Kurzem entzünden.

Mädchen und Simons grauer Wallach standen unruhig da, an einen Baum gebunden. Ganz deutlich fühlte Jonah die Nachwirkungen der Auren, das brodelnde Ersterben des Heiligen Feuers und die Leere, die das Verschwinden des Gedeihens nach sich zog. Einen Dreck hatte das gebracht.
Nach einer gefühlten halben Ewigkeit schüttelte er sich und holte die Pferde. Natürlich konnte er versuchen, hier auszuharren und auf ein Wunder zu hoffen. Aber bald würde ihm das Futter für die Tiere ausgehen, und andere Heilkräuter als Kamille, um leichte Wunden zu waschen, hatte er nicht dabei.

Simon auf den Rücken seines Wallachs zu wuchten, ging beinahe über Jonahs Kraft. Eine halbe Stunde lang mühte er sich ab, sah sich dabei selbst von außen: einen kleinen, erschöpften Mann, der einen doppelt so schweren Begleiter auf ein Pferd zu heben versuchte. Irgendwann kam Simon lang genug aus seinem Dämmerzustand, um ein paar Male die richtigen Muskeln zu betätigen. Schließlich hing er auf dem massigen Reittier, griff vage nach den Zügeln, verfehlte sie und glitt vornüber.
Jonah tätschelte ihm den Oberschenkel. Dann sammelte er die Zügel beider Pferde ein, bedachte das Lagerfeuer mit einem letzten Blick, und trat den Weg hangaufwärts an.
Den Weg nach Norden. Dorthin, wo Schwarzfels wartete.


***


Simon kam zu sich und war milde überrascht, in Bewegung zu sein.
Sein Körper fühlte sich zentnerschwer und bleiern an, aber diese ganze hilflose Masse wurde fortwährend geschaukelt und gewiegt, mit leichten Stößen, die ihn dazu brachten, die Zähne aufeinanderzubeißen. Seine Wange ruhte auf einem warmen Untergrund, der nach Pferd roch.
Er saß also im Sattel. Seine Erinnerung kam zurück. Jonah hatte ihn auf den Wallach gehoben, sie waren wieder unterwegs.

In Simons Kopf herrschte Chaos. Er schnaufte und zwang sich dazu, die wirbelnden Bilder in eine logische Ordnung zu bringen.
Gegen Ende von Simons Wache hatte sich ein Mann aus dem Walddunkel geschält, ein Mann, der gar nicht in ihre Weiterreise gehörte, aber trotzdem da war. Jaronas‘ merkwürdiger Unterkommandant.
Manchmal hatte die Wirklichkeit ein Einsehen mit den eigenen trägen Gedanken. Wo Simons und Jonahs Gutgläubigkeit sie getäuscht hatte, war eine Tatsache in ihre Mitte gesprungen – Madalën, oder wenigstens eine Kraft in dem Posten, dachte gar nicht daran, sie ihrer Wege ziehen zu lassen.

Das Pferd unter Simon stolperte über eine Wurzel, und der Hüne grub das Gesicht in die fellige Schulter. Eine feurige Welle nach der nächsten schwappte über ihn hinweg.
Es schien, dass Brandulf ihn mit Bolzen gespickt hatte wie einen vorbereiteten Braten. Simon hatte die geraden Linien und ausgeklügelten Mechanismen einer Armbrust erspäht, kurz vor dem ersten Schuss. Das konnte ja nur ein Manöver gewesen sein, um Brandulf das Attentat zu erleichtern. Aber da sich Simons Pferd noch bewegte und er undeutlich die Tritte eines zweiten Pferdes vernahm, musste der Angriff insgesamt fehlgeschlagen sein.

Sicher nicht aufgrund von Jonahs Kampfkraft. Sein Freund war gut mit Worten und ein unübertroffener Beobachter, aber im Nahkampf hatte er gegen jeden halbwegs geschickten Angreifer nicht die leiseste Chance. Simon verstand.
Doch, ja. Zweifelsohne. Man musste Jonah Pereîs vollends in die Ecke drängen, um Zeuge seines versteckten Potentials zu werden. Und hier im Wald hatte er keine Ordensaugen zu fürchten.
Jetzt meinte Simon auch, sich an einen Schrei zu erinnern, und an gequältes Fluchen. Er wusste nicht recht, ob er bestürzt oder erleichtert sein sollte. Jonahs Fähigkeiten hatten ihnen einen kleinen Vorteil verschafft, aber sie befanden sich immer noch inmitten fremder Wälder, meilenweit von möglicher Hilfe entfernt.

Hier versagte die Selbstdisziplin des Hünen. Wahrscheinlich fieberte er, und oberhalb seines Nabels hatte sich sein Körper in eine schmerzende, heiße Masse verwandelt. Er versuchte mehrmals, sich im Sattel aufzurichten, doch ohne Erfolg.
Er sank in Apathie zurück. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, stand sein Pferd still. Jonah war bei ihm. Er hielt Simon einen Wasserschlauch an den Mund. Simon trank gierig. Der Kopf wollte ihm bersten. Er knurrte und fixierte das Gesicht seines Freundes mit einiger Schwierigkeit.

Jonah sah ungewaschen aus, Kinn und Wangen dunkel, wo Bartstoppeln wuchsen, die abzurasieren er keine Zeit gehabt hatte. Seine großen Augen waren tief umschattet.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er Simon.
Simon schüttelte den Kopf. Er konnte seine Hände nicht benutzen. Schon diese kleine Kopfbewegung hob ihn aus der Balance, und er begann vom Rücken des Wallachs zu rutschen.
Jonah blieb nichts anderes übrig, als den Wasserschlauch fallenzulassen, nach oben zu greifen und sich gegen ihn zu stemmen.
Simon fühlte seinen schweren Atem. In seinen halb bewusstlosen Zustand drang deutlich ein, wie sein Freund stank – nach altem Schweiß, nach dem Elend einer verfahrenen Lage.

Schließlich gelang es ihnen irgendwie, Simons prekäres Gleichgewicht wiederherzustellen. Der Hüne war bestürzt über den unbekannten Ausdruck auf Jonahs Gesicht. Da hockte eine ungute Besessenheit unter den Zügen, die er so gut kannte, ein Schwelbrand, so als habe Jonah ebenfalls hohes Fieber.
„Was jetzt?“, fragte Simon ihn, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen.
In diesem Moment drückte ihn seine eigene Untauglichkeit nieder wie nie zuvor. Als Beschützer hatte er versagt, als Begleiter war er in diesem Zustand nur eine Last, und der Schlund aus Erschöpfung und Schmerz würde sich bald um ihn schließen.
„Weiter“, antwortete Jonah mit der Linken.

Bevor Simon etwas einwenden konnte, wandte sein Freund den Blick ab. Als er wieder vor Simon auftauchte, hatte er eine zusammengerollte Decke dabei. Die schob er dem Verwundeten unter Kinn und Brust. Für den Weiterritt.
Eine neue Hitzewelle hob Simon empor, riss ihn mit. Der Schmerz kam über ihn wie ein krallenbewehrtes, rotgeflecktes Ungeheuer.
Ganz vage am Rand seines Bewusstseins schwamm Jonahs Gesicht, schwammen die kurzen, eckigen Bewegungen, mit denen er Simon die Decke untergeschoben hatte. Es war selten vorgekommen, dass er sich wegdrehte, wenn Simon vielleicht noch eine Frage stellen wollte.
Das, begriff der Hüne, ähnelte einem schwachen Bruch. Das war Grund zur Besorgnis.
Aber da begann das Pferd schon wieder, sich unter ihm zu bewegen. Die Reise nahm ihren Fortlauf ins Ungewisse.


***


Rings um den nach Süden hin offenen Hof hingen und hockten zwei Dutzend Gestalten. Außer wenn sich eine Krähe auf ihnen niederließ, rührten sie sich nicht. Schloss man aber die Augen, lösten sich Schatten von diesen Gestalten ab, darauf erpicht, wegzukommen, und jeder von ihnen trug ein kaum noch sichtbares Lebenslicht vor sich her.
Der Mann, der inmitten des Hofes stand und diese Schattenparade zwei-, dreimal hatte vorbeiziehen sehen, öffnete die Augen.

Da war ein helleres Lichtlein am Rande des Schauspiels gewesen. Eines, das auf Unversehrtheit des Trägers hindeutete. Eines, das entschieden nicht hierhergehörte.
Der Mann runzelte die Stirn. Seinem Wissen nach bestand wenig Gefahr, dass sich die älteren Völker dazu herabließen, einen einsamen Reisenden hinterrücks zu erschießen. Außerdem war da noch der Bann, der auf der gesamten Gegend lag. Ein rein vorgestellter Bann, aber immerhin. Es gab nicht einmal besonders viele Tiere hier.
Sie waren wahrscheinlich vernünftiger als Menschen. Doch gewisse Bewohner der nördlichen Wälder hatten angeblich eine sehr gute Verbindung zu Tieren. Was, wenn sie die nach Gutdünken von diesem Ort wegriefen und dann wieder herschickten, zum Beispiel, wenn sich ein Fremder in der Nähe herumtrieb?

Forschend machte der Mann die Augen schmal. Es war sehr still ringsum. Selbst der Wind, der ansonsten über jede freie Fläche in diesen Höhen herfiel, mied den Ort. Obwohl ihm etwas Wind ganz gutgetan hätte. Der Morgenhimmel hing niedrig auf die Welt herab.
Nach einer kurzen Weile, die ihm keine neuen Erkenntnisse bescherte, bewegte der Mann sich langsam auf den südlichen Hofrand zu. Die Steinplatten unter seinen Stiefeln waren schiefergrau, abgetreten, aber ordentlich gelegt. Wo sie endeten, hatte man ein paar massige Pfähle ins benachbarte Erdreich gerammt.

Als der Besucher sie erreichte, stoben Wolken dicker Schmeißfliegen auf. Er beachtete sie nicht, sondern spähte in die Richtung, in der er das einzelne hellere Lebenslicht vermutete. Anspannung überzog seinen Rücken mit einer Gänsehaut. Trotz seiner Begabungen war er kein Krieger. Er hatte sich angewöhnt, leise und behutsam durch Situationen zu gehen, in denen er Waffengewalt rettungslos unterlegen war. Jemand wie er stand eigentlich immer in der zweiten Reihe.
Außerdem kannte er diesen Teil der Welt noch nicht allzu gut. Für seine einsamen Wanderungen reichte es, aber ein feindlicher Bogenschütze, dem sauer aufstieß, dass er durch diesen Wald stromerte, konnte ihn ziemlich problemlos erschießen.

Die Fliegen kehrten nach und nach dorthin zurück, von wo der Mann sie vertrieben hatte. Ihr Summen war das einzige Geräusch.
Dann knackte es im Wald gegenüber dem Hof. Der Mann trat hinter einen der Pfähle zurück. Ja, das Lebenslicht flackerte kurz auf. Sein Träger war vermutlich über den eigenen Fehler erbost und hatte für Sekunden versäumt, sich klein zu machen.
Höchstwahrscheinlich ein druidischer Späher. Das waren vorsichtige Leute mit sonderbaren Vorstellungen darüber, welche Flecken ihres Landes betreten werden durften. Anders als die Barbaren, die erst heranstürmten und auch gern die Waffen sprechen ließen, bevor sie Fragen stellten, hielten sich Druiden nicht an irgendeinen Kodex – zumindest an keinen, der Fremden ohne Weiteres einsichtig gewesen wäre.

Der Mann dachte nach. Aus Gründen, die er nicht verstand, wurde jetzt angestoßen, was über diesem Ort lastete. Es begann, träge durcheinander zu quirlen, so als ob ein Windstoß die fettigen, stinkenden Rauchschwaden über Verbrennungsstätten aufwirbelte.
Das Lebenslicht des Beobachters zog sich zurück. Misstrauisch, aber sacht beruhigt, stand der Mann im Schatten des Pfahls. Vorerst würde er hierbleiben. Seitdem er den Ruf dieses Ortes vernommen hatte, war er davon überzeugt, dass er hier etwas lernen konnte. Und lernen musste er. Für Seinesgleichen gab es keinen Abschluss der Ausbildung.
Außerdem war Neugier schon immer einer seiner Charakterzüge gewesen. Einer der freundlicheren.
Also wartete er noch eine Weile, und als der Beobachter nicht zurückkehrte, ging er quer über den Hof zum Haupteingang des Gebäudes.
 
Zuletzt bearbeitet:
Sehr schön, sehr schön. Ich mag die Geschichte nicht zuletzt weil man doch irgendwie neugierig ist endlich die gesamten Hintergründe der Charaktere zu erfahren. Obwohl jedes Kapitel immer etwas mehr davon preisgibt, verbirgst du bisher gekonnt das gesamte Aufdecken aller Hintergrundinfos :D

Wo Simons und Jonahs Gutgläubigkeit sie getäuscht hatte, war eine Tatsache in ihre Mitte gesprungen

Finde ich etwas verwirrend, vielleicht schreibst du "wo Simons und Jonahs Gutgläubigkeit sie beide getäuscht hatte...."?


Ich will mehr :hy: :D
 
@Horseback: Danke für Dein Feedback, die erwähnte Stelle schaue ich mir mal an.


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VII. Schwarzfels



Wenn er seinen Sinnen noch trauen durfte, hatte sich der Wald nicht verändert.
Trotzdem blieb Jonah stehen. Um einen genauen Blick in die Runde zu schicken, aber auch, um zu verschnaufen. Seit Stunden schon zog er die Pferde hinter sich her, Mädchen direkt am Zügel, während der Wallach mit seiner bedrückenden Last am Sattel der Stute festgebunden war.
Das Gelände war kaum besser als in den Tagen zuvor. Es ging ununterbrochen bergauf. Doch was Jonah weit mehr Sorgen machte als seine nachlassende Kraft, war, dass er sich fühlte wie in einem leichten Rausch.

Während der ersten zwei, drei Stunden nach ihrem Aufbruch hatte er nach hinten gelauscht, so gut es ging, oder bisweilen angehalten, um zurück zu spähen. Vielleicht verfolgte Brandulf sie. Jonah hatte ihn abgewehrt, aber das Ausmaß der Verletzung durch seine tölpelhafte Magie war ihm unbekannt. Womöglich zog der Unterkommandant genug Zorn und Ausdauer aus der Niederlage, um ihnen jetzt in Raserei hinterher zu eilen, und sie waren leichte Ziele.
Doch Jonahs Gedanken daran hatten sich nach und nach verbraucht. Seine Wachsamkeit hatte nachgelassen. Nein, das traf es nicht ganz. Seine Haltung dieser speziellen Bedrohung gegenüber war viel umfassender. Brandulf kümmerte ihn nicht mehr.

Einem verbliebenen, alles von außen betrachtenden Teil seiner Selbst kam das merkwürdig vor. Besonders, da er sich deutlich an die seelische Erschütterung und Panik während des Angriffs erinnerte.
Was war mit diesen Gefühlen geschehen? Wohnte dem Wald ein Zauber inne, der natürliche und notwendige Regungen abschliff, verharmloste? Jonah ahnte, dass sein Zustand so einem Einfluss Vorschub leistete. Er hatte seit der Mitte des vorigen Tages nicht mehr genug gegessen, und sich ohne eine klare Vorstellung vom Ziel allein durch unwegsames Gelände zu kämpfen, von Sorge um Simon niedergedrückt, laugte ihn aus.
Es war mühselig, nachzudenken.
Lange konnte er so nicht weitermachen.

