Reeba
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Hallo, liebes FAS. Ich dachte, ich bringe nach langer Zeit mal wieder versuchshalber eine Geschichte an den Start.
Sie spielt noch vor den Ereignissen von D2 LoD, hat also mit D3 nicht viel zu tun.
Ich habe die einzelnen Stücke des Kapitels in kürzere Abschnitte unterteilt, um walls of text zu vermeiden.
Über Rückmeldungen freue ich mich selbstverständlich sehr.
LG, Reeba
Disclaimer: Die Welt von Sanktuario, sämtliche Klassen und Hintergründe sind Eigentum von Blizzard. Die Geschichte wurde ausschließlich zu Zwecken der Unterhaltung geschrieben.
Zusatz aus aktuellem Anlass: Sämtliche Originalcharaktere und Originalhandlungen hingegen sind meine. Diese Geschichte darf nicht ohne meine Zustimmung kopiert oder weiterverbreitet werden. Zuwiderhandlungen ziehen rechtliche Konsequenzen nach sich.
****
I. Das vergessene Gebiet
Die Morgensonne lugte über den Rand der östlichen Wälder.
Je weiter man nach Norden kam, so die Meinung hiesiger Siedler, desto wahrscheinlicher war die Dämmerung eine sich unglaublich hinauszögernde Angelegenheit mit viel Nebel und verwaschenen Farben, kein bisschen wie diese herrlichen Sonnenaufgänge in Kingsport oder Bramwell. Die Gegend, in der unsere Geschichte beginnt, musste sich eine Menge für sie unvorteilhafter Vergleiche gefallen lassen, zuvorderst den mit der Westmarsch.
Die Siedler und Freiwilligen der Zeit waren nicht gerade für Nachsicht bekannt. Ihnen fiel die undankbare Aufgabe zu, eine Region bewohnbar zu machen, bei deren Erwähnung jeder besser gestellte Mann die Augen verdrehte. Da sie das wussten, blieb ihnen als kleine Rache nur der Vergleich mit ihrer Heimat.
Unvoreingenommen betrachtet, war der Landstrich nicht schlechter als andere.
Gelbe Wiesen erstreckten sich von Horizont zu Horizont. Der Boden war flach genug für den Ackerbau und stieß an die dunklen Zungen von Waldstücken, Ausläufer der riesigen Wälder des Nordens. Es regnete oft, aber das Wetter war bei Weitem nicht so unberechenbar wie hundert Meilen weiter nördlich, und die Sonne war im Großen und Ganzen dieselbe wie in der Westmarsch.
Heute Früh allerdings kämpfte die Sonne einen zähen Kampf. Sie hatte sich den aus dem Wald kriechenden Nebel kaum vorgenommen, da machte man ihr auch schon einen Strich durch die Rechnung.
Es donnerte.
Dicker Rauch entfaltete sich über dem Boden. Er quoll auf, zog dann gemächlich westwärts über die Ebene und bekleckerte das Gras mit Resten von Asche und Erdreich. Ein paar Vögel verließen die Waldborten unter Protest. Der Rauch gewann an Höhe und versteckte ungefähr eine halbe Quadratmeile Landschaft hinter grauem Dunst.
Die Luft war warm. Der Sommer hatte sich noch nicht ganz verzogen.
Wieder donnerte es, diesmal so heftig, dass der Boden der Ebene erzitterte.
Die Erschütterung erreichte sogar ein Feldstück weit abseits des Einschlags, wo die Männer einen Tisch und ein paar Stühle aufgebaut hatten. Wachen, denen das Beben in die Beine fuhr, machten verbissen gleichgültige Mienen und hielten die Ordensstandarten fest, damit sie nicht umfielen.
Auf dem Tisch klirrte Kristallglas.
Alban Rathard Jaronas, Kommandant der fast vierzigköpfigen Truppe, die sich am heutigen Morgen über die kleine Ebene verteilte, griff nach der Weinkaraffe und wartete, bis das Beben abgeklungen war.
Er schnüffelte interessiert. Der Gestank von Pulver war trotz der Entfernung durchdringend.
„Kommandant!“ Ein hustender Bote stieß gegen den Tisch. „Ein Radius von sieben Metern! Eine junge Eiche hat's fast weggerissen.“
„Was sagt der Büchsenmeister?“ Alban ließ die Karaffe los und streckte die Beine unterm Tisch aus.
„Bittet um Erlaubnis, es noch einmal versuchen zu dürfen“, vermeldete der Bote.
Alban seufzte. Natürlich war die Übung, erste ihrer Art so weit im Norden, notwendig.
Aber Bramwell hatte ihm einen Zerstörungswütigen geschickt, einen dieser unterbeschäftigten Waffenbauer, die mangels echter Gelegenheiten, ihre Haubitzen einzusetzen, kaum an der Leine zu halten waren. Jeder Kommandant in bedrohten Gebieten musste die Vorteile schwerer Büchsen einsehen, doch dieser wahnwitzige Geselle da hinten mit seinem Tross halb tauber Geschützgardisten, der die drei Eisenungetüme überwachte, begann ihm gehörig auf die Nerven zu gehen.
„Na, meinetwegen“, sagte er zu dem Boten. „Einen Schuss noch. Aber danach soll er seinen Kram wieder zusammenpacken, klar? Das Nächste, was wir hören, sind vielleicht die Beschwerden irgendwelcher Siedler, denen der Stall überm Kopf eingestürzt ist.“
„Ja, Kommandant.“ Der Bote schien einen Moment lang nachzudenken. „Ach, der Büchsenmeister lässt Euch fragen, was mit dem Maultier ist.“
Alban schenkte sich neuen Wein ein, nippte und spähte über die Ebene. Der Rauch hatte sich ein wenig verzogen. Er konnte einen Pulk von Leuten links am Waldrand erkennen und, weiter in nördlicher Richtung, einen vierbeinigen Umriss.
„Mir egal“, setzte er das Glas ab. „Macht nur. Je eher das vorüber ist, desto besser.“
Der Bote hastete davon.
Die Männer, die um Albans Tisch herumstanden, beäugten den fernen Punkt, an dem die Haubitzen aufragten, mit tiefer Abneigung. Vielleicht war es der Anblick ihrer düsteren Gesichter, doch Alban bekam endgültig schlechte Laune.
Bislang hatte er seine Aufgabe hier als notwendiges Übel begriffen. Er machte sich keine falschen Vorstellungen über die Gründe für seine Versetzung ins Grenzland. Er war ein erfahrener Kommandant, aber ohne Auszeichnungen, ohne mit seinen fast fünfundvierzig Jahren höher als bis zum Vorsteher eines Außenpostens aufgestiegen zu sein. Kingsport, da biss die Maus keinen Faden ab, brauchte Männer wie ihn. Zuverlässige, nicht übermäßig intelligente Männer, die für ihren Wagemut keinen besonderen Lohn verlangten.
Seine Aufgabe hier hatte sogar ihre Vorteile, trotz der Risiken, mit denen die Festung seit Jahren leben musste. Hier war man wenigstens sicher vor Stadtschreibern und pflichteifrigen Ordensbrüdern.
Das Land unterhalb der Nordwälder galt als unstete, aber belanglose Region. Daher sandte der Lichtorden kaum je Erkundungstrupps hierher, nur mittelmäßige Soldaten, so wie Alban selbst, und eben hin und wieder einen überspannten Strategen wie diesen lästigen Büchsenmeister. Neue Methoden zur Kriegsführung ließen sich weitab belebter Gebiete besser erproben.
Heute früh allerdings, fand Alban, hatte die Ebene etwas Gedrücktes, Unheilverkündendes. Sobald er einen Erfolgsbericht in die Stadt geschickt hatte, würde man den Büchsenmeister samt seinen Eisenungetümen abkommandieren. Und sobald im Norden frische Unruhen aufbrachen, würden die Haubitzen wiederkommen.
Alban hatte es nicht nötig, sich die Krater anzusehen, die die Eisenkugeln in die Landschaft rissen. Mustersoldat oder nicht, als alter Haudegen wusste er ziemlich genau, was so eine Waffe an Gebäuden oder Menschen anrichtete.
Sich über die Lippen leckend, schaute er zum Wald. Die Masse der Bäume stand still, unbeeindruckt, scheinbar verlassen. Eine Handvoll Meilen weiter nördlich gab es keine gelben Felder mehr, keine Waldaufschlüsse, nur noch dichten, dunklen Forst.
Kingsport hatte das Hochland längst annektiert, indem es die eigentlichen Bewohner dieses Teils von Sanktuario einfach übersah. Sie waren der Macht einer paladinischen Ordensstadt in offener Schlacht nicht gewachsen, geschweige denn den Siedlern, Landmessungen und Verträgen der gegnerischen Zivilisation.
