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[Story]Lehrjahre - Der kleine Paladin

Ich hatte ja schon mal vermutet das du dich an tyrion lannister orientiert hast. Jetzt glaube ich könnte es Papst Gregor VII sein. Es gibt lustige parallelen zu jonah, über Gregor heisst es:

Sohn eines toskanischen Bauern,

Er erlangte die papstwürde nach langer und mühevoller Lehrzeit

Und auch dann nur durch seine gewaltigen Fähigkeiten und seine enorme Willenskraft

Er war klein, dunkelhäutig, seine Stimme war schwach und die lokale klangfärbung war unüberhörbar, sodass er schwer zu verstehen war

Und doch lag in seinem Charakter etwas so Zwingendes, dass er beinahe mühelos jede Gruppe, zu der er gehörte, seinem Willen unterwarf

Sicherlich passt es nicht 1:1, das hättest du auch ganz bestimmt nicht gewollt. Und auch wenn du dich nicht an Gregor VII orientiert hast, die Ähnlichkeiten sind verblüffend :)
 
Bist du noch am Leben?
 
Reeba?

:hy::hy::hy:

Einfach wundervoll wie sich manche Kreise immer mal wieder schließen :clown:

Wieder mal sehr sehr fein dich zu :read: !!!

Freu mir richtig :top:


Herzlichst
das Tom
 
@Horseback: Das ist ja drollig.
Nein, Gregor VII hatte ich nicht im Hinterkopf, aber irgendwie schon interessant, die Überschneidungen. Wie kommt es, dass Du Dich so gut mit der Persönlichkeit eines Papstes auskennst?
@das Tom: Freu mir auch :>
@TomGrenn: Es ist tatsächlich Samstag.

Allgemein: Ich entschuldige mich ausdrücklich für die lange Wartezeit und liefere hiermit das nächste Kapitel an.
LG, Reeba


__________


X. Wurzel allen Übels




Im ersten Moment kamen Jonah noch ein paar wenige Reaktionen in den Sinn. Blanke Verwirrung vorzutäuschen, zum Beispiel. Wut, die er nicht einmal ganz spielen musste. Oder sich überzeugend genug an die Stirn zu tippen, um Zeit zu gewinnen.
Was jedoch geschah, war, dass er wie gelähmt dasaß.
Hätte ihn in den Städten oder Heerlagern jemand bei seinem Spiel mit den Flammen ertappt, hätte der Schock nicht größer sein können. Er versuchte, die Bestürzung in den Griff zu bekommen.

„Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht“, sagte er.
„Oh, das wisst Ihr sehr genau.“ Der Nekromant musterte ihn reglos. „Spart Euch die Ausflüchte. Jeder Mensch, der magische Fähigkeiten besitzt, ist mit etwas Aufwand und viel Erfahrung dazu in der Lage, solche Fähigkeiten auch bei Anderen wahrzunehmen.“
Jonah entgegnete nichts.
Hadan spitzte die Lippen. „Wenn das Eure Brüder wüssten, Paladin.“ Eine Spur höhnischer Genugtuung schwang in seinem Tonfall mit. „Man würde sich nicht damit aufhalten, Euch vor ein Gericht zu stellen. Man würde Euch öffentlich hinrichten. Oder vielleicht auch hinter verschlossener Tür. Ein Lichtkrieger, der über die Kräfte der geschmähten Elementarmagier verfügt – das ist ein Schandfleck, der rasch ausgewaschen werden müsste, nicht wahr?“
Gegen seinen Willen kroch Jonah Hitze in die Wangen. Dass ein fremder Totenbeschwörer so verständig den Finger auf eine lebenslange Wunde legte, traf ihn im Zentrum seiner zwiegespaltenen Existenz.
Er hatte, seitdem er alt genug gewesen war, um das Ausmaß seiner Andersartigkeit zu begreifen, daran gefeilt, das in ihm hausende Feuer niederzuhalten, in unauffällige Bahnen zu lenken. Erst hier, vor dem Nekromanten, wurde ihm wieder bewusst, wie sehr ihn die Notwendigkeit dieser Verstellung prägte – fast ebenso stark wie sein geringer Wuchs und seine unterdurchschnittliche Kraft.
Er konnte am Rand seiner Klasse leben. Er hatte dort eine Nische. Aber einen Paladin, der Magiebegabung zeigte, würde der Orden nie dulden.

Hadan hatte ihn für eine Weile schweigend beobachtet.
Jetzt sagte er gedämpft: „Das ist eine rohe Kraft, die da in Euch wohnt. Ungeschliffen. Woher bei allen Göttern habt Ihr sie?“
Jonah schüttelte den Kopf, sah weg, und dann wieder in das forschende weiße Gesicht. Kurz hatte ihn eine verdrängte Kindheitserinnerung angestoßen: die Fragen seiner lumpigen, verrußten kleinen Spielgefährten von vor Ewigkeiten, die immer wieder einmal hatten wissen wollen, wo denn seine Mutter eigentlich sei.
„Was ist aus Eurer Behauptung geworden, mich nicht aushorchen zu wollen, Totenbeschwörer?“, antwortete er mit einer Gegenfrage. „Ist sie in Neugier ersoffen? Ihr könnt also Magie in Anderen wittern. Meine Hochachtung. Sicher eine nützliche Gabe. Aber wenn Ihr meint, ich vertraue einem dahergelaufenen Schwarzkünstler meine persönlichen Angelegenheiten an, habt Ihr Euch geschnitten.“
Falls seine Ansprache den Nekromanten belustigte, verbarg er es gut. „Meinetwegen“, gab er zurück. „Doch wenn wir einander helfen sollen, wäre es ratsam, dem jeweils Anderen praktische Talente nicht zu verschweigen.“
Jonah schluckte ein bitteres Auflachen hinunter. Er hatte ja bereits einen Vorgeschmack auf das erhalten, wozu dieser Mann imstande war. Ein mühelos aussehender Wink, und er, Jonah, war sich vorgekommen wie ein Pestgeplagter, dem es nur ein gnädiger Moment der Beherrschung erspart hatte, in einer Pfütze seines eigenen Erbrochenen auf die Knie zu fallen.
„Praktische Talente?“, wiederholte er. „Das wäre all die Heimlichkeit vielleicht wert. Aber Ihr könnt unbesorgt sein. Bisher habe ich noch niemanden in Flammen aufgehen lassen.“
„Weil Ihr es noch nicht versucht habt“, entgegnete der Nekromant sacht. Er beugte sich ein wenig vor. „Ihr seid ein zu großer Menschenfreund.“
Wieder musste Jonah ein Auflachen unterdrücken. „Bestimmt nicht.“
Endlich schlug der andere Mann die Augen nieder. „Wie Ihr meint. Lassen wir das, es ist spät. Ihr solltet versuchen, etwas zu schlafen.“

Die Energie, die das Wortgefecht Jonah abgeluchst hatte, verpuffte. Auch wenn die Idee, sich an diesem Ort und nur Schritte von einem Totenbeschwörer entfernt dem Schlaf zu überlassen, geradezu hirnrissig anmutete – er war hundemüde. Für den folgenden Morgen würde er seinen Verstand brauchen, besonders hier.
Er wandte den Blick ab. Der Schnitt am Oberschenkel brannte. Neben ihm atmete Simon etwas ruhiger, auch wenn Jonah sein fiebergerötetes Gesicht nicht gefiel.
Blinzelnd sah er noch einmal zu Hadan hinüber. Der Nekromant blätterte mit ausdrucksloser Miene, in die Strähnen weißen Haars hingen, in seinem winzigen Buch.
Dutzendfach war Jonah bereits im selben Griff der Ungewissheit eingenickt, unter Zeltplanen, zwischen Kisten und Wagen ruhender Heere, nie sicher, ob er, eine nützliche Figur im Dienst seiner Klasse, aber auch ein unbequemer, ewiger Fremdkörper, den nächsten Sonnenaufgang noch erleben würde.
In Schwarzfels musste er es erneut darauf ankommen lassen. Die irgendwo in der Festung wartende Bosheit schien jetzt ebenfalls fast ganz zu schlummern, und nur manchmal pochte von fern ein Finger murmelnder Unruhe an.
Der Schlaf zog Jonah mit.

Er erwachte in blassem Frühlicht. Ihm war kalt.
Als sich sein Blick klärte und er erkannte, dass der Nekromant vor ihm kniete und eben eine Hand, mit der er Jonah wohl angestoßen hatte, zurückzog, zuckte er zusammen.
In der Nacht hatte er von den Illusionen geträumt, die ihm während des stärksten Zugriffs der Macht auf Schwarzfels gekommen waren. Das Gefühl der Schuld und des Selbstekels war nun, beim Aufwachen, fast so stark wie unmittelbar nach der Heimsuchung. Trotzdem erklärte es die Kälte nicht, die er spürte.
Die Kälte eines Erschreckens, das bis ins Mark reichte. Die Kälte unerklärlichen Verlassenseins.
Doch vielleicht nicht ganz so unerklärlich. Der Nekromant sah ihn seltsam an.
Mit einer Empfindung, als sammle sich sein gesamtes Wesen vorn im Gesicht und in der Herzgegend, ließ Jonah den Blick zu der Decke wandern, neben der er im Sitzen geschlafen hatte.
Ein Teil von ihm begriff schon.

Dabei war es doch unmöglich. Wie konnte ihn die einzig wichtige Seele auf Erden allein gelassen haben, ohne dass er es bemerkt hatte?
Simons Gesicht war nicht länger fieberrot. Die Hände an den Seiten, die massige Brust nackt und unter blutigen Verbänden von Brandulfs Bolzen durchlöchert, lag er da und sah kein bisschen so aus, als schliefe er. Nein, kein bisschen.
Jonah rührte sich nicht. Mit dem Gewicht eines fallenden Berges senkte sich das Schweigen in ihn herab.
„Es tut mir leid“, sagte der Nekromant. Es klang aufrichtig.


***


Anfangs hatte Hadan gerätselt, in welcher Beziehung Jonah Pereîs und sein Diener zueinander stehen mochten. Er selbst war der Letzte, der sich auf Freundschaft verstand. Doch trotz der öden, narbenübersäten Wildnis, die sich bei ihm dort erstreckte, wo andere Menschen die Erfahrungen von Zuneigung und Kameradschaft aufbewahrten, hatte er an Pereîs‘ Sorge ablesen können, dass die beiden nach Schwarzfels gekommenen Männer mehr miteinander verband als ein gewöhnliches Verhältnis zwischen Herr und Knecht.
Jetzt sah er, wie tief die Freundschaft gereicht haben musste.
Der Paladin kniete neben dem Toten, als habe man ihn mit einem Speer durchbohrt, auf Eis gepfählt, dessen sich langsam ausbreitende Vernichtungskraft ihn vollständig lähmte.
Nach einer Weile sah er zu Hadan auf. Sein Gesicht war an der Oberfläche starr, aber unter der Starre wütete etwas herum, das seine Augen flackern ließ.

„Warum habt Ihr mich nicht eher geweckt?“, fragte er mit dieser sanften, eingesperrten Stimme.
Der Nekromant hörte den Vorwurf heraus, aber ihm war das Ableben des Dieners beinahe genauso neu wie Pereîs.
„Er ist gegangen, als ich geschlafen habe“, entgegnete er. „Im Schlaf kann ich Lebenslichter nicht beaufsichtigen.“
„Lebenslichter?“ Es kam matt.
„Die Energie, die Lebende und noch nicht zu lang Verstorbene aussenden.“
„Ich verstehe.“ Pereîs wandte sich wieder dem Lager zu, jede seiner Bewegungen so langsam wie die eines Traumwandlers.
Hadan erhob sich. Vorerst fiel ihm nichts weiter ein, das er noch hätte sagen können.

Während er durch das Rechteck des Eingangs den dämmrigen Morgenhimmel beobachtete und die letzten Öllämpchen löschte, die bis jetzt gebrannt hatten, erwartete er jeden Moment, das Vorgefallene würde ihn freigeben, ihm mit derselben Leichtigkeit von den Schultern gleiten wie hundert ähnliche Erlebnisse auch.
Seine gewohnte innere Haltung ließ sich Zeit mit dem Kommen. Vage verdrossen runzelte er die Stirn.
Er hatte keine Zeit, sich mit dem Tod eines Unbekannten und dem Jammer eines Westmarscheners zu beschäftigen, ganz gleich wie sehr ihn Letzterer interessierte. Den vermutlich druidischen Späher vom Vortag hatte er keineswegs vergessen – es konnte längst Botschaft an in der Nähe lebende Gruppen dieser Leute übermittelt worden sein, Botschaft davon, dass sich Fremde in Schwarzfels herumtrieben. Das Volk der Gegend mochte Schwarzfels meiden, aber das hieß bei Weitem nicht, dass es tatenlos hinnehmen würde, was Außenseiter hier veranstalteten.
Wenn Hadan dem Mysterium von Schwarzfels auf den Grund gehen wollte, musste er es bald tun. So fest ihn der Sog dieses Ortes auch im Griff hatte, er plante nicht, seinen Kopf für die Sache zu riskieren.
Der Nekromant ließ Pereîs reglos bei der Leiche des Dieners sitzen und ging in den Festungshof hinaus.

Wie schon am vorigen Tag brütete das Gelände unter einem windstillen Schweigen. Die vier, fünf Krähen, die sich an den Toten gütlich taten, empfingen Hadan mit unruhigem Gehüpfe und Flügelflattern. Ansonsten bewegte sich nichts. Zerfetzte Kleidung, schwärzlich angelaufene Finger, verfilztes Haar hingen schlaff herab. Das ein oder andere scheele Auge, das Verwesung und tierischen Appetit überdauert hatte, beobachtete den Nekromanten, aber die Mehrzahl der Toten erschien ihm gesichtslos. Wie beliebige Teile einer Masse, die ein launischer Geist über das Gelände verstreut hatte.
Sie durften nicht gesichtslos bleiben. Er hatte diese Toten schon als Schattenprozession gesehen, und es waren einmal denkende Menschen gewesen, Menschen mit einem Willen, einem Plan, einer Routine. Jedenfalls vor ihrem hirnverbrannten Einfall, sich hier häuslich einzurichten.
Hadan meinte recht genau erraten zu können, was ihnen widerfahren war, aber er wusste noch nicht, warum. Die Herkunft des bösen Bannes lag im Dunkeln.
Und seit der Nacht war ihm klar, dass er den Paladin brauchte. Zu zweit würden sie Gelände, Gebäude und vielleicht irgendwo noch versteckte Schriftstücke schneller durchsuchen können, zu zweit gewannen sie auch gegen mögliche Gegner einen Vorteil. Zudem handelte es sich bei diesem Paladin nicht um einen schlichten Soldaten.

Der Nekromant ließ die Augen über die Ränder und Wipfel des Waldes schweifen. Dann, nicht ganz so ruhig, wie er es gern gewesen wäre, kehrte er zum Eingang zurück.
Aber er blieb in der Türöffnung stehen.
Pereîs hatte seine Haltung leicht verändert, saß mit dem Rücken zur Tür auf einer Ferse, das andere Bein aufgestellt und einen Arm um das Knie geschlungen, auf dem seine Stirn ruhte. Hadan war sich sicher, dass er weinte. Zu hören war allerdings nichts. Nicht einmal schwererer Atem.
Vielleicht lag es daran, dass diese stille Art von Trauer dem reglosen Sitzen, Beten und Wachen ähnelte, mit dem der Tod im Osten beklagt und geehrt wurde. Vielleicht lag es auch an den ersten, ungeheuerlichen Gemeinsamkeiten, die sich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins gestellt hatten und ganz geduldig, ganz schüchtern auf sich aufmerksam machten.
Hadan betrat den Vorraum gemessenen Schrittes, die Hände vor dem Schritt gefaltet, wie es sich für einen Platz der Totenwache gehörte. Er ging behutsam bis an Pereîs‘ Seite.

Der Paladin hob den Kopf. Im Profil hatte sein Gesicht einen fast edlen Schnitt, mit festen Wangen und dichten Wimpern. Er tat Hadan nicht den Gefallen, ihn anzusehen.
„Die Zeit, die Ihr dafür braucht, Euren Freund angemessen zu betrauern, bestimmt Ihr selbst“, sagte der Nekromant. „Das ist meine aufrichtige Ansicht, und ich möchte Euch auch nicht stören. Aber ich muss.“
Wie schon zuvor sah und spürte er das wilde Wüten unter Pereîs‘ äußerlicher Starre oder Beherrschung. Ein falsches Wort, und dieser Mann würde ihm trotz seiner Unterlegenheit an die Kehle springen.
„Wir können das Geheimnis nicht lüften, indem wir untätig bleiben“, fuhr er fort. „Ihr habt vergangene Nacht ebenso unter Einflüsterungen und Trugbildern gelitten wie ich. Es wird sich wiederholen. Das wisst Ihr. Und dann könnte es sein, dass es nicht mehr reicht, sich die eigene Waffe ins Bein zu stoßen. Ich brauche Eure Hilfe.“
Wie er gehofft hatte, verfehlte der letzte Satz seine Wirkung nicht. Die Einsicht der Nützlichkeit des jeweils Anderen hatte sie, einen Totenbeschwörer und einen Paladin, bisher davon abgehalten, dem Hass zwischen ihren Klassen nachzugeben.
Pereîs drehte den Kopf und schaute an ihm hinauf. Seine Augen waren noch feucht. Er holte Luft. „Und was habt Ihr vor?“

„Schwarzfels zu durchsuchen.“ Nach einem Zögern fügte Hadan hinzu: „Und der Festung die Toten wegzunehmen.“
Durch Pereîs‘ Miene zog der Hauch einer Ahnung. Vielleicht hatte auch er schon mit abwegigeren Gedanken gespielt. Er stand auf, fuhr sich über die Augen. „Erklärt mir, was Ihr meint.“
Hadan blinzelte zum Eingang hinüber. „Jedes Leben hat für die größeren Mächte eine Bedeutung, erzeugt ein Echo. Sonst würden wir nicht zu unseren Göttern oder zum Licht beten, und es gäbe auch keine Verbindung zwischen uns und der Magie. Unsere Gebete, unser Lernen - all der Aufwand, den wir betreiben - wären sinnlos.“ Er wandte sich wieder dem Paladin zu. „Diese Männer dort draußen sind keine leeren Hüllen. Sie ernähren Schwarzfels.“
Jetzt war es an Pereîs, zum Eingang zu spähen.
„Glaubt Ihr an Opfer?“, fragte Hadan ihn.
„Ja.“
„Ich ebenso.“ Der Nekromant machte die Lippen schmal. „Aber dulden kann ich nur die freiwilligen. Diese Toten haben keine Wahl. Sie werden hier hängen, bis die Zeit sie irgendwann zu Staub zerreibt, und erst dann werden sie dem, was wir gespürt haben, nicht mehr von Nutzen sein.“

Jetzt kehrte allmählich Leben in Pereîs‘ steife, gelähmte Erscheinung zurück. Als er bebend Atem ausstieß, war sein Gesicht bereits wacher, entschlossener. Beinahe zwei Köpfe kleiner als der Nekromant, musterte er Hadan von unten her und fragte: „Was plant Ihr im Einzelnen?“
„Zuerst die Toten zu untersuchen“, erwiderte Hadan. „Eingehender, als ich es gestern getan habe. Danach sollten wir sie begraben.“
„Fünfzig Männer, das dürfte schwierig werden.“ Auch Pereîs‘ Tonfall gewann einen Teil seiner Lebendigkeit zurück, die Hadan schon vorher bemerkt hatte, als feine Färbungen unter der oberflächlich so weichen Stimme. „Es sei denn, Ihr könnt große Löcher in den Boden fluchen.“
„Dann verbrennen wir sie.“
Der Paladin nickte leicht.
„Schließlich“, sagte Hadan, „bleibt noch das Bauwerk selbst. Es gibt daran etwas, das mich stört, aber ich bin mir bislang nicht ganz sicher, was es ist.“
Wieder nickte Pereîs. „Nur einen Augenblick.“ Ein Zittern durchlief ihn. „Ich möchte mich von Simon verabschieden.“
„Sofern es nicht zu lange dauert.“ Hadan ging zur Türöffnung und sagte über die Schulter zurück: „Trefft mich im Hof.“


***


Ob sein Freund gewollt hätte, dass Jonah für ihn betete?
Jonah wusste es nicht. Sie hatten nie viel über Glaubensdinge gesprochen. Und wenn doch einmal, war es meistens um die Strategien Kingsports gegangen, um die Neigung zur Expansion und zur Stigmatisierung Anders- oder ‚Mindergläubiger‘, die die alte Königsstadt der Westmarsch in den letzten Jahren zeigte. Simons Taubheit und Jonahs Sonderstellung, erweitert um seine dringend geheim zu haltende Gabe, hatten sie fast selbstverständlich auf dieselbe Seite gestellt: die Seite der Zweifler, der reinen Mitläufer, vielleicht sogar der Verräter.
Jonah hatte Simon mehrmals sagen hören, er glaube an das Licht. Nun, er hege zumindest die Hoffnung, dass die paladinische Geisteshaltung in ihrem Kern Milde gegenüber allen Lebewesen anstrebte. Wenn die Männer auf Jonahs Reisen allerdings gesehen hatten, wie dürftig diese Milde im Behandeln von widerspenstigen Dörflern oder Magiern vertreten war, hatte Simon dann nicht mehr sehr hoffnungsvoll von ihr geredet.