Jonah setzte sich wieder in Bewegung, stolperte über einen im Laubteppich verborgenen Stein. Mädchen, die er dabei versehentlich am Zügel riss, um nicht hinzufallen, warf den Kopf hoch und rollte mit den Augen. Irgendetwas versetzte die Pferde in Unruhe. Bislang waren sie den Paladinen erstaunlich gut gefolgt, sogar direkt nach dem Attentat.
Jetzt aber schienen sie sich der Fortbewegung entgegenzustemmen, mussten weitergezerrt werden. Wann immer er anhielt, traten sie nervös von einem Bein aufs andere, die Nüstern gebläht. Dabei waren sowohl Mädchen als auch Simons Wallach durch die vielen Reisen in Kriegsgebiete an Gefahren gewöhnt.

Jonah strich der Stute über die Nase. „Gefällt er dir nicht mehr, der Wald? Mir auch nicht. Vielleicht hatte Jaronas ja Recht. Einen Mistwald hat er das genannt.“
Er schaute sich um, verschwitzt, fiebrigen Druck hinter der Stirn. Der Mistwald sah von allen Seiten her gleichmütig auf ihn herab.
Er stand da wie ein Idiot, oder wie ein Kranker, und wusste, dass es nirgend hin ging außer vorwärts.
„Hilft nichts“, teilte er Mädchen mit. „Wir müssen weiter.“
Der Klang seiner eigenen Stimme war fremd. Ihm war, als habe er in einer völlig unpassenden Umgebung einen kläglichen Witz gemacht.
Jonah nickte. Dann setzte er den Weg fort, die unwilligen Pferde hinter sich.

Diesmal hatte er nicht nach Simon geschaut. Als ihm einfiel, dass er seit fast achtundvierzig Stunden auch nicht mehr gebetet hatte, nickte sein Kopf noch einmal für ihn.
Teile seiner Lage, Teile, denen er nicht richtig auf die Schliche kam, passten zusammen. Er würde schon herausfinden, was hier vor sich ging, und er hatte ja sowieso keine Wahl.
Es war, als habe sein Nachgeben einem neuen Einfluss die Türen geöffnet. Oder wahrscheinlich war dieser Einfluss vorher schon dagewesen – aber jetzt fand er Schlaufen und Ösen an Jonah, an die er sich hängen konnte, breitete die Arme aus und holte ihn ganz zu sich.

Der Wald begann sich zu lichten.
Zwischen den dickeren Bäumen lag etwas, das entfernt einem alten Pfad glich. Rillen waren in den Boden gegraben. Sie kamen von links, aber ungefähr aus südlicher Richtung, und führten nordwärts. Dorthin, wo die Dichte des Waldes zum ersten Mal seit Tagen aufbrach.
Jonah blieb erneut stehen. Im selben Moment, als er verstand, dass er die Spuren der Missionstruppe gefunden hatte, bemerkte er die Stille.
Kein Vogel sang. Kein Getier raschelte im Unterholz. Wie vor einem großen Gewitter war der ganze Wald in Lautlosigkeit erstarrt. Trotz der Freifläche, die sich dort hinten befinden musste, war kein Wind zu spüren.

Die Pferde standen hinter Jonah, als könne das kleinste unbedachte Zucken sie dazu verleiten, aufzuschrecken und davonzujagen. Das brachte ihn ein wenig zu sich. Es war schwierig, sich um sie zu kümmern und gleichzeitig die vermutete Lichtung im Blick zu halten, aber nach einigem Umherstolpern, Zerren und Schieben hatte er sie unter zwei gewaltige Eichen manövriert.
Hier band er die Tiere an. Simon war bewusstlos. Seine Haut verströmte Hitze wie ein Backofen.
Jonah erwog den Versuch, seinen Freund vom Pferd zu hieven, aber er hatte Angst vor den Folgen eines Sturzes. Seine Hände zitterten leicht. Überhaupt ging ein andauerndes Zittern über ihn hin. Wie im Traum überprüfte er seine Ausrüstung, zog die Riemen des Harnisches fest, etwas, das ihm bis hierher entfallen war.

Von der fernen Lichtung kam inzwischen ein stetiger Sog. Da oben wartete etwas auf ihn.
Seine steifen Beine führten Jonah wie von selbst bergauf. Die Helligkeit der Freifläche hinter den Bäumen kam näher.
Er atmete durch den Mund. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so deutlich das Gefühl gehabt, am richtigen Ort angelangt zu sein und trotzdem wegzuwollen.

Da waren ein paar letzte Bäume, Kumpane eines Spaliers, das ein weites Halbrund bildete. Sie luden förmlich zum Verharren ein, aber der Sog riss Jonah vorwärts. Er gestattete ihm auch nicht, die Szenerie, die sich vor ihm ausbreitete, allmählich und stückweise in sich aufzunehmen. Er sah alles auf einmal, jedes beredte Detail, jede der vielen Ausschmückungen, mit denen ein offenbar kranker Geist das Gelände vor ihm ausstaffiert hatte.

Am anderen Ende der Freifläche kauerten Steinbauten, niedrig, höchstens zweistöckig. Ein zentraler Gebäudeteil mit zwei stämmigen Wehrtürmen schaute auf einen gepflasterten Hof herab. Der Hof war auf drei Seiten von hohen Mauern eingefasst, aber nach Süden hin offen. Die Pflasterung endete einfach und ging in den langen Hang über, der sich bis zu Jonahs Füßen absenkte.
Die Spurrillen, die er im Wald bemerkt hatte, waren auf dem Hang viel deutlicher. Zwei Karren standen am rechten Waldrand, schief, mit offenbar gebrochenen Achsen. Fässer und Kisten lagen längs der Spurrillen verstreut.

Die Witterung und die Zeit hatten an allem in Sichtweite genagt. Trotzdem gab es keinen Zweifel.
Er hatte Schwarzfels gefunden.
Und, dem Anschein nach, die lang verschollene Missionstruppe. Oder wenigstens einige ihrer Mitglieder.
Die erste Leiche lag mitten auf dem Hang. Der Mann musste schon eine gute Weile hier gelegen haben: was Jonah von seinem Körper sehen konnte, wirkte wie gegerbt, mit an die Knochen zurückgeschnurrtem Fleisch, fleckigen Resten von Haut. Das Kopfhaar war lang, modrig. Da der Tote auf dem Bauch ruhte, schaute er nach unten, als starre er tief ins Erdreich hinein. Ein Kriegszepter blinkte neben ihm im Gras.

Im Weitergehen hob Jonah den Blick. Da stand ein halbes Dutzend Pfähle an der Grenze zwischen Hof und Hang. Sie waren alle besetzt, aber anscheinend war man sich über die Art der Aufhängung nicht einig gewesen. Drei der Toten hatte man aufrecht angebunden, die anderen drei baumelten verkehrt herum. Nur ein Mann hatte zum Zeitpunkt seines Ablebens den Hof im Blick gehabt, doch dass er deshalb zu beneiden gewesen war, schien sehr zweifelhaft.
Rings um den Hof warteten weitere Leichen. Sie hingen an Ketten, aber viele saßen auch einfach gegen die Ost- oder Westmauer gelehnt da oder lagen umher wie Männer nach einem enormen Besäufnis.

Jonah blieb stehen. Sein festester Verstandesmuskel hatte irgendwann während seiner Schritte auf den Hof zu mit dem Zählen begonnen. Er kam auf achtundzwanzig Tote. Möglich, dass in der Nähe der Karren weitere Leichen zu finden waren, aber das konnte er später noch nachprüfen. Jedenfalls war hier nicht die ganze Missionstruppe versammelt.
Flüchtig huschte ein Bild seiner Selbst vor seinem geistigen Auge vorbei, wie er versuchte, all diesen Toten ein gemeinsames Grab zu schaufeln, und das in wurzeldurchsetzter, ungeweihter Walderde. Lachen gluckste in ihm hoch. Ein anderer Laut, vielleicht ein Stöhnen, machte mit dem Auflachen kurzen Prozess.

Wo waren all die Übrigen? Wo waren die Pferde und Nutztiere abgeblieben, die zu einer so großen Truppe gehörten? Jonah schaute an einem der Pfähle hinauf in die Totenfratze eines Gesichts.
Der Schock schützte ihn im Augenblick noch, aber die Vergegenwärtigung der Tatsache, dass hier etwas nie Gekanntes vorgefallen sein musste, würde kommen, und mit Macht. Besser, er ging weiter, solange ihn seine Beine noch trugen.
Jonah trat zwischen den Pfählen hindurch. In dem Moment, als er seinen Stiefel auf die seltsam alten Steinplatten des Hofes setzte, erlahmte sein benommener Fortbewegungsdrang. Der watteartige Kokon des Schocks verbrannte.
Es kam nicht dazu, dass er von Entsetzen geschüttelt in die Knie ging oder Hals über Kopf die Flucht ergriff, aber beide Möglichkeiten waren kurz sehr nahe. Zwischen ihnen eingekeilt, stand er wie erstarrt auf der ersten großen Platte.

Plötzlich waren da der Leichenbrodem, die zerzausten Umrisse einiger Krähen, die schwere Lautlosigkeit, das Gesumm von Fliegen – all das gerann zu der einen entscheidenden Frage, vor der ihn die Gnädigkeit drohenden Wahnsinns bislang verschont hatte. Sie erschütterte Jonah wie das Dröhnen einer Glocke. Er begriff, dass er diese Frage nicht ganz aus eigenem Antrieb vergessen hatte.
Der Ort war mitschuldig daran. Er brachte einen dazu, Dinge zu vergessen.
Nun, da Jonah am Rand des Festungshofes stand, hatte der Sog nachgelassen. Aber da wollte ihn immer noch etwas bei sich haben, etwas in seiner Nähe, das ihn rief wie eine dieser körperlosen Stimmen, die man zuweilen im Traum hört.

Mit hochschlagendem Herzen ließ er die Augen über das Hauptgebäude der Festung wandern. Die Front war auf beiden Geschossen mit Fenstern versehen, doch die des unteren Stockwerks lagen zu hoch, als dass er hätte hindurchschauen können. In einigen hingen zerfetzte Stoffstreifen oder Säcke, Reste von Versuchen, Wind und Sonne abzuhalten.
In Jonahs äußerstem Sichtbereich erhob sich plötzlich eine Krähe in die Luft. Er zuckte zusammen. Kurz brach das Entsetzen in ihn ein und fuhrwerkte in seiner Seele herum, aber er scheuchte es weg.
Der verbliebene schwächere Sog schien zu helfen. Sonderbar.
Jonah blinzelte. Dann zog er mit der Rechten das Kurzschwert eine Handbreit aus der Scheide, fasste die Türöffnung des Hauptgebäudes ins Auge und ging quer über den Hof.

Im Inneren des Gemäuers herrschte Halbdunkel.
Offenbar klafften Lücken in den Wänden, und Licht kam auch von oben, wohin eine rohe Treppe führte. Trotzdem sah Jonah anfangs nur wenig.
Links hinter der Türöffnung ging es fast unmittelbar in einen weiten, niedrigen Raum. Immer noch war es still.
Jonah trat ein. Hier hielten sich weitere Tote auf. Aber der Paladin kam nicht mehr dazu, ihre Zahl zu überschlagen.
Am gegenüberliegenden Ende des Raumes, hinter einem wuchtigen Tisch, stand ein Lehnstuhl. Darin saß ein Mann.
Bei Jonahs Eintreten drehte er den Kopf.


***


Nun waren sie endlich da. Befremdlich, wie der Wald diese Menschen verwirren und aufhalten konnte. Aber sie hatten den Platz gefunden.
Zwei Männer waren mit ihren Pferden bis ganz nah an die Schwarze Festung herangekommen. Einer der Männer sah aus, als sei er schwer verwundet, wie er da auf dem Rücken seines Reittiers hing. Also hatten die Fremden den Rat der Druiden nicht beherzigt.
Der andere Mann hatte die Pferde am Waldrand angebunden und war dann langsam, wie in Trance, auf das Gemäuer zugegangen.

Der druidische Späher versuchte, sich in den Geist dieses Mannes einzufinden. Es war schwer. Von den Leuten, die immer wieder aus dem Süden kamen, trennten ihn lauter wesentliche Dinge: Herkunft, Erfahrung, Denkweise. Man hatte ihm gesagt, diese Fremden seien Abgesandte einer großen Menschenansammlung weit unten in der Marsch, wo kein Druide jemals seinen Fuß hinsetzte. Sie lebten überwiegend in Städten, waren zahlreich, gut organisiert, und beteten das Licht als Quelle allen Seins an.
Bis an den Südrand der Wälder waren sie schon vorgedrungen, und dort waren sie natürlich mit den Barbaren aneinandergeraten. Der Späher zog die Brauen zusammen.

Vor Jahrhunderten hatte sich sein eigenes Volk von den Barbaren abgespalten. Die geteilte Herkunft hatte den zwei Lagern nicht gerade dabei geholfen, diese Spaltung friedlich abzuwickeln. Für Menschen, die ihre Verwandtschaftsbeziehungen so eng hielten, kam es Verrat gleich, wenn jemand aus ihren Reihen plötzlich verkündete, er wolle in die Wälder gehen, um anderen Größen als den Ahnen zu huldigen.
Die Barbaren sahen mit grollendem Kopfschütteln auf die druidische Lebensweise herab, das wusste der Späher. Sie fanden, jemand, der sich in den Wäldern versteckte, um mit Tieren und sogenannten Erdkräften Zwiesprache zu halten, war ein Narr und ein Feigling. Dass die Druiden die wuchtigen Waffen ihrer ehemaligen Brüder weitestgehend abgelehnt und stattdessen zu Bogen und Pfeilen gegriffen hatten, machte die Sache nicht einfacher.

Die Druiden hingegen hatten genug von den Pfaden der Barbaren, bei denen nur die Stärksten und Durchsetzungsfähigsten Rechte beanspruchen durften. Ein Druide konnte auch dann zum Führer werden, wenn er mit seiner Umgebung im Einklang war, egal wie hinfällig, egal welchen Alters, egal ob Mann oder Frau.
Dieser Einklang erforderte oft Jahre währendes Hinlauschen auf die Stimmen und Spuren der Tiere, der Bäume, der zähen Erdbewegungen. Das dauerte den Barbaren zu lange.
Also hatte man sich entzweit.
Inzwischen ging der Spalt tief, zu tief für gegenseitiges Verständnis.

Aber die beiden Klassen bewohnten noch denselben Teil Sanktuarios. Wann immer ernste Gefahr aus dem Süden oder aus anderer Richtung drohte, ließen die Barbarenclans ihre verstoßenen Verwandten davon wissen. Man sprach kaum je miteinander. Trotzdem hatten sich die Druiden ihrerseits für die mürrische Halbtreue ihrer einstigen Brüder revanchiert – indem sie den Clans Nachrichten schickten, wenn das gemeinsame Land unter den Füßen Fremder zu summen anfing.