Der mittlere Westen befand sich schlicht in der Überzahl. Sobald sich die Barbaren ins Hochland zurückziehen mussten, um ihre Wunden zu lecken, rückten die Paladine nach. Sie verfügten über alles, was einen Jahrhundertkonflikt entschied: Eisenminen, Gießereien, unerschöpflichen Nahrungsnachschub. Und eine höhere Geburtenrate.
Alban war in so tiefes Nachdenken versunken, dass die neuerliche Erschütterung, die dem Ohren betäubenden Knall der nächsten Haubitze folgte, ihn kaum erreichte. Erst als schmutziger, schlapper Wind auf den Tisch zuwehte, blinzelte er. Teufel auch, er fing an zu grübeln. Das ging entschieden zu weit.
Entgegen der Ansicht der Städte war die Gegend einigermaßen ruhig, die letzte Begegnung mit Barbaren – oder Druiden, wer kannte da schon immer den Unterschied – lag Wochen zurück, und es waren nur zwei Leute getötet worden. Keine große Sache.
In der Absicht, seiner merkwürdigen Stimmung ein Ende zu bereiten, rief Alban seinen anwesenden Unterkommandanten her.
„He, Brandulf!“ Eine Hand über dem Glas, um den Wein vor herab rieselndem Staub zu schützen, nickte er einer der Gestalten im Dunst zu. „Beweg deinen Hintern zu mir.“
Der Mann tat wie befohlen und nahm am Tisch Habachtstellung an. Er war hager, muskulös, untypisch dunkel für einen westlichen Paladin, und von Kopf bis Fuß in eisenbeschlagenes Leder gekleidet. So weit von Kingsport entfernt legte man keinen besonderen Wert auf Äußerlichkeiten. Was zählte, waren starke Nerven und ein ungerührtes, im besten Fall lakonisches Gemüt.
Daher trug Brandulf einen Bart, genauso schwarz wie sein nackenlanges Haupthaar. Sein Blick allerdings drückte deutliche Missbilligung Albans lockerer Redeweise aus.
„Kommandant“, sagte er flach.
Alban schaute nachdenklich an ihm hinauf. Der grimmige Gesichtsausdruck seines Unterkommandanten erinnerte ihn nicht zum ersten Mal an etwas.
„Ich weiß nicht, ob man dir das schon gesagt hat, Brandulf“, meinte er, „aber du siehst wie ein Barbar aus. Ja tatsächlich. Eigenartig.“
Brandulfs schwarze Augen starrten auf irgendeinen Fleck im Dunst.
„Möglich, dass hier nach einer Weile alles barbarische Züge annimmt, Kommandant“, erwiderte er, ohne die Miene zu verziehen.
„Ja. Gut möglich.“ Alban lächelte versuchshalber, ließ es aber bald bleiben. Er war sich unsicher, ob er den Anderen gerade nicht fürchterlich beleidigt hatte.
Eigentlich kannte er Brandulf nicht sehr gut – die Zeiten brüderlicher Gemeinschaftsideale waren zumindest in den Grenzgebieten vorbei. Er wusste nur, dass Brandulf nicht aus Kingsport stammte und dem Orden früher als Söldner gedient hatte. Das war längst nicht mehr unüblich. Sofern sie sich als tüchtige Kämpfer erwiesen, sah der Orden großzügig über die Herkunft seiner minderen Paladine hinweg.
Alban schätzte Brandulfs Qualitäten. Die Männer gehorchten dem Unterkommandanten widerspruchslos, nicht aus Sympathie, sondern weil sie ganz einfach Angst vor ihm hatten. Zu Recht. Ein von Dieben besetztes Haus, ein mit Gegnern vollgestopfter Winkel – man brauchte bloß Brandulf hineinzuschicken, ihn allein mit seinen zwei langstieligen Äxten, die er anstelle von Schwert oder Szepter benutzte, und schon löste sich das Problem. Da er die Gesellschaft anderer Menschen mied, war er eine ausgezeichnete Wache, am besten auf Mauern oder vor Kerkertüren aufgehoben.
Was in Brandulf vorging, war unmöglich zu sagen. Doch Alban hatte gelernt, sich auf ihn zu verlassen.
„Machen wir Schluss für heute“, sagte er jetzt zu ihm. „Sieh zu, dass die Männer ihr Zeug einpacken, und dann zurück zum Posten.“ Er gähnte offen. „Mir dröhnt der Kopf von diesem vermaledeiten Krach, und ich habe Hunger. Außerdem erwarten wir spätestens gegen Mittag unseren Gast.“
„Wie Ihr befehlt, Kommandant.“ Brandulf gab den nebenan wartenden Paladinen ein Zeichen, die Standarten einzurollen, bellte zwei, drei Befehle und entfernte sich über das verrauchte Feld.
Als Alban aufstand, ging sein Blick unwillkürlich zu der Stelle, an der bis vor Kurzem noch das Maultier gestanden hatte. Der letzte Haubitzenschuss hatte die unglückliche Kreatur im wahrsten Sinn des Wortes pulverisiert. Nicht einmal der Pflock, an dem sie festgebunden gewesen war, war noch zu sehen.
„Neue Waffen, verflucht noch eins“, murrte der Kommandant. Gleichzeitig, als Entschuldigung für seine Wortwahl, schlug er die Himmelsgeste.
Von rechts polterte ein niedriger Wagen heran. Knechte sprangen ab und beeilten sich damit, Tisch und Stühle aufzuladen.
~
Die eng stehenden Baumstämme boten ausreichende Deckung.
Doch selbst ohne den Schutz des Waldes, war den Männern aufgegangen, hätten die Feinde sie vermutlich nicht bemerkt. Ausgerechnet der Rauch, Atem der eisernen Monstren, verschaffte ihnen einen Vorteil.
Jetzt verfolgten sie den Abzug der Paladine. Durch die vernebelte Luft schallten gedämpfte Befehle, das übliche Gebrüll und Herumgetrampel, das die Gruppen dieser Menschen überall begleitete.
Trotzdem lachten die Beobachter nicht. Das Lachen über die Westmarsch war ihnen schon vor einiger Zeit vergangen.
Stattdessen standen sie da, mit verengten Nasenflügeln wegen des Gestanks und mit den klobigen Fäusten an ihren Waffen, weil sie dem Abzug, der völligen Ahnungslosigkeit des Gegners, noch nicht ganz trauten. Donner hallte in ihren Ohren nach. Vermutlich hatte man ihn auf Meilen hinaus hören können, aber die Männer waren hergekommen, um die Verheerungen der furchtbaren neuen Ausrüstung ihrer Feinde mit eigenen Augen zu sehen.
Sie schwiegen. Ihnen war nicht nach Reden zumute.
Schließlich aber öffnete Einer von ihnen doch den Mund. „Jetzt wissen wir es“, sagte er. „Die Kundschafter haben nicht gelogen.“
„Pah.“ Ein Anderer spuckte auf den Boden. „Teufelswerk!“
Ein Dritter, ein Hüne von einem Kerl, mit langem, grauem Haar, das rechte Auge völlig vernarbt, strafte den Spucker mit einem abfälligen Blick. „Sei still, Morac. Teufelswerk? Bist du so versessen darauf, der Meinung der Paladine über uns nachzueifern? Das da eben hat mit dem Bösen nichts zu tun.“
„Sondern?“ Der Gescholtene zog die Brauen zusammen.
„Das ist nur der Geist der Städte.“ Der Grauhaarige wandte sich wieder nach vorn, um über das Feld zu spähen. „Eine Laune der Zeit, weiter nichts.“
Unter den Anwesenden entstand Gebrumm, ein merkwürdiger Laut aus den Kehlen von Menschen, fast tierisch – und unbedingt ein Ausdruck des Missfallens. Den Grauhaarigen schien es nicht zu kümmern.
„Du hast gut reden“, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort. „Deine Halle steht noch. Aber was, wenn eine von diesen Kugeln sie trifft? Wie lange steht sie dann, was meinst du?“
Wieder wurde gebrummt, jetzt allerdings zustimmend.
„Meine Halle“, antwortete der alternde Krieger, „wird Gegenstand meiner Sorge sein, wenn es soweit ist. Vorerst haben wir andere Aufgaben. Gemeinsame Aufgaben, wie ihr hoffentlich noch wisst.“
Niemand sagte etwas. Es war auch nicht nötig.
„Gut.“ Der Grauhaarige nickte. „Wir haben die Wirkung ihrer Waffen bezeugt. Die Clans müssen gewarnt werden.“
„Alle?“, erkundigte sich der Mann mit Namen Morac zweifelnd.
„Nach Möglichkeit, ja.“
Der Mann, der als Vierter gesprochen hatte, räusperte sich unterdrückt. Kritik am Entschluss eines Häuptlings gleich mehrerer Dörfer war eine verzwickte Angelegenheit. Doch die Entscheidung, ob er es wagen sollte, wurde ihm abgenommen.