Jonah betrachtete das Gesicht seines Freundes. Der Tod fing schon an, es zu verfremden. Die fleischigen Züge sackten nach hinten, Richtung Boden, die Lider wirkten wie zugeklebt, an den Mundwinkeln haftete weißlich getrockneter Speichel.
Eine eiserne Hand schloss sich um Jonahs Herz und presste es zusammen. Der Schmerz prallte dumpf gegen die äußeren Wellen eines Meers aus Wut. Abneigung, Ekel, selbst Verachtung, das war ihm nicht fremd, doch er meinte jetzt mit einiger Sicherheit zu spüren, dass Brandulf der erste Mensch war, den er hasste.
Er befeuchtete einen Zipfel seines Ärmels mit Wasser und wischte den getrockneten Speichel an Simons Mundwinkeln weg. Dann fasste er einen Entschluss.
Er würde Simon gemeinsam mit den anderen Toten von Schwarzfels bestatten und erst für ihn beten, wenn der massige Körper abseits dieses schauderhaften Ortes zu brennen anfing.
Plötzlich hart im Innern, stand er auf. Die Schwerter saßen einwandfrei. Er strich sich eine Haarsträhne über den Kopf zurück, wandte sich ab und verließ den Vorraum.

Der Nekromant, der bei einer der Leichen an der Westmauer des Hofes hockte, sah ihn kommen und erkannte den vorläufigen Wandel offenbar, denn er ersparte ihnen Beiden jedes weitere Wort zu Simon.
„Seid Ihr bereit?“, erkundigte er sich.
„Allerdings.“
„Gut.“ Der große, bleiche Mann hatte seinen Mantel abgelegt. Er trug keine stärkere Rüstung, nur eine zähe Weste über dem Hemd sowie Arm- und Beinschoner, alles aus Leder oder eng gewobenem Stoff, und alles schwarz. „Ihr werdet einen starken Magen brauchen. Habt Ihr einen solchen Magen, Hoher Gesandter?“
Der Zweck der Stichelei war schwer zu bestimmen. Vielleicht reine Gewohnheit.
„Ich bin den meisten meiner Aufträge nicht in gemütlichen Amtszimmern oder luxuriösen Zelten nachgegangen“, erwiderte Jonah ruhig. „Durchaus möglich, dass ich mehr Tote gesehen habe als Ihr.“
Hadan lächelte schmal. „Das wage ich nun doch zu bezweifeln.“ Wieder ernst, nickte er zu der Leiche hin, vor der er hockte. „Dieser Mann ist erst seit anderthalb oder zwei Wochen tot. Fällt Euch an ihm etwas auf?“

Jonah ging neben dem Nekromanten in die Hocke. An den Dunst alter Verwesung hatte er sich bereits ein Stück weit gewöhnt, und die sonstigen Gräuel ringsum – allein im Hof achtundzwanzig Leichen, eine stumme, hier umgesunkene, dort gespenstisch aufrecht sitzende Wache – versuchte er für den Moment zu ignorieren.
Er musterte den Toten.
Der Mann war einer von denen, die an die Mauer gelehnt dasaßen, als seien sie lediglich dort eingenickt. Sein Gesicht mit dem auf die Brust gedrückten Kinn war noch leidlich ganz, die Haut fahl und von dünnen roten Adern durchzogen. Seine Hände ruhten schlaff neben den ausgestreckten Beinen. Er trug ein ehemals gelbes Brusttuch mit der roten Krone von Kingsport über Wams und Hemd, einen nietenbesetzten Schwertgürtel und Stiefel aus Pferdeleder. Ein Westmarschener. Ein Paladin wie abertausend andere auch.
Doch er hatte einen stoppeligen Bart, und sein dunkles Haar hing in verfilzten, zu langen Strähnen herab.
„Er ist sehr ungepflegt“, antwortete Jonah auf die Frage des Nekromanten. „Wäre es nicht so unwahrscheinlich, würde ich sagen, ein Bandit hat sich die Kleider eines Paladins angezogen.“
„Sie sehen alle so aus.“ Groß, breitschultrig, das weiße Haar über eine Schulter hinweg nach vorn gestrichen, kauerte Hadan neben ihm. „Kommt.“

Er führte Jonah nur ein paar Schritte weiter, zu einer der benachbarten Leichen. An ihr war Vieles wie an der ersten, mit dem Unterschied, dass ihr eine Hand fehlte und man sie angebunden hatte. Ein rohes Halsband, aus einem Fassband oder Ähnlichem gehämmert, und eine Kette, wahrscheinlich im Tross mitgeführt, hatten sichergestellt, dass dieser Mann nicht vom Hof wegkonnte.
Jonah schaute zum ersten Toten zurück. Bewaffnet. Der zweite, angebundene, hingegen nicht.
„Beide sind unter den zuletzt Verstorbenen, soweit ich das eingrenzen kann.“ Der Nekromant war seinem Blick gefolgt. „Und beide haben keine sichtbare Verletzung.“
„Bis auf die fehlende Hand“, merkte Jonah an.
„Bis auf das, ja. Aber daran ist der Mann nicht gestorben.“ Hadan betrachtete ihn von der Seite her. „Ich denke, er ist verhungert. So wie der andere auch.“
Mit einem Gefühl, als breite sich eine Wolke aus Eiskristallen in seinen Gedärmen aus, starrte Jonah zurück. Nach einer Weile hörte er sich entgegnen: „Verhungert? Der Angekettete vielleicht, auch wenn ich nicht wüsste –” Er brach ab, sammelte sich wieder. „Doch warum sollte sich ein Mensch, der sich frei bewegen konnte, in diesen Hof setzen und hier ausharren, wenn ihn Hunger quält?“
Hadan schwieg kurz. Als er erneut sprach, hatte sich sein Tonfall verändert. Vielleicht hatte er seine eingehendere Untersuchung der Toten bereits während Jonahs letzter Trauerstunde abgeschlossen. Oder vielleicht war es ihm aus irgendeinem Grund plötzlich zuwider, Jonah schrittweise durch Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zu geleiten.

„Es mag schwer zu glauben sein“, sagte er, „aber trotzdem hat sich hier genau das ereignet, was auch Ihr schon ahnt, Pereîs. Irgendein Teil von Euch ahnt es längst. Euer Ordensbruder hat in diesem Hof gesessen, sehr, sehr lange. Ohne sich zu erheben, nicht einmal für seine letzte Notdurft. Wundert Euch nicht, ich habe nachgesehen, und eher mit der Nase als mit meinen Händen und Augen.“
Als Jonah betäubt den Kopf schüttelte – eher anstandshalber, da er ja fühlte, sein Gegenüber sagte die Wahrheit – holte der Nekromant tief Luft. Dann sprach er weiter, ein brutaler Sendbote der Zwischenwelten, eine Stimme aus den Tiefen des eigenen Gewissens.
„Keiner dieser Toten weist Spuren eines großen Angriffs auf. Ich weiß nicht, ob Ihr mit den Wegen und Waffen der Barbaren vertraut seid.“ Sein weißes Gesicht war weniger streng als zuvor, nachdenklicher. „Wenn ein Barbar einen Gegner niedergehauen hat, seht Ihr das. Derbe Schnitte, klaffende Wunden, zerschmetterte Glieder. Diese Menschen greifen offen an, nicht über Wochen hinweg. Sie pflücken keine Einzelnen heraus. Sie hängen auch niemanden an Pfähle oder Mauern, oder verhexen ihn, damit er in Elend und Wahnsinn zugrunde geht.“
Spätestens jetzt hätte ein Luftzug die Schwüle stören, ein Widerhall aus der gesunden Welt sie Beide erlösen müssen, wie sie hier im Festungshof standen, aber alles blieb still.
„Nein, Pereîs.“ Diesmal schüttelte der Nekromant den Kopf. „Etwas Anderes hat Eure Brüder umgebracht, sich ihrer bemächtigt, damit sie sich gegenseitig vernichten. Die Mörder dieser Paladine waren Paladine – sie selbst.“

Danach schwieg er, was Jonah Zeit gab, sämtliche Gegenbehauptungen und Einwände abzuwägen. Es kam nichts dabei heraus. Sein Herz hämmerte, und Muskeln der Anspannung, der Offenbarung, hielten ihn störrisch aufrecht. Hadan hatte Recht.
Jonah sah an ihm hinauf. „Und habt Ihr eine Idee zu der Macht, die das alles vollbracht haben soll?“
„Nein“, gab der andere Mann zu. „Keine schlüssige jedenfalls.“
Bemüht, seine fünf Sinne im Griff zu halten, schaute Jonah sich um. Das Hauptgebäude war roh, die benutzten Steine hingegen alt. Aber es gab keine Flechten, die einzelne Steine des Bauwerks miteinander verknüpften, kein Absacken in ihrer Anordnung, keinen Mauerrand oder Fenstersims, der nicht grob zusammengefügt wirkte.
„Sie haben hier Steine vorgefunden“, sagte Jonah leise, halb zu sich selbst. „Sie haben irgendeine Stätte entdeckt, aber mehr nicht. Sie haben die ganze Festung selbst gebaut.“
Der Nekromant räusperte sich. „So scheint es. Also muss, was auch immer diesen Ort beherrscht, schon vorher dagewesen sein. In den Steinen selbst.“
„Oder darunter“, sagte Jonah.

Sie kamen überein, zuerst die Leichen zu sammeln.
Tatsächlich wurde daraus eine Aufgabe, die einen starken Magen erforderte.
Nach einem Dutzend Leichen geriet Jonah an einen Körper, der in seinen und Hadans Händen, als sie ihn von einem Pfahl herunterholten, regelrecht auseinanderfiel. Der Nekromant hatte einen der in Eisenbändern steckenden Arme bereits durchtrennen müssen, damit der Leichnam überhaupt geborgen werden konnte, und der fortgeschritten verweste Leib sackte zu Boden.
Fäulnisgestank stieg um die Männer auf. Fliegen surrten, verärgert über die Störung ihrer Geschäfte. Vom Rest gelöst, rollte der Kopf des Toten ein paar Schritte weg.
Jonah wandte sich ab und erbrach sich. Er war schnell fertig, richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab, aber das Herumhantieren an all diesen Männern, die einst guten Mutes hier oben angekommen waren und deren Verbleib er dem Orden erklären musste, würde ihn bis an sein Lebensende verfolgen, das wusste er.
Der Nekromant ließ seinen Schwächeanfall unkommentiert. Er arbeitete rasch, ohne besonders zartfühlend mit den Toten umzuspringen, doch an dieser Energie und Eile meinte Jonah ablesen zu können, dass selbst jemand aus Hadans obskurer Klasse heilfroh sein würde, wenn die grausige Aufgabe hinter ihnen lag.

Sie machten weiter, ordneten die Toten in einer dreifachen Reihe im Hof an, schleiften die, die am Hang, hinter der Festung oder im Obergeschoss gelegen hatten, herbei. Einmal mussten sie pausieren, schweißnass, erschöpft, den widerlichen Brodem in der Nase, in der Kleidung. Sie wechselten kaum ein Wort miteinander.
Es war auch nicht nötig. Wann immer sie einen Körper untersuchten, sprachen Zustand, Verletzungen und Position des Toten dafür, dass Hadan einen wesentlichen Teil der Wahrheit aufgedeckt hatte. Die Mitglieder der Missionstruppe lagen chaotisch umher, wiesen Wunden auf, die auf kleinere Kämpfe oder sogar Folter hindeuteten, und viele waren entsetzlich mager.

Irgendwann waren sie endlich fertig. Sie lehnten an der jetzt leeren Westmauer und betrachteten das kleine Leichenfeld. Fünfzig Körper. Nicht einer der Paladine, die vor über fünf Monaten hier eingetroffen waren, hatte den Wahnwitz von Schwarzfels überlebt.
Jonah lehnte den Kopf in den Nacken und stöhnte leise. Eine große Gleichgültigkeit breitete sich in ihm aus, und obwohl sein Bauch knurrte, verspürte er kein Bedürfnis nach Nahrung. Höchstens nach einem Krug Branntwein.
Der letzte Körper, Simons Körper, fehlte noch. Sie würden ihn bald holen und mit unter den gnadenlosen Waldhimmel legen.
Neben Jonah wischte sich der Nekromant die Finger an einem feuchten Tuch ab und zog dann wieder seine Handschuhe über.
„Wir werden eine Menge Holz brauchen“, sagte er gedämpft. „Wartet Ihr hier. Ich gehe hangabwärts und sehe nach, was ich an Ästen und Stämmen finden kann.“
„Gut.“ Jonah schloss die Augen. „Wärt Ihr so freundlich, kurz nach den Pferden zu schauen?“
„Natürlich“, kam es ohne ein Zögern. Schritte entfernten sich.
Seltsam, dass er, Jonah, seit Stunden nicht mehr über die Gefährlichkeit und die Motive des Nekromanten nachgesonnen hatte. Flüchtig fasste Unruhe ihn an.
Aber er schob sie weg, müde bis auf die Knochen.
 
@Horseback: Das ist ja drollig.
Nein, Gregor VII hatte ich nicht im Hinterkopf, aber irgendwie schon interessant, die Überschneidungen. Wie kommt es, dass Du Dich so gut mit der Persönlichkeit eines Papstes auskennst?

Es lebt :eek:

Ich lese "gerade" zwecks Recherche für eine neue Story ein Buch in dem es um ein historisches Kapitel Europas geht (die schreiberischen Arbeiten dafür belaufen sich schon auf 2 Jahre). Von der Fachwelt schon gut erforscht, aber in der Öffentlichkeit noch so gut wie gar nicht angekommen, soll es der Grundstock für meine neue Story werden. Ich muss meine schreiberischen Fähigkeiten noch verbessern, aber ich würde es gerne sehen, wenn es diese Geschichte schafft auf Papier gedruckt, zum Buch gebunden und in ein Geschäft gestellt zu werden :) Mehr verrate ich (an dieser Stelle) nicht ;)

Zu deiner Story editiere ich hier rein wenn ich sie gelesen habe :p

//
Der Paladin kniete neben dem Toten, als habe man ihn mit einem Speer durchbohrt, auf Eis gepfählt

geil.
 
Zuletzt bearbeitet:
Tut mir leid, wenn ich mit meiner Stichelei auch nur einen Anflug von Ärger verursacht habe. Wenn ich mir aber das Ergebnis anschaue, schwindet die Reue sehr schnell.

Ich wünschte, jeder Tag wäre Samstag.
 
So, bevor ich das morgen noch vergesse... Kommt eben heute schon das nächste Kapitel.
Viel Spaß damit :>



___________________




XI. Das Ende der Heimlichkeit




Vom Festungshof aus ging Hadan den Hang hinunter.
Inzwischen staunte er nicht mehr darüber, wie säuberlich sich der unheilvolle Bann auf das Bauwerk beschränkte. Doch obwohl man, sobald die Steinplatten hinter einem lagen, etwas freier atmete, war zweifellos die gesamte Freifläche inmitten der Waldborten betroffen.
Der Nekromant warf den zwei Wagen und all den Dingen, die die wohl chaotischen Zustände auf Schwarzfels über den Hang verstreut hatten, im Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick zu. Er schritt aus, ohne sich dabei zu sehr zu eilen – Pereîs konnte ihn vom Hof aus immer noch sehen. Hadan hatte ihm gesagt, er wolle hangabwärts nach Feuerholz suchen, und dorthin bewegte er sich auch, aber er hatte etwas ganz Anderes im Sinn.

Die Errichtung eines Scheiterhaufens musste warten. Der Rauch eines Feuers solcher Größe würde wie ein Leuchtsignal über dem Wald stehen. Vielleicht der entscheidende Anstoß für die in der Nähe lebenden Menschen, sich endlich um die verfluchte Festung und zwei Eindringlinge zu kümmern. Hadan hatte allerdings noch einen weiteren Grund, die Leichenverbrennung aufzuschieben.
Während ihres erschöpften Luftholens an der Mauer hatte er ihn bemerkt, den Störenfried. Ein neues Lebenslicht, irgendwo in den Bäumen unterhalb der Festung. Es wäre ihm fast entgangen, weil er müde, in Gedanken und vom klagenden Glimmen der Toten umgeben gewesen war. Doch das Licht hatte sich trotzdem verraten.
Der Nekromant war beunruhigt. Für einen Moment hatte er mit dem Antrieb gerungen, Pereîs von seiner Entdeckung zu berichten. Neugier und die Gewohnheit, gewisse Dinge allein in die Hand zu nehmen, hatten gesiegt. Es war nur ein einzelner Mensch, der dort unten wartete. Einzelgegner brachten Hadan selten in Bedrängnis.
Er ging jetzt langsamer, kam bei den zwei Pferden an. Sie standen still und mit gesenkten Köpfen nebeneinander unter einem Baum. Hadans Auftauchen führte zu nervös geblähten Nüstern, aber zum Glück wieherten die Tiere nicht.
Der Nekromant blieb stehen und lauschte. Er hörte nichts, doch das Lebenslicht drängte sich unverändert in seinen Geist. Mit der Linken zog er sein Crismesser aus der Beinscheide und konzentrierte sich, die Augen schmal. Er war nicht dazu in der Lage, die Bewegungen eines Menschen durch seine Gabe zu verfolgen, aber in gebührender Ruhe konnte er grob abschätzen, wie es um den Träger des Lichts stand.
Das Licht des Spähers vom Vortag hatte einer Kerzenflamme geglichen, klein, aber immer gleich stark, und trotz der bedrohlichen Umgebung fast ruhevoll. Dieses Licht war anders, ungestümer, flackernd, fiebrig.

Hadan suchte sich behutsam einen Weg zwischen den ersten Bäumen hindurch.
Plötzlich vernahm er Knacklaute von irgendwo unterhalb seiner eigenen Position. Als der Träger des Lichts auftauchte, vielleicht achtzig Schritte entfernt, wusste der Nekromant nicht gleich, ob er erleichtert oder grimmig verblüfft sein sollte.
Der Mann bewegte sich durch den Wald wie ein Blinder.
Offenbar war er auch am Ende seiner Kraft. Bewaffnet, doch ohne Waffen in den Händen, weil er diese zum Ertasten seines Weges brauchte, wankte er durchs Unterholz, eine aberwitzige, dunkle Gestalt mit vorgestrecktem Kopf. Er stolperte häufig. Zwei- oder dreimal stieß er auch gegen einen Stamm, scheinbar zu erschlagen, um sich noch zurechtzufinden.
Sein schwerer Atem und ein Gemurmel, das er hin und wieder hervorbrachte, tönten laut in der Stille. Ein großer Hund trottete hinter ihm her.