Der Späher, der seit Tagen die Schwarze Festung bewachte, nahm seine Aufgabe ernst.
Am Morgen war ein einzelner Wanderer aufgetaucht. Nach einigem Umherstreifen war er im Inneren der Festung verschwunden. Den Druiden hatte dieser Mann sehr beunruhigt.
Irgendetwas an ihm flüsterte von Dunkelheit, von heimlichen, verschlungenen Wegen. Nichts, das an die Kräfte der Erde erinnerte, nein. Etwas, das die Ordnung der Lebensstationen aus den Angeln hob und alles fest Gefügte miteinander vertauschte.
Der Späher hatte für eine Weile mit sich gerungen. Sollte er seinen Leuten davon Meldung machen? War dieser einsame Wanderer mit dem Fluch, der über der Festung hing, auf irgendeine Weise verbunden? Er wusste zu wenig.

Doch sein Auftrag lautete, nach Abgesandten aus dem südlichen Außenposten der Westmarschener Ausschau zu halten. Sein eigener Sohn hatte ihm mitgeteilt, er habe zwei Männer weiter unten im Wald angetroffen, sogar mit ihnen gesprochen. Leider ohne befriedigendes Ergebnis.
Die Sturheit der Städter schien der ihrer Gegner in nichts nachzustehen. Die Männer waren weitergereist. Sogar nach dem Zusammenstoß mit jemandem aus ihren eigenen Reihen, wie es aussah.
Und jetzt waren sie hier.

Der Späher witterte ihre Erschöpfung. Sie hatten sich durch den Wald gekämpft, anstatt Unterstützung in seiner Fülle zu finden, und darum waren sie am Ende ihrer Kraft.
Er stand auf und hob das Kinn, unsicher, ob er sie bemitleiden oder verwünschen sollte.
Der eine Mann ging jetzt ebenfalls ins Innere des Gemäuers. In seinem Zustand hörte er die Warnungen seiner Seele wahrscheinlich nicht mehr. Vielleicht würde er demselben Wahnsinn anheimfallen wie all diese Toten rings um den stillen Hof da unten.

Die faltigen Lippen zusammengepresst, setzte sich der Späher auf einen Felsbrocken. Näher würde er nicht an dieses elende Gebäude heranrücken. Für eine Weile noch würde er warten und zusehen, was geschah.
Aber er konnte sich immerhin vorbereiten. Er hob eine Hand, und von den stillen, unbewegten Körpern unterhalb seiner Position flatterte eine Krähe auf.
Sie ließ sich neben dem Druiden auf dem Fels nieder. Sie hatte gut gegessen, das sah man. Ihr schwarzes Kopfgefieder glänzte vor Fett.

„Meine Freundin, du stinkst“, flüsterte der Späher ihr tadelnd zu. „Kannst du kein besseres Aas finden? Na komm.“ Die Krähe wandte ihm ein gnadenloses Auge zu und hüpfte dichter an ihn heran. „Komm. Mach dich nützlich.“
Als der Vogel weggeflattert und am westlichen Horizont über dem Waldmeer verschwunden war, schauderte der Späher zusammen. Vom Hof ging nachtschwarze Bosheit in Wellen aus.
Was der angekommene Mann unten im Gemäuer finden mochte, entzog sich jedem Vorstellungsvermögen.


***


Jonah stand wie versteinert an der Türöffnung.
Die grausigen Entdeckungen draußen im Hof hatten ihn Vieles erwarten lassen, nicht aber, hier eine lebendige Seele vorzufinden.
Trotz seiner Erstarrung schlug sein Gefahrensinn an. Von der Merkwürdigkeit der Begegnung mal ganz abgesehen, kam ihm vom anderen Ende des Raumes etwas entgegen, das er nie zuvor gespürt hatte, nicht in all den Jahren inmitten der Heerlager und wandernden Streitkräfte. Dort hatte es vor Kriegern gewimmelt, den oft besten, erfahrensten Paladinen Sanktuarios – aber in was er hier hineingetreten war, glich einer Aura purer, unverhohlener Gefährlichkeit, die die Stille des Raumes mit einem lautlosen Summen füllte.

Jonah atmete flach und vorsichtig.
Der Raum maß vielleicht dreißig Schritte in der Länge.
Der Mann, der hinter dem Tisch saß, war selbst im Sitzen groß. Er trug, soweit Jonah sehen konnte, ausschließlich Schwarz. Wie um den Betrachter für die fantasielose Farbwahl seiner Kleidung zu entschädigen, bot er dagegen ein äußeres Merkmal auf, das ans Unnatürliche grenzte. Seine Haut und sein Haar waren schneeweiß. Das Haar hing ihm lang auf den Rücken hinab. Er saß zurückgelehnt wie jemand, der gewartet hat – in Ruhe und ohne sich an der Anwesenheit diverser Leichen zu stören.
Über die Länge des Raumes hinweg sahen sich die Männer an.

Im Inneren des Gebäudes war der Gestank alter Verwesung schlimmer. Obwohl er flach atmete, merkte Jonah, wie er ihn auszufüllen begann. Sein Denken lag brach. Angst hatte sich in seiner Magengrube eingenistet wie eine kalte Kugel. In dem unwillkürlichen Impuls, sich dagegen zu wehren, spannte er seine Muskeln und tastete im Geiste nach den allerersten, vorbereitenden Funken seiner Auren.

Der Mann rührte sich. Weder stand er auf, noch machte er irgendeine größere Bewegung. Er setzte sich nur ein wenig gerader hin, aber es reichte, um Jonahs Erstarrung zu beenden.
Mit der schweißnassen Rechten zog er das Schwert aus der Scheide. Das Entsetzen, das bis hierher ein Nachsehen mit ihm gehabt hatte, schien auf dieses winzige Verrücken seines Gegenübers gelauert zu haben und sprang ihn jetzt an – weil dieser Mann hier war, wo niemand sein durfte, und weil er sich bewegte.

Jonah bekam die Waffe nur zu zwei Dritteln heraus. Plötzlich senkte sich der Kopf des Anderen wie in einem kurzen Nicken.
Und plötzlich riss der Boden an Jonahs Gleichgewicht, an seiner Standfestigkeit, an seiner Fähigkeit und seinem Willen, sich zu rühren. Es war, als habe ihn irgendeine ernste Krankheit befallen, ohne sich auch nur im Mindesten um eine vernünftige Zeitspanne für ihre Entfaltung zu kümmern. Ihm wurde so jählings flau, dass er sich um Haaresbreite erbrochen hätte. Der Boden gähnte ihn von unten her an.
Es gelang ihm, nicht hinzufallen, aber er konnte keinen einzigen Schritt tun. Vornübergebeugt, Gallegeschmack im Mund, die Augen auf den Unbekannten geheftet, stand er da und rang um das letzte Bisschen Balance, während ihm Schweiß ausbrach, als sei er meilenweit wie ein Irrer gerannt.

Der andere Mann betrachtete ihn.
„Wenn du dein Schwert wieder einsteckst, Paladin“, sagte er dann, „lasse ich dich los.“
Seine Stimme war tief, mit einem deutlichen Akzent. Kein Westmarschener.
Ohne dass Jonah etwas getan hätte, das seine Absichten hätte erkennen lassen, hob sich der widerliche Bann auf einmal ein Stück. Er fühlte sich unverändert krank und schwach, aber er konnte sich langsam aufrichten. Sein Herz schlug schwer, außerstande zu fassen, was er gerade erlebt hatte.
Vorsichtig, sein Gegenüber im Blick, hob er die Linke und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Handlung wurde geduldet.

„Wer seid Ihr?“, fragte er erstickt.
Der bleiche Mann legte beide Unterarme auf die Tischplatte. Er trug Handschuhe.
„Ein Reisender“, entgegnete er. „So wie du, Lichtkrieger.“
Jonah holte Luft. Er hegte keine Zweifel daran, dass er hier womöglich sterben würde – dass dieser Wortwechsel der Auftakt zu einem Kräftemessen war, das er nur durch ein Wunder überleben konnte. Jeder Gedanke an das Herbeirufen einer Aura kam ihm lachhaft vor.
Aber da regte sich auch Stolz in ihm. Er war kaum durch die Widrigkeiten der vergangenen Tage gestolpert, um vor einem Fremden zu buckeln.

„Reisende sind wir alle“, sagte er. „Und ich habe weder Zeit noch Nerven, hohle Phrasen mit einem Magier auszutauschen.“ An dieser Stelle glaubte er zu sehen, wie sein Gegenüber eine amüsierte Regung unterdrückte. „Mein Name ist Jonah Pereîs. Ich bin ein Abgesandter des Ordens zu Kingsport.“
Der Mann schwieg. Erst nach einer ganzen Weile, während derer Jonah die Rechte um den Knauf des wieder in die Scheide geschobenen Schwertes krampfte, erwiderte er: „Pereîs. Interessant.“
„Ihr habt von mir gehört.“ Es war keine Frage, sondern eine ungläubige Feststellung.

Hunderte Meilen trennten ihn von der Westmarsch, und selbst dort wussten die meisten Menschen nichts mit seinem Namen anzufangen. Die Zauberkundigen der Wüste konnten ihn inzwischen wohl einordnen, aber dieser Mann da hinten – darauf hätte Jonah seine Ehre verwettet – war kein Elementarmagier. Sein Akzent passte ebenso wenig zur Wüste wie seine Erscheinung oder das, was er Jonah zugefügt hatte. Ihm kam ein Verdacht. Er war weit hergeholt und vage, doch Jonahs Interesse an anderen Gegenden und Zivilisationen Sanktuarios hatte ihn mit scharfen Sinnen für alles Fremdartige ausgestattet.

Der Mann saß reglos da. „Sagen wir, Euer Name ist mir geläufig.“
Der Wechsel zu höflicherer Anrede entging Jonah nicht.
„Erfreulich“, hörte er sich antworten. „Das wird mir ein immenser Trost sein, wenn Ihr mich umbringt.“
Diesmal lachte sein Gegenüber wirklich, ein Lachen tief aus der Kehle, genauso dunkel wie seine Stimme. „Euch umbringen, Paladin? Darüber habe ich noch nicht entschieden.“
Schlagartig war der Bann, der Jonah auf der Stelle festgenagelt hatte, weg. Zurück blieb nur ein Gefühl der Schwäche, so als sei er eben von einem Krankenlager aufgestanden. Er atmete erneut tief ein.
„Ihr habt mir Euren Namen noch nicht genannt“, wagte er sich vor.

So aussichtslos die Lage auch schien, vielleicht konnte er rechtzeitig seine Aura des Heiligen Feuers herbeirufen und damit auf sein Gegenüber losstürmen – er hatte bisher keine Waffen bemerkt.
Seine Gedanken an diese verzweifelte Finte schrumpften zu einem Nichts zusammen, als der Mann hinter dem Tisch eine Hand hob.
„Das würde ich lassen, an Eurer Stelle.“ Jeder Hauch von Belustigung war aus seinem Tonfall verschwunden. „Bleibt schön, wo Ihr seid, Bruder Pereîs.“

Plötzlich war Jonah des Wortgefechts müde. „Sonst tut Ihr – was? Belegt Ihr mich mit Eurem Bann und schaut zu, wie ich mir die Seele aus dem Leib kotze?“ Wie stets, wenn Wut die Oberhand über ihn gewann, wurde seine sanfte Stimme schnarrend. „Und danach hängt Ihr mich da draußen auf?“ Simon war ihm wieder eingefallen, der leichenübersäte Hof, die stumme Wache schlimm zugerichteter Toter.
Der bleiche Mann musterte ihn. „Ihr vermutet, dass Ihr dem Verursacher dieses Durcheinanders gegenübersteht“, sagte er schließlich. „Aber da irrt Ihr Euch.“
„Ach, wirklich?“, gab Jonah zurück. Auf geordnete Schlüsse hatte er im Moment keinen Zugriff, da existierte nur das Bedürfnis, sich Luft zu machen. „Ich weiß, woher Ihr kommt“, fuhr er fort. „Vom zweiten Kontinent. Aus dem Osten. Ihr seid ein Totenbeschwörer. Ein Nekromant.“

Als sein Gegenüber antwortete, schwang zum ersten Mal eine Spur von Ungeduld in seinen Worten mit. „Und ein Nekromant ist Eurer Ansicht nach nicht nur dazu imstande, sondern auch noch geistesgestört genug, die Bewohner einer abgelegenen Waldfestung samt und sonders abzuschlachten und rings an den Mauern aufzuknüpfen? Habt Ihr Euch diese Leichen genau angesehen? Einige sind stark verwest. Ihr Tod liegt Wochen zurück. Selbst wenn ich sie umgebracht hätte –”
Hier brach der Mann ab und erhob sich. Er war tatsächlich groß.
In der kurzen Stille schüttelte er sacht den Kopf.
Dann fuhr er in etwas ruhigerem Ton fort: „Selbst wenn ich sie umgebracht hätte, was hätte ich Eurer Meinung nach wohl anschließend getan, Paladin? Sie für finstere Rituale benutzt? Ihre noch lebenden Begleiter einzeln zu Tode gefoltert, und die Frischesten von ihnen gegessen?“

Jonah schluckte mit Mühe. Was sein Gegenüber gesagt hatte, entbehrte nicht einer gewissen Logik. Bei seinem Herankommen an die Festung hatte er keinerlei Anzeichen für den ständigen Aufenthalt eines lebendigen Menschen gesehen. Wer hier wochenlang ausharren wollte, brauchte Vorräte. Doch natürlich konnten die versteckten Behauptungen dieses Mannes ein schlauer Kniff sein. Er konnte von irgendwoher Nahrung beziehen, durch die Jagd oder aus Beständen der Festung.
Ihm wollte keine passende Entgegnung in den Kopf.

Reglos und wachsam standen sich die Männer gegenüber.
Schließlich sagte der Totenbeschwörer: „Ihr habt mit Einem Recht. Ich bin ein Nekromant.“ Er kam langsam hinter dem Tisch hervor. Es zeigte sich, dass er abgenutzte Stiefel, lederne Hosen, einen breiten Plattengürtel und einen bodenlangen Mantel trug. „Mein Name ist Hadan.“
 
Zuletzt bearbeitet:
endlich neuer Stoff. Gefällt mir auch weiterhin gut, nur eins ist geblieben: Man liest viel und erfährt doch nichts. Man könnte auch sagen viele Wörter, wenig neues; das soll aber jetzt nicht negativ klingen.

Was anderes: Auf Englisch heisst das Gebiet Westmarch. Ich denke die treffendere, bzw. hübschere Übersetzung wäre Westmark. Du kannst das natürlich machen wie du möchtest, aber gibt es einen Grund, dass du Westmarsch gewählt hast?
 
Hallo Reeba,

super, dass Du hier wieder schreibst. :top::top:
Nach Gipfel der Welt und Saqquara wieder was von Dir nach so langer Zeit. Kanns Kaum glauben.

HADAN! Super, also seine Vorgeschichte?
Wie auch immer.

Klingt bisher alles sehr gut. Weiter so!
 