„Du hast Einwände, Carden?“, fragte der Grauhaarige.
„Ich denke, die haben Mehrere hier“, entgegnete der Mann und sah in die Runde. Falls er auf Unterstützung gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Die restlichen fünf Männer waren plötzlich still wie tote Karnickel. Er runzelte die Stirn und fuhr fort: „Die Rotbärte und die Schwarzfelsler lassen sich schon seit Monaten nicht mehr blicken. Vielleicht sind sie niedergemacht worden.“
„Sie aufzusuchen, könnte gefährlich sein“, warf ein Mann ein, der bisher geschwiegen hatte. „Ich habe noch zwei Dutzend Krieger. Ich will sie nicht an eine aussichtslose Sache verlieren.“
Der Grauhaarige lächelte schmal. Bei ihm war das kein gutes Zeichen. „Unsere Brüder zu verständigen, gilt inzwischen also als aussichtslose Sache?“
Erneut wurde es still. Die Männer warfen sich verstohlene Blicke zu, wussten nicht, ob sie besorgt, erbost oder beschämt sein sollten.
„Hört her“, beendete ihr Anführer das Schweigen. „Ich verstehe eure Zweifel. Aber ihr habt mir Treue geschworen. Ihr habt mich gewählt. Ich sage, wir arbeiten der Westmarsch nur in die Hand, wenn wir uns weiter entzweien lassen. Und genau das plant sie, das wisst ihr.“
Hier und da bedenkliches Kopfwiegen und Nicken.
„Schickt eure unbrauchbarsten Krieger zu den anderen Stämmen. Auf sie könnt ihr verzichten. Spätestens, wenn die Paladine euch überrennen.“ Die Stimme des Grauhaarigen war hart. „Bringt in Erfahrung, wie es um die Hochwälder steht. Und tut es schnell. Das ist kein Rat, das ist ein Befehl.“
Ein paar Augenblicke verstrichen, vornehmlich mit unfreiwilligem Wittern der verschmutzten Luft.
Dann nickten die Männer wieder.
Zwei oder drei von ihnen hätten nicht übel Lust gehabt, dem Grauhaarigen eine Faust in die Zähne zu stoßen und ihn zu fragen, ob der folgende Geschmack ihn nicht vielleicht an etwas erinnerte, aber er war in der Tat ihr Häuptling. Darüber hinaus hatte er Recht.
„Schön“, sagte er, und nur wer ihn sehr gut kannte, hätte an dieser Stelle einen Schatten der Ermüdung an ihm bemerken können. „Das wäre also entschieden. Aber du hast mir noch etwas anderes ins Gedächtnis gerufen, Carden.“
„Schwarzfels“, raunte jemand.
Obwohl Ihresgleichen nicht oft erbleichte, wurden die Männer jetzt ein bisschen blasser und vergaßen vorübergehend sowohl das zersprengte Feld als auch die Nähe der abziehenden Paladine.
„So ist es“, sagte der Grauhaarige. „Die Kundschafter haben Nachrichten von unserem Ohr in der Festung. Der Anführer der Paladine erwartet Besuch. Einen Gesandten, der in die Wälder weiterzieht. Um den Posten dort wieder zu besetzen.“
„Die Festung ist besetzt“, merkte einer der Männer leise an.
„Vom Wahnsinn vielleicht“, sagte ihr Häuptling. „Aber was auch immer die Paladine dazu unternehmen, ich will wissen, was da oben vor sich geht. Wer geht freiwillig?“
Er wartete kurz. Die Männer starrten angestrengt in alle möglichen Richtungen, nur nicht in seine.
„Das erstaunt mich nicht“, verzog er abschätzig den Mund. „Sei's drum. Da werde ich wohl einen Glücklichen bestimmen müssen, was?“
~
Die Festung erhob sich auf einem weiten, flachen Landstreifen. Von den benachbarten Ebenen unterschied er sich höchstens in der Farbe, durch häufige Begegnung mit Hufen, Stiefeln und Rädern etwas brauner getönt.
Es gab keine Bodenwellen, keine Felsen oder sonstige natürliche Deckung. Bäume fehlten ebenfalls. Die Knechte des Postens mussten alles benötigte Holz aus den eine halbe Wegstunde entfernten Waldzungen herbeischaffen, an die man die Festung aus strategischen Gründen nicht zu nah hatte heranbauen wollen. Auch die offene Lage hatte den Planern des Postens nicht sonderlich gefallen, aber gezwungen, zwischen Wald und Ebene zu wählen, hatten sie sich für Letzteres entschieden.
So stand die Festung nun also weithin sichtbar in der Gegend herum.
Sie war kein schönes Gebäude. Kaum zehn Jahre alt, mitten im Krieg und in dementsprechender Hast errichtet, wirkte sie klobig und irgendwie unfertig. Sie bestand aus einem einzigen, viereckigen Klotz, halb Turm, halb Haus, umgeben von einer nach außen hin leicht abgeschrägten Mauer. Die Mauer, einige Meter dick, war bis auf zwei Tore, vier Ecktürme und eine Reihe schmaler Schießscharten schmucklos, glatt, abweisend wie der ganze Rest.
Das Beste, was sich von ihr sagen ließ, war, dass sie einen Hof mit Gesindehäusern und Stallungen vollständig vor feindlichen Blicken verbarg, und das Beste an der Festung selbst war die Tatsache, dass hundertfünfzig Männer in ihr knappe zehn Jahre überlebt hatten.
Zudem konnte, wer an einem der Fenster des obersten Stockwerks stand, Meilen und Meilen ins Land hinaussehen.
Das war, was Alban Rathard Jaronas, Kommandant zu Madalën, gerade tat.
Unten im Hof herrschte ungewöhnliche Ruhe. Die Paladine waren tief im Bauch der Festung zum Mittagsmahl versammelt. Ein Stallbursche führte ein Pferd quer über die Einfriedung. Am Ziehbrunnen döste Brandulfs grauer Wolfshund.
Mehr war nicht zu beobachten, aber Alban interessierte sich ohnehin nicht für den Hof.
Er hatte bereits vor einer Viertelstunde zwei sich langsam der Festung nähernde Punkte am südlichen Horizont entdeckt. Genug Zeit, um sein Mittagessen zu beenden und dann erneut einen Blick auf die Punkte zu werfen.
Wegen zweier Reiter machten sich die Mauerwachen nicht einmal die Mühe, von ihren bequemen Plätzen im Schatten des einen Eckturms aufzuspringen. Wie Alban konnten sie sich schon denken, um wen es sich bei den Ankömmlingen handelte.
Alban trat vom Fenster zurück und rief seine heutige Türgarde.
„Geh in den Hof hinunter“, wies er den Minderbruder an. „In Kürze trifft da dieser Gesandte aus Kingsport ein. Bring ihn her. Und sag dem Küchenmeister Bescheid. Wein und irgendetwas zu essen.“
Andernorts hätte er nach einem guten Bissen geschickt, der gemäß den Geboten der Höflichkeit selbst verhasstesten Besuchern zustand. Aber in Madalën suchte man vergebens nach für hochrangige Paladine reservierten Leckereien, und erwähnter Küchenmeister würde sich nicht hinter seinen Töpfen hervorquälen, nur weil da ein fremder Unterkommandant im Heranreiten begriffen war.
Die Türgarde entfernte sich beflissener als erwartet. Die gesamte Festung wurde ihrem abgebrühten Gehabe untreu. Man raunte sich Vermutungen über die Person des Gastes zu, denn Kingsport hatte sich sehr bedeckt gehalten, was Informationen anbetraf.
Alban selbst versuchte gar nicht erst, seine Neugier zu leugnen.
Er vergewisserte sich, dass im Arbeitszimmer alles an seinem Platz war, dann ging er wieder ans Fenster und lehnte sich in den Steinrahmen. Während seiner kurzen Beobachtungspause waren die Reiter an die Festung herangekommen, und die Mauer entzog sie nun jedem Blick von innen.
Im Hof begaben sich Männer an ihr übliches Tagewerk: Die Pflege von Waffen, die endlosen Gespräche über ihre Lage sowie, und das hauptsächlich, das müßige Umherstehen beim Brunnen oder längs der Mauern.
Sie legten bei allem eine bewundernswert ungenierte Lässigkeit an den Tag. Ohne ihre Rüstungen und schwere Bewaffnung wären sie kaum von Knechten zu unterscheiden gewesen. Vielleicht auch kaum von einer großen, schmutzigen Diebesbande.