Das Tier sah Hadan. Es griff augenblicklich an.
Einen heiseren Ruf seines Herrn ignorierend, kam es mit langen Sätzen bergauf, so schnell, dass dem Nekromanten keine Zeit für Überlegungen blieb. Das Crismesser erhoben, wich er zurück und fasste in seinen Gürtel.
Das Säckchen war aus dünnem Tuch. Es zerplatzte auf kräftigen Druck hin. Die gelbliche Giftwolke und der Hund waren gleichzeitig da.
Der Schädel des Tiers brach durch das erstickende Gelb, mit weit aufgesperrten Kiefern, während die Vorderpfoten Hadan gegen die Brust stießen. Er konnte sich eben noch darüber wundern, wie riesig der Hund war. Dann verbiss sich das Tier in seinen linken Unterarm.
Das Gewicht allein riss den Nekromanten fast um. Zähneknirschend kämpfte er um festeren Stand. Sein Armschoner hinderte den Hund daran, ihn sofort zu zerfleischen, aber er würde rutschen, sich lösen.
Fellgestank, wildes Knurren, und über allem der gelbe Nebel.
Dieser Nebel wendete das Blatt zu Hadans Gunsten.
Plötzlich ließ das ruckende Zerren an seinem linken Arm nach. Die Zähne des Hundes lösten sich aus seinem Armschoner. Das Tier setzte sich erst winselnd auf die Hinterläufe, dann fiel es seitwärts zu Hadans Füßen ins Laub.
Mit seinen Atemzügen hatte es sich genug Gift in die Lunge geholt, ein Gift, das lähmte und fast unweigerlich zum Tod führte. Es sei denn, man hatte Immunität dagegen erlangt, so wie Hadan selbst.
Er berührte den rasselnden, pumpenden Brustkorb des Hundes mit der Stiefelspitze, beugte sich hinunter und trieb dem Tier das Crismesser durch das Ohr in den Schädel. Das Rasseln brach ab. Grausamkeit war hier unnötig.
Der Nekromant trat aus dem dünner werdenden Nebel.

Am Hang unter ihm, jetzt viel näher, war der Mann stehen geblieben. Er wandte den Kopf suchend hin und her, schien Hadan jedoch nicht sehen zu können. Er war in schwarze, stellenweise eisenverstärkte Ledersachen gekleidet, bärtig, zäh. Aber seine Haltung verriet seinen elenden Zustand. Sogar über die Entfernung hinweg konnte Hadan seinen Schweiß riechen. Dann entdeckte er die Armbrust.
In der Tat, viele Fäden liefen in Schwarzfels zusammen. Er hockte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und wartete.
Der Andere spürte deutlich, dass jemand in seiner Nähe war, hatte den Kampf sicher gehört, und das Winseln seines Hundes wohl auch. Mit taumelnden Schritten setzte er sich wieder in Bewegung und kam langsam zu Hadan herauf. Ein Lichtfleck, den er passierte, zeigte sein Gesicht plötzlich in aller Schärfe. Der Bereich um seine Augen war verbrannt, die Lider mit der sie umgebenden Haut zusammengebacken.
Keuchend, Speichelfäden am Kinn, hielt er kaum ein Dutzend Schritte entfernt inne.
Schweigen erfüllte den Wald.
„Du musst Brandulf sein“, sagte Hadan schließlich.

Der Mann erstarrte. Sein Atem stockte hörbar.
Eine fremde Stimme, der Hund, der nicht zu ihm zurücklief, vielleicht auch ein Gespür, das Hadans Aura erfasste.
Nach einem tiefen Luftholen stieß der Ankömmling hervor: „Wer zur Hölle ist da?“ Seine Stimme war wund und belegt. „Pereîs?“
Damit verging auch der letzte Zweifel.
„Nein, nicht Pereîs“, entgegnete der Nekromant. „Doch der wird sich bestimmt bald zu uns gesellen.“ Er lächelte. „Das hattest du nicht erwartet, vermute ich – dass dir dieser kleine Mann solche Schwierigkeiten machen würde, was?“
Sein Gegenüber stand da und wankte sacht. Das verbrannte Gesicht verriet Ungläubigkeit, auch ohne einen Augenausdruck.
„Ich weiß, wer du bist“, fuhr Hadan fort. „Und auch, dass du einen Gesandten deines eigenen Ordens töten wolltest. Ihn und seinen Diener. Du warst nur zur Hälfte erfolgreich. Pereîs hat die Festung erreicht.“
Der Mann rührte sich kaum, doch seine Hände ballten sich zu Fäusten.

Soweit sich Hadan den Hintergrund dessen, was Jonah Pereîs ihm in wenigen Worten über die Angelegenheit anvertraut hatte, zusammenreimen konnte, hockte er hier vor einem Fall von Hochverrat. Madalën, das war ihm bekannt, führte einen Stellungskrieg gegen die Barbaren dieser Waldgegend. Pereîs hatte behauptet, er sei einzig und allein angereist, um die auf Schwarzfels gestorbenen Paladine zu suchen – doch natürlich konnte er gelogen haben. Und andere Parteien hatten womöglich nie genau gewusst, warum er hier war.
Hadan legte den Kopf schief. „Du hättest nicht herkommen sollen“, sagte er zu Brandulf.
Der wahrscheinliche Madalëner Unterkommandant griff trotz seiner Verfassung mit einer für mörderische Nahkämpfer reservierten Schnelligkeit hinter sich. Aber er war außerstande, Hadan einzuordnen.
Derselbe Fluch, den der Nekromant über Pereîs geworfen hatte, traf ihn, bevor er seine Waffen ganz ziehen konnte. Er schwankte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie, die Fäuste noch an den Griffen zweier Äxte, das Gesicht eine Fratze der Pein.
Hadan verdoppelte den Fluch unnachgiebig, trotz der Energie, die ihm das abzog. Danach erhob er sich, ging zu Brandulf hinunter und nahm ihm die Waffen ab. Dazu musste er ihm fast die Finger brechen. Der Mann war hilflos über die Wirkung des Fluchs gekrümmt, aber er kämpfte, klammerte, die Muskeln eisenhart.

Die Äxte und die Armbrust warf Hadan in den Wald.
Dann machte er den Gürtel seines Opfers los, wand ihn um die bebenden, harzverklebten, schmutzigen Hände und schleifte Brandulf hangaufwärts.
Er musste sich nicht lange abmühen. Sie waren kaum am Rand der Lichtung, als oben, dort wo die Erde in den Festungshof überging, eine Gestalt auftauchte. Hadan nickte finster und lehnte sich wieder in den Gürtel.
Jonah Pereîs kam ihnen entgegen, den Hang hinunter.
Der Paladin blieb stehen. Er hatte Hadans Last erkannt.
Und es war eine Spur beunruhigend, wie sein ganzer höflicher, zurückgenommener Auftritt plötzlich in Teilen zu einer Verkleidung schrumpfte, zu einer Larve. Seine Augen, die denen Hadans begegneten, waren kristallklar und hart.
„Wie sich herausstellt, gab es da unten Interessanteres als Feuerholz.“ Mit einer letzten Anstrengung zerrte Hadan ihm den halb Gelähmten vor die Füße, ließ den Gürtel los und trat zurück. „Ich denke, das gehört Euch, Pereîs.“


*


Jonah starrte auf den Mann, der vor ihm im Gras des Hanges lag. Das Attentat hatte sich vor nicht einmal anderthalb Tagen ereignet, doch die Gestalt zu seinen Füßen sah aus, als habe sie eine sehr viel längere Zeitspanne in der Wildnis zugebracht.
Brandulfs Kleidung und Haut war verschmutzt, sein Hals schweißnass, die Hände zerschrammt. Durch irgendeinen Trick des Nekromanten, vielleicht einen Fluch, gelähmt und geschwächt, lag er keuchend und mit steifen, zitternden Gliedern auf dem Rücken. Und diese Rückenlage setzte ein weiteres Detail dem Tageslicht aus: Brandulf würde nie wieder sehen können.
Jonah betrachtete das blasenübersäte, rote Durcheinander, das einst Brandulfs Augen und Brauen gewesen war, und ein kalter Schatten senkte sich auf sein Gewissen. Das hatte er getan. Er, dessen Akte der Verletzung Anderer sich bis heute auf einen Schwerthieb beschränkt hatten, der einem Wegelagerer den Bauch aufgeschlitzt hatte, und auf die wenigen Treffer, die er bei Übungskämpfen hatte landen können – er hatte einen Menschen geblendet.
Doch mit der Erinnerung an das Attentat und Simons Tod versandeten sein Mitleid und seine Scham.

„Wo habt Ihr ihn gefunden?“, fragte er den Nekromanten.
„Ein Stück weiter unten im Wald.“ Hadans Miene war unleserlich. „Allein, bis auf seinen Hund. Er und ich haben uns noch nicht ausführlich unterhalten, geschweige denn einander vorgestellt, aber ich nehme doch an, dass er der Madalëner Unterkommandant ist, von dem Ihr gesprochen habt?“
Jonah nickte. „Ja. Das ist er.“
Womöglich peitschte der Klang seiner Stimme etwas in dem Daliegenden auf, denn er rollte plötzlich in Jonahs Richtung herum. „Pereîs!“
Mit einem sicheren Gefühl für Brandulfs beschränkte Bewegungsmöglichkeiten, das er in dieser Art nicht von sich kannte, ging Jonah in die Hocke. Das brachte sein Gesicht auf die Höhe des zerstörten Gesichts des Anderen. Er schaute zu Hadan auf.
Der Nekromant erwiderte den Blick. „Wollt Ihr ihn befragen?“, erkundigte er sich.
Er mochte immer noch ganz eigene Motive für sein Verhalten haben, aber seine Bereitschaft, das Geheimnis um Schwarzfels zu lüften und das hier oben brütende Unheil zu bekämpfen, gab ihm nach Jonahs Meinung das Recht, alles über die jüngsten Verwicklungen zu erfahren.
„Ja“, sagte er leise.

Der überlegene Teil seines eigenen Wesens – der Teil, der ihm erlaubt hatte, sich in die wichtigsten Belange seines Ordens und in die Kreise weit mächtigerer Männer einzustehlen, immer gesittet, immer anpassungsfähig – wich zunehmend vor einer heillosen Wut zurück.
Brandulf spuckte aus. „Von mir erfährst du nichts, Pereîs“, knurrte er.
„Das werden wir sehen.“ Jonah schaute sich nach dem Gürtel um, an dem der Nekromant Brandulf den Hang hinauf geschleift hatte. Er fand ihn, hob ihn auf. „Warum hast du versucht, uns zu beseitigen? Wie lautet dein Auftrag?“
Das Gras bewegte einzelne Halme, nicht mehr. Die Lichtung hörte immer noch keine Vogelstimmen. Oben in der Festung verfaulten fünfzig Leichen, und auch Simons Körper würde bald den Weg allen Fleisches gehen.
Brandulf schwieg, streckte unbeholfen die Beine.
„Ich fürchte, es ist ihm ernst“, sagte der Nekromant.
„Vielleicht.“ Jonah neigte sich noch ein Stück zu dem Daliegenden hinüber. „Hör mir zu, Brandulf. Gerüchte oder eine vorgefasste Meinung mögen dich davon überzeugt haben, dass du auf meine zivilisierten Seiten zählen kannst, auf Nachsicht, Skrupel oder Moral. Aber du stehst mir im falschen Augenblick gegenüber. Ich befinde mich in Schwarzfels, bin müde und habe eine Menge zu tun. Und du hast meinen Freund umgebracht.“
Brandulf kämpfte stumm gegen die Nachwirkungen nekromantischer Macht an.
Auch Hadan sagte kein Wort.
„Daher wiederhole ich meine Fragen nur noch dieses eine Mal“, fuhr Jonah fort. Seine Zähne klebten aneinander, er musste sich um einen ruhigen Tonfall bemühen. „Warum das Attentat? Zu wem gehörst du?“
Der Liegende lachte schütter. Dann sprach er eine Empfehlung aus, wohin sich Jonah sein eigenes Geschlechtsteil stecken könne.

Jonah beobachtete ihn. Eine abgespaltene Ebene der Wirklichkeit zitterte in greifbarer Nähe, rief nach ihm, aber er verspürte keinerlei Neigung, auf ihr Mahnen zu hören.
Stattdessen stand er auf, trat um Brandulf herum, schlang den Gürtel um das nach oben weisende Handgelenk des Liegenden und zerrte den Arm nach hinten. Dann holte er den zweiten Arm unter Brandulf hervor und fesselte ihm die Hände.
Er wälzte den Unterkommandanten wieder auf den Rücken. Brandulfs Spucke verfehlte ihn knapp.
Jonah kniete sich auf seine Brust. Ekel darüber, dem Anderen so nah kommen zu müssen, kroch in ihm hoch, aber auch auf ihn hörte er nicht.
Er legte die Rechte auf Brandulfs schweißnassen Hals. Aus irgendeinem aufgesprengten Verlies kam die Wärme, sonst immer nur erwachend, wenn anderes Feuer in unmittelbarer Nähe war. Brandulf schien zu spüren, dass sich die Hand an seiner Kehle erhitzte. Sein Körper bockte schwach.
„Das ist eine letzte Warnung“, teilte Jonah ihm mit.

Vom Rand seines Blickfelds her näherten sich schwarze Stiefel. Mehr Wärme floss in seine Hand, und Jonahs gesamtes Wesen hob sich. In seinen Ohren begann es zu pochen. Und trotz dieser Ekstase der Befreiung, die sich lodernd ankündigte, ahnte er, dass Schwarzfels eine nicht unerhebliche Rolle in dieser Veränderung spielte. Darum war der Nekromant jetzt vermutlich auch so dicht bei ihm. Er hegte denselben Verdacht.
„Hat Madalën dir aufgetragen, Pereîs zu töten?“, hörte Jonah ihn Brandulf fragen.
Brandulf bockte erneut, versuchte, Jonah abzuwerfen und sich der Hand an seiner Kehle irgendwie zu entwinden. Die Haut unter Jonahs Fingern rötete sich.
Der Liegende knurrte, atmete ein paar Male hastig. „Nein.“
„Wer dann?“, wollte Hadan wissen.
Brandulfs Gesicht verzerrte sich – ob aus Schmerz oder in verächtlichem Begreifen, war schwer zu sagen. „Du!“, stieß er hervor. „Was geht denn dich all das an, Totenbeschwörer? Ja, ich habe lange gebraucht, aber jetzt –. Ein verdammter Schwarzmagier. Ihr seid auch nicht besser als die Paladine.“
„Du bist ein Barbar“, warf Jonah ein.
Es war kaum vorstellbar, doch die einzige andere, schlüssige Erklärung.

Als er zu Hadan aufsah, wirkte selbst der Nekromant überrascht. „Er könnte ein Bastard sein“, sagte er.
Unter Jonah war Brandulf ruhiger geworden, bebte jedoch am ganzen Leib. „Ein Bastard“, wiederholte er zischend. „Ja. So wie du, Pereîs.“ Sein Gesicht, das zuletzt Hadan zugekehrt gewesen war, soweit seine Lage das erlaubte, drehte sich wieder zu Jonah. „Oder irre ich mich?“
Anstelle einer Antwort verlagerte Jonah sein Gewicht nach vorn. Für ein paar Augenblicke hatte er das schlummernde Feuer in seiner Hand ersterben lassen, eher unbewusst, gefangen in Brandulfs Entgegnungen. Jetzt las er an der Miene des Unterkommandanten ab, dass es zurückkam, und er wusste nicht mehr zu sagen, ob sein Inneres dafür verantwortlich gemacht werden musste oder Schwarzfels.
„Wer hat dir den Auftrag gegeben, mich zu beseitigen?“, fragte er. Ganz sacht begann es widerwärtig nach schmorender Haut zu riechen. „Und aus welchem Grund?“
Der Unterkommandant fluchte und wand sich, aber er wahrte sein Schweigen, gab nichts preis.
‚Die sterben lieber auf der Streckbank, als den Mund aufzumachen‘, hatte Jaronas gesagt.
Jonah nahm die Hand zurück.

Dies hier, dieser Mann, auf dessen ausgelaugtem, zerschundenem Leib er kniete, war der erste Barbar, den er sah, Bastard hin oder her. Sicher hatte das Leben unter den Westmarschenern, die er offensichtlich zutiefst verachtete, Brandulf geformt, ihn zu einem Zwischenwesen gemacht, das sich an keinen Kodex hielt und gut verwendet werden konnte. Liebten ihn die Leute, die ihn unter den Feind geschickt hatten? Denn dass Brandulf sie liebte, lieben musste, um diesen Weg gegangen zu sein, stand wohl außer Zweifel.
Und er, Jonah, hatte diese Reise am Ende einer langen Scharade sorgfältiger Höflichkeit und geduldigen Ausharrens nicht angetreten, um eins der Opfer von Sanktuarios schwierigen Klassenverhältnissen zu foltern. Er begriff, dass Brandulf seine Leute nicht im Stich lassen würde. Einen Entschluss fassend, erhob er sich.
Der Daliegende zuckte, verwundert über den plötzlichen Abbruch der Befragung. Was für eine Befragung eigentlich? Dass die Barbaren einen Kundschafter ihrer Gegner, dessen Kommen ihnen zugetragen worden war, nicht in ihrem Land dulden würden, lag in der Natur der Sache.
„Es ist gut“, sagte Jonah zu Brandulf. „Du willst und wirst deine Brüder nicht verraten. Auch als Paladin verstehe ich das, und ich respektiere es. Trotzdem solltest du zwei Dinge bedenken. Erstens können wir dich selbstverständlich nicht gehen lassen. Und zweitens, obwohl an alldem vielleicht wirklich nichts Persönliches war, bleibt die Tatsache bestehen, dass du meinen Freund getötet hast.“

Weder hatte Brandulf Zeit für eine Erwiderung, noch kam der Nekromant, der wenige Schritte entfernt wartete, zum Eingreifen.
Das Schwert aus der Rückenscheide zu ziehen, benötigte nur einen Herzschlag. Jonah setzte Brandulf die Spitze unter das Brustbein und lehnte sich mit einem Ruck auf den Knauf.
Brandulf krümmte sich, erzitterte, lag dann still.
Die Klinge trat hinten aus. Er musste einen Stiefel gegen den erschlafften Leib stemmen, um sie wieder freizukriegen.
Gab es eine zustimmende Erschütterung oben in Schwarzfels, nichtmenschlichen Applaus, ein gieriges, lautloses Kichern? Oder war der Akt zu unbedeutend, um ins Gewicht zu fallen?
Nach einem tiefen Luftholen begegnete Jonah dem Blick des Nekromanten. Falls er hatte vorstürzen wollen, um Jonah aufzuhalten, verriet seine Haltung nichts davon. Er hob jetzt nur ein wenig das Kinn.
Dann sagte er: „Meine Annahme, Ihr wärt ein zu großer Menschenfreund, muss ich wohl noch einmal überprüfen.“

Jonah wischte das Schwert am Gras ab und steckte es zurück. Dieselbe kühle, tranceartige Entschlossenheit, die ihn bereits vorher gepackt hatte, ordnete seine Gedanken für ihn.
„Brandulf hätte nicht geredet“, erwiderte er. „Und selbst wenn – was soll ich mit dem Namen irgendeines Clans oder Häuptlings? Ich kann schlecht auf eigene Faust zu einer Barbarensiedlung laufen und dort Wiedergutmachung für Simons Tod fordern. Ich bin auch nicht wegen der Barbaren hier.“
Hadan sah ihn unverwandt an. „So ein Vorfall könnte durchaus auf offene Ohren stoßen, dort wo Ihr herkommt“, sagte er nach einem Moment. „Zusätzlich zu dem, was Euren Brüdern widerfahren ist. In ein paar Wochen müsstet Ihr vielleicht gar nicht mehr ‚auf eigene Faust‘ zu den Barbaren laufen.“
„Ich weiß“, entgegnete Jonah. „Aber ich werde keinen Krieg in diese Gegend bringen.“
Wieder betrachtete der Nekromant ihn eine Weile schweigend. Schließlich spitzte er leicht die Lippen und nickte.