@Horseback: Keine Sorge, Du erfährst alles schon früh genug :D
Mit 'Westmarch' = Westmark hast Du natürlich Recht, es klingt nicht nur besser, es ist auch die richtige Übersetzung. Ich werde das ändern, sobald ich Zeit habe. Danke für den Tipp.
@questor1: Willkommen an Bord. Ja, das hier ist die Vorgeschichte zu allen Stories, in denen Hadan auftaucht.
Danke für euer Feedback!


*****



VIII. Mittelwege



Natürlich würde sein Name dem Paladin nichts sagen.
Sogar im Osten, der Wiege der dunklen Künste, stellten nur ganz wenige Menschen bei der Nennung dieses Namens die Ohren auf, und dann waren es fast ausschließlich andere Nekromanten. Drüben auf dem zweiten Kontinent gab es ein Geflecht von Gemeinschaften und Hierarchien, in das alle Totenbeschwörer eingebunden waren, egal welchem Gott sie dienten.

Doch der Westen gehörte den Paladinen. Sie hatten sich mit ihrer Lehre vom Licht schon fast über den gesamten Kontinent ausgebreitet. Nekromanten passten nicht in diese Lehre. Die Geisteshaltungen der östlichen Magier und der westlichen Glaubenskrieger stießen einander ab wie Öl und Wasser. Die Paladine hielten sich an ihre Städte, an einen Orden, der jeden einzelnen Menschen in sich unterzubringen versuchte, und obwohl sie sich durchaus magischer Kräfte für ihre Auren bedienten, waren ihnen alle anderen Zauberkundigen zutiefst zuwider.

Es hatte in letzter Zeit sogar offene Kampfhandlungen gegeben. Kingsport rückte gegen die Magierschulen in der Wüste vor, verlangte, dass sich ihre Vertreter aus den Räten der Städte wie Lut Gholein oder Daurdh zurückzogen. Die Paladine waren einzigartig in ihrer Überzeugung, nur sie stünden für den rechten Lebensweg. Wer ihnen offen entgegentrat, wurde in endlose Verhandlungen verwickelt und mit Verboten belegt oder, wenn das nicht fruchtete, angegriffen.
Auch nach dem Norden streckte die Westmarsch ihre Hand aus. Dort allerdings waren die Paladine vorsichtiger und schienen nicht recht zu wissen, was sie mit den riesigen, spärlich besiedelten Gebieten anfangen sollten.

Die Festung, auf die Hadan gestoßen war, lag weit abseits der Pfade, die selbst die am weitesten nördlich stationierten Lichtkrieger beschritten.
Und trotzdem stand ihm jetzt, hier in dem verlassenen Raum eines bröckligen Postens, ein leibhaftiger Paladin gegenüber.
Hadan musterte den Ankömmling.

Der Mann war kurz geraten und verfügte nicht gerade über eine Statur, die Gegner ehrfurchtsvoll zurückweichen ließ. Obendrein hatten Entbehrungen sehr deutlich an ihm genagt, das zeigten die Schatten unrasierter Haut auf seinem Gesicht, seine müde Haltung und der ganz besondere, bräunliche Grundton derer, die sich tagelang nicht mehr haben waschen und ausruhen können.
Trotzdem umgab diesen kleinen, erschöpften Paladin etwas Respekteinflößendes. Sein Auftritt hatte Maß, beinahe eine gewisse Vornehmheit. Von Hadans Fluch hatte er sich einigermaßen rasch erholt. Wo viel größere Männer oft zusammenbrachen und für längere Zeit nicht wieder auf die Beine kamen, stand er immer noch da und fixierte den Nekromanten. Es war keine Feindseligkeit mehr in seinem Blick, aber dafür ein Misstrauen, das schwer zu besänftigen sein würde.

Hadan war an Misstrauen gewöhnt. Es begleitete ihn auf Schritt und Tritt und schob sich zwischen ihn und alle weiteren Menschen, wenige andere Nekromanten vielleicht ausgenommen. Für gewöhnlich kümmerte das die äußerste Schicht seiner Person nicht sehr. Aber hier befand er sich am Rand eines Abgrunds.
Er hatte zwar erst mit seinen Nachforschungen begonnen, doch ihm war bereits klar, dass dieser Fleck Erde ihn vor Fragen stellte, zu deren Beantwortung sein Wissen womöglich nicht ausreichte.

All die Toten ringsum trugen Rüstungen und Kleider, die auf Westmarschener Herkunft hindeuteten. Und der kleine Lichtkrieger, der ihn so misstrauisch beäugte, war vom selben Schlag. Das ließ sich vielleicht ausnutzen. Darüber hinaus hatte er keinen Trupp mitgebracht, er war allein.
Jonah Pereîs also?
Zu behaupten, die Zauberer der Wüste und die Nekromanten des Ostens unterhielten ständigen oder gar freundschaftlichen Kontakt, wäre blanker Unsinn gewesen. Aber einige Vertreter beider Klassen beobachteten durchaus, was die jeweils andere Klasse so trieb, und erstatteten den Häuptern ihrer Gemeinschaften dann Bericht.

Man hatte in Kurast, Baraidha und Pundar, den Hochburgen nekromantischer Zirkel, von den Geplänkeln der Zauberer mit den Paladinen Kunde erhalten. Und es hieß, Kingsport, die Hauptstadt der Paladine, entsende manchmal einen Berater, der sich für dauerhafte Vereinbarungen und möglichst friedliche Gespräche zwischen den zerstrittenen Lagern einsetzte. Er nahm nicht direkt an Kämpfen teil, aber war fast immer da, wenn sich die wunden Paladine und Elementarmagier endlich am Verhandlungstisch einfanden. Dann schmolz er auf einmal aus den Heeren der Westmarsch heraus, wie ein Tropfen Öl, der durch das Gegeneinanderreiben großer Räder ans Tageslicht gepresst wird, hockte sich mit an den jeweiligen Tisch, besänftigte, erzielte Einigungen.
So unauffällig und vorsichtig sich ein Mann auch geben mochte – durch dieses Einwirken blieb er den Magiern des Westens natürlich im Gedächtnis. Und sein Name, der begonnen hatte, in Lut Gholein und Daurdh die Runde zu machen, war über Gerüchte und Augenzeugenberichte bis nach Kurast gespült worden: Jonah Pereîs, Abgesandter, Schmieder von Verträgen.

Das sollte er also sein. Hadan musste zugeben, dass es im ersten Moment schwer zu glauben war.
Doch er gehörte nicht zu den Menschen, die sich von Äußerlichkeiten irreführen lassen, dafür war er selbst zu tief gebrandmarkt.
Immer noch herrschte Stille im Raum. Obwohl sichtlich unwillig, die Augen von dem Nekromanten abzuwenden, versuchte der Paladin, die Umgebung zu erfassen.

Der Raum, der dem Kommandanten der Totentruppe als Arbeitszimmer gedient haben mochte, war unordentlich, selbst wenn man die sieben Leichen außer Acht ließ. Rechts und links des Tisches, hinter dem Hadan gesessen hatte, standen rohe Schränke gegen die Rückwand. Sie hatten ein paar Bücher, Schreibutensilien, Trinkgefäße und andere Alltagsgegenstände enthalten, aber fast alles war herausgerissen worden.
Zerfledderte Buchseiten übersäten den Boden, dazwischen Schreibfedern, zerbrochene Tintenfässchen. Eine Karaffe hatte ihren einstigen Inhalt, mitgeführten Wein, über eine Seite eines Schranks ergossen, auf dem sie ruhte, doch es gab noch mehr Flecken von weniger appetitlicher Natur, überall im Raum.
Was die Toten anbetraf, so lagen sie sämtlich dicht an den Wänden, als habe irgendjemand sie dorthin geschleift.

All das nahm Pereîs sicher zum Teil wahr, aber er wandte den Blick nicht für eine einzige Sekunde von Hadan ab.
Der Nekromant setzte sich auf den Rand des Tisches.
„Gut, mein Name wäre heraus“, sagte er. „Ihr könnt damit nichts anfangen, aber das war auch nicht zu erwarten.“ Das Lebenslicht des Paladins beeindruckte ihn gegen seinen Willen: störrisch, voller Energie. „Ich würde Euch ja einen Stuhl anbieten, doch ich habe weit und breit keinen anderen gefunden als den da. Möglich, dass sie Möbel als Feuerholz verwendet haben.“
Die Miene des Paladins verkündete sehr beredt, dass er derzeit nicht am Schicksal irgendwelcher Einrichtungsgegenstände interessiert war. Er hatte das Gesicht eines Mannes, der Gefahr läuft, sich von allen Gesetzen der Welt zu verabschieden und kopfüber in den Rachen des Wahnsinns zu stürzen.

„Ihr behauptet, Ihr hättet mit dem Schicksal, das diesen Ort ereilt hat, nichts zu schaffen gehabt“, sagte er. Seine Stimme war weich, nasal. „Aber hier hält sich niemand aus reinem Vergnügen auf. Was wisst Ihr über das, was hier vorgefallen ist?“
„Nichts“, erwiderte Hadan. „Ich kann nur Vermutungen anstellen. Und genau das habe ich vor. Aber dazu benötige ich mehr Zeit.“
Der Hof und die Toten im Raum waren ganz nah. Er selbst, unterstützt von der für seine Klasse typischen Abhärtung, hatte sich mit den Kadavern vertraut gemacht. Der Paladin war nur ein einziges Mal an ihnen vorübergegangen, und Hadan sah, wie es an ihm fraß.
„Ich bin nach Sonnenaufgang hier eingetroffen“, erklärte er mit unüblicher Geduld. „Allein, im Übrigen. Seitdem habe ich das Gelände erkundet.“

„Ihr wollt mich also glauben machen“, entgegnete Pereîs, „dass ein Nekromant aus dem fernen Osten so einfach in den entlegensten Wäldern des diesseitigen Kontinents umherspaziert, um dann zufällig über diese Festung zu stolpern?“ Trotz seines Zustandes brachte er es fertig, dass seine Ironie ihn ein wenig aufrichtete.
Hadan musterte ihn erneut: die Schwerter, die unwillkürlich geballten Fäuste, das fast auf die Brust gesenkte Kinn, das förmlich darum bat, man möge ihn nicht zum Narren halten – verfluchen, attackieren, zur Not auch töten, das ja, aber nicht zum Narren halten.

Der Nekromant holte Atem und stieß ihn hörbar aus.
„Zufällig, nein.“ Am Lebenslicht seines Gegenübers klebte ein Funke, der ihm keine Ruhe ließ. Das half ihm dabei, ehrlicher und entgegenkommender zu sein, als es sonst seiner Art entsprach. „Mich hat etwas hier hinauf gelockt. Ich bin aus nordöstlicher Richtung gekommen und wollte ursprünglich längs der Küste nach Süden weiterwandern. Aber dieser Wald, hatte ich den Eindruck, zieht Leute an. Leute wie mich.“ Er lächelte ein fadendünnes Lächeln. „Ich werde nirgends erwartet. Also bin ich dem Lockruf gefolgt.“

Während Hadans letzter Satz noch in der Luft hing, ging eine Veränderung durch den anderen Mann.
Seine Fäuste entkrampften sich. Sein zuvor starrer Blick bekam etwas Tastendes.
„Ruf“, wiederholte er leise. Dann erschauerte er. „So ein Gefühl hatte ich auch.“
„Seid Ihr angereist, um diese Menschen hier zu suchen?“, fragte der Nekromant.
„Ja.“
Sie schwiegen kurz.
Plötzlich erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Paladins, ein vage durchtriebenes, abschätzendes Lächeln, das in starkem Kontrast zu seiner Verfassung stand.

„Erwartet Ihr, dass ich weiterrede?“, erkundigte er sich. „Was Ihr gesagt habt, klingt halbwegs glaubwürdig, oder eher: meine eigenen Erfahrungen der vergangenen vierundzwanzig Stunden machen mich geneigt, Euch zu glauben. Dennoch sitzt Ihr hier als dunkler Magier inmitten eines Haufens ungeklärter Todesfälle. Ein Ruf, der Menschen anlockt? Meinetwegen. Aber ich lasse mich weder aushorchen noch beschwatzen.“
Wortwahl und Tonfall sollten Geistesgegenwart beweisen, und waren darüber hinaus Anzeichen für die Anstrengung eines Menschen, der sich an seine Denkmuster klammert. Mitleid überkam Hadan. Da er nicht wusste, wie er ihm begegnen sollte, nahm er Zuflucht zu nackter Aufrichtigkeit.

„Ich will Euch nicht aushorchen, und auch nicht beschwatzen“, sagte er. „Ihr denkt immer noch, dieses Gemetzel da draußen schreit nach einem passend finsteren Verursacher. Aber da überschätzt Ihr mich. Außerdem müsste ich Euch gar nicht auf irgendeine Weise einwickeln. Als Ihr eben eingetreten seid, habe ich Euch mit einem Fluch belegt.“
Pereîs rührte sich nicht. Über dem Wald jenseits der Mauern dieser Festung brach die Sonne durch die Wolkendecke und kam auch durch die Fenster des Raumes. In ihrem Licht versuchte Hadan einzuordnen, wie alt der Paladin war. Nicht bedeutend älter als er selbst wahrscheinlich.
„Das war kein besonders starker Fluch“, fuhr er fort. „Ihr habt ein Stück davon abgeschüttelt, aber Ihr würdet kaum nah genug an mich herankommen, um mir ernstlich schaden zu können. Ihr seid nur ein einzelner Lichtkrieger. Ihr seid hier oben allein. Wenn ich die Absicht hätte, Euch umzubringen, hätte ich das längst getan, meint Ihr nicht?“

Die Brust des Paladins hob und senkte sich mit raschen Atemzügen. Schließlich, vielleicht in wirrem Nachdenken, wandte er zum ersten Mal den Blick von Hadan ab. Er schaute zu den südlichen Fenstern.
„Ich bin während meiner Aufträge vielen sonderbaren Menschen begegnet“, erwiderte er gedämpft, als spreche er mehr zu sich selbst. „Da hat es… Dinge gegeben, Vorkommnisse, die mir keiner meiner Brüder glauben würde. Ihr könntet ein ausgestoßener Magier sein, jemand, für den normale Maßstäbe nicht gelten. Ein Verrückter. Nichts spricht gegen eine kleine Möglichkeit, dass Ihr all diese Männer doch getötet und Euch lange zwischen ihnen aufgehalten habt. Nichts.“
„Außer mein Wort“, sagte Hadan.

Pereîs‘ Augen kehrten zu ihm zurück. Doch was auch immer er befürchtete, welchen vielleicht verständlichen Verdacht er auch immer noch hegte, seine Gedanken waren jetzt klar woanders.
Auf einmal ging ein verzögerter Ruck durch ihn. „Ich bin nicht allein.“ Er schüttelte wie benommen den Kopf.
Hadan erhob sich. „Was meint Ihr?“
„Simon. Mein Diener.“ Pereîs wich einen Schritt vor ihm zurück, merklich zerrissen zwischen dem Wunsch, Hadan weiter zu beobachten, und dem Drang, das Gebäude zu verlassen. „Er ist noch bei den Pferden.“
Sein schleppender Tonfall weckte einen Anflug von Besorgnis in Hadan. Man musste sich weder die Toten angeschaut noch eine besondere Wahrnehmung für den Dunst eines Ortes haben, um zu spüren, dass diese Festung etwas Befremdliches mit Menschen anstellte. Aber dass der Paladin, der eben erst eingetroffen war, bereits Merkmale einer unguten Beeinflussung zeigte, gefiel dem Nekromanten nicht.