Jeder Paladin der Westmarsch hätte angesichts solchen Verfalls von Disziplin und Sitte die Hände gerungen. Alban wusste seine Hände sinnvoller zu gebrauchen. Die Truppe, die er hier im letzten wahren Außenposten des Nordens befehligte, war mittlerweile ein bunt gescheckter Haufen – ein Haufen aus Nichtsnutzen zur einen und streitlustigen Bastarden zur anderen Hälfte, angeführt von ein paar Ausnahmekriegern, Mordbuben in Ordenstracht.
Sie taten ihre Arbeit im Ernstfall ganz vorzüglich. Ihre Angelegenheiten regelten sie fast immer hübsch untereinander, ohne Alban unnötig in seinem Arbeitszimmer zu belästigen. Er hatte keine Lust auf eine Festungsrevolte. Die erste und einzige unter seinem Kommando war glimpflich abgelaufen. Inzwischen machte sie als Anekdote von vier, fünf gebrochenen Nasen die Runde, und er würde den Teufel tun und daran etwas ändern.
Er hatte Brandulf. Insgesamt gehorchten die Männer ihnen Beiden. Für einen Ort wie Madalën war das mehr als ausreichend.
Im Hof ackerten sich jetzt Knechte an den Kettenwinden ab, um das südliche Tor zu öffnen. Es hob sich knarrend.
Die zwei Fremden ritten in die Festung. Auch wenn seine Leute es gut versteckten, bemerkte Alban zusätzliche umher Stehende und sogar Bedienstete, die nur vorgaben, den Boden vor den Stallungen zu fegen.
Er war hier oben zu weit vom Hof entfernt, als dass er viele Einzelheiten oder gar Gesichter hätte ausmachen können. Die zwei Reiter waren gleich gekleidet. Dem Zustand ihrer Pferde und einigen Beuteln sah man einen Ritt mehrerer Tage an.
Sie hielten, und während Knechte hinzu eilten und sich an die Köpfe der Tiere hängten, stiegen sie ab.
Einer der Reiter war sehr groß, der andere sehr klein. Ein drolliges Gespann.
Alban verließ die Fensteröffnung und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.
Seiner Ansicht nach hatte er sich gut auf die Begegnung vorbereitet. Geringschätzige Beurteilungen seines Kommandos fürchtete er kaum. Selbst wenn einer dieser Gesandten Madalën als Schandfleck paladinischer Posten brandmarkte, würden bis zu neuerlichem Besuch aus Kingsport wenigstens zwei Monate vergehen.
Es klopfte an der Tür, aber es war nur ein Knecht, der Wein und Schmalzbrote brachte. Alban scheuchte den Mann hinaus und lauschte.
Nach einer Weile hörte er endlich Fußtritte auf den Treppen. Er setzte sich zurecht.
Vor der Tür Gerede, die Garde verlangte den Freibrief aus Bramwell zu sehen. Die eine Gestalt da unten im Hof hatte die Maße eines veritablen Hünen besessen, und Alban rechnete mit genau so jemandem, einem Veteran, einem unerschrockenen Klotzkopf.
Daher schaute er kurzzeitig ziemlich dumm aus der Wäsche, als sein Besuch eintrat.
Der Mann war klein. Alban hielt es zuerst für einen Trick der indirekten Beleuchtung. Er blinzelte, aber tatsächlich, der Eintretende hätte ihm bei stehender Begrüßung nur bis zur Schulter gereicht.
War das irgendeine neumodische Sitte der Städte, den Diener vorzuschicken, während der Mann höheren Ranges draußen wartete?
Doch da ertönte schon die Stimme der Türgarde: „Der Gesandte unseres Ordens zu Kingsport, der Unterkommandant und Bruder Pereîs.“
Alban nickte abwesend. Erst der Büchsenmeister und jetzt das.
Kingsport hatte auf seine alten Tage also doch einen Sinn für Humor entwickelt. Oder ihnen gingen unten im Süden die Soldaten aus. Anders war die Person des Angekommenen nicht zu erklären.
In die übliche leichte Rüstung für weite Reisen – Lederzeug, Teilharnisch, Beinschoner und derbe Stiefel - gekleidet, stand der Mann da und mutete dem Arbeitszimmer die volle Lächerlichkeit seiner Erscheinung zu.
Kurz und gedrungen, hatte seine Gestalt etwas kurios Zurückgenommenes, etwas, das ungebührlich wenig Raum beherrschte und sich für den wenigen Raum, den es einnahm, noch zu entschuldigen schien.
Das Bestimmende war ein großer Schädel mit sehr eigentümlichen Gesichtszügen. Alban studierte sie. Da musste es doch mehr geben als diese gestauchten Körpermaße, an denen der paladinische Habit fast deplatziert wirkte.
Er schätzte den Anderen auf knapp über Dreißig. Ein ungewöhnliches Gesicht. Es war in sich rund, fast kindlich, mit straffen Wangen, einer kurzen Nase, vollen, beinahe aufgetriebenen Lippen. Die hohe Stirn konnte vielleicht als klug gelten. Die übergroßen Augen standen ein wenig zu weit auseinander, waren schwerlidrig und schwermütig und von einer unbestimmten Sanftheit.
Alban regte sich.
„Seid gegrüßt“, sagte er in das Schweigen hinein. „Ich bin Alban Rathard Jaronas, Kommandant zu Madalën. Erfreut, Euch willkommen zu heißen. Tretet doch näher.“
Er war neugierig auf die Stimme, die zu diesem sonderbaren kleinen Mann gehörte, und er wurde nicht enttäuscht. Das antwortende Organ klang wie das eines Jungen vor dem Stimmbruch – flach, leise und weich.
„Danke, Kommandant. Ich bin Jonah Pereîs, Abgesandter unseres Ordens zu Kingsport. Man entbietet Euch Grüße.“ Es kam ein bisschen zu kraftlos, fast ohne Überzeugung.
Alban allerdings war hellwach.
Er hatte das Schreiben aus Kingsport vor sich liegen. Der Name stimmte, und da er stimmte, stand ihm hier einer der seltensten Brüder gegenüber, über die die Klasse der Paladine derzeit verfügte. Pereîs war an der erfolgreichen Beendigung diverser Konflikte mit Magiern nahe Lut Gholein maßgeblich beteiligt gewesen – ein Unterhändler, ein Schatten im Heer der Westmarsch-Krieger.
Alban bemühte sich redlich, Äußerlichkeiten auszuklammern, aber es gelang ihm nicht. Und sein Gast stand einfach da, klein und leicht zu übersehen und voll einer nachgiebigen Höflichkeit. Er war keineswegs unbewaffnet. Am Gürtel hing ein Kurzschwert, ein weiteres trug er in einer Lederscheide über dem Rücken. Jede andere Waffe, vermutete Alban, hätte ihm wahrscheinlich auch eher geschadet als genutzt.
An der Tür entstand leise Unruhe. Bedienstete warteten.
„Schön.“ Alban räusperte sich. Er hatte Lust, zu lachen, ohne zu wissen warum. „Brandulf?“
Übergangslos floss der hagere, dunkle Unterkommandant in den Raum. Schwarze Augen prüften den Angekommenen.
„Sieh zu, dass für Bruder Pereîs und seinen Begleiter Zimmer hergerichtet werden“, wies Alban ihn an.
Selbige Zimmer hatte man schon gestern freigeräumt. Aber er wollte Brandulf aus dem Weg haben – ihn und jeden, der der seinem wachsenden Interesse an Pereîs in die Quere zu kommen drohte.
Brandulf gehorchte und entfernte sich.
„Habt Ihr Briefe, oder Neuigkeiten vielleicht, die Ihr mir sofort überbringen wollt?“, wandte sich Alban an Pereîs. „Falls nicht – na, Ihr und Euer Begleiter seid lange unterwegs gewesen. Ein wenig Ruhe wird Euch sicher guttun.“
Auf Jonah Pereîs' merkwürdigem Gesicht breitete sich ein schmales Lächeln aus.
Alban war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel. Es war sehr höflich und sehr undurchschaubar.
„Da habt Ihr Recht, Kommandant Jaronas“, sagte der Gesandte. „Zu Eurer Frage – nein, keine Briefe, keine Neuigkeiten besonderer Natur. Nichts, das nicht warten könnte.“
„Fein.“ Alban erhob sich. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich beobachtet, nein, mehr noch, ausgespäht, bloßgestellt. „Seid ihr hungrig? Nein? Na gut. Ein Minderbruder wird Euch in die Räumlichkeiten führen. Sucht mich nach Mittag wieder auf. Vor morgen früh werdet Ihr doch gewiss nicht weiterreisen wollen?“
„Nein. Gewiss nicht.“
Pereîs stand noch kurz da, lächelte sein zuvorkommendes kleines Lächeln, bot sich so wenig Platz aus, wie es für einen Paladin eben noch denkbar war. Dann folgte er einem Knecht, der seinen struppigen Kopf in das Zimmer des Kommandanten gestreckt hatte, und verschwand.