Jonah sah sich um. Der Wald zog sich in einem Bogen rings um die Lichtung, stumm und alterslos. Der Himmel war von einer perlgrauen Wolkendecke überspannt. Der Reichtum an Vogelstimmen und anderen Lauten des ersten Abends im Wald mutete wie eine geschönte Erinnerung an, wie ein Traum.
Der Nekromant räusperte sich leise. „Nun, ein Problem wäre gelöst. Doch es herrscht kein Mangel an möglichen weiteren Problemen, denke ich. Dieser Brandulf war nicht der Einzige, der sich in unserer Nähe herumgetrieben hat.“ Auf Jonahs fragenden Ausdruck hin fuhr er fort: „Gestern, bin ich mir sehr sicher, war ein Späher bei der Festung.“
„Vielleicht bewachen die Barbaren Schwarzfels.“
„Nein“, sagte Hadan. „Kein Barbar. Das war ein Druide. Eine Ahnung von Magie, Ihr wisst schon.“
„Simon und ich sind einem Druiden begegnet“, teilte Jonah ihm mit. „Vor zwei Tagen. Er hat uns vor Schwarzfels gewarnt.“
„Zu Recht, wie es aussieht.“ Mit zusammengezogenen Brauen starrte der Nekromant über den Hang hinweg auf die Festung. Sein weißes Gesicht hatte nur wenige Linien. „Ich weiß nicht, ob dieser Späher andere Druiden in Alarmbereitschaft versetzt hat. Aber spätestens die Verbrennung der Leichen wird jeden Menschen im Umkreis von unserer Anwesenheit unterrichten. Womöglich sind schon Leute zu uns unterwegs, egal ob Barbaren oder Druiden.“ Er wandte sich Jonah zu. „Daher schlage ich vor, dass wir unsere Suche fortsetzen und die Toten verbrennen, so schnell es geht.“
Es gab nichts einzuwenden.

Stillschweigend schien Hadan anzunehmen, Jonah werde die Angelegenheit bis zu ihrem Ende durchstehen, und stillschweigend bewies Jonah ihm, dass es so war, indem er begann, Brandulfs Körper den Hang hinaufzuziehen. Der Nekromant fasste mit an, und zusammen hatten sie den zweiundfünfzigsten Toten von Schwarzfels innerhalb weniger Augenblicke neben die im Hof liegenden Paladine gebettet.
Die Krähen waren verschwunden. Nur die Fliegen umschwirrten die leblosen Körper. Einundfünfzig stille, zerfallende Gesichter sahen hoch in den Himmel.
Hadan ignorierte die Leichen, doch Jonah konnte sich ihrer Gegenwart nicht ganz entziehen. Manchmal meinte er, unter seinen Stiefeln eine Art feines Beben zu spüren, und es war dem Eindruck aufgeladenen Steins der vergangenen Nacht beunruhigend ähnlich.
Ohne es zu merken, hatte er dagestanden, das Gefühl der Klinge, die Brandulf durchbohrt hatte, noch in den Muskeln, die Aufmerksamkeit an dieses verhasste Beben gehängt.

Jonah schrak auf, als der Nekromant zu ihm trat. Offenbar war er im Gebäude gewesen.
„Seht Euch das an.“ Hadan hielt ihm einen dünnen Stapel Pergamentseiten hin, die mit einer Kordel aneinandergebunden waren. „Das habe ich gestern schon gefunden, aber erst jetzt, durch den Entschluss, nach dem Quell des Übels hier oben zu suchen, ist mir klar geworden, dass es wichtig sein könnte.“
Die Pergamentseiten enthielten Zeichnungen.
Irgendeiner der Männer der Missionstruppe war anscheinend mit der Aufgabe betraut worden, Skizzen des Bauwerks und der Bautätigkeiten anzufertigen. Jonah erkannte die zwei gedrungenen Wehrtürme auf einem Blatt, auf einem nächsten, was nach Plänen für Stallungen und andere praktische Gebäude aussah, und wieder auf dem nächsten Angaben zu Mauern oder Wänden.
„Die letzte Seite“, unterbrach der Nekromant ihn gedämpft.
Gemeinte Seite zeigte ein aus lauter Rechtecken bestehendes grobes Quadrat. Zunächst sagte die Zeichnung Jonah nichts, doch dann fiel sein Blick auf ein paar hingekritzelte Zeilen: Anmerkungen und Zahlen.
„‘Hundertzwanzig Platten‘“, las er ab. „‘Geringe Krümmung, ordentliche Qualität. Angeordnet zehn mal zwölf.‘“ Nebenan lagen die Toten, die Rücken auf abgetretenem Stein. Er sah hoch und in Hadans gespenstische Augen. „Platten. Das ist der Hof.“
„Der Hof, in dem wir gerade stehen.“ Da flackerte Erkenntnis in der Miene des Nekromanten auf, und eine Andeutung von Befremden oder sogar Furcht. „Sie haben ihn so angetroffen. Er ist der einzige Teil der Festung, den Eure Brüder nicht gebaut haben. Er muss ihnen wie ein glücklicher Umstand vorgekommen sein.“

Widerwillig, aber wie gebannt senkte Jonah den Blick auf seine Stiefel. Die Hofplatten waren bereits dagewesen, als der Zug der Lichtkrieger vor Monaten aus dem Wald auf diese Lichtung getreten war. Sicher hatte das Quadrat flacher Steine keinen Hof darstellen sollen, aber die Missionstruppe hatte es akzeptiert, wie es war, und die Festung rings darum errichtet. Irgendwo im Wald musste sich ein Steinbruch verstecken. Diese Platten aber waren älter. Eine Stätte.
Und unter ihr hatte das Übel auf die Eintreffenden gelauert.
Die Männer sahen einander schweigend an. Stehen zu bleiben, wo man war, erforderte plötzlich denselben Mut, den man brauchte, um nicht vor einem angreifenden Heer auszureißen.
Hadan war der Erste, der sich rührte. Nach kurzem Umherspähen ging er rasch zur Ostmauer hinüber, an deren Fuß ein paar vergessene Gegenstände lagen, darunter auch Waffen oder Reste davon. Mit einem Kampfhammer in der Rechten und einem Kriegszepter in der Linken kehrte er zurück.

„Hier.“ Er reichte Jonah den Hammer.
„Was soll ich damit?“
„Mir helfen, eine dieser Platten hochzustemmen.“ Als Jonah ihn nur wortlos anstarrte, fügte der Nekromant ungeduldig hinzu: „Irgendetwas befindet sich unter Schwarzfels. Glaubt Ihr ruhig an Plätze, die aus sich selbst heraus eine Aura erzeugen, aber mir ist noch kein Bauwerk begegnet, das so eine Theorie unterstützt hätte.“
Jonah nickte betäubt.
Sie wählten eine der Platten am Rand des Hofes aus, wo die Zeit an der festen Einfügung des Steins ins Erdreich gefressen hatte. Ohne langes Federlesen kniete der Nekromant sich hin und begann, die Erde längs des Rands mit dem Szepter wegzukratzen. Jonah trieb die Spitze des Kampfhammers in die Lücke zwischen dieser und der nächsten Platte, um den Stein zu lockern. Sie arbeiteten stumm, wie besessen.

Um sie herum schüttelte Schwarzfels seinen Schlummer ab. Die Luft schien sich zu verdichten, bis man für jeden gewohnten Atemzug zwei benötigte. Staubteilchen hingen schwerelos über dem Boden. Der Nekromant spürte es auch, Jonah sah es an seiner verbissenen Miene.
Nach einer Weile hatten sie den äußeren Rand der Platte und tiefere Spalten rings um sie herum freigelegt. Hadan bohrte das Szepter unter den Plattenrand, während Jonah versuchte, den Hammerdorn wie einen Hebel in der Spalte anzusetzen.
Das Steinrechteck maß sicherlich sechs mal vier Fuß und musste Einiges wiegen. Eisen scharrte. Sie atmeten schwer.
Dann plötzlich ruckte die Platte. Jonah lehnte sich zurück und zog mit aller Kraft an dem Kampfhammer. Der Nekromant stemmte sich auf den Stiel des Szepters.
Langsam und kratzend kam die Platte hoch, und schließlich konnten die Männer sie auf eine benachbarte Platte schieben.
Dunkler Boden tauchte auf. Aber nicht nur das.
Sie wichen jeder einen Schritt zurück.

Was halb im Boden begraben war, sah auf den ersten Blick aus wie die Beinpanzer großer Krustentiere, lange, gewölbte Formen aus irgendeinem rötlichschwarzen Material. Mit enger Brust, den Atem angehalten, wartete Jonah, bis sein Verstand die Distanz zwischen Ahnung und wirklichem Begreifen aufgeholt hatte.
Es war eine Hand. Mehr als dreimal so groß wie die eines Menschen, in einander überlappende Fingerschutzstücke einer Rüstung gekleidet. Sie nahm zwei Drittel des Raums unter der Platte ein, mit dem Boden verschmolzen, und der gewaltige Arm, in den sie überging, verschwand unter der angrenzenden Platte.
Jonah gegenüber murmelte der Nekromant Worte in einer fremden Sprache, der Sprache seiner Heimat vermutlich. Ob er eine Verwünschung ausstieß oder betete, war nicht herauszuhören.

„Ihr hattet Recht“, zwang sich Jonah zu sagen. Er musste sich räuspern. „Unter Schwarzfels liegt tatsächlich etwas versteckt.“
„Amansuya.“ Hadans Stimme war ähnlich belegt wie seine.
„Wie bitte?“
„Ein Dämon.“ Die fahlen Augen lösten sich von der freigelegten Vertiefung und den fremdartigen Formen und trafen Jonah. „Unter der Festung befindet sich die Ruhestätte eines Dämons. Ihr habt doch sicher auch in der Westmarsch Annalen von der Existenz einer oberen Sphäre.“
„Natürlich“, antwortete Jonah.
„Was“, fuhr der Nekromant fort, „wenn ein Bewohner dieser Sphären gezwungen worden wäre, sie zu verlassen? Da oben wird sicher auch gekämpft. Und Besiegte fallen.“
„Wollt Ihr damit sagen, ein leibhaftiger Dämon ist auf diese Lichtung herabgestürzt?“ Noch während er seine eigene, ungläubige Stimme hörte, traf es Jonah wie ein Schlag. „Grundgütiges Licht, mein Traum.“
„Würdet Ihr Euch freundlichst erklären?“, bat Hadan ihn.
„Ja, selbstverständlich.“ Der Paladin fuhr sich mit der Rechten über den Nacken. „In einer der Nächte auf dem Weg hierher habe ich von einem seltsamen Ereignis geträumt. Da war eine Lichtung. Es war Nacht. Dann kam etwas aus dem Himmel.“
„Das da?“ Hadan wies mit dem Kinn auf den Boden.
„Nicht direkt. Eher eine Art Leuchten.“ Jonah machte die Augen schmal. „Es schlug ein. An mehr kann ich mich nicht erinnern.“

Wieder sagte Hadan ein paar Worte in einer fremden Sprache. Schließlich leckte er sich über die Lippen. „Gut. Was auch immer hier vorgefallen ist, diese Überreste haben sich irgendeine Essenz bewahrt. Sie vergiftet die gesamte Umgebung. Und ich glaube, sie nährt sich von lebenden Menschen – und von den Fetzen an Lebenskraft, die sie in Toten finden kann.“
Sie wechselten einen der vielen Blicke stummer Verständigung des Tages.
Jonah sah zu den Reihen der Leichen hinüber. „Wir müssen sie bestatten.“
„Ja.“ Der Nekromant streckte sich zu seiner vollen, recht beeindruckenden Größe. „Und wir sollten für sie beten. Wir beide. Tun, was nötig ist, um ihre Bindung an diesen Ort zu kappen.“
Sie ließen die weggeschobene Steinplatte so liegen, wie sie war. Vielleicht hatten Bewohner dieses Waldes den unwahrscheinlichen, riesigen Leib gefunden, der auf der Lichtung aufgetroffen war, und ihn mangels besserer Möglichkeiten zu verscharren und mit Steinplatten in seinem Grab zu halten versucht. Doch damit hatten sie ihn nur vor den Augen verborgen, nicht vor dem tieferen Bewusstsein.
Die Männer machten sich zum Waldrand auf, um Feuerholz zu beschaffen - genügend Holz für Scheiterhaufen, die hoffentlich heiß genug brennen würden, um die Toten von Schwarzfels zu erlösen.


*


Als sie damit fertig wurden, das Holz aufzuschichten und die Leichen auf den flachen Stößen auszubreiten, schwand das Tageslicht. Es war noch viel zu früh für die Dämmerung, erst die zweite oder dritte Stunde nach Mittag.
Hadan sah in den Himmel. Mächtige, schiefergraue Wolken rückten langsam zu einer Schicht über dem Wald zusammen. Sie hingen so tief, dass man meinen konnte, nur auf einen hohen Baum klettern zu müssen, um sie berühren zu können.
„Das sieht nach Regen aus“, sagte der Nekromant zu Pereîs.
Der Paladin trat von einem Holzstoß zurück, auf den sie soeben den letzten Toten gelegt hatten, und schaute ebenfalls nach oben.
Hatte er bei ihrer Begegnung noch den Eindruck eines im Grunde sehr reinlichen Mannes gemacht, starrte er jetzt vor Dreck. Schweiß und Staub tönten seine Haut dunkler, das Haar, sonst vielleicht ein helles Braun, wirkte fast schwarz. Der Bartschatten, den er zwischenzeitlich abrasiert hatte, kam zurück und ließ ihn Jahre älter aussehen, als er sein konnte.

Um Hadan selbst stand es übrigens nicht besser. Durch das Herumhantieren mit zahllosen Ästen und mit Toten, die sich in allen nur erdenklichen Stadien der Verwesung befanden, waren sie beide harzverklebt, schmierig und stanken vermutlich eine Meile gegen den Wind nach dem penetranten Miasma offener Gräber.
Sie waren während ihrer Arbeiten nicht gestört worden.
Wenn nun allerdings schwere Regenfälle kamen, würde es unmöglich werden, die Feuerbestattung der Toten von Schwarzfels wie geplant durchzuführen.
„Besser, wir beeilen uns.“ Hadan ließ einen letzten Blick über die Scheiterhaufen wandern. Dann sah er Pereîs an. „Was ist mit Eurem Freund?“
Entgegen seiner Erwartung behielten Pereîs‘ Züge ihre Härte und glatte Entschlossenheit der vergangenen Stunden. Entweder war dieser Mann ausgesprochen wandlungsfähig, oder die jüngsten Ereignisse hatten ihn so getroffen, dass alles Weiche an ihm wegschmolz. Hadan wünschte ihm Ersteres. Und nicht nur ihm.

Man durfte sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es sich bei Jonah Pereîs um eine einflussreiche Figur in der Westmarschener Politik handelte. Trotz seiner Randstellung – Hadan konnte sich gut ausmalen, wie Pereîs aufgrund seines Äußeren und seines Auftritts behandelt wurde – war er in der Lage, Ordensväter, Stadträte und Heerführer in ganz bestimmte Richtungen zu lenken, und genau das hatte er, soweit Hadan die Gerüchte zu filtern wusste, auch seit Jahren getan.
Neben dem Osten war die Westmarsch die größte Macht in Sanktuario. Allein Kingsport beherbergte dreitausend geweihte Paladine und konnte im Kriegsfall ein aus Lichtkriegern und Laien gemischtes Heer von zwanzigtausend Mann aufstellen. Wenn sich der Orden des Lichts dazu entschloss, gesammelt gegen ein anderes Gebiet zu ziehen, würde er kaum aufzuhalten sein, oder nur unter Verlusten, die Sanktuarios bisherige Klassenverteilung vernichteten. Kehrte Pereîs verändert, verhärtet und voller Groll von dieser Reise zu seinem Orden zurück, konnte er sehr viel Schaden anrichten.
Darum musterte Hadan ihn jetzt auch ganz genau.

„Er wird mit bestattet“, beantwortete Pereîs seine Frage. „Würdet Ihr mir helfen, ihn zu holen?“ Sein Tonfall war beherrscht, fast aufgeräumt.
Der Nekromant nickte. Gemeinsam betraten sie die Festung und dann den Vorraum.
Nachdem sie den Diener in ein sauberes Hemd aus seinem Reisesack gekleidet hatten, trugen sie ihn auf der Decke in den Hof hinaus und zu den Scheiterhaufen hinunter.
Die Holzstöße befanden sich auf halber Höhe am Hang, in einer Entfernung zu Schwarzfels, die den Männern ratsam erschienen war. Es war eine große Ansammlung einzelner Haufen geworden, mit immer etwa fünf Toten auf einem Holzstoß, elf Stöße an der Zahl. Kaum zu glaube, dass sie dies zu zweit vollbracht hatten, doch der Nekromant wusste, dass seine Muskeln ihn am nächsten Tag getreulich an die Schufterei erinnern würden.
Der Körper des Dieners bekam einen Platz für sich allein, auf einem kleineren Holzstoß. Sie wuchteten ihn hinauf, dann trat Hadan zurück.
Sich äußerlich gebend, als sei er in Gedanken versunken, stand er mit niedergeschlagenen Augen da und beobachtete Pereîs heimlich.

Als der Paladin seinem Freund die Hände auf der Brust faltete, bekam seine Miene endlich den Sprung, auf den der Nekromant gewartet und gehofft hatte. Die Rechte noch auf den Händen des Toten, hörte Pereîs für eine kleine Weile auf, sich zu bewegen. Seine Kiefermuskulatur bewies, dass er rhythmisch die Zähne aufeinanderbiss. Dann trennte er sich von seinem Freund und gesellte sich zu Hadan.
Es war inzwischen fast nachtdunkel. Erste Regentropfen pochten auf das Holz der Scheiterhaufen.
Die Männer gingen jeder mit einem brennenden Ast an den Haufen entlang und entzündeten sie. Zum Glück war das Holz trocken. Das Feuer ergriff schnell Besitz von allem, was es berührte.
Die brennenden Scheiterhaufen erhellten die ganze Lichtung, warfen flackerndes, kränklich gelbes Licht auf Bäume, den Hang, Pereîs‘ Gesicht.
Rauch stieg auf. Zwischen den Flammen lagen die Toten, schwarze Gestalten, alle auf dieselbe Weise aufgebahrt. Brandulf, der ehemalige Unterkommandant von Madalën, befand sich unter ihnen.
Neben Hadan zog Pereîs sein eines Schwert aus der Gürtelscheide. Der Paladin starrte noch kurz ins Feuer, das zu einer gewaltigen Lohe anwuchs. Dann schlug er die rituelle Geste seines Ordens, ging auf ein Knie nieder, beide Hände am vor sich aufgestellten Schwert, und senkte die Stirn auf den Knauf der Waffe.
Der Nekromant hörte ihn beten. Pereîs‘ sanfte Stimme war vor dem Prasseln und Knacken der Flammen eben noch zu verstehen.