„Warum habt Ihr Euren Diener nicht mit hereingebracht?“, fragte er.
„Er ist verletzt“, antwortete Pereîs. „Bewusstlos. Vielleicht besser so für ihn. Wenn er das hier sähe –” Er brach ab.
„Lasst mich nach ihm schauen“, schlug Hadan vor.
Sofort klärte sich der Schleier der Benommenheit um den Paladin. Eine seiner Hände, die zuletzt herabgehangen hatten, suchte den passenden Schwertgriff.
„Ich kann ihm helfen“, sagte der Nekromant. „Ihr seid meilenweit von jeder anderen möglichen Unterstützung entfernt.“
Er ließ die Worte nachklingen. Es dauerte lange, eine gute Weile, während derer offenbar widerstrebende Gefühle an seinem Gegenüber rüttelten.
Doch schließlich nickte Pereîs. „Ich führe Euch zu ihm.“

Als sie das Gemäuer verließen, hatte sich die Sonne schon wieder hinter der grauen Wolkendecke verkrochen. Trotzdem lag eine unangenehme Schwüle auf der gesamten Umgebung, ein träges, fast böswilliges Fehlen erfrischender Luftzüge. Das erste Lebenslicht, das Hadan seit seiner Ankunft beständig gefühlt hatte, schien sich zurückgezogen zu haben. Auf und um den Hof hatte sich nichts verändert.
Pereîs ging voraus, aber steif und angespannt, wahrscheinlich weil er halb damit rechnete, Hadan werde ihn jeden Moment von hinten überfallen.
Weit unten an dem Hang, der zur Festung hinaufführte, waren zwei Pferde zu erkennen. Auf einem davon hing eine Gestalt.
Gras wisperte unter den Stiefeln der Männer. Anders als sonst in diesen Gegenden hörte man keine Vögel.

Als sie bei den Pferden anlangten, sah Hadan, dass Pereîs‘ Begleiter in der Tat nicht bei Bewusstsein war. Der Diener – das genau Gegenteil seines Herrn: ein untersetzter Riese mit einem Knochenbau, der eher zu einem Barbaren gepasst hätte – saß vornüber gesunken im Sattel. Die Pferde wirkten fast irr vor Unruhe, und Hadan wusste, dass seine Gegenwart sie zusätzlich verschreckte.
Er schaute zu, wie Pereîs darum kämpfte, das Reittier des Dieners soweit zu besänftigen, dass man ihn aus dem Sattel hieven konnte. Viel Erfolg hatte er dabei nicht.

Schließlich trat der Nekromant seitlich an das Pferd heran, während sich der Paladin ans Halfter hängte. Um den Verletzten stand es nicht gut, was wahrscheinlich auch erklärte, warum seine Gegenwart Hadans Gabe bisher entgangen war.
Der Mann fieberte heftig. Hadan berührte seine Haut an der Kehle. Sie war heiß, straff wie das Fell einer Trommel, der Herzschlag beschleunigt.

„Er muss liegen“, sagte der Nekromant in Richtung des Pferdekopfes, wo sich Pereîs aufhielt. Selbst durch den Schädel dieses Tiers hindurch konnte er den argwöhnischen, verzweifelten Blick des Paladins spüren. „Sonst kann ich ihn nicht vernünftig untersuchen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er zu und holte den Diener herunter. Da der sicher doppelt so viel wog wie Pereîs und auch Einiges mehr als Hadan selbst, kam es mehrmals beinahe soweit, dass er dem Nekromanten aus den Armen rutschte.

Um ihn den Hang hinaufzubefördern, waren beide Männer nötig. Ein Pferd zu benutzen, hatten sie in stummer Übereinkunft gleich verworfen, da die Tiere ihnen vielleicht durchgehen und den Verletzten dabei gefährden würden. Es wurde kein zartfühlendes Manöver, und andernorts hätte der verschüttete Heiler in Hadan das Schleifen und die Stöße, die sie dem Bewusstlosen zumuten mussten, niemals zugelassen.
Aber unter freiem Himmel konnte jemand mit so ernsten Wunden – zwei Bolzen, die im Schulterbereich steckten – nicht bleiben.

Auf dem Hof angekommen, hielten sie inne.
Pereîs richtete sich aus der gebückten Haltung auf, in der er die Füße seines Dieners getragen hatte. Seine Augen waren tief umschattet, auf der Hut.
„Hier?“, fragte er.
„Lieber drinnen“, antwortete der Nekromant. „Sofern Ihr Eurem Diener kein Lager in toter Gesellschaft bereiten wollt, könnt Ihr Euch selbst ausrechnen, dass wir sieben Leichen schneller weggeschafft haben dürften als über zwei Dutzend.“
„Ich werde diese Toten nirgends hinbringen“, sagte der Paladin tonlos.
Hadan nickte langsam. „Dann nehmen wir den Eingangsbereich.“

In der kleinen Vorhalle, nahe des türlosen Haupteingangs, legten sie den Diener auf eine Decke aus Pereîs‘ Gepäck. Hadan beugte sich über die Wunden. Die Bolzen waren tief eingedrungen.
Er sah auf. „Ich brauche Wasser und einen Kessel. Auf der rückwärtigen Seite gibt es einen Hof mit einem Brunnen.“
Pereîs starrte ihn an. Der Schreck einer eben erst gemachten Entdeckung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Allerdings war das nicht der geeignete Zeitpunkt, um einem Fremden das bizarrste Attribut an Hadans Erscheinung zu erklären.
„Geht mir Wasser holen“, sagte der Nekromant scharf.
Er hätte es selbst tun können, aber es war ihm wichtig, dieses erste rein gedankliche Kräftemessen zu gewinnen. Wenn er ihre Rollen während einer Krankenbehandlung festlegen konnte, würde das spätere Gespräche erleichtern.

Der Paladin schaute auf seinen Begleiter hinunter, aufrichtige Sorge in der Miene. Er zögerte.
Kniend zog Hadan ein dünnes Messer aus einer Scheide an seinem Gürtel, balancierte es gut sichtbar auf seinem Oberschenkel und streifte die Handschuhe ab.
„Euer Diener ist am Leben“, teilte er Pereîs mit, ohne ihn anzusehen. „Noch. Lebende kann ich für nekromantische Riten nicht gebrauchen. Ihr könnt mich also getrost für ein Weilchen mit ihm allein lassen. Und wenn Ihr schon dabei seid, bringt mir auf dem Rückweg meinen Reisesack aus dem Raum da mit. Er steht hinter dem Tisch.“
Herzschläge später hörte er den Paladin tief Luft holen. Dann Schritte. Sie gingen hinter Hadan vorbei, und da war er wieder, dieser unruhige Funke im Lebenslicht des Anderen.
Als die Schritte draußen verklangen, gestattete sich der Nekromant ein Lächeln. Der Anfang war gemacht.


***


Manchmal, wenn er aus den Reihen zusehender Truppenführer, Stadträte und Lehrmeister magischer Schulen ins Licht trat, an den Verhandlungstisch, legte es sich auch nach Jahren noch wie ein Mantel um ihn. Das Schweigen all dieser Beobachter, die trotz ihrer Verschiedenartigkeit Eines gemeinsam hatten – die Art, in der sie ihn betrachteten.
Sogar die Ehrwürdigsten und Bedürftigsten unter ihnen waren nie völlig dazu imstande oder bereit, ihre Verwunderung über seine Person zu überspielen. Der heimliche Spott, die geringschätzig gespitzten Lippen, und auch die oft übertriebene Höflichkeit, mit der besonders die ganz Mächtigen ihn gern behandelten, all das verließ die Menschenansammlungen immer erst, wenn Jonah eine Weile gesprochen hatte. Meist in vollkommener Stille.
Obwohl er inzwischen wusste, dass sich danach in drei von vier Fällen Vieles wandelte, obwohl er inzwischen daran gewöhnt war, am Ende auf milde Ehrbezeugungen und gelegentlich sogar Dank oder Gegenleistungen zu stoßen, war dieses erste Herantreten an den Tisch sich immer gleich und kostete ihn Überwindung.

Aber noch nie war Jonah ein Schritt so schwer gefallen wie der, der ihn von Simons Lager wegführte.
Plötzlich fand er sich im Hof wieder. Zum Glück schien er mittlerweile ein wachtraumähnliches Stadium erreicht zu haben, in dem ihn eine unbekannte Kraft einfach weiterschob. Die Umgebung ragte wie die wabernden Wände einer Schlucht um ihn auf. Bei seiner Ankunft in diesem grausigen Hof war er nicht auf die Knie gefallen. Jetzt hätte er es gern getan.

Er ging weiter. Fliegen umsummten ihn, als er an den Toten längs der Ostmauer vorbeikam. Bevor er angewidert den Kopf wegdrehen konnte, waren sie zu den Leichen zurückgekehrt.
Am Ende der Mauer wandte Jonah sich nach links und umging sie sowie einen langen Steinhaufen. Scheinbar Überreste von Bautätigkeiten. Vielleicht für einen Stall oder Vorratskammern.
Zwischen den Steinen lugte eine Hand hervor. Sie glitt durch Jonahs Blickfeld, ohne mehr auszulösen als mattes Wiedererkennen – noch ein Toter – und den Widerhall ferner Bestürzung. Weitere Leichen begegneten ihm hier nicht.
Erst hinter dem Gebäude lagen zwei Körper, wie alle zuvor zumindest teilweise in Rüstung. Jonah blieb stehen.

Der Hinterhof war ebenfalls von einer Mauer eingefasst, aber einer vollständigen, sehr niedrigen, deutlich nicht älter als ein paar Monate. Rechts des Hofes hatte man einen bescheidenen Acker angelegt. Verwilderte Bohnenstangen, zertretene Erde, darin einige Knollen, wohl treibende Kartoffeln. Der Brunnen war flach, mehr ein notdürftig mit Steinen befestigtes Loch als ein wirklicher Ziehbrunnen.
Jonah schaute sich nach einem Gefäß um. Nachdem er einen verbeulten Kessel unter anderen, offenbar weggeworfenen Dingen an der Rückwand des Gebäudes gefunden und ihn am Brunnen gefüllt hatte, machte er kehrt, um den Rückweg anzutreten.
Eher zufällig verharrte sein Blick auf dem Gebäude. Obwohl es nicht sehr hoch war, ragte es plötzlich drohend vor ihm auf. Auch in den hinteren Fensterhöhlen hingen Stofffetzen oder Säcke, von einem Luftzug bewegt, den Jonah nicht spürte. Vielleicht steckten sie allesamt da oben, die fehlenden zwölf Toten. Das Gemäuer schien einen kalten Schatten zu werfen. Jonah fröstelte. Hatte er richtig gerechnet?

Zwölf noch, dann war die vermisste Missionstruppe komplett. Tief in einer Satteltasche lag ein Dokument, auf dem die Mitglieder verzeichnet waren. Er würde von den fünfzig Namen nur einige Wenige den Toten zuordnen können, anhand von Insignien oder Schmuckstücken, die höhere Paladine manchmal trugen.
Die watteartige Benommenheit nahm ab, als Jonah zum vorderen Hof zurückkehrte. Ihm fiel auf, dass sie am schwächsten war, wenn er sich in der Nähe des Nekromanten aufhielt.
Grundgütiger Himmel – Simon! Er hatte ihn allein gelassen. In der Gegenwart dieses gespenstischen Totenbeschwörers.

Fassungslosigkeit und Besorgnis blendeten einen Teil der Schrecknisse um ihn herum aus. Er überquerte den Hof so schnell, wie es der Kessel, den er schleppte, zuließ.
Sicher merkte ihm der Nekromant die Eile und den Grund dafür an, aber er wandte nicht einmal den Kopf, als Jonah den Eingangsbereich betrat. Auf Knien, den schwarzen Mantel zwischen Gesäß und Stiefelabsätzen eingeklemmt, damit er nicht im Weg war, untersuchte er immer noch Simons Wunden. Simons Lederhemd hatte er aufgetrennt und die Hälften zur Seite geklappt, um den Oberkörper freizulegen.
Erleichterung ließ Jonah schwindeln. Argwohn und Angst aber blieben. Er setzte den Kessel ab, holte den fremden Reisesack aus dem Arbeitsraum und stellte ihn wie den Kessel in Reichweite des Nekromanten.

Der Mann füllte den gesamten Vorraum mit seiner Gegenwart aus. Es war eine unangenehme, kampferprobte Gegenwart, die Jonah nicht sehr an die Ausstrahlung von Elementarkundigen erinnerte. Über die Klasse dieses angeblichen Reisenden wusste er nicht genug.
Es drängte ihn, neben Simon zu sein. Aber die direkte Nähe des Nekromanten zu erdulden, erfüllte ihn mit solchem Widerwillen, dass er sich einen Mittelweg suchen musste.

Als er sich im Abstand von etwa sechs Schritten auf die Fußballen gehockt hatte, gegen die Wand gelehnt, um nicht vor Erschöpfung umzufallen, richtete sich der Nekromant auf. Er holte Feuerstein und Zündspan aus seinem Gepäck und warf Jonah beides hin.
„Das Wasser muss erhitzt werden“, sagte er.
Wie schon zuvor wechselten die Männer einen längeren Blick. Der Impuls, als Erster wegzusehen, war stark. Jonah gab ihm nicht nach.
Erst als sich der Nekromant mit ausdrucksloser Miene wieder Simon widmete, erhob er sich.
Eine Weile später war das Wasser für den Geschmack dieses Hadan offenbar warm genug. Der Kessel, der in einer behelfsmäßigen Feuerstelle aus Bruchsteinen und Schrankbrettern stand, begann zu dampfen.

Jonah hatte unwillkürlich in die Flammen gestarrt. Beim Klang der dunklen Stimme schreckte er auf.
„Jonah Pereîs“, sagte der Nekromant. „Nur das? Haben nicht alle Paladine auch einen Vatersnamen?“
„Nur die aus Ordensfamilien“, entgegnete Jonah. „Aber mein Vater war kein Paladin.“ Er rätselte, ob der Andere bloß das Schweigen hatte beenden wollen oder ob seine Frage einen tieferen Hintergrund hatte. Er legte den Kopf schief. „Für jemanden aus dem Osten wisst Ihr erstaunlich gut über Kleinigkeiten meiner Heimat Bescheid.“
„Namen sind keine Kleinigkeiten“, gab der Nekromant zurück.
„Nicht?“ Jonah belauerte ihn. „Und was ist mit Euch? Nur Hadan?“
„Sakudhra.“ Der Nekromant tauchte eine silberne Schüssel aus seinem Reisesack ins Wasser und begann, sich die Hände zu waschen.
„Ich nehme an, das ist kein Vatersname.“

Hadan warf ihm einen Blick zu. Unmittelbar darauf fuhr er in seinen Verrichtungen fort, aber Jonah meinte, ein schmales Lächeln und gleichzeitig einen Schatten an ihm gesehen zu haben.
In der folgenden Stille behielt er die Hände dicht an den Schwertgriffen und musterte den Nekromanten, durch sein Zusehen getarnt.
Das Weiß der Haut und des Haars war echt, Folge eines Geburtsfehlers. Jonah hatte von solch seltenen Fällen gelesen, aber dies war der erste Albino, dem er leibhaftig begegnete. Wirklich gespenstisch machten den Mann jedoch erst seine Augen, ebenfalls weiß, mit einer stechenden schwarzen Pupille. Ein zweiter Geburtsfehler?
Die Natur war launisch und einfallsreich, das wusste Jonah selbst ziemlich gut. Vielleicht hatte der Totenbeschwörer in Bezug auf die Verteilung körperlicher Vorzüge ganz einfach Pech gehabt. Sein Gesicht war fest und regelmäßig, seine Statur ließ wenig zu wünschen übrig, doch diese Fischbauchblässe machte all das zunichte.