Sie spielt noch vor den Ereignissen von D2 LoD, hat also mit D3 nicht viel zu tun.
Ich habe die einzelnen Stücke des Kapitels in kürzere Abschnitte unterteilt, um walls of text zu vermeiden.
Über Rückmeldungen freue ich mich selbstverständlich sehr.
LG, Reeba
Disclaimer: Die Welt von Sanktuario, sämtliche Klassen und Hintergründe sind Eigentum von Blizzard. Die Geschichte wurde ausschließlich zu Zwecken der Unterhaltung geschrieben.
Zusatz aus aktuellem Anlass: Sämtliche Originalcharaktere und Originalhandlungen hingegen sind meine. Diese Geschichte darf nicht ohne meine Zustimmung kopiert oder weiterverbreitet werden. Zuwiderhandlungen ziehen rechtliche Konsequenzen nach sich.
****
I. Das vergessene Gebiet
Die Morgensonne lugte über den Rand der östlichen Wälder.
Je weiter man nach Norden kam, so die Meinung hiesiger Siedler, desto wahrscheinlicher war die Dämmerung eine sich unglaublich hinauszögernde Angelegenheit mit viel Nebel und verwaschenen Farben, kein bisschen wie diese herrlichen Sonnenaufgänge in Kingsport oder Bramwell. Die Gegend, in der unsere Geschichte beginnt, musste sich eine Menge für sie unvorteilhafter Vergleiche gefallen lassen, zuvorderst den mit der Westmarsch.
Die Siedler und Freiwilligen der Zeit waren nicht gerade für Nachsicht bekannt. Ihnen fiel die undankbare Aufgabe zu, eine Region bewohnbar zu machen, bei deren Erwähnung jeder besser gestellte Mann die Augen verdrehte. Da sie das wussten, blieb ihnen als kleine Rache nur der Vergleich mit ihrer Heimat.
Unvoreingenommen betrachtet, war der Landstrich nicht schlechter als andere.
Gelbe Wiesen erstreckten sich von Horizont zu Horizont. Der Boden war flach genug für den Ackerbau und stieß an die dunklen Zungen von Waldstücken, Ausläufer der riesigen Wälder des Nordens. Es regnete oft, aber das Wetter war bei Weitem nicht so unberechenbar wie hundert Meilen weiter nördlich, und die Sonne war im Großen und Ganzen dieselbe wie in der Westmarsch.
Heute Früh allerdings kämpfte die Sonne einen zähen Kampf. Sie hatte sich den aus dem Wald kriechenden Nebel kaum vorgenommen, da machte man ihr auch schon einen Strich durch die Rechnung.
Es donnerte.
Dicker Rauch entfaltete sich über dem Boden. Er quoll auf, zog dann gemächlich westwärts über die Ebene und bekleckerte das Gras mit Resten von Asche und Erdreich. Ein paar Vögel verließen die Waldborten unter Protest. Der Rauch gewann an Höhe und versteckte ungefähr eine halbe Quadratmeile Landschaft hinter grauem Dunst.
Die Luft war warm. Der Sommer hatte sich noch nicht ganz verzogen.
Wieder donnerte es, diesmal so heftig, dass der Boden der Ebene erzitterte.
Die Erschütterung erreichte sogar ein Feldstück weit abseits des Einschlags, wo die Männer einen Tisch und ein paar Stühle aufgebaut hatten. Wachen, denen das Beben in die Beine fuhr, machten verbissen gleichgültige Mienen und hielten die Ordensstandarten fest, damit sie nicht umfielen.
Auf dem Tisch klirrte Kristallglas.
Alban Rathard Jaronas, Kommandant der fast vierzigköpfigen Truppe, die sich am heutigen Morgen über die kleine Ebene verteilte, griff nach der Weinkaraffe und wartete, bis das Beben abgeklungen war.
Er schnüffelte interessiert. Der Gestank von Pulver war trotz der Entfernung durchdringend.
„Kommandant!“ Ein hustender Bote stieß gegen den Tisch. „Ein Radius von sieben Metern! Eine junge Eiche hat's fast weggerissen.“
„Was sagt der Büchsenmeister?“ Alban ließ die Karaffe los und streckte die Beine unterm Tisch aus.
„Bittet um Erlaubnis, es noch einmal versuchen zu dürfen“, vermeldete der Bote.
Alban seufzte. Natürlich war die Übung, erste ihrer Art so weit im Norden, notwendig.
Aber Bramwell hatte ihm einen Zerstörungswütigen geschickt, einen dieser unterbeschäftigten Waffenbauer, die mangels echter Gelegenheiten, ihre Haubitzen einzusetzen, kaum an der Leine zu halten waren. Jeder Kommandant in bedrohten Gebieten musste die Vorteile schwerer Büchsen einsehen, doch dieser wahnwitzige Geselle da hinten mit seinem Tross halb tauber Geschützgardisten, der die drei Eisenungetüme überwachte, begann ihm gehörig auf die Nerven zu gehen.
„Na, meinetwegen“, sagte er zu dem Boten. „Einen Schuss noch. Aber danach soll er seinen Kram wieder zusammenpacken, klar? Das Nächste, was wir hören, sind vielleicht die Beschwerden irgendwelcher Siedler, denen der Stall überm Kopf eingestürzt ist.“
„Ja, Kommandant.“ Der Bote schien einen Moment lang nachzudenken. „Ach, der Büchsenmeister lässt Euch fragen, was mit dem Maultier ist.“
Alban schenkte sich neuen Wein ein, nippte und spähte über die Ebene. Der Rauch hatte sich ein wenig verzogen. Er konnte einen Pulk von Leuten links am Waldrand erkennen und, weiter in nördlicher Richtung, einen vierbeinigen Umriss.
„Mir egal“, setzte er das Glas ab. „Macht nur. Je eher das vorüber ist, desto besser.“
Der Bote hastete davon.
Die Männer, die um Albans Tisch herumstanden, beäugten den fernen Punkt, an dem die Haubitzen aufragten, mit tiefer Abneigung. Vielleicht war es der Anblick ihrer düsteren Gesichter, doch Alban bekam endgültig schlechte Laune.
Bislang hatte er seine Aufgabe hier als notwendiges Übel begriffen. Er machte sich keine falschen Vorstellungen über die Gründe für seine Versetzung ins Grenzland. Er war ein erfahrener Kommandant, aber ohne Auszeichnungen, ohne mit seinen fast fünfundvierzig Jahren höher als bis zum Vorsteher eines Außenpostens aufgestiegen zu sein. Kingsport, da biss die Maus keinen Faden ab, brauchte Männer wie ihn. Zuverlässige, nicht übermäßig intelligente Männer, die für ihren Wagemut keinen besonderen Lohn verlangten.
Seine Aufgabe hier hatte sogar ihre Vorteile, trotz der Risiken, mit denen die Festung seit Jahren leben musste. Hier war man wenigstens sicher vor Stadtschreibern und pflichteifrigen Ordensbrüdern.
Das Land unterhalb der Nordwälder galt als unstete, aber belanglose Region. Daher sandte der Lichtorden kaum je Erkundungstrupps hierher, nur mittelmäßige Soldaten, so wie Alban selbst, und eben hin und wieder einen überspannten Strategen wie diesen lästigen Büchsenmeister. Neue Methoden zur Kriegsführung ließen sich weitab belebter Gebiete besser erproben.
Heute früh allerdings, fand Alban, hatte die Ebene etwas Gedrücktes, Unheilverkündendes. Sobald er einen Erfolgsbericht in die Stadt geschickt hatte, würde man den Büchsenmeister samt seinen Eisenungetümen abkommandieren. Und sobald im Norden frische Unruhen aufbrachen, würden die Haubitzen wiederkommen.
Alban hatte es nicht nötig, sich die Krater anzusehen, die die Eisenkugeln in die Landschaft rissen. Mustersoldat oder nicht, als alter Haudegen wusste er ziemlich genau, was so eine Waffe an Gebäuden oder Menschen anrichtete.
Sich über die Lippen leckend, schaute er zum Wald. Die Masse der Bäume stand still, unbeeindruckt, scheinbar verlassen. Eine Handvoll Meilen weiter nördlich gab es keine gelben Felder mehr, keine Waldaufschlüsse, nur noch dichten, dunklen Forst.
Kingsport hatte das Hochland längst annektiert, indem es die eigentlichen Bewohner dieses Teils von Sanktuario einfach übersah. Sie waren der Macht einer paladinischen Ordensstadt in offener Schlacht nicht gewachsen, geschweige denn den Siedlern, Landmessungen und Verträgen der gegnerischen Zivilisation.