Mehr Regentropfen fielen, verzischten im Feuer. Hadan sammelte sich und begann sein eigenes Gebet, das sich an seinen erwählten Gott richtete, Pakhra, den Herrn des Todes und der Zwischenwelten.
Er hatte diese Männer, die da vor ihm verschmorten, nicht gekannt, und er stand der Klasse der Paladine misstrauisch und zweifelnd gegenüber. Aber kein Mensch durfte auf so eine Weise zugrunde gehen, den Einflüsterungen höherer, übelwollender Mächte ausgeliefert, dem Wahnsinn überantwortet, mit entsetzlichen Verbrechen beladen, allein unter den Rädern des Schicksals.
Dessen eingedenk, drückte Hadan seinem Stolz die Luft ab und empfahl Pakhra die Seelen der Toten. Er bat ihn, sie aus dem Griff des Unheils von Schwarzfels zu befreien und sie mitzunehmen. Sie Ruhe finden zu lassen.
Pereîs‘ Worte in der Gemeinsamen Sprache, die die Westmarschener benutzten, und Hadans eigene Worte in Jabrah, der Zunge des Ostens, flossen ineinander, bildeten ein Ganzes.
Schließlich erhob sich der Paladin. Er wartete, bis der Nekromant sein Gebet beendet hatte. Vielleicht lauschte er auch.
Hinter ihnen drang allmählich dasselbe fahle Leuchten aus dem Festungsgelände wie in der vergangenen Nacht. Man brauchte sich nicht einmal danach umzudrehen, man spürte es in den Knochen und in der Seele.
Die Männer standen und sahen dem Feuer zu. Lange.
Zu lange, wie sich herausstellte.

Plötzlich streichelte eine Fingerspitze der Warnung Hadans Inneres. Eilig riss er seine Konzentration von der Verbrennungsstätte und Pakhras nachklingender Gegenwart weg und schleuderte sie in den unnatürlich verdunkelten Nachmittag hinaus. Als er das Häuflein Lebenslichter erfasste, senkte sich Schreck in seine Glieder. Schreck, aber keine wirkliche Überraschung.
„Macht Euch bereit“, sagte er zu Pereîs und wandte sich suchend dem aufsteigenden Hang zu. Die Lebenslichter näherten sich aus dem Wald hinter der Festung. „Sie kommen.“
Der Paladin fuhr herum.
Sie spähten den Hang hinauf. Das Leuchten hing böse über den gedrungenen Gebäuden. Sogar bis dorthin reichte der Widerschein des Feuers, malte orangefarbenes Flackern auf Steine und fernere Bäume.
Aus dem Halbdunkel dahinter kamen vier oder fünf Gestalten, hochgewachsen, massig. Barbaren.
 
Hast du uns etwa wieder vergessen? :(

:hy:
 
Sorry, war im Urlaub!



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XII. Ein Plan




Der Widerschein der brennenden Scheiterhaufen tauchte den Hang und die Festung in gespenstisches Licht. Unter dem niedrigen, regenschwangeren Himmel war die Lichtung zu einem schwelenden Becken geworden.
Die Gestalten, die hinter Schwarzfels aus dem Wald kamen, betraten dieses Becken wie lebendige Halbgötter. Jonah zählte fünf. Sie wirkten riesig, grobschlächtig, und sie näherten sich mit festen Schritten.
Er hatte sämtliche Berichte der Ordensarchive, die das Nordvolk erwähnten, durchgelesen. Er hatte versucht, sich ein Bild von den Menschen zu machen, die im äußersten Norden Sanktuarios wohnten, zurückgezogen und geheimnisvoll, ohne Zugang zu den Bequemlichkeiten und dem Schutz fester Städte.
Aber nichts, verstand er jetzt, hatte ihn angemessen auf sein erstes Aufeinandertreffen mit Barbaren vorbereitet. Waren sie dem Rauch und dem Feuerschein der Leichenverbrennung gefolgt? Wenn ja, dann musste es Siedlungen in einiger Nähe geben. Womöglich, bedachte man Brandulfs Worte, waren sie auch hier, um nachzusehen, wohin es ihren Halbbruder, der Madalën hatte aushorchen sollen, verschlagen hatte.

Jonah zog das zweite Schwert. Das Herankommen dieser Hünen war mit keiner anderen Gefahr zu vergleichen, an die er sich erinnerte, und er merkte, wie sich stählerne Bänder aus Ehrfurcht und Angst um seine Brust zusammenzogen.
Neben ihm stand der Nekromant. Ein hastiger Seitenblick zeigte Jonah sein weißes, angespanntes Gesicht.
Der vorderste der Barbaren, vielleicht hundert Schritte entfernt, war zielstrebig am Festungshof vorbeigegangen. Nun fiel er in einen lockeren, bedrohlichen Trab. Auch seine Begleiter trabten los, würden im Handumdrehen hier sein, und dass sie die zwei Fremden nicht anriefen, verriet alles über ihre Absichten.
Die Zeit der Nachforschungen und Versteckspielchen war vorbei.
Jonah wich ein paar lächerliche Schritte zurück. Was ihn anbetraf, hatte er solchen Gegnern nicht das Geringste entgegenzusetzen. Immerhin brannten die Scheiterhaufen lichterloh. Mit ein wenig Gnade seitens des Lichts hatten er und der Nekromant die Toten dem Zugriff des Unheils von Schwarzfels entrissen.
Der vorderste Barbar war nur noch zwei Dutzend Schritte entfernt. Das schweflige Licht enthüllte breite, kantige Züge mit glimmenden Augen, einen Hals wie einen sehnendurchzogenen Baumstamm und Körpermaße, die jene der größten und kräftigsten Männer der Westmarsch weit in den Schatten stellten.
Gemurmel klang neben Jonah auf. Der Nekromant wirkte einen Fluch.

Der herantrottende Barbar stolperte plötzlich, kam fast zum Stehen und beugte sich leicht vornüber. Auch die anderen vier Barbaren wurden deutlich langsamer, wie Läufer, die eine unsichtbare Ziellinie überschritten haben und sich dem Erschlaffen aller Anspannung hingeben.
Geduckt und lauernd standen Jonah und der Nekromant da, während die Männer vor ihnen mit den Wirkungen des Fluchs rangen. Möglichkeiten gab es nicht viele. Sie konnten die Flucht antreten, doch sobald ihre Gegner sich von Hadans Verteidigungskniff erholt hatten, würden sie sie jagen und irgendwann im Wald unterhalb der Festung einholen.
Der vorderste Barbar knurrte hörbar. Dann hob er den Kopf und begann erneut, auf sie zuzugehen. Er hielt ein einziges, gewaltiges Schwert in den Händen, eine Waffe, die einen Paladin und einen nur mit einem Dolch ausgerüsteten Nekromanten in blutige Stücke hacken würde.
Zwei weitere Barbaren näherten sich von rechts, zweifellos um Hadan anzugreifen. Sie waren mit Äxten bewaffnet.
Jonah und der Nekromant wichen auseinander, mussten sich trennen, um nicht eingekreist zu werden. Niemand sprach ein Wort, nur die Scheiterhaufen prasselten.

Und dann war Jonahs Gegner da. Der Beidhänder kam auf Brusthöhe herangezischt, mit einer Wucht, die die Luft brummen ließ. Jonah entging der Schneide knapp, indem er, je ein Kurzschwert in einer Hand und mit offenen Armen, zurücksprang. Der Hang war zu uneben für sicheren Stand.
Der Barbar bremste seine Waffe und wiederholte die Attacke, diesmal von der anderen Seite her. Er roch durchdringend nach Schweiß und Leder, und er hatte keine Eile, verfolgte Jonah mit Schritten, die den Boden zum Erbeben brachten. Wie durch ein Wunder gelang es dem Paladin, nicht in zwei gleichgroße Teile zertrennt zu werden. Dieselbe Attacke, dasselbe verzweifelte Ausweichen.
Er mit seinen Kurzschwertern würde dem Barbaren nie nah genug kommen können, um einen Hieb anzusetzen. Nicht auf vernünftigem Wege jedenfalls.
Jonah fühlte die Hitze eines Scheiterhaufens im Rücken, sah das Gesicht seines Gegners jetzt deutlicher, vom Feuerschein übergossen: fleischig, fest, wettergegerbt, ohne Bart, aber mit dunklen Stoppeln um den grimmig geschlossenen Mund. Der Barbar holte zu einem weiteren Hieb aus.

Mit hämmerndem Puls stürmte Jonah vor, direkt auf den wuchtigen Leib zu, der da vor ihm aufragte, dem er vielleicht bis zu Schulter reichte, vorausgesetzt, er stellte sich auf einen Schemel.
Die Schneide des Beidhänders sauste über ihn hinweg. Er hielt sich nicht mit Zielen auf, führte beide Schwerter einfach gegen die Masse des Gegners, so fest er konnte. Das linke Schwert traf, das rechte nicht – der Barbar hatte seine Finte noch im Zuschlagen durchschaut und sich gegen den Schwung der eigenen Waffe halb zur Seite gelehnt. Jonah hörte zischendes, dunkles Einatmen. Blut spritzte ihm auf die Hand. Dann, während er versuchte, der unmittelbaren Nähe des Gegners mit Ausfallschritten zu entgehen, traf ihn etwas an der Schulter, vermutlich eine Faust, die den Beidhänder losgelassen hatte.
Für die Dauer eines Blinzelns wurde die ganze Welt schwarz. Der Hieb war ungeheuerlich. Jonahs Schulter blieb zu seiner Verwunderung am Rest seines Körpers hängen, anstatt wegzubrechen oder in tausend winzige Knochensplitter zu zerstäuben, aber sie gab den Treffer nur weiter, und er schleuderte Jonah von den Füßen und auf die Seite.
Er kam im Gras auf, keine Luft mehr in den Lungen, explodierende silberne Kreise vor den Augen.
Halb blind rappelte er sich auf, stand dann gekrümmt da, die Schwerter in Verteidigungshaltung. Der Barbar schritt erneut auf ihn los. Er hatte eine sehr kurze Zeitspanne gewartet, begriff Jonah – gewartet, bis der Gegner sich erhob, anstatt ihn im Liegen abzuschlachten.
Aber solche Betrachtungen waren müßig. Der Barbar würde ihn vor sich hertreiben, bis er nicht mehr ausweichen konnte, und ihn dann niedermachen.
Der kurze Kampf hatte es Jonah nicht erlaubt, nachzusehen, wie es um den Nekromanten stand. Dass dieser noch lebte, zeigte sich einen Herzschlag später.

Plötzlich stöhnte die Luft. Über dem Kopf jedes Barbaren erblühte ein grünlicher Schimmer, wie ein Sonnenfleck in einer ganz falschen Farbe. Während Jonah mit erhobenen Schwertern auf diese Erscheinung starrte, ging eine seltsame Veränderung mit seinem Widersacher und den vier weiteren Hünen vor.
Sie waren samt und sonders stehen geblieben. Sie wirkten, als hätten sie jede Orientierung verloren.
Dann, unvermutet, wandte sich der Barbar vor Jonah um. Steif, leicht wankend, begann er auf den nächststehenden Hünen zuzugehen, einen der zwei, vor denen Jonah die Gestalt des Nekromanten erkannte. Der zweite Barbar ließ seine Axt in der Hand pendeln, musterte den ersten.
Im Hintergrund ertönte plötzlich ein wutgefleckter Schmerzenslaut, und als Jonah hinsah, zog eben einer der restlichen Barbaren seine Waffe aus einem merkwürdig schlaffen Hieb zurück – einem Hieb gegen den Kämpfer an seiner Seite.

Mit wackligen Knien und keuchend verfolgte der Paladin, wie sich die schweren Körper der Barbaren in Feindseligkeit ballten, wie ihre Besitzer neue, unbeholfene Ausfälle gegeneinander machten. Der Schlag gegen seine Schulter musste ihm die Sinne verwirrt haben.
Vor ihm führte der wortlose, unerklärliche Tanz aus taumelnden Angriffen und Ausweichbewegungen die Barbaren allmählich vom Ort der Auseinandersetzung weg. Noch immer schwebten grüne Lichter über ihren Häuptern.
Zwei brachen plötzlich aus, rannten schwerfällig zu den Bäumen, die den Hang säumten – der eine fliehend, der andere verfolgend. Ein dritter entfernte sich in Richtung der Festung, von Rauchschwaden verzerrt. Die letzten beiden folgten ihm kurz darauf wie zänkische Hunde, die zum selben Rudel gehören, aber in schwelender Aggressivität und Abneigung nacheinander schnappen.
Wieder trieb Rauch über den Hang, fett, stinkend, vom Feuerschein beleuchtet. Die Barbaren tauchten darin unter. Schwere Schritte verklangen.
Dann waren sie fort.

Jonah wagte es nicht, die Schwerter wieder einzustecken. Den Gestank der Scheiterhaufen in der Nase, beobachtete er den Hang, die Festung, die Schatten des Waldes. Immer mehr Regentropfen kamen herab und berührten kühl seine Stirn.
Die Barbaren tauchten nicht wieder auf.
Er schaute zu Hadan. Der Nekromant lag mit gesenktem Kopf auf den Knien. In seiner rechten, ins Gras gestemmten Hand blinkte das gewellte Messer.
Jonah eilte zu ihm. Der Ursprung der grünen Irrlichter, die die Barbaren gegeneinander aufgebracht hatten, war ihm jetzt klar. Er ging neben dem Nekromanten in die Hocke und versuchte zu erkennen, ob der andere Mann verwundet worden war.
„Ihr habt sie vertrieben“, hörte er sich heiser sagen. Die Kehle brannte ihm vom Rauch.
Hadan antwortete nicht. Er blieb auf Knien, offenkundig erschöpft, doch nach einer Weile hob er den Kopf. Ihm war Blut aus der Nase über Mund und Kinn gelaufen, und jetzt wischte er es fahrig mit dem Handrücken ab.
„Was habt Ihr getan?“, fragte Jonah besorgt und befremdet. „Ihr blutet. Seid Ihr verletzt?“
„Nein.“ Es kam eine Spur ungeduldig. Hadans merkwürdige Augen hefteten sich auf ihn, und er wiederholte schließlich etwas ruhiger: „Nein. Es geht schon. Manche Kunstgriffe fordern ihren Tribut.“
Da dämmerte es Jonah, dass der Nekromant keinen Fausthieb ins Gesicht erhalten hatte. Das Blut stammte aus seinem Inneren.
Der Paladin erhob sich und suchte den Hang und das Festungsgelände erneut nach vielleicht zurückkehrenden Gegnern ab. Aber für den Moment blieben sie die Einzigen auf der Lichtung. Er musterte das Profil des Nekromanten, ausnahmsweise einmal von oben her, da er stand und der Andere noch kniete.

„Ich glaube, Ihr habt mir das Leben gerettet“, sagte er. „Dafür meinen aufrichtigen Dank.“
„Götter!“ Hadan blinzelte zu ihm empor, ein schiefes Lächeln auf den Zügen. „Müsst Ihr auch noch Salz in die Wunden streuen?“
Und seltsam – am Ausgang einer um Haaresbreite tödlich verlaufenen Begegnung, das Herz noch übervoll von der Leichenverbrennung und Simons Tod, und mit dem keinesfalls erloschenen Glimmen von Schwarzfels im äußersten Blickfeld, konnte Jonah plötzlich zurücklächeln.
„Ich werde dem Licht Euren Namen empfehlen“, sagte er neckisch.
„Wozu das?“ Hadan rieb die blutigen Finger seines Handschuhs am Hosenbein ab. „Damit mich aus heiterem Himmel ein Blitz erschlägt?“
Übergangslos kam der Ernst zurück. „Dieser Fluch, den Ihr da gewirkt habt, greift er Euch immer derart an?“
Nach einem merklichen Zögern antwortete der Nekromant: „Sagen wir es so: Ich könnte ihn im äußersten Notfall wiederholen, vielleicht auch ein drittes Mal aussenden, aber danach wäre ich Euch nicht mehr viel nütze. Außer als Lockvogel womöglich.“
„Ich verstehe.“

Es gab unter den nekromantischen Praktiken also solche, die ihrem Verwender mehr abverlangten als ein bisschen Konzentration. Und anders als bei den Elementarkundigen, die höchstens sehr müde aus aufwändigen Machtdemonstrationen hervorgingen, schienen diese Praktiken mit echten körperlichen Gefahren für jene verbunden zu sein, die sie ausübten. Das klang nach einer sonderbar tiefen und beunruhigenden Verbundenheit zwischen einem Totenbeschwörer und den Quellen seiner Magie.
Allerdings war dies nicht gerade der richtige Zeitpunkt, um sich einem Interesse für die Pfade und Fähigkeiten anderer Klassen zu widmen.
Jonah reckte die verspannten Schultern. Die getroffene Schulter pochte dumpf und versprach, anständige Schmerzen noch nachzuliefern. Er war dem Tod ganz knapp entronnen, zum wiederholten Mal innerhalb weniger Tage, und er wusste, dass sich sein Glück irgendwann aufbrauchen würde.
Als habe er ähnliche Gedanken, erhob sich der Nekromant neben ihm. Obwohl er sichtlich versuchte, sich nicht zu viel anmerken zu lassen, war sein Aufstehen das eines alten Mannes.
„Denkt Ihr, sie werden wiederkommen?“, fragte Jonah ihn.
„Höchstwahrscheinlich.“ Hadan reckte sich ebenfalls und brachte sein Messer in einer Beinscheide unter. „Und diesmal mit mehr als fünf Kriegern.“
„Dann wäre es klüger, wir wären nicht hier.“
Hadan musterte ihn. „Heißt das, Ihr seid fertig mit Schwarzfels?“

Die Frage traf Jonah unvorbereitet. Er hatte seit Simons Tod, oder nein, seit dem ersten Verspüren des Sogs, der von diesem elenden Ort ausging, nicht mehr wirklich über seine Ziele nachgedacht. Alles, was geschehen war, war irgendeiner drängenden Notwendigkeit entsprungen. Jetzt überfiel ihn seine und Hadans Entdeckung wieder – mit einer Mischung aus taubem Entsetzen und einer Ratlosigkeit, die in ihm gähnte wie das tiefste und schwärzeste Loch aller nur vorstellbaren Sphären.
Er wandte sich ab und sah zu den Scheiterhaufen hinüber. Unter dem immer noch dunklen Himmel sandten sie grell schwefliges Licht aus, und der Rauch rollte lautlos über den Hang.
Sie hatten einen Dämon gefunden, oder zumindest die gewaltigen Überreste eines solchen. Seine Seele hing immer noch an diesem Fleck Erde, ein Schatten seiner einstigen Bosheit, stark genug, um die meisten Tiere von der Festung fernzuhalten und Menschen, die sich zu lange hier aufhielten, in Geschöpfe zu verwandeln, die einander quälten und ermordeten.

Jonah wandte sich wieder dem Nekromanten zu. „Nein“, sagte er. „Ich bin noch nicht fertig mit Schwarzfels.“
Sein Gegenüber nickte langsam.
„Allerdings weiß ich nicht, was ich tun soll“, fügte der Paladin hinzu. Ihm fiel auf, dass er beinahe wie selbstverständlich annahm, auch Hadan werde hierbleiben.
„Oh, da habe ich vielleicht eine Idee“, sagte der Nekromant. „Keine ausgereifte. Vielleicht auch keine besonders gute, aber wir werden sehen.“ Dann lächelte er wieder, und aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, ungefähr so freundlich und einnehmend wie das eines Wolfs. „Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr eine Menge Vorschriften Eures Ordens brecht, Paladin? Gemeinsame Sache mit einem Schwarzkünstler machen. Gebete an fremde Götter dulden. Rache üben.“
„Ich tue das hier nicht aus Rache“, entgegnete Jonah.
„Nein? Dann habt Ihr Brandulf also nur getötet, um zu verhindern, dass er seine Brüder erreicht?“
Jonah hob das Kinn. „Gut“, sagte er im weichsten Tonfall, den er beherrschte. „Ihr habt Recht. Mein Seelenheil dürft Ihr trotzdem meine Sorge sein lassen.“ Sein eigenes Lächeln kam von ganz allein. „Ansonsten aber bin ich froh um Eure Gesellschaft, Schwarzkünstler.“
Hadan schüttelte den Kopf. „Kein Wunder, dass Euch sogar die Zauberer in ihre Kreise lassen. Ihr habt so eine Art.“
Jonah verbeugte sich leicht. Sie konnten jedes Quäntchen Heiterkeit gebrauchen. Sie wussten nicht, wie lange sie davon würden zehren müssen.