Jetzt hielt der Nekromant inne. Er hatte sich die Hände mit einer Gründlichkeit gesäubert, die Jonah selbst in den besten Feldspitälern noch nicht untergekommen war.
„Und?“, hörte er sich fragen. „Könnt Ihr ihm helfen?“
„Das wird sich zeigen.“ Hadan legte die Finger auf die Wunde an Simons rechter Schulter. Simon schien von alldem nichts zu spüren, er war unverändert bewusstlos. „Ich werde die Bolzen entfernen. Die Wunden haben sich entzündet. Ich kann sie erst zunähen, wenn ich weiß, dass sie nicht schwären.“

Jonah schaute weg. Er dachte wieder an seine seltsame Gleichgültigkeit während des Aufstiegs nach Schwarzfels, und auch daran, dass er höchstens laienhaft vermutet hatte, die Bolzen in den Wunden zu lassen, könne vernünftig sein. Er hatte viele Verletzte gesehen, aber er war kein Arzt.
Falls der Nekromant seine Misere ahnte, ging er nicht darauf ein.
Stattdessen machte er sich an die Arbeit. Jonah hörte ihn herumfuhrwerken und unterdrückt murmeln, Worte in einer fremden Sprache, vielleicht Jabrah, der Zunge des östlichen Kontinents.
Er sah rechtzeitig hin um zu bezeugen, wie der erste Bolzen freikam. Hadan ließ ihn auf den Boden fallen. Ein verhängnisvoller Geruch mischte sich mit der Luft des Vorraums. Wundbrand.

Jonah presste die Zähne aufeinander. Sich vorzustellen, dass zwei Stücke Holz Simons verschwenderische Lebenskraft so angreifen konnten, war bedrückend. Seine Kiefer knirschten leise. Er fand sich im Bann dieses unheimlichen, weißen Blicks wieder.
„Barbaren und Druiden verwenden keine Armbrüste“, sagte der Nekromant. Er wusch die Wunden mit kleinen Lappen aus, die er zuvor mit einem grünen Zeug aus seinem Reisesack getränkt hatte. „Der Zustand Eures Dieners wirft Fragen auf, Pereîs. Zuvorderst die, warum er mitten im Wald einem Armbrustschützen in die Quere gekommen ist.“
Jonah schaute auf Simons stilles Gesicht. „Da war ein Mann“, sagte er leise. „Brandulf, ein Unterkommandant der Festung, von der aus wir zu unserem Auftrag aufgebrochen sind. Madalën. Durch und durch paladinisch.“

Der Nekromant verzog die Lippen. „Vielleicht auch nicht. Warum hätte Euch ein Mann aus Euren eigenen Reihen angreifen sollen?“
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Jonah matt. „Ich bin nur hergekommen, um den Verbleib von fünfzig Ordensbrüdern aufzuklären.“
„Nun, die habt Ihr ja jetzt gefunden“, sagte der Andere flach. „Wer weiß, womöglich taucht Euer abtrünniger Unterkommandant, der Angreifer, wieder auf. An diesem Ort scheinen viele Fäden zusammenzulaufen.“ Er legte die Lappen weg, berührte dann Simons Hals und sah zu Jonah hinüber. „Ihr könnt vorerst nicht weiter. Ich habe Euren Freund versorgt, so gut es geht.“

Die Verwendung des Wortes ‚Freund‘ erschuf eine Blase merkwürdiger Gemeinschaft um sie herum. Ohne einschätzen zu können, wem er da gegenüber hockte, mutmaßte Jonah, dass er diesem Mann für eine Weile ausgeliefert sein würde. Schwarzfels wartete auf Antworten.
Der Paladin erhob sich. „Ich traue Euch nicht über den Weg“, sagte er zu Hadan. „Keinen Fingerbreit. Aber Ihr seid im Moment mein einziger Anhaltspunkt.“ Aus verborgenen Taschen tief in seiner Seele holte er ein Lächeln hervor, und es kümmerte ihn nicht besonders, ob es zu einer Parodie verkam. „Ihr habt Euch bereits Gedanken über das Vorgefundene gemacht. Vielleicht wäre es zu beiderseitigem Vorteil, wenn Ihr diese Gedanken mit mir teilen würdet.“
Nach einer Weile nickte der Totenbeschwörer. „Gut. Wie nennt man das bei euch Abgesandten, Paladin? Einen Waffenstillstand?“
„Ja. Einen vorläufigen.“
Draußen brach der Abend herein.


***


Arlef, Häuptling des Zusammenschlusses mehrerer Stämme, hockte brütend auf dem Sitz seiner Haupthalle. In dem weiten, hohen Raum war es bis auf das Knacken des Herdfeuers still. Die Krieger, die ringsum an den Wänden Wache standen, hätten beinahe Ahnenstatuen sein können – unbewegt, die Blicke geradeaus gerichtet, die dicken Fäuste an den Waffen.
Es waren Krieger dreier Clans. Arlef war es gelungen, ihnen den Sinn für die üblichen Zwistigkeiten zwischen einzelnen Stämmen auszutreiben, und seitdem sie den Ernst der Bedrohung aus dem Süden eingesehen hatten, folgten sie seinen Anweisungen fast widerspruchslos. Er selbst aber, wie er da saß, fühlte sich alt.

Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er war vor beinahe sechzig Sommern zur Welt gekommen. Damals, als die Fußhügel der Berge, in die die nördlichen Wälder übergingen, keine schlimmeren Unruhen gesehen hatten als Stammesrangeleien und gelegentliche Auseinandersetzungen mit dem weggelaufenen Volk, den Druiden. Dann aber, vor nicht einmal elf Jahren, hatten die Paladine unten im Grasland ihre Festung errichtet.

Arlef winkte einer Frau, damit sie ihm ein Trinkhorn mit Met brachte. Während sie seinem Wink nachkam, musterte er sie.
Sie war die jüngere Schwester des Anführers eines benachbarten Clans. So wie die anderen Frauen der Stämme, die Arlef grob hatte zusammenschweißen können, hatte sie sich nicht lang über die Veränderungen beschwert. Sie kam ihm durchsichtig vor, wie in unerreichbare Ferne gerückt.
Der Häuptling dankte ihr mit einem kurzen Senken des Kopfes und nippte am Horn. Man durfte ihm dieser Tage nur stark verdünnten Met bringen. Er musste einen klaren Verstand behalten.

Sein persönlicher Botschafter, das ‚Ohr‘, hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet. Arlef hatte dem Mann freie Hand lassen wollen, eingedenk des nützlichen Hasses, den Brandulf gegen die Westmarschener hegte. Diesen Hass konnte Arlef gut nachfühlen, aber jetzt plagten ihn Zweifel.
In der Nachricht des ‚Ohrs‘ hatte gestanden, dass er dem paladinischen Gesandten nicht traute. Steckte Brandulf in Schwierigkeiten?
Der ursprüngliche Plan war gewesen, jedes weitere Vordringen der Westmarschener in die Wälder zu unterbinden. Wenn da ein sogenannter Abgesandter in Richtung der Barbarensiedlungen vorrückte, musste er beseitigt werden. Aber Arlef dachte jetzt auch widerwillig an Schwarzfels, diesen dunklen Fleck inmitten der seit Ewigkeiten vertrauten Gebiete.

Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was seine eigenen Krieger und auch die Druiden von Schwarzfels hielten. Das war ein finsterer Ort. Darin war man sich einig.
Arlef hatte ihn nur ein einziges Mal mit eigenen Augen gesehen: eine Lichtung, auf der ein paar alte Steinplatten standen, in einer Weise angeordnet, die auf Druiden schließen ließ. Damals war er selbst noch ein Mann in der Blüte seiner Jahre gewesen.

Doch vor drei Jahrzehnten hatte alles Leben damit begonnen, Schwarzfels zu meiden. Arlef hatte sich bemüht herauszufinden, weshalb, doch ohne zufriedenstellende Ergebnisse. Die Druiden waren ungemein schwer in die Finger zu bekommen. Ja, sie wussten am ehesten, was in Erde, Wasser und Luft vor sich ging, aber wenn sie nicht reden wollten, wenn sie sich zurückzogen, war es fast unmöglich, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Vor Monaten hatte es dann geheißen, Paladine seien in Schwarzfels eingetroffen. Diese Westmarschener besaßen nicht ein Zehntel des Verstandes, den die Ahnen einem Wiegenkind mitgaben. Offenbar hatten die Paladine sich daran gemacht, die von alten Steinen bedeckte Lichtung in einen Posten zu verwandeln.

Arlef knurrte in seinen grauen Bart. Das hätte seitens seiner Leute auf der Stelle unterbunden werden müssen – und er selbst war zu dem Zeitpunkt schon Anführer seines eigenen Clans gewesen. Aber irgendetwas hatte ihn und seine Krieger vom Eingreifen abgehalten. Die Ahnen straften Menschen dafür, dass sie unguten Dingen tatenlos zusahen. Trotzdem war er untätig geblieben.

Unruhe fuhr in die Männer, die den Eingang der Halle bewachten. Der Häuptling blickte auf.
Fast dankbar für die Unterbrechung seiner Grübeleien, erhob er sich von seinem Sitz und ging zu ihnen hinüber.
Sahawc, einer seiner besten Krieger, kam ihm entgegen, das breite Gesicht verdutzt.
„Unsere Wachen haben am Siedlungsrand jemanden aufgegriffen“, berichtete er. „Einen Druiden.“
Arlef schwieg kurz. Dann fragte er: „Wo ist er?“
„Bei den Wachfeuern“, entgegnete Sahawc. „Soll ich -”
„Nein“, unterbrach Arlef ihn. Er rieb sich die vernarbte Augenhöhle. „Bring mich dorthin.“

Sie verließen die Halle. Kunde von der unerwarteten Ankunft eines Druiden war offenbar schon Vielen zu Ohren gekommen, denn überall vor den Türen der Langhäuser standen Krieger, ihre Frauen und Kinder neben sich.
Arlef hielt sie alle mit einer Handbewegung zurück. Sahawc an seiner Seite, ging er hangabwärts auf die südlichen Wachfeuer zu.

Die Dunkelheit war noch nicht vollständig. Am Horizont zauderte ein Schimmer schwindenden Lichts.
Bei einem Wachfeuer erkannte Arlef eine Menschenansammlung, acht Krieger, die sich um eine weitere Gestalt tummelten. Als der Häuptling auftauchte, wichen die Männer respektvoll zurück, aber zwei von ihnen blieben bei dem Fremden.
Arlef fasste ihn ins Auge. Er war überrascht, einem Jüngling gegenüberzustehen. Der Mann hatte sicherlich kaum das achtzehnte Lebensjahr erreicht, war mager und nahm sich zwischen den Barbaren wie ein halbes Irrlichtlein von Mensch aus. Doch Arlef ließ sich davon nicht täuschen. Geschick und vielleicht auch andere Fähigkeiten waren nötig, um sich so nah an eine bewachte Siedlung heranzuschleichen.

„Und, Bürschchen?“, fragte er. „Wer bist du?“
Bevor der Junge antworten konnte, sagte einer der Krieger: „Mit dem stimmt etwas nicht. Er war ganz plötzlich da. Wir dachten, wir hätten ein Tier gehört, aber dann stolperte nur dieser Duckmäuser aus den Büschen.“
Arlef brachte den Sprecher mit einer Geste zum Schweigen. Er wandte sich wieder an den Druiden. „Nun? Heraus mit der Sprache.“
Sein Gegenüber stand dünn und lächerlich zwischen den Hünen. Doch Arlefs betagter Kriegerinstinkt wisperte ihm etwas von nicht ganz menschlichen Gerüchen zu, von angeblichen Kniffen des verjagten Volkes.

Dennoch hatte dieser Junge Angst, das war zu sehen. Arlef dachte an Schwarzfels, an das verdächtige Schweigen Brandulfs, an die vielen Züge und Manöver, mit denen er auf nebelhafte Bedrohungen reagieren musste.
„Ich überbringe eine Nachricht“, sagte der Junge bebend. „Mein Großvater hält seit Tagen bei der Dunklen Festung Wache. Er hat uns durch einen Vogel eine Botschaft geschickt.“
„Durch einen Vogel“, wiederholte Arlef tonlos.
„Ja.“ Der junge Druide blinzelte ihn an. „Da sind drei Männer in der Festung. Wohl zwei Lichtkrieger und ein Schwarzkünstler, wie mein Großvater glaubt. Er dachte, alle Menschen im Umkreis sollten davon wissen. Er meint, dass diese Fremden keine Anstalten machen, die Festung allein zu lassen.“
Schweigend hörten Arlefs Krieger zu.
Nach einem unsicheren Blick auf ihre ernsten Gesichter fuhr der Druide fort: „Er meint auch, da geht etwas vor sich. Und er ist besorgt.“
„Warum?“, fragte der Häuptling gedämpft.
„Weil diese Eindringlinge Spuren lesen“, antwortete der Druide. „Weil sie das Böse vielleicht aufwecken könnten. Das Böse im Stein.“
 
Zuletzt bearbeitet:
Und weiter geht's. Zukünftig werde ich wöchentlich ein neues Kapitel posten, immer samstags, wenn nichts dazwischenkommt.


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IX. Die erste Nacht




Jonah saß bei Simon. Seit wie langer Zeit schon, wusste er nicht. Das Licht schwand immer weiter. Der Nekromant hatte einige gefundene Öllämpchen angezündet und an günstigen Punkten des Vorraums und des Arbeitszimmers verteilt.
Obwohl er das Umhergehen und jede Bewegung dieses Mannes fühlte wie die Berührung eines klebrigen Tuches, war Jonah außerstande, sich aus seinem dumpfen Brüten herauszuwinden. Gelegentlich nahm er im Geist all die Fragen, die die letzten Tage aufgeworfen hatten, in die Hand und wog sie, aber bis auf ein prickelndes Schweigen kam nichts dabei heraus.

Natürlich konnte Brandulf in der Nähe sein. Vielleicht war er der Schlüssel zu den Verwicklungen, die Madalën, die Missionstruppe und die irgendwo im Umkreis lebenden Völker miteinander verbanden. Aber jeder Zusammenhang, an den sich Jonahs auf Intrigen und geheime Hintergründe abgerichtetes Denken sonst gehängt hätte, glitt ihm jetzt durch die Finger.
Er legte Simon erneut die Hand auf die Stirn. Sie war immer noch zu heiß.