Der mittlere Westen befand sich schlicht in der Überzahl. Sobald sich die Barbaren ins Hochland zurückziehen mussten, um ihre Wunden zu lecken, rückten die Paladine nach. Sie verfügten über alles, was einen Jahrhundertkonflikt entschied: Eisenminen, Gießereien, unerschöpflichen Nahrungsnachschub. Und eine höhere Geburtenrate.
Alban war in so tiefes Nachdenken versunken, dass die neuerliche Erschütterung, die dem Ohren betäubenden Knall der nächsten Haubitze folgte, ihn kaum erreichte. Erst als schmutziger, schlapper Wind auf den Tisch zuwehte, blinzelte er. Teufel auch, er fing an zu grübeln. Das ging entschieden zu weit.
Entgegen der Ansicht der Städte war die Gegend einigermaßen ruhig, die letzte Begegnung mit Barbaren – oder Druiden, wer kannte da schon immer den Unterschied – lag Wochen zurück, und es waren nur zwei Leute getötet worden. Keine große Sache.
In der Absicht, seiner merkwürdigen Stimmung ein Ende zu bereiten, rief Alban seinen anwesenden Unterkommandanten her.
„He, Brandulf!“ Eine Hand über dem Glas, um den Wein vor herab rieselndem Staub zu schützen, nickte er einer der Gestalten im Dunst zu. „Beweg deinen Hintern zu mir.“
Der Mann tat wie befohlen und nahm am Tisch Habachtstellung an. Er war hager, muskulös, untypisch dunkel für einen westlichen Paladin, und von Kopf bis Fuß in eisenbeschlagenes Leder gekleidet. So weit von Kingsport entfernt legte man keinen besonderen Wert auf Äußerlichkeiten. Was zählte, waren starke Nerven und ein ungerührtes, im besten Fall lakonisches Gemüt.
Daher trug Brandulf einen Bart, genauso schwarz wie sein nackenlanges Haupthaar. Sein Blick allerdings drückte deutliche Missbilligung Albans lockerer Redeweise aus.
„Kommandant“, sagte er flach.
Alban schaute nachdenklich an ihm hinauf. Der grimmige Gesichtsausdruck seines Unterkommandanten erinnerte ihn nicht zum ersten Mal an etwas.
„Ich weiß nicht, ob man dir das schon gesagt hat, Brandulf“, meinte er, „aber du siehst wie ein Barbar aus. Ja tatsächlich. Eigenartig.“
Brandulfs schwarze Augen starrten auf irgendeinen Fleck im Dunst.
„Möglich, dass hier nach einer Weile alles barbarische Züge annimmt, Kommandant“, erwiderte er, ohne die Miene zu verziehen.
„Ja. Gut möglich.“ Alban lächelte versuchshalber, ließ es aber bald bleiben. Er war sich unsicher, ob er den Anderen gerade nicht fürchterlich beleidigt hatte.
Eigentlich kannte er Brandulf nicht sehr gut – die Zeiten brüderlicher Gemeinschaftsideale waren zumindest in den Grenzgebieten vorbei. Er wusste nur, dass Brandulf nicht aus Kingsport stammte und dem Orden früher als Söldner gedient hatte. Das war längst nicht mehr unüblich. Sofern sie sich als tüchtige Kämpfer erwiesen, sah der Orden großzügig über die Herkunft seiner minderen Paladine hinweg.
Alban schätzte Brandulfs Qualitäten. Die Männer gehorchten dem Unterkommandanten widerspruchslos, nicht aus Sympathie, sondern weil sie ganz einfach Angst vor ihm hatten. Zu Recht. Ein von Dieben besetztes Haus, ein mit Gegnern vollgestopfter Winkel – man brauchte bloß Brandulf hineinzuschicken, ihn allein mit seinen zwei langstieligen Äxten, die er anstelle von Schwert oder Szepter benutzte, und schon löste sich das Problem. Da er die Gesellschaft anderer Menschen mied, war er eine ausgezeichnete Wache, am besten auf Mauern oder vor Kerkertüren aufgehoben.
Was in Brandulf vorging, war unmöglich zu sagen. Doch Alban hatte gelernt, sich auf ihn zu verlassen.
„Machen wir Schluss für heute“, sagte er jetzt zu ihm. „Sieh zu, dass die Männer ihr Zeug einpacken, und dann zurück zum Posten.“ Er gähnte offen. „Mir dröhnt der Kopf von diesem vermaledeiten Krach, und ich habe Hunger. Außerdem erwarten wir spätestens gegen Mittag unseren Gast.“
„Wie Ihr befehlt, Kommandant.“ Brandulf gab den nebenan wartenden Paladinen ein Zeichen, die Standarten einzurollen, bellte zwei, drei Befehle und entfernte sich über das verrauchte Feld.
Als Alban aufstand, ging sein Blick unwillkürlich zu der Stelle, an der bis vor Kurzem noch das Maultier gestanden hatte. Der letzte Haubitzenschuss hatte die unglückliche Kreatur im wahrsten Sinn des Wortes pulverisiert. Nicht einmal der Pflock, an dem sie festgebunden gewesen war, war noch zu sehen.
„Neue Waffen, verflucht noch eins“, murrte der Kommandant. Gleichzeitig, als Entschuldigung für seine Wortwahl, schlug er die Himmelsgeste.
Von rechts polterte ein niedriger Wagen heran. Knechte sprangen ab und beeilten sich damit, Tisch und Stühle aufzuladen.
~
Die eng stehenden Baumstämme boten ausreichende Deckung.
Doch selbst ohne den Schutz des Waldes, war den Männern aufgegangen, hätten die Feinde sie vermutlich nicht bemerkt. Ausgerechnet der Rauch, Atem der eisernen Monstren, verschaffte ihnen einen Vorteil.
Jetzt verfolgten sie den Abzug der Paladine. Durch die vernebelte Luft schallten gedämpfte Befehle, das übliche Gebrüll und Herumgetrampel, das die Gruppen dieser Menschen überall begleitete.
Trotzdem lachten die Beobachter nicht. Das Lachen über die Westmarsch war ihnen schon vor einiger Zeit vergangen.
Stattdessen standen sie da, mit verengten Nasenflügeln wegen des Gestanks und mit den klobigen Fäusten an ihren Waffen, weil sie dem Abzug, der völligen Ahnungslosigkeit des Gegners, noch nicht ganz trauten. Donner hallte in ihren Ohren nach. Vermutlich hatte man ihn auf Meilen hinaus hören können, aber die Männer waren hergekommen, um die Verheerungen der furchtbaren neuen Ausrüstung ihrer Feinde mit eigenen Augen zu sehen.
Sie schwiegen. Ihnen war nicht nach Reden zumute.
Schließlich aber öffnete Einer von ihnen doch den Mund. „Jetzt wissen wir es“, sagte er. „Die Kundschafter haben nicht gelogen.“
„Pah.“ Ein Anderer spuckte auf den Boden. „Teufelswerk!“
Ein Dritter, ein Hüne von einem Kerl, mit langem, grauem Haar, das rechte Auge völlig vernarbt, strafte den Spucker mit einem abfälligen Blick. „Sei still, Morac. Teufelswerk? Bist du so versessen darauf, der Meinung der Paladine über uns nachzueifern? Das da eben hat mit dem Bösen nichts zu tun.“
„Sondern?“ Der Gescholtene zog die Brauen zusammen.
„Das ist nur der Geist der Städte.“ Der Grauhaarige wandte sich wieder nach vorn, um über das Feld zu spähen. „Eine Laune der Zeit, weiter nichts.“
Unter den Anwesenden entstand Gebrumm, ein merkwürdiger Laut aus den Kehlen von Menschen, fast tierisch – und unbedingt ein Ausdruck des Missfallens. Den Grauhaarigen schien es nicht zu kümmern.
„Du hast gut reden“, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort. „Deine Halle steht noch. Aber was, wenn eine von diesen Kugeln sie trifft? Wie lange steht sie dann, was meinst du?“
Wieder wurde gebrummt, jetzt allerdings zustimmend.
„Meine Halle“, antwortete der alternde Krieger, „wird Gegenstand meiner Sorge sein, wenn es soweit ist. Vorerst haben wir andere Aufgaben. Gemeinsame Aufgaben, wie ihr hoffentlich noch wisst.“
Niemand sagte etwas. Es war auch nicht nötig.
„Gut.“ Der Grauhaarige nickte. „Wir haben die Wirkung ihrer Waffen bezeugt. Die Clans müssen gewarnt werden.“
„Alle?“, erkundigte sich der Mann mit Namen Morac zweifelnd.
„Nach Möglichkeit, ja.“
Der Mann, der als Vierter gesprochen hatte, räusperte sich unterdrückt. Kritik am Entschluss eines Häuptlings gleich mehrerer Dörfer war eine verzwickte Angelegenheit. Doch die Entscheidung, ob er es wagen sollte, wurde ihm abgenommen.