***


Durch das Fleisch über seinen Gedärmen schoss ein kurzer, scharfer Schmerz. Als er hinfasste, fasste er in etwas Feuchtes. Verwundert hob er die Hand vor die Augen. Sie war blutig.
Bisher war er mit schweren Schritten durchs Unterholz gebrochen, aber jetzt blieb Sahawc stehen. Über all seinen Sinnen lastete ein grüner Schleier, ein Nachzittern irrsinniger Blutgier, und sein Schädel dröhnte und war merkwürdig leer. Er stand da und konnte nichts tun als zu warten, bis sich der Schleier ein wenig gelüftet hatte. Als das endlich geschah, fielen ihn Bilder an. Bilder, die er so nicht hätte sehen dürfen, deren Klarheit und Bedeutung ihm aber sagten, dass es Dinge waren, die sich vor seinen Augen abgespielt hatten.
Zu Wut- und Feindesfratzen verformte Gesichter seiner Brüder. Waffen, die immer im Einklang miteinander geschwungen worden waren, plötzlich gegeneinander geführt. Vertraute Blicke, finster vor Hass.
Sahawc erschrak nicht leicht, aber jetzt schauderte es ihn. Brüder, die aufeinander losgingen?

Nein, da waren noch Andere gewesen. Zwei Männer.
Einen davon, den größeren, hatte Sahawc eben niederhacken wollen – da hatte der Mann im Zurückweichen eine sonderbare Geste vollführt. Danach war er in Bedeutungslosigkeit versunken wie ein Stein in einem Teich. Und danach, begriff der Barbar, hatte er selbst seine Brüder attackiert. Dasselbe musste ihnen widerfahren sein, dieselbe unheilige Verzauberung, und daher stammte seine Wunde.
Sie war allerdings nicht tief, nur ein Schnitt durch die oberste Schicht von Haut und Fleisch. Sahawc presste eine Hand darauf, während Zorn in ihm aufwallte. Der Zorn gebot ihm, auf der Stelle an den Ort der Auseinandersetzung zurückzukehren und den großen, weißhaarigen Mann für seine Hinterhältigkeit bezahlen zu lassen, dunkler Magier hin oder her, ihm den Schädel zu spalten und zuzusehen, wie sich sein weißes Haar rot färbte.
Doch je klarer er sah, desto mehr mischte sich der Zorn mit Sorge. Er war allein, davongekommen – und seine Brüder?

Ringsum stand der Wald in einem Dämmerlicht, das der Regenhimmel noch dunkler machte. Kein Glimmen von Gelb oder Orange zwischen den Bäumen, kein noch so schwacher Geruch von Rauch. Er musste ein beachtliches Stück von der verwünschten Festung entfernt sein.
Sahawc füllte seine Lungen. „Haral!“, rief er. „Erbor!“ Nichts. „Vraluf! Masec!“
Er wartete und lauschte vergebens, rief noch einmal, wartete länger, sich langsam um die eigene Achse drehend und den Blick ins Dämmerdunkel gebohrt.

Er konnte seine eigenen Spuren zurückverfolgen und nach seinen Brüdern suchen. Sein Herz befahl ihm, genau das zu tun. Aber die Tage, da ein Barbar nur seinem Herz folgen durfte, waren vorüber.
Arlef, sein Häuptling, hatte ihm und den anderen Kriegern eingeschärft, die Zeit des Verstandes sei angebrochen. Und Arlef musste von dem, was in Schwarzfels geschah, unterrichtet werden. Diese beiden Männer dort hatten Tote verbrannt, mehrere Dutzend davon, auf mächtigen Holzstößen, fast so wie es bei den Barbaren Brauch war. Waren diese Toten jene Westmarschener gewesen, die sich vor Monaten in Schwarzfels eingenistet hatten, wie es die Gerüchte wollten?
Und in der Festung oder über ihr hatte ein widerwärtiges, wütendes Licht gekauert, das in Sahawcs Erinnerung festsaß und ihm den Magen zusammenzog.
Er schaute sich ein letztes Mal um, dann setzte er sich in Trab. Wenn die Ahnen gerecht mit ihren Kindern verfuhren, würde er seine Brüder daheim antreffen. Wenn nicht, nun, dann gab es immer noch Rache.



***



Lange hatte der Rauch die gesamte Lichtung verpestet, aber mit dem Regen kam der erste, matte Wind. Er trieb die klebrigen Schwaden westwärts in den Wald. Man konnte wieder einigermaßen atmen, ohne zu meinen, am Ufer eines Kuraster Kanals zu stehen und einem großen Begräbnisritus beizuwohnen.
Es dunkelte. Der Regen ähnelte eher einem Nieseln. Hof und Mauern der Festung waren von all den hängenden und umherliegenden Leichen gesäubert und glänzten feucht im letzten, vagen Licht.
Trotzdem dachte Hadan nicht im Traum daran, sich mit seinen Streifen Dörrfleisch und dem Wegbrot an irgendeine Stelle dieses Gemäuers zu hocken. Die unter der Steinplatte freigelegte Hand des Dämons war unverändert, das hatte er nachgeprüft, die Knie etwas zu steif und ein unangenehmes Ziehen in den Eingeweiden. Aber Schwarzfels war es nicht entgangen, dass die Seelen der Toten jetzt auf Rauchschwaden und aufsteigenden Funken in eine andere Welt entflohen, oh nein. Die zuvor gehässige, zu Verwirrspielen und Folter aufgelegte Präsenz in der Festung erschien nun wacher, giftig wütend – ein seiner Nahrung und Unterhaltung beraubter Gefangener.

Jeder Schritt über die Steine war von Schwingungen begleitet. Von dem Eindruck, selbige Steine müssten im nächsten Augenblick bocken, aufbrechen und hochgehoben werden, um einem Wesen Platz zu machen, das aus seinem unfertigen Grab steigen würde wie ein niederer Gott.
Hadan hatte im Allgemeinen eine recht hohe Meinung von seiner eigenen Belastungsfähigkeit, aber auf dem Weg in den Vorraum und zurück war ihm das Herz in der Brust umhergeflattert wie ein angesengter Nachtfalter. Das Unterzeug klebte ihm an der Haut, als er den Hang erreichte.
Appetit hatte er kaum. Trotzdem durfte er nach der Anstrengung des Kampfes nicht fasten, oder die nächste Gefahr würde ihn nur mit milderen Flüchen in der Hinterhand vorfinden. Der denkbar heftigste Mittelpunktsspruch war vonnöten gewesen, um die Barbaren zu übertölpeln. Der nächste Gegner brachte vielleicht zehnmal so viele Gefolgsleute mit, und da konnte Hadan sie verlangsamen und mit Giftstaub bewerfen, soviel er wollte – sie würden ihn durch ihre schiere Übermacht besiegen. Er brauchte seine ganze Kraft.

Ein paar Dutzend Schritte unterhalb der Festung saß Jonah Pereîs am Hang, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Als Hadan sich neben ihm niederließ, verriet eine Straffung der Miene des Anderen, dass er ihn bemerkte, doch abgesehen davon rührte Pereîs sich nicht. Falls die Strapazen des Tages ihn ermüdet hatten, so war es eine störrisch am Durchhalten festgekrallte Müdigkeit mit wenig Gnade für sich selbst.
„Esst etwas.“ Hadan bot ihm die Fleischstreifen und das harte, braune Brot an.
Pereîs widmete den Nahrungsmitteln einen knappen Blick. „Danke, ich bin nicht hungrig.“
„Ich auch nicht“, sagte der Nekromant. „Aber wenn wir das Folgende meistern wollen, sind leere Mägen nur hinderlich.“
„Das Folgende.“ Pereîs lachte ein weiches kleines Lachen. „Ich tue mich immer noch schwer damit, zu glauben, dass wir wirklich in Schwarzfels ausharren wollen.“
„Das ist weniger eine Angelegenheit des Wollens als eine der Verpflichtung“, entgegnete Hadan und riss mit den Zähnen einen Fetzen Fleisch von einem Streifen ab. „Der moralischen Verpflichtung, gewissermaßen.“
Jetzt wandte ihm Pereîs doch voll das Gesicht zu. Darin stritt blankes Erstaunen mit Vorsicht.
„Ihr sprecht von moralischer Verpflichtung?“

Hadan setzte ihn einem langen Blick aus. „Nur weil ich ein Nekromant bin, heißt das nicht, dass ich kein Gewissen habe, Paladin“, erwiderte er. „Meine Klasse besteht nicht aus Ungeheuern und Schweinehunden.“
Pereîs hielt seinem Blick stand. „Ich weiß“, sagte er schließlich. „Vorurteile reichen tief.“
„Sogar bei Euch.“ Hadan versuchte, hinter Pereîs‘ seltsam vielschichtige, äußerlich jungenhafte Züge zu schauen. Zweifellos konnte sich dieser Mann in Vieles verwandeln, aber im Moment wirkte er aufrichtig.
„Sogar bei mir.“ Der Paladin seufzte, nickte zu den mitgebrachten Essensvorräten hin, und nachdem er einen Streifen Fleisch angenommen hatte, fuhr er fort: „Ihr sagtet vorher, Ihr hättet eine Idee.“
„Ja.“ Hadan holte tief Luft. Das Brennen in seiner Brust war verschwunden. „Wenn wir Schwarzfels den Rücken kehren, bleibt der Schatten des Dämons vermutlich so mächtig, wie er war. Es steht zu hoffen, dass er die Toten verloren hat. Aber er war lange hier oben, bevor Eure Brüder kamen, ohne von fünfzig Männern, ihrem Wahnsinn und ihrem Sterben zehren zu können. Trotzdem hat seine Macht dazu ausgereicht, sie die Dinge tun zu lassen, deren Ergebnisse wir gesehen haben.“

Schweigend hörte Pereîs zu. Tiefer am Hang begannen die ersten Scheiterhaufen vollständig niederzubrennen, und hinter den sitzenden Männern antwortete die Festung mit einem lautlosen, hohlen Wutstöhnen.
Hadan klammerte es aus, so gut er konnte. „Natürlich wäre es denkbar, dass wir die Dinge in ihrem Zustand belassen. Aber dass wir hier sind, Ihr und ich, wo man keine Zeichen eines Eingreifens durch die Leute dieser Gegend findet, scheint mir darauf hinzudeuten, dass uns das Schicksal eine Verantwortung in den Schoß wirft.“
„Meinetwegen“, sagte Pereîs. „Und was plant Ihr?“
„In den Lehren meines Gottes gibt es mehrere größere Riten.“ Hadan wählte seine Worte mit Bedacht – er musste einen Andersgläubigen überzeugen. Zum ersten Mal in knapp über dreißig Jahren. „Manchmal stoßen Vertreter meiner Klasse auf Orte, denen eine ähnliche Aura innewohnt wie diesem hier. Geschändete Begräbnisstätten, offene alte Schlachtfelder, Hinterlassenschaften schlimmer Verbrechen. Orte bedeutenden Leids. Sie können gereinigt werden, nach sorgfältiger Vorbereitung und durch das Abhalten eines bestimmten Rituals.“
Pereîs atmete hörbar ein. „Und Ihr denkt, so ein Ritual würde den Bann der Festung brechen?“
„Es wäre einen Versuch wert.“

„Beherrscht Ihr dieses Ritual?“ Diese Frage gestattete einem Außenstehenden einen besseren Einblick in Jonah Pereîs‘ Charakter, dachte Hadan, als es viele andere Äußerungen oder Handlungen hätten tun können. Er war in der Tat, für was die mit den Paladinen verfeindeten Elementarmagier ihn zu halten schienen – ein Vermittler, ein heimlicher Gesandter aller Menschen Sanktuarios.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Hadan gedämpft. „Wie gesagt, ich würde es versuchen wollen. Nicht aus überschäumender Liebe zu den Völkern dieser Gegend. Eher weil ich den langen Arm dieses Unheils fürchte. Wir wissen nicht, wie sich die Essenz des Dämons zukünftig verhalten wird. Aber wenn sie die Barbaren in ihre Fänge bekommt, wenn sie sich ausweitet und man ihr erlaubt, Ränke zu schmieden, könnte sie sich auch in andere Gegenden einschleichen.“
Für einen Moment sah Pereîs so aus, als habe er gute Lust, Verstand und Verantwortung in den Wind zu schießen. Doch dann sagte er: „In Ordnung. Wann würdet Ihr den Ritus durchführen wollen?“
„Bald“, entgegnete der Nekromant. „Diese Nacht noch. Aber ich muss mich vorbereiten.“
„Was, wenn Ihr scheitert?“ Pereîs hob die Brauen.
„Dann könnte vielleicht eine Menge von Eurer Entschlusskraft abhängen.“

Sie schwiegen danach und beendeten ihr Mahl, aber Fleisch und Brot hatten jeglichen Geschmack verloren. Sie kamen überein, mit einer Art Wache zu beginnen, ähnlich wie in der vorigen Nacht, damit Hadan beten konnte. Er wusste, dass er im Zustand vertiefter Zwiesprache mit Pakhra hilfloser sein würde als gewohnt, und der Paladin musste ihm den Rücken freihalten.
Zu anderen Zeiten hätte Hadan über solch eine Vorstellung gelacht. Jetzt aber war es ihm bitterernst mit ihrer launigen Schicksalsgemeinschaft.
Es hatte kaum Sinn, sich die wenigen anderen Nekromanten, denen er vertraute, herbeizuwünschen. Sie waren ein Meer und viele hundert Meilen entfernt. Er hatte nur Pereîs.
Im Rahmen dieser Wache hüteten sich die Männer davor, noch einmal das Gemäuer als Standort zu wählen. Stattdessen suchten sie sich einen Platz am Waldrand, nicht zu nah bei den Bäumen, aber auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft der Festung. Hadan wusste nicht, wie die dämonische Essenz auf das Ritual ansprechen würde, und fast ebenso wenig konnte er vorhersagen, in welchen Zustand er selbst eintrat, wenn er der doppelten Wirkung durch den Ritus und durch Schwarzfels ausgesetzt war.
Genau das teilte er Pereîs mit.

„Das klingt nicht sehr ermunternd“, urteilte der Paladin, nachdem Hadan seine Zweifel ausgesprochen hatte.
„Ihr könnt immer noch die Flucht ergreifen, sollten sich merkwürdige Veränderungen an mir zeigen“, sagte Hadan.
„Schlagt Ihr vor, dass ich Euch opfere?“
„Ich schlage vor, dass Ihr Eure Haut rettet, wenn es nicht anders geht.“ Hadan setzte sich mit unterschlagenen Beinen ins Gras. „Ihr seid dann auf Euch gestellt. Aber das ist kaum etwas Neues für Euch, nehme ich an.“
„Nein.“ Pereîs ließ sich ihm gegenüber nieder.
Der Nekromant nickte, dann holte er sein Crismesser hervor. Er reinigte es mit einer Tinktur aus einem der zahlreichen Töpfchen in seinem Gürtel. „Ich werde bald so aussehen, als sei ich mit offenen Augen eingenickt. Bitte sprecht mich nur an, wenn Ihr wirklich müsst.“
Pereîs musterte ihn mit seinem trügerisch duldsamen Blick. Tief darin flackerte trotz aller Furcht und Ungewissheit ein Funken Neugier auf. Er fragte nicht, wie lange es dauern werde oder worauf Hadan im Einzelnen hoffte, er saß nur wachsam da. Womöglich war seine eigene Bindung an die Magie dafür verantwortlich, dass er sich jetzt nicht wie ein Lichtkrieger verhielt, sondern fast wie der Schüler eines elementaren oder nekromantischen Zirkels.

Als Hadan seinen linken Ärmel hochkrempelte und die Messerschneide durchs Fleisch zog, schob Pereîs das Kinn vor, sagte jedoch kein Wort.
Geübt ließ der Nekromant ein Blutrinnsal auf den Boden laufen. In den Fundamenten seiner Seele drehte sich aus ewigen Schatten ein riesiges, knöchernes Antlitz zu ihm.
Hadan wechselte einen letzten Blick mit Pereîs, dann schaute er durch ihn hindurch.
Solange der Ritus noch im Werden begriffen war, sandte er alle Sinne in Richtung der Festung aus. Sie erstand mit beunruhigender Klarheit in seinem Geist. Das fahle Leuchten war wieder da, ein Nebelnest in der Nacht, und stärker als zuvor. Jeder Stein glühte mit etwas beinahe Lebendigem, das suchte und suchte und die weggeluchsten Seelen der Toten nicht finden konnte.
Dann sah Hadan mehr, weiter, tiefer in die Ursprünge des gefallenen Dämons hinein. Durchlässe in eine entsetzliche, aber auch fremdartig atemberaubende Welt taten sich auf, holten Formen heran, vielleicht gewaltige Bauten, vielleicht Treppen und Flure und offene Plätze aus glattem Material, aschgrau, golden und rot.

Er strengte sich an, Pakhras Gegenwart mit diesen Bildern zu verbinden. Wenn die Macht eines Gottes, an den nur ein Nekromant glaubte, gegen die Macht einer Kreatur, die seit Äonen auf ganz Sanktuario hinuntergeblickt hatte, aufgeboten werden sollte, musste Hadan Pakhra auf seine eigene Ebene hinunterziehen. Es war nötig, dass der Gott alles sah – Schwarzfels, die Geschicke der Menschen, den Frevel an Land und Verstorbenen. Das war die Vorbereitung des Rituals, dem er, Hadan, als Torweg diente.
Die Essenz des Dämons schwächen oder gar aufheben würde der Gott allein.
Doch als er sich auf die Verbindung zu Pakhra konzentrierte, begann sich das Gefühl, das ihm aus zahllosen Gebeten und aus einigen seiner Taten vertraut war, zu verzerren. Das Band glitt ihm durch die Finger.
Gleichzeitig fasste eine körperlose Hand aus dem Gemäuer zu ihm herüber. Sie schloss sich um ihn, bevor er dazu kam, das Ritual abzubrechen, aufzustehen und Fersengeld zu geben.
Am Boden festgenagelt, fast reglos in seine Sitzhaltung gepresst, beugte sich der Nekromant unwillkürlich vornüber.
Zeit pulste vorbei.

Aha, sagte jemand zu ihm – eine Stimme wie ein dunkler Bienenschwarm, wie das Aneinanderschaben riesiger Felsen -, da sei er also. Ob er etwas mit der Vernichtung der Kraftquellen zu schaffen habe, habe man noch nicht befunden, aber falls ja, könne er sich vorausschauend schon einmal auf exquisite Qualen vorbereiten, auf das Ende jeglicher Hoffnung. Dass die Kraftquellen hinfort seien, stehe wohl außer Zweifel. Aber er sei noch da. Dann müsse er eben als Ersatz herhalten.
Die Wut des Dämons war jetzt in Bahnen gelenkt, kälter, weniger verzweifelt. Sie drang durch Ohren, Nasenlöcher und Poren in Hadan ein, und er hätte schreien mögen, als sie ihn ansteckte. Sie wurde zu seiner Wut.
Seine Rechte packte das Messer, dass der Griff knirschte. Jemand rief seinen Namen.
Nicht mehr für lange. Er brauchte diesem Rufer, dieser falschgläubigen, lästigen kleinen Ratte nur die Zunge herauszuschneiden, und müsste sie nie wieder hören, diese sanfte Stimme.

Plötzlich knallte es.
Der Schlag war fest genug, um den Nekromanten aus dem Gleichgewicht zu bringen, riss ihm den Kopf zur Seite. Sich abstützend wie ein Betrunkener, sah er hoch.
Rotflackernde Gebäude stürzten in die Unendlichkeit zurück. Der Dämon verstummte.
Vor ihm kniete Jonah Pereîs und rieb sich eine Hand. Seine Stimme war nicht mehr sanft, sondern flach und hart. „Ihr müsst aufwachen, Hadan! Hört Ihr mich?“
Ächzend kämpfte sich der Nekromant in eine aufrechte Sitzhaltung zurück.
„Wart Ihr das -” Die Worte kamen dick, verschwommen. Überflüssig waren sie außerdem. Pereîs hatte ihm eine Ohrfeige verpasst.
Er schaute sich um. Es war dunkel, aber die letzten noch schwelenden Scheiterhaufen gaben genug Licht ab, damit er den Paladin erkennen konnte. Pereîs erhob sich. Sein Blick huschte zu einer Stelle hinter Hadan.
„Mit Verlaub, Euer Ritus schien mir fehlzuschlagen“, sagte er. „Aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem ich Euch gestört habe.“
Benommen vor Schwindel drehte Hadan den Kopf.
Schräg hinter ihm stand ein Mann am Waldrand. Auf dem Kopf trug er ein Hirschgeweih, und er hielt einen Bogen in den Händen. Der auf der Sehne liegende Pfeil war auf Pereîs gerichtet.
„Ihr Narren“, sagte der Fremde.
 