Der Nekromant kam eben aus dem Arbeitszimmer in den Vorraum zurück, ein paar zerfledderte Seiten in der Rechten. Er schlug seinen Mantel zurück und ließ sich dem Lager gegenüber nieder.
„Simons Fieber will einfach nicht sinken“, sagte Jonah hohl.
Hadan musterte ihn mit seinen befremdlichen Augen. „Ein bisschen Geduld müsst Ihr schon aufbringen“, erwiderte er. „Euer Freund hat diesen Kampf allein auszustehen. Ihr und ich, wir können nur warten. Aber vielleicht nicht tatenlos.“
Er hob die Pergamentseiten hoch. Jonah verstand die Absicht zur Ablenkung, die sich neben Wichtigerem versteckte. War es wirklich möglich, dass dieser Mann ihm mit einem Hauch Milde begegnete – ein verteufelter Schwarzmagier, der allen Grund hatte, einen Lichtkrieger zu fürchten und zu verabscheuen?

„Was ist das?“, nickte er zu den Seiten hin.
„Das Geschreibsel des Kommandanten dieser glücklosen Truppe.“ Der Nekromant wendete die Blätter hin und her. „Wie es sich für einen verantwortungsbewussten Hohen Paladin gehört, hat er über das Treiben seiner Leute hier oben Buch geführt. Aber leider scheinen sich seine Aufzeichnungen auf rein praktische Dinge zu beschränken.“ Seine Brauen, genauso farblos wie der Rest seines Gesichts, wanderten ein Stück aufwärts. „Außerdem hat er viele Abkürzungen und Zeichen benutzt, die mir nichts sagen.“
„Lasst mal sehen.“

Keiner von ihnen erhob sich. In diesem Moment, in dem weder Jonah nach vorn rückte und die Hand ausstreckte noch sein Gegenüber geruhte, sich ihm zu nähern, war das Misstrauen zwischen ihnen mehr als greifbar.
Schließlich rollte Hadan die Seiten zusammen und warf sie Jonah zu.

Jonah überflog ihren Inhalt mit verengten Augen. „Vermerke über den Stand des Proviants“, teilte der dem Nekromanten mit, während er las. „Über die Sichtung von Gegnern. Vermessungen des Geländes. Die Einteilung von Männern zu bestimmten Arbeiten.“ Er sah hoch. „Nichts, das mir nach ungewöhnlichen Vorkommnissen aussähe.“
Der Nekromant schwieg, gestattete ihm vielleicht Raum zum Nachdenken.
Jonah untersuchte die Einträge erneut. „Wartet“, hörte er dann seine eigene leise Stimme. „Die Datierungen. Sie enden vor neun Wochen. Ja, doch… Der letzte Eintrag liegt über zwei Monate zurück.“
„Das ist alles, was ich finden konnte. Natürlich könnten noch andere Schriftstücke irgendwo umherliegen, oder verloren gegangen sein.“ Die Hände im Schoß, schaute der Nekromant Jonah an.
Das Licht der Öllämpchen stand ganz unbewegt umher.

„Wie lange“, fragte Jonah, als er sich überwunden hatte, „ist der Tod des am weitesten Verwesten da draußen her? Die Bezeichnung Eurer Klasse legt nahe, dass Ihr Euch mit Leichen auskennt.“ Das brachte ihm ein dünnes, fast bösartig vielsagendes Lächeln ein, aber er fuhr unbeirrt fort: „Zumindest erzählt man sich das. Nekromanten sind Vertraute des Todes. Seine Erforscher. Könnt Ihr das? Könnt Ihr Euch eine Leiche ansehen und besser als andere Menschen schätzen, wie alt sie ist?“
„Mit ziemlicher Sicherheit.“
„Und Ihr habt über den Zustand der Toten hier bereits nachgedacht.“
„Ja.“ Hadan wandte den Blick zum Ausgang. Aber er sagte nichts weiter.

Nach einer Weile beugte Jonah sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Ich muss wissen, was in Schwarzfels geschehen ist. Euch interessiert dieser Ort auch. Helfen wir einander.“
Nun war der Nekromant damit an der Reihe, die Augen schmal zu machen. Sie tasteten Jonah ab, doch er saß da und ließ es über sich ergehen. Er hatte nichts zu verbergen.
„Gut“, entgegnete Hadan schließlich. „Allerdings müssen wir bis zum Morgen warten.“
„Nekromantische Künste sind vom Tageslicht abhängig?“
„Nein. Aber sonstige Nachforschungen sind es.“ Der andere Mann warf einen kurzen Blick auf Simon, schien zu zögern, fügte seinen Worten jedoch nichts mehr hinzu.
Auf Abstand bedacht, richteten sie sich für die Nacht ein.

Jonah trat noch einmal den Weg zum Hinterhof an, um sich zu waschen und zu rasieren. An den Leichen vorbeizugehen, die auch im Dunkeln nichts von ihrem Schrecken verloren hatten, und auf der Rückseite des Gebäudes so lange am Brunnen zu stehen, wie es brauchte, um sich bis auf die Hosen zu entkleiden, mit Wasser zu überschütten, die Bartstoppeln abzuscheren und sich wieder anzuziehen, zerrte an seinen ohnehin mitgenommenen Nerven. Dass der abendliche Wald so ruhig war, machte ihm keinen Mut.
Immer deutlicher beschlich ihn das Gefühl, das Ende der Truppe sei nicht von außen erfolgt. Er ertappte sich dabei, wie er manchmal innehielt und lauschte.
Nach innen. Auf das Schlagen seines eigenen Herzens und auf seinen Atem, als müsse sich beides als Lautgebungen eines Körpers beweisen, der eigentlich auch schon tot war.

Auf dem Rückweg schleppte er in einem Bottich Wasser zu den Pferden, die noch am Waldrand angebunden waren. Sie kamen ihm gegenstandlos vor, und er tätschelte Mädchen nur flüchtig den Hals.
Als er von da aus wieder zur Festung zurückging, mit zwei Reisesäcken beladen, sah er es.
Jonah schnappte nach Luft. Seine Blase drückte plötzlich.

Schwarzfels glomm.
Aus kleinsten Lücken in Boden und Stein hervor flackernd, als Geistertuch längs der Wände und über dem Boden aufgehängt, wie ein zarter Dunst, schwebte ein schwaches Leuchten um die Festung. Vor dem Hintergrund des dunklen Waldes und unter dem dunklen Himmel war es trotz seiner Zartheit gut zu sehen. Zartheit beschrieb es treffend, oder auch Transparenz. Aber es war nichts Freundliches daran.
Das Glimmen ließ an Sumpfgas denken, das sich entzündet hat, oder an ein unter die Erde gekrochenes Nordlicht, und Jonah wurde bewusst, dass er stocksteif am Hang stand und sich unwillkürlich geduckt hatte. Die Festung schaute auf ihn herunter wie ein Schädel, die Fratze eines Gebäudes.
Nirgends ein Geräusch oder eine Bewegung. Simon war dort oben. Und der Nekromant.

Jonah hastete los. Obwohl jede Faser seines Wesens dagegen anschrie, dass er tatsächlich auf dieses unerklärliche Glimmen zulief, anstatt in den Wald zu fliehen und sich dort im schwarzen Bett der eigenen Panik zusammenzurollen, eilte er den Hang hinauf und betrat den Hof.
Von Nahem war das Leuchten weniger deutlich, doch dafür schienen sich die Steine der Festung regelrecht mit etwas aufgeladen zu haben, das sich gar nicht darum kümmerte, dass es bloß Steine waren. Sie summten mit den Schwingungen des Lebendigen.
Fassungslos erwartete Jonah, die toten Leiber an den Pfählen und den Wänden könnten auf das widerliche Glimmen antworten, zucken, die Köpfe nach ihm drehen, aber sie ließen ihn vorbei, ohne sich zu rühren. Als er die Mitte des Hofes erreichte, trat der Nekromant aus dem Eingang.

Hinter ihm leuchtete der Vorraum im Schein der Öllämpchen. Von vorn aber fiel ein schwacher Schimmer des allgemeinen Glimmens auf ihn und machte ihn zu einer wandelnden Leiche mit den milchigen Augen mancher Blinder.
„Seht Ihr das?“ Jonah gelang es, seine Stimme soweit zu beherrschen, dass sie nicht zitterte.
„Ja.“ Der andere Mann musterte den Hof und die Mauern, und seine Haltung verriet Vorsicht. Nun zeigte sich, dass er nicht unbewaffnet war: er hielt einen langen Dolch mit gewellter Klinge in der Rechten. „Ich sehe und spüre es, so wie Ihr zweifellos auch.“
Sie standen da und lauschten, doch es blieb still.

Nach einem Moment sagte Hadan: „Kommt herein. Ich muss mit Euch sprechen.“
Jonah folgte ihm in den Vorraum und stellte das Gepäck ab. Im Inneren des Gebäudes war von dem grausigen Lichtdunst nichts mehr zu sehen, aber er hatte den Eindruck, in die Höhle einer gewaltigen Bestie zu treten.
Sie setzten sich nieder, langsam und vorsichtig. Der Nekromant, der sich bis hierher gelassen und lakonisch gegeben hatte, wirkte jetzt sehr viel menschlicher. Sein weißes Gesicht war kantig vor Anspannung.
„Wenn Ihr mit Eurem verletzten Freund lieber den Rückzug antreten wollt, tut es besser bald“, sagte er. „Solange ich Euch noch helfen kann.“
„Was meint Ihr damit?“ Kalter Schweiß untergrub Jonahs kurzlebiges Sauberkeitsgefühl.

Als Hadan antwortete, kamen seine Worte schleppend, so als müsse er sie erst umständlich an innere Vorgänge anpassen. Womöglich sprach er auch nicht oft frei über sich. „Ich meine damit, dass ich nicht weiß, was hier vor sich geht und wie es sich auf meine Person auswirken könnte. Ich habe eine Vermutung, Paladin. Aber um zu prüfen, ob sie auch zutrifft, muss ich auf der Festung bleiben.“
Jonah holte bebend Luft. „Welche Art von Vermutung?“
„Dieses Gebäude ist für sich genommen nicht alt“, entgegnete der Nekromant. „Das ist Euch sicher schon aufgefallen. Die Wehrtürme und Mauern und diese Gemächer hier wurden aus Steinen errichtet, die auf der Lichtung herumgelegen haben müssen. Errichtet, um Westmarschenern ein Posten zu sein. Eure Missionstruppe hat das Schwarzfels gebaut, in dem wir uns aufhalten.“ Er betrachtete Jonah. „Diese andere Festung da unten, Madalën, ist doch sicher von Barbaren angegriffen worden?“
„Natürlich“, antwortete Jonah. „Mehrmals.“

„Schwarzfels aber nicht“, fuhr Hadan fort. „Die Menschen dieser Gegend haben Eure Brüder einen Posten bauen, sogar Äcker anlegen lassen. Dabei wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, fünfzig schwer beschäftigte Männer niederzumachen. Aber Barbaren waren es nicht, was Eure Brüder getötet hat.“
„Sondern?“ Jonahs Gesicht brannte. Er hörte Ausführungen zu, die eigentlich in seiner Verantwortung lagen.
Der Nekromant schüttelte träge den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Wieder schien er zu lauschen. „Ich weiß nur, dass dieser Ort vor unerklärlichen Strömungen überquillt. Sie antworten auf menschliche Gegenwart. Ich fürchte, das Leuchten da draußen hat sehr direkt mit unserem Hiersein zu tun.“ Er bedachte Jonah mit einem harten, abschätzenden Blick. „Was wollt Ihr tun? Nehmt Ihr Euren Freund mit und kehrt all dem hier den Rücken? Oder seid Ihr bereit, die Nacht in Schwarzfels zu verbringen?“
In diesem Moment durchschaute Jonah ihn.

Der Andere würde, von Neugier oder auch finstereren Motiven geleitet, in der Festung ausharren. Er tat solche Dinge häufiger. Vielleicht waren sie Teil dessen, was seine Klasse von ihren Angehörigen verlangte. Aber er bat auch versteckt um Unterstützung, und auf einmal wich seine Bedrohlichkeit hinter das ganz gewöhnliche Gebaren jedes Kämpfers zurück.
„In Ordnung.“ Jonah räusperte sich. „Wozu auch immer es gut sein mag – ich bleibe.“


***


Fette Schichten aus rotem Fleisch erdrückten ihn. Er sah einen Weg hindurch, einen engen Tunnel, aber alles um ihn herum war glühend heiß und lähmte seinen Willen. Er hätte gern um sich geschlagen, doch seine Glieder, die in einer benachbarten Wirklichkeit steckten, gehorchten ihm nicht. Seine Hände waren schwer wie Felsbrocken.

Simon öffnete die Augen. Für eine Weile war er nur damit beschäftigt, sich auf der Ebene, die er gerade erklommen hatte, festzuhalten. Dann, allmählich, klärte sich der rote Nebel.
Über ihm hing die Decke eines niedrigen Raumes. Der tröstliche Schein von Lampen kam von irgendwoher. Ihm ging auf, dass er im Wundfieber lag.
Die gewohnte Stille in seinen Ohren hatte sich in einen lästigen, bedrohlichen Druck verwandelt, und ohne einen Ankerplatz für seine restlichen Sinne wurde ihm plötzlich himmelangst.

Da rückte ein Gesicht in sein Blickfeld. Simons Erinnerung an das Attentat und den quälenden Ritt danach kam wieder, und er hatte erwartet, Jonah zu sehen. Aber der Mensch, der sich jetzt über ihn beugte, war nicht Jonah.
Simon stöhnte unter der Vergeblichkeit des Versuchs, die Hände, die ihn anfassten und sicher zu diesem bleichen Gesicht gehörten, wegzuschieben. Sie blieben beharrlich da, betasteten seinen Hals, seine Stirn, und dann die zwei Löcher, die dieser vermaledeite Brandulf in ihn geschossen hatte, und der Schmerz nagelte Simon fest.
Dann verschwanden die Hände. Ihm war trotzdem nicht leichter zumute. Er hatte schon auf vielen fremden Böden gelegen, in vielen unvertrauten Umgebungen, aber seine derzeitige Lagerstatt, zusammen mit seiner Hilflosigkeit, versetzte ihn in Furcht.

Aus der Erdmasse unter ihm drang eine beständige, ganz feine Erschütterung. Simons Taubheit hatte seine Wahrnehmung für Oberflächen und ihre Bewegungen geschärft, und er war sich auf einmal sicher, dass er sich an einem Ort befand, der alles Gewöhnliche von innen nach außen krempelte. Die Erschütterung schien auch zu ihm zu sprechen. Er lag da und hatte den auf ihn eindrängenden Bildern nichts entgegenzusetzen.
Zuvorderst war da der Eindruck, großer Hitze ausgesetzt zu sein, keiner Sonnen- oder Feuerhitze, sondern einem bläulichen Glühen, das alles Leben vernichtete und sich trotzdem eisig anfühlte. Aus der Dunkelheit vor Simons innerem Auge entfaltete sich ein gewaltiger Umriss, mehrfach menschengroß, der Umriss einer Gestalt. Sie war der Quell des Glühens und brachte Simon seit Längerem zum ersten Mal wieder dazu, zu denken, ein Stoßgebet an das Licht sei trotz allem vielleicht doch keine so schlechte Idee.