„Du hast Einwände, Carden?“, fragte der Grauhaarige.
„Ich denke, die haben Mehrere hier“, entgegnete der Mann und sah in die Runde. Falls er auf Unterstützung gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Die restlichen fünf Männer waren plötzlich still wie tote Karnickel. Er runzelte die Stirn und fuhr fort: „Die Rotbärte und die Schwarzfelsler lassen sich schon seit Monaten nicht mehr blicken. Vielleicht sind sie niedergemacht worden.“
„Sie aufzusuchen, könnte gefährlich sein“, warf ein Mann ein, der bisher geschwiegen hatte. „Ich habe noch zwei Dutzend Krieger. Ich will sie nicht an eine aussichtslose Sache verlieren.“
Der Grauhaarige lächelte schmal. Bei ihm war das kein gutes Zeichen. „Unsere Brüder zu verständigen, gilt inzwischen also als aussichtslose Sache?“
Erneut wurde es still. Die Männer warfen sich verstohlene Blicke zu, wussten nicht, ob sie besorgt, erbost oder beschämt sein sollten.
„Hört her“, beendete ihr Anführer das Schweigen. „Ich verstehe eure Zweifel. Aber ihr habt mir Treue geschworen. Ihr habt mich gewählt. Ich sage, wir arbeiten der Westmarsch nur in die Hand, wenn wir uns weiter entzweien lassen. Und genau das plant sie, das wisst ihr.“
Hier und da bedenkliches Kopfwiegen und Nicken.
„Schickt eure unbrauchbarsten Krieger zu den anderen Stämmen. Auf sie könnt ihr verzichten. Spätestens, wenn die Paladine euch überrennen.“ Die Stimme des Grauhaarigen war hart. „Bringt in Erfahrung, wie es um die Hochwälder steht. Und tut es schnell. Das ist kein Rat, das ist ein Befehl.“
Ein paar Augenblicke verstrichen, vornehmlich mit unfreiwilligem Wittern der verschmutzten Luft.
Dann nickten die Männer wieder.
Zwei oder drei von ihnen hätten nicht übel Lust gehabt, dem Grauhaarigen eine Faust in die Zähne zu stoßen und ihn zu fragen, ob der folgende Geschmack ihn nicht vielleicht an etwas erinnerte, aber er war in der Tat ihr Häuptling. Darüber hinaus hatte er Recht.
„Schön“, sagte er, und nur wer ihn sehr gut kannte, hätte an dieser Stelle einen Schatten der Ermüdung an ihm bemerken können. „Das wäre also entschieden. Aber du hast mir noch etwas anderes ins Gedächtnis gerufen, Carden.“
„Schwarzfels“, raunte jemand.
Obwohl Ihresgleichen nicht oft erbleichte, wurden die Männer jetzt ein bisschen blasser und vergaßen vorübergehend sowohl das zersprengte Feld als auch die Nähe der abziehenden Paladine.
„So ist es“, sagte der Grauhaarige. „Die Kundschafter haben Nachrichten von unserem Ohr in der Festung. Der Anführer der Paladine erwartet Besuch. Einen Gesandten, der in die Wälder weiterzieht. Um den Posten dort wieder zu besetzen.“
„Die Festung ist besetzt“, merkte einer der Männer leise an.
„Vom Wahnsinn vielleicht“, sagte ihr Häuptling. „Aber was auch immer die Paladine dazu unternehmen, ich will wissen, was da oben vor sich geht. Wer geht freiwillig?“
Er wartete kurz. Die Männer starrten angestrengt in alle möglichen Richtungen, nur nicht in seine.
„Das erstaunt mich nicht“, verzog er abschätzig den Mund. „Sei's drum. Da werde ich wohl einen Glücklichen bestimmen müssen, was?“
~
Die Festung erhob sich auf einem weiten, flachen Landstreifen. Von den benachbarten Ebenen unterschied er sich höchstens in der Farbe, durch häufige Begegnung mit Hufen, Stiefeln und Rädern etwas brauner getönt.
Es gab keine Bodenwellen, keine Felsen oder sonstige natürliche Deckung. Bäume fehlten ebenfalls. Die Knechte des Postens mussten alles benötigte Holz aus den eine halbe Wegstunde entfernten Waldzungen herbeischaffen, an die man die Festung aus strategischen Gründen nicht zu nah hatte heranbauen wollen. Auch die offene Lage hatte den Planern des Postens nicht sonderlich gefallen, aber gezwungen, zwischen Wald und Ebene zu wählen, hatten sie sich für Letzteres entschieden.
So stand die Festung nun also weithin sichtbar in der Gegend herum.
Sie war kein schönes Gebäude. Kaum zehn Jahre alt, mitten im Krieg und in dementsprechender Hast errichtet, wirkte sie klobig und irgendwie unfertig. Sie bestand aus einem einzigen, viereckigen Klotz, halb Turm, halb Haus, umgeben von einer nach außen hin leicht abgeschrägten Mauer. Die Mauer, einige Meter dick, war bis auf zwei Tore, vier Ecktürme und eine Reihe schmaler Schießscharten schmucklos, glatt, abweisend wie der ganze Rest.
Das Beste, was sich von ihr sagen ließ, war, dass sie einen Hof mit Gesindehäusern und Stallungen vollständig vor feindlichen Blicken verbarg, und das Beste an der Festung selbst war die Tatsache, dass hundertfünfzig Männer in ihr knappe zehn Jahre überlebt hatten.
Zudem konnte, wer an einem der Fenster des obersten Stockwerks stand, Meilen und Meilen ins Land hinaussehen.
Das war, was Alban Rathard Jaronas, Kommandant zu Madalën, gerade tat.
Unten im Hof herrschte ungewöhnliche Ruhe. Die Paladine waren tief im Bauch der Festung zum Mittagsmahl versammelt. Ein Stallbursche führte ein Pferd quer über die Einfriedung. Am Ziehbrunnen döste Brandulfs grauer Wolfshund.
Mehr war nicht zu beobachten, aber Alban interessierte sich ohnehin nicht für den Hof.
Er hatte bereits vor einer Viertelstunde zwei sich langsam der Festung nähernde Punkte am südlichen Horizont entdeckt. Genug Zeit, um sein Mittagessen zu beenden und dann erneut einen Blick auf die Punkte zu werfen.
Wegen zweier Reiter machten sich die Mauerwachen nicht einmal die Mühe, von ihren bequemen Plätzen im Schatten des einen Eckturms aufzuspringen. Wie Alban konnten sie sich schon denken, um wen es sich bei den Ankömmlingen handelte.
Alban trat vom Fenster zurück und rief seine heutige Türgarde.
„Geh in den Hof hinunter“, wies er den Minderbruder an. „In Kürze trifft da dieser Gesandte aus Kingsport ein. Bring ihn her. Und sag dem Küchenmeister Bescheid. Wein und irgendetwas zu essen.“
Andernorts hätte er nach einem guten Bissen geschickt, der gemäß den Geboten der Höflichkeit selbst verhasstesten Besuchern zustand. Aber in Madalën suchte man vergebens nach für hochrangige Paladine reservierten Leckereien, und erwähnter Küchenmeister würde sich nicht hinter seinen Töpfen hervorquälen, nur weil da ein fremder Unterkommandant im Heranreiten begriffen war.
Die Türgarde entfernte sich beflissener als erwartet. Die gesamte Festung wurde ihrem abgebrühten Gehabe untreu. Man raunte sich Vermutungen über die Person des Gastes zu, denn Kingsport hatte sich sehr bedeckt gehalten, was Informationen anbetraf.
Alban selbst versuchte gar nicht erst, seine Neugier zu leugnen.
Er vergewisserte sich, dass im Arbeitszimmer alles an seinem Platz war, dann ging er wieder ans Fenster und lehnte sich in den Steinrahmen. Während seiner kurzen Beobachtungspause waren die Reiter an die Festung herangekommen, und die Mauer entzog sie nun jedem Blick von innen.
Im Hof begaben sich Männer an ihr übliches Tagewerk: Die Pflege von Waffen, die endlosen Gespräche über ihre Lage sowie, und das hauptsächlich, das müßige Umherstehen beim Brunnen oder längs der Mauern.
Sie legten bei allem eine bewundernswert ungenierte Lässigkeit an den Tag. Ohne ihre Rüstungen und schwere Bewaffnung wären sie kaum von Knechten zu unterscheiden gewesen. Vielleicht auch kaum von einer großen, schmutzigen Diebesbande.