Du kannst ruhig öfter aus dem Urlaub zurückkommen...

:likeverymuch:
 
Dankeschön :>
Diesmal bin ich nur marginal zu spät.


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XIII. Helfer




Wegen seines Auftrags, und danach auch aufgrund des Sogs der verfluchten Festung, hatte er den Rat oder vielmehr die Warnung des Druiden nicht beherzigt. Jetzt stand derselbe Mann wieder vor ihm, und wieder war ein Pfeil auf Jonahs Brust gerichtet.
Diesmal aber hing eine Andeutung von Unsicherheit über der Gestalt mit dem Hirschgeweih. Der Druide war merklich erbost über ihre Anwesenheit, doch vielleicht fand auch er es unmöglich, sich der Aura des Ortes zu entziehen. Und Jonah hoffte inständig, ihm die Gründe für seine und Hadans Einmischung erklären zu können. Bestenfalls bevor der Pfeil die Sehne verließ.
Schweigen lastete auf ihrer Dreiergruppe.
Der Nekromant erhob sich mühsam, beobachtete den Druiden dabei finster.
Aus dem Augenwinkel sah Jonah, dass Hadan alles andere als im Vollbesitz seiner Kraft war. Zur Abwechslung ähnelte nun er einem Kranken, unsicher auf den Beinen, geschwächt, schweißnasse Haarsträhnen im Gesicht. Vermutlich wagte er es in seinem Zustand nicht, den Druiden zu attackieren. Vielleicht aber wollte er es auch gar nicht.
Irgendetwas in Jonah weigerte sich standhaft, ihn für jemanden zu halten, der unüberlegt oder vorschnell tötete.

Der Paladin wandte sich an den Neuankömmling.
„Es tut mir leid“, sagte er vorsichtig, „dass ich Eure Warnungen in den Wind geschlagen habe. Meine Verpflichtung meinem Orden gegenüber und dieser Ort haben mir keine Wahl gelassen.“
Spannung machte die Luft dick.
Nach einer Weile entgegnete der Druide: „Unsinn. Man hat immer eine Wahl.“ Sein Tonfall war eher feierlich als feindselig.
„Und die Entscheidung Eures Volkes, nicht einzugreifen?“, hielt Jonah dagegen. „Schwarzfels hat fünfzig Männer vernichtet, über Monate hinweg. Ich tue mich schwer damit, zu glauben, dass das den Menschen dieser Wälder entgangen sein soll. Trotzdem, darauf weisen die Spuren hin, haben sie nichts unternommen. Fällt nicht auch das unter freie Wahl?“
Ihm war bewusst, dass er mit seiner Dreistigkeit seinen Hals riskierte. Doch wie einige Male zuvor schon legte ihm ein sehr dünn gewordener Geduldsfaden Worte in den Mund.
Aus dem kaum erkennbaren Gesicht des Geweihträgers glänzten Augen. „Du hast kein Recht, mein Volk anzuklagen, Städter. Das hier ist unser Land.“
„Ich will dieses Land gar nicht“, erwiderte Jonah unverblümt.
„Doch deine Kameraden wollten es.“ Der Druide nickte zu den Scheiterhaufen hin.
„Zweifelsohne.“ Als Jonah das sagte, machte der Nekromant neben ihm eine Bewegung, vielleicht um ihm zu bedeuten, er solle sich gefälligst mäßigen. Jonah ignorierte ihn. „Aber ich bin nicht hier, um ihr Tun fortzusetzen. Ich hätte Eurem Wald auch schon längst wieder den Rücken gekehrt, und das mit dem allergrößten Vergnügen, wären da nicht die Überreste eines recht fremdartigen Wesens, die unter Schwarzfels begraben liegen.“

Lange starrte der Druide ihn an. Sein Verhalten und seine gesamte Erscheinung sprachen von einer Klasse, die Entscheidungen erst nach sorgfältigem Abwägen traf – es wohl musste, um sich zu schützen, weil sie keine Leben zu verschenken hatte.
In dem Moment, da der Druide den Mund öffnete, mischte sich eine vorübergehend außer Acht gelassene Partei ein. Von Schwarzfels kam, anders konnte man es nicht nennen, eine gestaltlose Nova der Bosheit, wie ein heftiger Druck, der einem anstelle des Haars die Seele durcheinander wehte.
Die drei Männer wandten sich gleichzeitig zur Festung um.
Der Druide stieß eine gemurmelte Verwünschung aus, und als Jonah sich dazu überwinden konnte, ihn anzusehen, zeigte der Pfeil nicht mehr auf ihn, sondern auf den Boden.
„Wir dürfen nicht hierbleiben“, sagte der Mann.

„Wenn du mir gestattest, darauf hinzuweisen“, meldete sich erstmals Hadan zu Wort, „- du hast uns bei einem Ritus gestört.“
„Tatsächlich, Totenbeschwörer?“ Der Druide funkelte den Nekromanten an. „Und sah es so aus, als wäre er erfolgreich, dein Ritus?“
Der Nekromant schwieg beredt.
Mit raschen Griffen brachte der Druide Bogen und Pfeil unter. „Folgt mir“, sagte er knapp. „Schnell jetzt!“
Jonah wechselte einen Blick mit Hadan. Welche Zeremonie der Nekromant auch immer im Sinn gehabt hatte, sie war fehlgeschlagen. Sie hatten das Unheil vielleicht von den Toten abgelenkt, aber nun suchte es sich neue Opfer. Sie waren Schwarzfels nicht gewachsen. Und der Druide trug seine Waffe jetzt über der Schulter, scheinbar bereit, sie vorerst als bloße Störenfriede zu akzeptieren.
„Kommt!“, drängte er sie.

Hadan folgte ihm als Erster. So selbstgenügsam und kaltschnäuzig der Nekromant auch auftreten mochte, er war sicher klug genug, um die Grenzen seiner Fähigkeiten zu erkennen, und womöglich sehnte sich sogar ein ausgemachter Einzelgänger wie er in dieser Lage nach Beistand.
Nach einem letzten Blick auf Schwarzfels ging Jonah den beiden größeren Männern hinterher.
Der Druide führte sie in den Wald hinein. Die Richtung, die er einschlug, ließ darauf schließen, dass er die Festung in einem großen Bogen umgehen und nach Norden weitergehen wollte.
Sie waren kaum eine Viertelstunde unterwegs, als Jonah wie angewurzelt stehen blieb. „Wartet“, sprach er ihren Führer von hinten an. „Die Pferde.“
„Ich habe deine Tiere losgebunden“, sagte der Mann, ohne anzuhalten oder sich umzudrehen. „Sie können am Hang grasen, sofern sie die Nähe der Schwarzen Steine ertragen. Bäche finden sich überall im Wald.“
Jonah zog die Unterlippe zwischen den Zähnen hindurch. „Wie Ihr meint.“
Wenn Mädchen sich ihr aufgewecktes Wesen bewahrt hatte, würde sie dem unseligen Ort die Kruppe zeigen und Simons Wallach mitnehmen. Sie zu verlieren, wog nicht allzu schwer gegen die Dringlichkeit des Auftrags.
Ihm ging auf, dass er nach und nach alles einbüßte, auf das er sich immer verlassen hatte – Simon, sein Pferd, seine Glaubensgrundsätze. Seine einzigen Gefährten waren zwei Kurzschwerter und ein Totenbeschwörer, den er kaum kannte.

Unter den Bäumen war es inzwischen völlig dunkel. Jonah hatte Schwierigkeiten, ihren Führer oder Hadan auszumachen, stolperte über Wurzeln, verfing sich manchmal im Unterholz. Immerhin hörte er das Knacken von Hadans Fortbewegung, und daran orientierte er sich. Der Druide machte praktisch überhaupt keine Geräusche, glitt durch den Wald wie ein Geist – allerdings wie einer, der auch aus mehreren Schritten Entfernung nach ungewaschener Haut und Tierfellen roch.
Sie ließen Schwarzfels hinter sich. Nach einer Weile gab der Bann der Festung sie frei. Jonah hörte es am tieferen Einatmen der beiden Anderen, und ihm selbst war, als habe er nach Tagen fieberhaften Umherstolperns endlich wieder zu sich gefunden.
Die Nacht schritt voran.
Ihr Führer gestattete ihnen keine Pause, sondern stieg wortlos und zügig bergaufwärts. Der Wald lichtete sich stellenweise. Tannen mischten sich unter die Laubbäume. Die Luft roch frischer, nach der Nachtkälte hoher Gebiete und flechtenbedeckten Felsen.

Vor Jonah mühte sich der Nekromant mit dem Weg ab. Er hatte nach seinen Anstrengungen nicht gerastet, und es war zu hören und zu spüren, was der Aufstieg in die Hänge ihm abverlangte. Das war ein entschieden kurioser Zeitgenosse, dieser Hadan – unbeirrbar in seinen Ansichten und vermutlich ein ziemlich tüchtiger Vertreter seiner Klasse. Beizeiten verbreitete er dieselbe Energie um sich her wie ein Heerführer. Als Mann jedoch wirkte er oft abweisend, schrullenhaft oder fast kalt, so als habe er nur sehr geringes Vertrauen in andere Menschen.
Wenn die Nekromanten im Osten feste Gemeinschaften bildeten, wie war es dann zu erklären, dass dieser eine Nekromant so viele Züge eines Ausgestoßenen zeigte? Hatte er sich drüben irgendwelcher Vergehen schuldig gemacht?
Nachdenklich stieg Jonah hinter den beiden größeren Männern bergauf. Allmählich verschwanden Bäume jeder Art. Sie waren nun wirklich in den Ausläufern jener Bergketten, die Jonah während seiner Kletterpartie auf die großen Felsen schemenhaft gesehen hatte.

Geschätzte zwei oder drei Stunden nach ihrem Aufbruch hielt ihr Führer zum ersten Mal an. Sie befanden sich zwischen beeindruckenden Felsen, in einem regelrechten Steinlabyrinth, durch das wahrscheinlich kein Fremder je einen Pfad gefunden hätte.
Im Rücken hatten sie nur den Himmel. Die Wolkendecke war aufgebrochen. Es regnete nicht mehr.
Der Druide stellte sich an den zum Tal weisenden Rand des Platzes. Hadan ließ sich auf einen hüfthohen Felsbrocken sinken und beugte den Kopf. Jonah hingegen trat neben ihren Führer, wahrte allerdings einen so großzügigen Abstand, wie es der Ort erlaubte.
„Wohin bringt Ihr uns?“, fragte er.
Der Druide musterte ihn. Ein Dreiviertelmond lugte durch Wolkenlücken, und sein Licht reichte aus, um die Umgebung einigermaßen zu erhellen.
„Zu meiner Höhle“, antwortete der Mann. Ihm war trotz seines Alters keinerlei Ermüdung anzumerken.
Jonah wusste nicht gleich, was er erwidern sollte. Vielleicht handelte es sich hier um einen unerwarteten Vertrauensbeweis – sofern sie nicht ganz simpel in eine Falle gelockt wurden. Vielleicht aber war es bei diesen Leuten bloß üblich, wichtige Dinge, und sei es auch mit Fremden, im Schutz der eigenen vier Wände zu klären. Dann jedoch bedachte Jonah, wie zurückgezogen die Druiden lebten, weit zurückgezogener noch als die Barbaren, und er beschloss, die Antwort ihres neuen Bekannten als winzigen Hoffnungsschimmer zu sehen.
„Das ehrt uns“, entgegnete er. „Außerdem verrät es, dass Ihr uns nicht fürchtet.“

Ein schmales Lächeln erschien auf dem Gesicht seines Gegenübers, aber die Augen darüber waren genauso schmal. „Ich fürchte dich und diesen Totenbeschwörer da drüben nicht, soweit mein eigenes Leben betroffen ist, Paladin. Eures Leichtsinns wegen fürchte ich euch jedoch sehr wohl.“
„Was wir getan haben“, ließ sich Hadan von seinem Sitz her vernehmen, „war kein leichtsinniges Unterfangen.“ Er klang immer noch eine Spur außer Atem, aber halsstarrig. „Der Ritus sollte die Macht des Dämons binden, oder sie brechen.“
Der Druide zeigte keine Verwunderung über die Bezeichnung ‚Dämon‘. Er wandte den Kopf nach Hadan. Die Stangen des Geweihs filterten das schwache Mondlicht.
„Ein Ritus deiner Gemeinschaft, nehme ich an“, sagte er.
„Ja.“
„Ist er jemals auf ein solches Geschöpf angewandt worden?“ Da war kein Ärger in der Stimme des Druiden, nur mitleidige Geduld.
Der Nekromant beherrschte sich sichtlich. Vermutlich geschah es nicht oft, dass man mit ihm sprach wie mit einem begriffsstutzigen Kind. „Nein“, gab er schließlich zu.
„Also doch ein leichtsinniges Unterfangen.“
Diesmal antwortete Hadan nicht, verschränkte nur die Arme vor der Brust.

Der Druide sah von ihm zu Jonah, dann wieder zurück. Plötzlich wirkte er, als falle das Bewusstsein der Überlegenheit von ihm ab.
„Ich will nicht reden, als sei ich klüger als ihr“, sagte er langsam. „Denn das bin ich nicht. Niemand ist klug, wenn es um die Schwarze Festung geht. Ich meine zu verstehen, dass ihr Gutes tun wolltet. Ihr habt es auf euch genommen, die Toten zu bestatten.“
Jonah atmete unwillkürlich tief ein. Die Schrecken der vergangenen anderthalb Tage und der mit ihnen verbundene Kummer schwelten unter einer Decke des Vergessens, außer wenn ein Moment der Besinnung sie erneut freilegte – so wie dieser. Er schaute den Berghang hinunter auf das nächtliche Hochland.
„Da ich an eure guten Absichten glaube“, fuhr der Druide fort, „habe ich euch aufgesucht. Ihr müsst begreifen, dass ihr allein nicht gegen die Schwarze Festung bestehen könnt.“
„Und was bietest du uns an?“ Hadan stand auf, groß und schwarz und leichenhaft blass im Mondlicht. „Deine Hilfe?“
„Zunächst einmal mein Haus“, entgegnete ihr Führer. Er wies mit einem langen, sehnigen Arm hangaufwärts. „Dort seid ihr sicher. Auch vor dem Zorn der Clans, mit denen wir diese Wälder teilen.“
Weder Jonah noch der Nekromant fragten, ob er ihren Zusammenstoß mit den fünf Barbaren beobachtet hatte. Es war möglich, und er schien viel über Schwarzfels und die Verhältnisse der Gegend zu wissen. Aber zweifelsohne war er auch jemand, der sich nicht würde drängen oder so ganz ohne Weiteres auf ihre Seite ziehen lassen.

Außerdem hielt er das Gespräch nun offenbar für beendet, denn er forderte sie mit einer Geste auf, ihm wieder zu folgen. Die Männer gehorchten schweigend.
Es ging stetig bergauf. Der Pfad wand sich manchmal schwindelerregend an der Bergseite entlang, und Jonah war froh, dass die Dunkelheit die tiefen Schluchten, an denen sie entlang stiegen und die er spürte, vor ihm verbarg. Wie lange sie dem Druiden hinterherstiegen, entzog sich seiner Einschätzung. Er konzentrierte sich auf seinen Atem und seine Füße.
Schließlich kamen sie auf einer Art natürlicher Plattform aus. Im Hang gähnte eine Höhle. Auf der anderen Seite der Plattform führte der Weg wieder zwischen große Felsen, und dahinter erkannte Jonah Tannen und weitere Hänge.

Während er und Hadan verschnauften, betrat ihr Führer die Höhle. Kurze Zeit später flackerte Feuerschein aus ihrer doppelt mannshohen Öffnung.
Der Druide kam zu ihnen auf die Plattform hinaus. „Ihr könnt eintreten“, sagte er. „Hier lebe ich.“
„Allein?“ Hadan strich sich das lange weiße Haar über den Kopf zurück.
„An manchen Tagen schlafen mein Sohn oder mein Vater in der Höhle“, antwortete der Druide freimütig. „Ansonsten aber bin ich hier allein, ja.“
Jonah verspürte einen Anflug seiner alten Neugierde, die sich stets an den Lebensgewohnheiten, Sitten und Strukturen aller anderen Klassen entzündete. Die Druiden waren bei Weitem nicht so zahlreich wie die Barbaren, und waren augenscheinlich auch nicht in Stämmen organisiert. War dieser eine Druide trotzdem ein Oberhaupt? Und wenn, wie verständigte er sich mit seinen Gefolgsleuten?
Er verkniff sich seine Fragen. Es kam ihm anständiger vor, sich der Lage anzupassen und die eben erst erlangte Gastfreundschaft eines Mannes, der ihn zweimal mit Pfeil und Bogen in Schach gehalten hatte, nicht über Gebühr zu strapazieren.

Selbige Gastfreundschaft erwies sich als karg, nahm sich gegen die letzten Tage allerdings wie purer Luxus aus. In der Höhle, nahe dem Eingang, wurden er und Hadan angewiesen, sich zu setzen, was sie vorsichtig taten. Dann erhielten sie jeder eine Holzschale mit Wasser und etwas Fleisch, das nach Vogel roch, vielleicht Rebhuhn oder Wachtel.
Der Druide ging einigen Verrichtungen nach, aber Jonah ahnte, dass er sie versteckt beobachtete. Während Hadan zögerte, trank er demonstrativ von dem Wasser und aß ein paar Happen. Nach einer kurzen Weile, als er nicht röchelnd umkippte, folgte der Nekromant seinem Beispiel.
Als sei das ein Zeichen, ließ sich der Druide ihnen gegenüber nieder. Der Feuerschein und die Nähe offenbarten sein langes, braunes Gesicht, struppiges dunkles Haar, von Grau durchzogen, und seine aus Tierhaut und Fellen bestehende Kleidung. Er hob die Hände und nahm das Hirschgeweih vom Kopf.

„Mein Name“, sagte er, „lautet Gellen.“
„Jonah Pereîs“, entgegnete Jonah.
Gellen schaute zu Hadan.
„Hadan Sakudhra“, sagte der Nekromant mit merklichem Widerwillen.
Der Druide musterte ihn offen. „Du bist weit weg von deinen Urwäldern und deinen Tempeln, Totenbeschwörer. In der Tat bist du der Erste deiner Art, den ich treffe.“ Er saß mit unterschlagenen Beinen, in einer Haltung, die bei anderen Menschen übertrieben würdevoll gewirkt hätte. „Ist es wahr, dass jemand wie du mit den Toten sprechen und ihre Leiber auferstehen lassen kann?“
Jonah legte seinen verbliebenen Fleischanteil behutsam in die geleerte Holzschale. Hadans Züge waren wie aus Stein gemeißelt. Der Feuerschein bekam seinen bleichen Augen nicht besonders gut, machte sie starr und leblos.
„Es gibt Praktiken, die das vollbringen“, antwortete der Nekromant. „Aber was ist mit dir, Druide? Ist es wahr, dass deine Leute in die Seelen lebendiger Tiere schlüpfen und die Erde mit nur einem Gedanken spalten können?“
„Manche können das“, erwiderte Gellen ruhig, aber mit einem Lächeln, das die Herausforderung widerspiegelte und nicht mehr allzu gastfreundlich aussah.