Er versuchte, seinen schwammigen Zugriff auf die Ebene, die ihm das weiße Gesicht gezeigt hatte, nicht zu verlieren. Die Einsicht kam von ganz fern. Er war lebensgefährlich verwundet, stand auf der letzten Felsnase über einem ewigen Abgrund. Er hatte versagt, er hatte zu lange geglaubt, dem Leben und seinen eigenen Makeln ein Schnippchen schlagen zu können. Jetzt lag er unbrauchbar im Bannkreis irgendeines schlimmen Vorgangs herum, und der Druck quälte seine Ohren.
Die Ställe der Ordenshäuser zu Kingsport fielen ihm wieder ein, das warme Schieben und Atmen der Pferdeleiber, der heimelige Geruch von Heu und Dung, das Luftholen, wenn man nach getaner Arbeit in den Hof trat. Im Hof stand ein kleiner Mann mit freundlichen, traurigen Augen, merkwürdig würdevoll, und las Simons unbeholfene Zeichen.

Das weiße Gesicht über Simon war verschwunden. Jemand hielt ihm einen Trinkschlauch an den Mund. Er verschluckte sich. Rammböcke aus Schmerz gruben sich in seinen Körper.
Dann griff eine kleine, kräftige Hand nach der seinen. Jonah. Also war er doch noch da, mitten in diesem Mahlstrom pulsenden Bodens und fahler Furcht. Seine Hand drückte zu.

Simon hätte ihm gern Vieles gesagt. Dass er dankbar war, und wie er es genossen hatte, über seinen Freund und dessen schlaue kleine Winkelzüge in der weiten Welt zu witzeln. Doch ihm fehlte die Kraft dazu. Er spürte Bewegungen in seiner Nähe, aber er konnte ihren Verursachern nicht mitteilen, dass der blutige Tunnel nun wieder von unten an ihm zerrte, und dass er wusste, wenn er jetzt die Augen schloss, würde er sie erst wieder öffnen um zu sehen, ob das Licht, das eine, große Licht, wirklich existierte.


***


„Er ist wieder bewusstlos.“ Hadan wischte das Gesicht von Pereîs‘ Diener mit einem feuchten Lappen ab.
Normalerweise hätte er es durchaus als seine Aufgabe empfunden, bei dem Verletzten zu wachen. Ein Heilkundiger – selbst wenn es ein verhinderter Heilkundiger war wie er – wich oft stunden- oder auch tagelang nicht vom Lager eines Kranken, vorausgesetzt, er hatte nichts Dringenderes zu tun. Die nekromantischen Lehren waren randvoll von den Beziehungen zwischen allem, was lebte oder gelebt hatte, zwischen Tat und Folge, zwischen Wirkenden und Empfangenden.

Aber jetzt hatte er keine Zeit, diesen milderen Seiten seiner Kunst nachzueifern. Mit der Nacht war ein Unheil über Schwarzfels hereingebrochen, dem es sich zu stellen galt, und das mit aller nur möglichen Hingabe.
„Deine Neugier“, hörte Hadan seinen alten Lehrer in seiner Erinnerung sagen, „wird dir eines Tages noch das Genick brechen, Nâkyshat. Oder dein Machthunger. Du musst deine Wissensgier in geordnete Bahnen lenken, dich mäßigen.“
Doch Maß zu halten war nie seine Stärke gewesen, ebenso wenig, wie dem Herumwühlen in fremdländischen Mysterien zu widerstehen. Und darum hockte er jetzt wohl auch im nördlichsten paladinischen Posten der Welt und hatte soeben mit einem Lichtkrieger vereinbart, man möge sich doch zusammentun und nachsehen, welches Unheil sich da just um einen herum zusammenbraute.
Unter Seinesgleichen galt Hadan nicht als Weiser. Aber er war begabt, sehr begabt sogar, und hatte auf seinen Wanderungen und während der Erfüllung verschiedener Aufträge Einiges gesehen. Schwarzfels war verflucht. Daran gab es kaum Zweifel. Auf welche Weise, lag noch im Bereich des Verdachts – und ein fast unglaublicher Verdacht war das.
Um dem Wesen der Dinge auf die Schliche zu kommen, war es manchmal nötig, sich diesen Dingen auszuliefern.

Hadan legte den Lappen weg und schaute zu Jonah Pereîs hinüber. Er musste sich anstrengen, den anderen Mann als gesondertes Geschöpf wahrzunehmen und nicht als einen gesichtslosen Feind. Es fing bereits an. Pereîs‘ Haltung hatte schon etwas Kriecherisches und zugleich Verschlagenes, wie er da kauerte und Hadan mit seinen großen Augen ansah. Ganz fern am Rand des Bewusstseins flackerte schon das erste Zünglein der Idee auf, ihn aus dem Weg zu schaffen, und ihn dabei ein wenig leiden zu lassen, ja, vielleicht – für seine Dreistigkeit ebenso wie für die simple Tatsache, dass er ein Lichtkrieger war.
Alter Hass. Übernommener Hass.
„Aber nicht meiner“, sagte Hadan und bewegte den Kopf so schnell nach hinten, dass er schmerzhaft gegen die Wand schlug.
„Wie bitte?“ Pereîs, nicht mehr sein Zerrbild, schaute ihn fragend an.
Doch das Zerrbild würde wiederkommen.

„Nichts.“ Hadan wies mit dem Kinn auf das dunkle Rechteck des Eingangs. „Für was haltet Ihr das dort draußen?“
Gewaltsam unterdrückte Angst machte die Züge des Paladins schmaler. Er folgte Hadans Kinnbewegung mit einem Blick, zögerte, antwortete dann aber mit überraschender Bestimmtheit: „Für etwas Böses.“
Hadan nickte.

Sie saßen danach lange wortlos da, aßen ein Mal etwas aus ihren Reisesäcken, taten ansonsten aber nichts, außer zu lauschen und die vielleicht ersten zwei Nachstunden vorbeitröpfeln zu fühlen.
Für die Sinne gab es keine Veränderung, es blieb still und dunkel, und das widernatürliche Glimmen wurde weder stärker noch schwächer. Doch mit der Zeit wandelte sich etwas, etwas das außerhalb der Sinne lag.

Ganz allmählich und hinterlistig, dadurch, dass sich die Seele anscheinend für alles Nachteilige und Hässliche an der Umwelt öffnete, und durch das innere Betasten sonst tief im Gewissenskerker verschlossener Empfindungen, kam das Böse angekrochen. Hadan fühlte es durch tausend winzige Kanäle in ihn herein sickern, und wie es sich hohnlachend in ihm breitmachte, ein gieriger Eroberer auf einem lange beäugten Thron. Es kam aber nicht als Fremdling, sondern eher als ein alter Ausgestoßener – in Hadan fand es seine eigenen Ursprünge bereits vor und brauchte sich nur wieder mit ihnen zu vereinen.

Der Mann, der ihn auf einem Pfad zwischen Reisfeldern hatte ausrauben wollen, kreischte schrill, während seine zwei Kumpane in wilder Flucht durchs Wasser davon platschten und er auf den Knochenspeer starrte, der ihm langsam, mit unnötiger Grausamkeit, aus den Eingeweiden wuchs. Eine junge Frau ging vorbei und bedachte den Nekromanten mit einem Lächeln, und als sie aufreizend träge in einer dunklen Gasse des Freudenhausbezirks verschwand, ging er ihr nach, obwohl er wusste, dass sie noch ein halbes Kind war. Das Gesicht seines alten Meisters wurde zur Maske eines schwächlichen Quacksalbers, eines Ignoranten und Langweilers, der Hadan immer wieder dieselben Dinge predigte.
Grausamkeit. Lust und Wegsehen. Hochmut.

Aber schlimmer als dieses Aufquellen der eigenen Fehler war, wie das Böse an die niederen Triebe appellierte. Über eine lange Weile kämpfte Hadan sitzend, mit halb geschlossenen Augen, um seine Beherrschung, seine Vernunft. Er schwitzte unter seinem Lederhemd und seinem Mantel, wagte es aber nicht, sich zu rühren, um wenigstens Letzteren abzulegen.
Ihm war undeutlich bewusst, wie nah der Paladin saß, bloß Schritte entfernt, und dass er ihm, Hadan, nicht gewachsen war. Ein bremsender Fluch, ein Dolchstoß womöglich. Oder auch eine Giftattacke. Aber unter diesen Bildern, die an ihm ruckten und die er wieder und wieder abwehrte, lauerte ein noch abgründigerer Wunsch, eine fiebrige Vorstellung von zwei Männern, die einander mit bloßen Händen töteten.
„Pakhra“, murmelte der Nekromant.
Sein Gott rührte sich nicht.

Dafür rührte sich ihm gegenüber etwas, und als er aufsah, erhob sich Pereîs soeben wankend. Der Paladin blieb kurz unbeweglich stehen, vielleicht um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Gesicht war blass, unerwartet hart, das Gesicht eines Heimgesuchten.
Benommen von seinem eigenen inneren Kampf schaute Hadan mit nur träge erwachender Alarmiertheit zu, wie Pereîs über seine Schulter nach hinten griff. Eisen schabte auf Leder. Die Augen des Paladins ruhten für einen Moment ausdruckslos auf dem Schwert.
Dann trieb er sich selbst die Spitze in den Oberschenkel. Der Bann gab Hadan widerwillig frei. Tief hatte sich Pereîs die Waffe nicht ins eigene Fleisch gestoßen, aber weit genug, damit ihm jetzt Blut in sichtbarer Menge das Bein hinunterlief.
Hadan hörte ihn mit den Zähnen knirschen. Das Schwert klapperte auf den Boden.

Der Nekromant klopfte sich mit der Zunge gegen die Zähne, bevor er sprach. „Ihr seid verrückt geworden.“
„Nein.“ Mit leicht verzerrter Miene presste Pereîs eine Hand auf die Wunde. „Ich war knapp davor. Oder knapp vor dem Hinüberwechseln in einen Zustand, aus dem ich nicht wieder hinausgefunden hätte. Glaube ich wenigstens.“
Hadan überprüfte sein eigenes Empfinden, die Stärke des Einflusses.
Was auch immer den Ort besetzt hielt, war noch da, aber wie auf einer Welle in schwächere Wirksamkeit zurückgeflutet.

Er musterte Pereîs mit neuem Interesse. Traf sein Verdacht zu, gehörte es mit unter die Folgen des bösen Einflusses, sich selbst Schaden zuzufügen – ebenso wie Anderen -, aber für den Augenblick hatte Schmerz den Paladin offensichtlich aus einer Trance befreit, die Hadans innerem Kampf vielleicht sehr ähnlich gewesen war.
„Wollt Ihr, dass ich nach Eurer Wunde sehe?“, fragte er Pereîs.
Der andere Mann verneinte stumm. Er wischte die blutige Schwertspitze am Hosenbein ab und band sich einen Tuchstreifen um den Schnitt. Danach, und nachdem er seine Waffe wieder in der Rückenscheide untergebracht hatte, setzte er sich mit einem Ächzen hin.

Sie hielten weiter Wache.
Die Zeit verstrich langsam.
Hadan holte ein winziges Buch mit Beschwörungstexten hervor und las darin, aber es war eher ein wirres Herumblättern. Fortwährend auf den Nachhall einer großen Lebenszuckung des Unheils zu lauschen, nahm ihn zu sehr in Anspruch.
Außerdem war da noch Pereîs. Hadan ertappte sich dabei, dass er den Anderen oft beobachtete.
Der Paladin tat wenig, saß nur da, starrte vor sich hin, in Gedanken versunken. Seine Züge wirkten verbissen wachsam, aber entkräftet. Er war schwer einzuschätzen. Symbole des Lichtordens fehlten an seiner Kleidung, und wären seine Sachen nicht so sauber gewesen – bis auf den Schmutz einer mehrtägigen Reise -, hätte er gut irgendein niederer Söldner oder bewaffneter Handelsreisender sein können.

Seine Art, sich auszudrücken, sprach allerdings dagegen. So redeten nur Adelige und ihre höheren Gehilfen in Hadans Heimat, oder die sehr seltenen Gestalten, die reiche Kaufmannszüge oder große Heere begleiteten, Männer, unter die Pereîs seiner Angabe nach ja gehörte. Doch irgendetwas Tieferes, Wesentlicheres stimmte nicht mit ihm – und da er nun müde war und seine Wachsamkeit ausgehöhlt, ließ Hadan behutsam einen Fühler seiner eigenen Begabung zu ihm hinüber wandern.

Es schien fast, als wolle die Aura des Ortes ihm dabei helfen. Er fand, was er schon vorher vermutet hatte. Diesmal entglitt ihm der Funke nicht.
Offen verdutzt hob der Nekromant den Kopf. Die Augen des Paladins, der seine Bewegung bemerkte, folgten ihm.
Hadan hielt den Blickkontakt aufrecht, der jetzt etwas Abgeklärtes hatte, das Feindseligkeiten abschliff, aber bevor er sich eine Taktik zurechtlegen konnte, sprach Pereîs.

„Ihr seht aus, als sei Euch gerade eine Eingebung gekommen“, sagte er.
Trotz ihrer Lage und der möglichen Gefährlichkeit seiner Entdeckung musste Hadan ein Lächeln unterdrücken.
Der Anflug grimmiger Heiterkeit währte allerdings nur kurz.
„Ich habe mich gefragt“, begann er mit Bedacht, „welche Angriffsfläche Ihr dem, was wir vorhin bezeugen mussten, wohl geboten haben könntet, Paladin. Das, was in dieser Festung lauert, braucht eine solche Angriffsfläche. Darin stimmt Ihr mir sicher zu.“
Pereîs nickte, aber seine Miene wurde glatter, verschlossen.
Um sie herum gab es kein Geräusch bis auf das mühsame Atmen des Dieners, und die Öllämpchen brannten ausdauernd, mit unbewegtem Schein.

„Was mich betrifft, waren da Bilder, Erinnerungen an weniger löbliche Dinge, die ich getan habe“, fuhr Hadan fort. „Neben dem Antrieb, Euch zu töten.“ Sein Gegenüber versteifte sich, regte sich ansonsten aber kaum. „Beides nicht sehr abwegig, wenn man unsere Herkunft und meinen Charakter bedenkt. Aber Ihr? Welchen Grund habt Ihr dieser Kraft gegeben, Euch heimzusuchen?“

Pereîs stritt nicht ab, dass er von Trugbildern und Zwängen übermannt worden war, doch er entgegnete sanft: „Ich glaube kaum, dass Euch das etwas angeht.“
Hadan lächelte humorlos. „Eure Sünden oder Triebe vielleicht nicht. Ein Geheimnis, das mich ebenso gefährden könnte, dagegen sehr wohl. Sagt mir, Bruder Pereîs, Hoher Abgesandter des Lichtordens: weiß irgendjemand in Eurer Heimat, dass Ihr ein halber Magier seid?“
 
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