Jeder Paladin der Westmarsch hätte angesichts solchen Verfalls von Disziplin und Sitte die Hände gerungen. Alban wusste seine Hände sinnvoller zu gebrauchen. Die Truppe, die er hier im letzten wahren Außenposten des Nordens befehligte, war mittlerweile ein bunt gescheckter Haufen – ein Haufen aus Nichtsnutzen zur einen und streitlustigen Bastarden zur anderen Hälfte, angeführt von ein paar Ausnahmekriegern, Mordbuben in Ordenstracht.
Sie taten ihre Arbeit im Ernstfall ganz vorzüglich. Ihre Angelegenheiten regelten sie fast immer hübsch untereinander, ohne Alban unnötig in seinem Arbeitszimmer zu belästigen. Er hatte keine Lust auf eine Festungsrevolte. Die erste und einzige unter seinem Kommando war glimpflich abgelaufen. Inzwischen machte sie als Anekdote von vier, fünf gebrochenen Nasen die Runde, und er würde den Teufel tun und daran etwas ändern.
Er hatte Brandulf. Insgesamt gehorchten die Männer ihnen Beiden. Für einen Ort wie Madalën war das mehr als ausreichend.
Im Hof ackerten sich jetzt Knechte an den Kettenwinden ab, um das südliche Tor zu öffnen. Es hob sich knarrend.
Die zwei Fremden ritten in die Festung. Auch wenn seine Leute es gut versteckten, bemerkte Alban zusätzliche umher Stehende und sogar Bedienstete, die nur vorgaben, den Boden vor den Stallungen zu fegen.
Er war hier oben zu weit vom Hof entfernt, als dass er viele Einzelheiten oder gar Gesichter hätte ausmachen können. Die zwei Reiter waren gleich gekleidet. Dem Zustand ihrer Pferde und einigen Beuteln sah man einen Ritt mehrerer Tage an.
Sie hielten, und während Knechte hinzu eilten und sich an die Köpfe der Tiere hängten, stiegen sie ab.
Einer der Reiter war sehr groß, der andere sehr klein. Ein drolliges Gespann.
Alban verließ die Fensteröffnung und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.
Seiner Ansicht nach hatte er sich gut auf die Begegnung vorbereitet. Geringschätzige Beurteilungen seines Kommandos fürchtete er kaum. Selbst wenn einer dieser Gesandten Madalën als Schandfleck paladinischer Posten brandmarkte, würden bis zu neuerlichem Besuch aus Kingsport wenigstens zwei Monate vergehen.
Es klopfte an der Tür, aber es war nur ein Knecht, der Wein und Schmalzbrote brachte. Alban scheuchte den Mann hinaus und lauschte.
Nach einer Weile hörte er endlich Fußtritte auf den Treppen. Er setzte sich zurecht.
Vor der Tür Gerede, die Garde verlangte den Freibrief aus Bramwell zu sehen. Die eine Gestalt da unten im Hof hatte die Maße eines veritablen Hünen besessen, und Alban rechnete mit genau so jemandem, einem Veteran, einem unerschrockenen Klotzkopf.
Daher schaute er kurzzeitig ziemlich dumm aus der Wäsche, als sein Besuch eintrat.
Der Mann war klein. Alban hielt es zuerst für einen Trick der indirekten Beleuchtung. Er blinzelte, aber tatsächlich, der Eintretende hätte ihm bei stehender Begrüßung nur bis zur Schulter gereicht.
War das irgendeine neumodische Sitte der Städte, den Diener vorzuschicken, während der Mann höheren Ranges draußen wartete?
Doch da ertönte schon die Stimme der Türgarde: „Der Gesandte unseres Ordens zu Kingsport, der Unterkommandant und Bruder Pereîs.“
Alban nickte abwesend. Erst der Büchsenmeister und jetzt das.
Kingsport hatte auf seine alten Tage also doch einen Sinn für Humor entwickelt. Oder ihnen gingen unten im Süden die Soldaten aus. Anders war die Person des Angekommenen nicht zu erklären.
In die übliche leichte Rüstung für weite Reisen – Lederzeug, Teilharnisch, Beinschoner und derbe Stiefel - gekleidet, stand der Mann da und mutete dem Arbeitszimmer die volle Lächerlichkeit seiner Erscheinung zu.
Kurz und gedrungen, hatte seine Gestalt etwas kurios Zurückgenommenes, etwas, das ungebührlich wenig Raum beherrschte und sich für den wenigen Raum, den es einnahm, noch zu entschuldigen schien.
Das Bestimmende war ein großer Schädel mit sehr eigentümlichen Gesichtszügen. Alban studierte sie. Da musste es doch mehr geben als diese gestauchten Körpermaße, an denen der paladinische Habit fast deplatziert wirkte.
Er schätzte den Anderen auf knapp über Dreißig. Ein ungewöhnliches Gesicht. Es war in sich rund, fast kindlich, mit straffen Wangen, einer kurzen Nase, vollen, beinahe aufgetriebenen Lippen. Die hohe Stirn konnte vielleicht als klug gelten. Die übergroßen Augen standen ein wenig zu weit auseinander, waren schwerlidrig und schwermütig und von einer unbestimmten Sanftheit.
Alban regte sich.
„Seid gegrüßt“, sagte er in das Schweigen hinein. „Ich bin Alban Rathard Jaronas, Kommandant zu Madalën. Erfreut, Euch willkommen zu heißen. Tretet doch näher.“
Er war neugierig auf die Stimme, die zu diesem sonderbaren kleinen Mann gehörte, und er wurde nicht enttäuscht. Das antwortende Organ klang wie das eines Jungen vor dem Stimmbruch – flach, leise und weich.
„Danke, Kommandant. Ich bin Jonah Pereîs, Abgesandter unseres Ordens zu Kingsport. Man entbietet Euch Grüße.“ Es kam ein bisschen zu kraftlos, fast ohne Überzeugung.
Alban allerdings war hellwach.
Er hatte das Schreiben aus Kingsport vor sich liegen. Der Name stimmte, und da er stimmte, stand ihm hier einer der seltensten Brüder gegenüber, über die die Klasse der Paladine derzeit verfügte. Pereîs war an der erfolgreichen Beendigung diverser Konflikte mit Magiern nahe Lut Gholein maßgeblich beteiligt gewesen – ein Unterhändler, ein Schatten im Heer der Westmarsch-Krieger.
Alban bemühte sich redlich, Äußerlichkeiten auszuklammern, aber es gelang ihm nicht. Und sein Gast stand einfach da, klein und leicht zu übersehen und voll einer nachgiebigen Höflichkeit. Er war keineswegs unbewaffnet. Am Gürtel hing ein Kurzschwert, ein weiteres trug er in einer Lederscheide über dem Rücken. Jede andere Waffe, vermutete Alban, hätte ihm wahrscheinlich auch eher geschadet als genutzt.
An der Tür entstand leise Unruhe. Bedienstete warteten.
„Schön.“ Alban räusperte sich. Er hatte Lust, zu lachen, ohne zu wissen warum. „Brandulf?“
Übergangslos floss der hagere, dunkle Unterkommandant in den Raum. Schwarze Augen prüften den Angekommenen.
„Sieh zu, dass für Bruder Pereîs und seinen Begleiter Zimmer hergerichtet werden“, wies Alban ihn an.
Selbige Zimmer hatte man schon gestern freigeräumt. Aber er wollte Brandulf aus dem Weg haben – ihn und jeden, der der seinem wachsenden Interesse an Pereîs in die Quere zu kommen drohte.
Brandulf gehorchte und entfernte sich.
„Habt Ihr Briefe, oder Neuigkeiten vielleicht, die Ihr mir sofort überbringen wollt?“, wandte sich Alban an Pereîs. „Falls nicht – na, Ihr und Euer Begleiter seid lange unterwegs gewesen. Ein wenig Ruhe wird Euch sicher guttun.“
Auf Jonah Pereîs' merkwürdigem Gesicht breitete sich ein schmales Lächeln aus.
Alban war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel. Es war sehr höflich und sehr undurchschaubar.
„Da habt Ihr Recht, Kommandant Jaronas“, sagte der Gesandte. „Zu Eurer Frage – nein, keine Briefe, keine Neuigkeiten besonderer Natur. Nichts, das nicht warten könnte.“
„Fein.“ Alban erhob sich. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich beobachtet, nein, mehr noch, ausgespäht, bloßgestellt. „Seid ihr hungrig? Nein? Na gut. Ein Minderbruder wird Euch in die Räumlichkeiten führen. Sucht mich nach Mittag wieder auf. Vor morgen früh werdet Ihr doch gewiss nicht weiterreisen wollen?“
„Nein. Gewiss nicht.“
Pereîs stand noch kurz da, lächelte sein zuvorkommendes kleines Lächeln, bot sich so wenig Platz aus, wie es für einen Paladin eben noch denkbar war. Dann folgte er einem Knecht, der seinen struppigen Kopf in das Zimmer des Kommandanten gestreckt hatte, und verschwand.
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