Jonah räusperte sich.
„In Bramwell, einer der Städte meines Ordens“, sagte er sacht, „soll es einen Lichtkrieger geben, der sich jeden Morgen auf dem Abtritt derart von der heiligen Kraft meiner Klasse erfüllt findet, dass das, was unten aus dem Abtritt fällt, den gesamten Hang unterhalb des Ordensgebäudes erhellt wie eine Sternschnuppe.“ Er lächelte die beiden Männer an, die sich ihm zugewandt hatten und ihn anstarrten. „Ich habe das selbst noch nicht gesehen. Aber natürlich könnte es wahr sein.“
In der nachfolgenden Stille musterte Hadan ihn, wie man vielleicht ein Kleinkind musterte, das am gestrengen Abendbrottisch plötzlich mit für sein Alter völlig unangemessenen Kraftausdrücken um sich wirft. Gellen aber lachte leise.
„Du hast Recht, Jonah Pereîs“, sagte er. „Wir sind nicht hier, um über die Fähigkeiten unserer Völker zu streiten. Oder über ihre Absichten.“ Er wurde ernst. „Wir müssen beraten, was wir tun können.“
„In Bezug auf Schwarzfels?“, fragte Jonah.
„Ja. Aber zuerst sollten wir ruhen.“ Der Druide machte eine Geste, die die gesamte Höhle einfasste. „Das ist ein weit besserer Ort dafür als jeder andere da unten in den Wäldern bei der Festung.“
Damit brach er das Gespräch ab. Aber er erhob sich nicht. Er blieb einfach sitzen und schloss die Augen, gegen die Höhlenwand gelehnt.

Und es war so viel Selbstverständlichkeit und Autorität in seinem Gebaren, dass nicht einmal Hadan mit weiteren Fragen aufwartete. Stattdessen, wie Jonah halb verwundert bezeugte, nahm auch er eine bequemere Sitzposition ein und senkte das Kinn auf die Brust, auch wenn seine Augen offen blieben.
Er selbst stand noch einmal auf und ging zum Rand der Plattform. Der Himmel war inzwischen klar. Sterne glitzerten. Unten lagen die Hochwälder in der Nacht wie eine silbern, grau und schwarz getönte Decke.
Jonah setzte sich, holte seine Schwerter aus den Scheiden und Tuch und Wetzstein aus einer Innentasche seines Gürtels. Sorgfältig begann er, die Klingen zu schleifen und zu polieren. Oft hatte Simon das für ihn übernommen, besonders in Heerlagern oder paladinischen Garnisonen, auch, um den Anschein des Waffen– und Pferdeknechts zu wahren.
Als Trauer ihn anfiel, musste Jonah innehalten. Aber die Trauer war kurzlebig, krümmte sich unter scharfer Entschlossenheit weg, einer Empfindung, die hin ausfüllte wie sonst nur das verbotene Spiel mit den Flammen.
Er nahm das Tuch wieder auf. Methodisch, mit knappen, heftigen Bewegungen, fuhr er fort, seine Waffen zu pflegen.


*


Die tiefe Nacht fand die Ansammlung von Langhäusern rings um die Haupthalle in ungewohnter Betriebsamkeit vor. Kinder und Frauen schliefen, aber die Krieger dreier Clans, die sich die Siedlung seit Wochen teilten, waren auf den Beinen. An den Eingängen der Häuser und in der Haupthalle brannten Fackeln, und auf dem Dorfplatz hatten die Wachen das große Feuer wieder entzündet.
In seinem Schein beugte sich die einzige Frau, die zurzeit wach war, über die Bauchwunde eines jungen Kriegers. Sie war die Heilerin.
„Wie steht es?“ Arlef beobachtete aus nächster Nähe, wie die Alte den roten Schnitt, den sie unter dem Hemd des Verwundeten freigelegt hatte, mit krummen Fingern betastete.
„Ach, gut, gut.“ Die Heilerin sah nicht zu ihm auf. Er war der Häuptling, aber Ereignisse wie dieses setzten die unbedingte Verpflichtung, ihn mit allergrößtem Respekt zu behandeln, vorübergehend außer Kraft. Ohnehin war die Heilerin von dem stillschweigenden Gehorsam der anderen Frauen ausgenommen. „Kaum mehr als ein Kratzer. Morgen wird er ganz wiederhergestellt sein.“

Arlef nickte brummend. Sein erster Krieger, Sahawc, saß zurückgelehnt da, damit die Heilerin ihn untersuchen konnte. Er ließ die Berührungen über sich ergehen, genau wie die leicht entwürdigende Haltung zu Füßen seines Häuptlings, aber sein Gesicht war finster.
Kräutersud stank. Die Alte begann, die Wunde auszuwaschen.
„Das war Erbors Klinge“, meldete sich Sahawc zu Wort, die Stimme flach und gewittrig. „Ich erinnere mich. Wenn ich diesen ehrlosen Zauberer in die Finger kriege, wird er den Tag bereuen, an dem seine Mutter ihn zwischen ihren Beinen hervor gepresst hat.“
„Du wirst nichts dergleichen tun“, sagte Arlef hart. „Zumindest nicht ohne meinen Befehl.“
Sahawcs Augen sprangen zu ihm hoch. Er begegnete ihnen fest.
„Am Ende, wenn wir alles wissen“, fuhr er fort, „gehört der Totenbeschwörer dir. Dir und den anderen vier Männern.“ Er wartete, bis Sahawc befriedigt genickt hatte. „Aber zuerst müssen wir herausfinden, was diese Fremden in Schwarzfels getrieben haben.“

Die vier erwähnten Männer waren nicht weit weg. Zwei hockten in den Schatten jenseits des Feuerscheins, und zwei lagen mit ernsteren Verletzungen im Vorraum eines Langhauses in der Nähe.
Alle fünf Krieger waren zur Siedlung zurückgekehrt. Nach dem, was Sahawc seinem Häuptling berichtet hatte, konnten sie vielleicht von Glück reden. So dachte zumindest Arlef, den die Not der vergangenen zehn Jahre dazu gebracht hatte, jedes einzelne Leben unter seiner Führung sehr, sehr hoch zu werten und sich mit unüblichen Pfaden vertraut zu machen.
Er wusste, die fünf Krieger dachten anders. Und sein Herz verstand sie, sogar besser, als er ihnen mitteilen durfte.
Sie waren ausgezogen, um die Lage der Dinge rund um die verwünschte Festung zu erkunden, und weil ein Jäger verkündet hatte, Anzeichen eines großen Brandes seien in der Richtung von Schwarzfels zu sehen. Dort hatten die Krieger Scheiterhaufen vorgefunden. Scheiterhaufen voller Leichen, und zwei Männer.
Einer der Fremden hatte sie mit einem Fluch belegt. Die Barbaren kümmerten sich im Allgemeinen kaum um die Belange der anderen Völker Sanktuarios, doch die Handschrift eines Totenbeschwörers aus dem fernen Osten erkannten sie durchaus. Diesem Mann dort bei den Scheiterhaufen war es gelungen, die ausgesandten Krieger zu verhexen.
Arlef hatte sie geduldig und streng befragen müssen, um ihr störrisches Schweigen zu durchbrechen – ein Schweigen, das in Beschämung und verzehrender Wut wurzelte, wie er bald begriffen hatte. Sie waren einzeln zur Siedlung zurückgekommen, erhitzt und benebelt. Sie waren Brüder, Angehörige desselben Clans, einander eng verbunden, und man hatte sie dazu gezwungen, die Waffen gegen die eigenen Gefährten zu erheben.

Arlef hielt sich mit Mühe davon ab, seine vernarbte Augenhöhle zu reiben.
„Ich schwöre bei den Ahnen“, sagte er zu Sahawc, „dass wir diesen Frevel nicht ungesühnt lassen werden.“
Sahawc antwortete nicht. Stattdessen stieß er die Hände der Heilerin verdrossen weg. „Das reicht jetzt, Frau.“
„Wie du willst.“ Die Alte richtete sich auf, dann ging sie zu den beiden im Schatten sitzenden Barbaren hinüber.
Arlef sah ihr nach. Plötzlich ekelte es ihn an, dieses Warten und Abwägen, all diese Winkelzüge und Verhandlungen, die nötig waren, um die Clans von selbstmörderischen Angriffen auf den Außenposten der Paladine abzuhalten. Die Sorgen häuften sich über ihm an. Brandulf wurde vermisst, und bei Schwarzfels taten zwei Fremde, als seien sie die Herren des Landes und dazu berufen, altes Unheil ans Tageslicht zu zerren.
Der Häuptling zog seine Axt aus dem Gürtel und wog sie in der Hand.
„Ruf deine Untermänner zusammen“, befahl er Sahawc barsch. Sein erster Krieger erhob sich überrascht. „Dann geh und sag den anderen Clanführern Bescheid. Das muss ein Ende haben. Morgen Mittag brechen wir nach Schwarzfels auf.“
Sahawcs Miene erhellte sich. „Mit wie vielen Kriegern?“
„Mit allen, die wir nicht zum Schutz des Dorfes brauchen.“ Arlef reckte die Schultern. Wut brachte sein Herz zum Hämmern, und er genoss die dumpfen Schläge. „Wer immer diese Fremden dort sind, wir werden sie stellen. Wir haben genug Zeit mit Nichtstun verschwendet.“
Sein erster Krieger eilte davon.


*


Der Schlaf in der Höhle des Druiden war unruhig und flach.
Jonah vermutete, dass das an mehreren Dingen lag. Zunächst einmal bestand keinerlei Sicherheit darüber, ob sie Gellen wirklich trauen durften. Sie wussten nichts über seine Fähigkeiten und nur sehr wenig über seine Absichten. Dann war da die Last der letzten zwei Tage: der Schrecken der Festung, Simons Tod, Brandulfs Tod, die Entdeckung der dämonischen Überreste und der Kampf gegen die Barbaren. Gefühle wie Verwirrung, übergraustes Staunen, Kummer, Anspannung und Angst gebärdeten sich wie die Wellen eines trägen, aber launischen Gewässers und kamen nach ihrem eigenen Gutdünken heran geschwappt, um die Momente karger Ruhe zu zermürben.
Und zuletzt hatte Jonah sich auf seinen Reisen angewöhnt, immer mit einem offenen Auge zu schlafen, wie es so schön hieß. Gellen mochte kein mit Vorsicht zu behandelnder Kommandant einer Truppe fremder Paladine sein, kein Stadtschreiber, der das Tun eines Gesandten auf Schritt und Tritt überwachte, und auch kein Söldner oder Bandit – er stand außerhalb aller Menschengruppen, die Jonah bislang über den Weg gelaufen waren. Trotzdem kannten sie ihn nicht, und ein Freund war er wohl kaum.

Daher, wie stets in einer unklaren Lage, döste Jonah eher, als zu schlafen. Er legte sich nicht hin. Wann immer er die Augen öffnete, jedes Mal mit demselben sachten Erschrecken, das ihm so vertraut war, bemerkte er, dass Hadan wachte. Offensichtlich teilte der Nekromant seine Gefühle.
Das Feuer brannte die ganze Nacht hindurch. Es beleuchtete die Höhlenwände, an denen hier und dort Zeichnungen hervortraten, Symbole und vereinfachte Tier- und Menschengestalten, die Jonah nichts sagten. Es beleuchtete das Hirschgeweih und eine Reihe anderer Schädel, die auf Felsabsätzen ruhten. Viel schien der Druide nicht zu besitzen – Essgeschirr, Feuerholz, selbstgefertigte Waffen und Kleidung, ein paar Nahrungsvorräte.
Irgendwann in der Nacht, als Jonah zum soundsovielten Mal aus seinem leichten Schlummer auftauchte, sah er Gellens hagere Gestalt die Höhle verlassen. Der Druide kehrte nicht zurück. Er musste erfasst haben, dass seine Gäste nicht sehr fest schliefen, hatte ihnen aber nicht mitgeteilt, wohin er verschwand. Jonah kämpfte mit plötzlich in ihm aufsteigendem Misstrauen.
Gellens würdevolle Art machte ihn geneigt, anzunehmen – oder auch zu hoffen -, dass der Mann einfach nicht daran gewöhnt war, Anderen sein Kommen und Gehen zu erklären. Vielleicht ging der Druide auch unerwarteter Weise von einem gewissen Vertrauen zwischen ihm und ihnen aus. Vielleicht hatte Jonah ein dementsprechendes Zeichen übersehen.

Er schaute zu Hadan hinüber. Die Augen des Nekromanten waren ausnahmsweise geschlossen, aber als ob er Jonahs Blick spüren könne, sagte er: „Wenn uns das Glück so überaus hold bleibt wie bisher, kommt er mit zwanzig anderen Druiden zurück und bringt uns zur Strecke.“
„Das glaubt Ihr nicht ernstlich“, entgegnete Jonah.
Hadan öffnete die Augen. „Ich möchte es nicht glauben. Aber wir könnten die Opfer eines schrulligen Hinterhalts sein. Unter Umständen zählt Gellen genau darauf, dass uns sein Verhalten derart verwirrt, dass wir gegen jede Vernunft hier ausharren wie die zwei größten Einfaltspinsel aller Zeiten.“
„Ihr habt eine lebhafte und ziemlich finstere Vorstellungskraft.“
„Genau wie Ihr, Hoher Gesandter.“ Hadans Ton deutete darauf hin, dass er sich trotz seiner Worte gern auf die Aufrichtigkeit des Druiden verlassen wollte.
Jonah kaute kurz an seiner Unterlippe. „Warten wir“, sagte er dann.
„Erteilt Ihr jetzt die Anweisungen?“, erkundigte sich der Nekromant spöttisch.
„Ich bleibe.“ Der Paladin legte den Kopf schief. Sein Gegenüber machte ihn noch häufig nervös, aber die Aura der Bedrohlichkeit war weniger stark als zu Beginn. Sie begann, sich abzunutzen. „Geht Ihr, wenn Ihr wollt. Ihr werdet Euch da draußen verlaufen.“
Hadan warf dem Höhlenausgang einen mürrischen Blick zu. „Vermutlich.“
Sie warteten schweigend.

Dem Gefühl nach war die Nacht schon weit fortgeschritten. Wohin mochte Gellen gegangen sein? Brauchte er nur ungewöhnlich lang, um seine Blase zu entleeren, und betätigte sich dabei als Sternengucker? War er auf der Jagd? Oder hatte seine Abwesenheit etwas mit den jüngsten Ereignissen zu tun? Jonah wettete am ehesten auf Letztes. Er würde nicht mehr schlafen können.
Stattdessen musterte er den Nekromanten unter seinen Lidern hervor. Dieser Mann, der den Körperbau eines Kriegers, aber alle Verhaltensweisen eines einsamen Magiers hatte, hätte ihn, Jonah, ohne viel Aufwand töten können, bei diversen Gelegenheiten innerhalb der zurückliegenden zwei Tage. Seine Anwesenheit in diesem Winkel der Welt warf Fragen auf. Und Fragen waren stets Jonahs heimliche Leidenschaft gewesen, wenn er Vertretern anderer Lebenspfade gegenüberstand.

Ihm ging auf, dass Hadan seinem Blick begegnete, offen, aber nicht gerade freundlich.
„Wenn Ihr an Eure Verhandlungstische und zu Euren Intrigen zurückkehrt, Pereîs“, sagte der Nekromant plötzlich in die feuerknisternde Stille hinein, „solltet Ihr Eure Maske höflicher Zurückhaltung mit einer frischen Politur versehen. Euer wahres Wesen fängt an, durchzuscheinen.“
Jonah ignorierte die Spitze. Es war ihm erst ein Mal passiert, dass ihn die Bloßstellungen durch einen Anderen weder alarmierten noch störten, und dieser Andere verkohlte unten auf der Hochwaldlichtung zu Asche, während sie hier oben hockten. Er starrte in das feste, weiße Gesicht, wie trunken, ohne Angst.
„Was“, fragte er leise, „tut jemand wie Ihr im Westen?“ Nebenan gab ein brennender Ast ein hauchzartes Knallen von sich. „Ihr seid sehr viele Tagesreisen von Eurer Heimat entfernt. Mir war nicht bekannt, dass Nekromanten lange Wanderungen durch die Länder anderer Völker unternehmen.“ Er zögerte und bot seinem Gegenüber dann ein schmales Lächeln an. „Ich bin ein ausgezeichneter Zuhörer. Und ich schwöre, dass ich Eure Geschichte im Herzen verschließen werde.“
Wie zuvor schon einmal schüttelte Hadan den Kopf. Aber er antwortete nicht. Die Hände im Schoß, sehr aufrecht sitzend, betrachtete er Jonah unverwandt.

Der Paladin atmete aus. „Schön. Ich mache den Anfang. Ihr habt mich gefragt, woher meine Magie kommt.“
Immerhin brachte ihm das ein Senken des Kopfes ein. Er wusste selbst nicht, warum es ihm wichtig schien, sich mit diesem Mann vertraut zu machen, doch die Empfindung war stark, wie ein innerer Druck, ein Raunen unbedingter Notwendigkeit hinter seiner Stirn.
„Mein Vater“, begann er, „war ein Köhler. Ein einfacher Mensch ohne Verbindungen zu den Schichten, aus denen der Orden seine Anwärter bezieht. Wir hatten drei Kohlenmeier und eine wacklige Hütte ganz am Rande von Kingsport, in den Außenbezirken der Stadt. Dort, wo nur noch Schweinerbauern und Holzfäller leben.“ Er streckte die Beine aus. „Was ich von meiner Mutter weiß, musste ich mir überwiegend selbst zusammenreimen. Mein Vater hat nur von ihr gesprochen, wenn er heillos betrunken war, und das war er aufgrund unserer Armut nicht oft. Aber seine rührseligen Erinnerungen, zusammen mit meiner bescheidenen Kombinationsgabe, haben ausgereicht.“
Er holte die Worte heran, Verbündete, die ihn zwischen Tausende fähigerer Lichtkrieger geschmuggelt hatten. Verbündete, die Enttäuschung und richtungslose Wut auf Abstand hielten.

„Wie meine Eltern zusammenfinden konnten, wusste sich mein Vater wahrscheinlich selbst nicht richtig zu erklären“, fuhr er fort. „Meine Mutter kam in einem Tross von Flüchtlingen aus dem Süden. Es waren Vertriebene einer Auseinandersetzung zwischen Paladinen und Wüstenbewohnern. Ich denke, dass sie eigentlich nicht zu diesen Leuten gehörte. Sie muss sich ihnen angeschlossen haben, weil die Gelegenheit es so ergab. Sie kam bei meinem Vater unter.“
Hadan hörte schweigend zu. Die Härte war nicht aus seinen Zügen gewichen, der Spott aber sehr wohl.
„Sicher nicht für lange.“ Jonah lächelte kühl. „Eben lange genug, um mich zu empfangen und zur Welt zu bringen. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Sie ist, wenn ich meinem Vater Glauben schenken darf, nicht einmal ein Jahr nach meiner Geburt gestorben. Danach waren da nur noch die Kohlenmeier, er und ich, und die ständige Gegenwart des hochheiligen Ordens.“
„Und das Feuer“, sagte der Nekromant leise.
„Ja.“ Jonah faltete die Hände im Schoß. „Das ist bereits die ganze Geschichte. Alles Weitere könnt Ihr sicher selbst mutmaßen.“
Nach einer Weile nickte Hadan. Der Feuerschein und die Schatten machten glanzlose Kieselsteine aus seinen Augen. „Habt Ihr im Rahmen Eurer Aufträge nie versucht, herauszufinden, wer Eure Mutter war?“
„Nein“, antwortete Jonah. „Selbst vor den mildesten Elementarkundigen, mit denen ich sprechen durfte, hätte das zu unbequemen Fragen geführt. Außerdem war ich nie mit ihnen allein. Der Orden liefert seine wertvollen Helfer keinen lästigen Gefahren aus.“
„Ich verstehe“, sagte Hadan. Er wirkte, als wäge er etwas ab, und fügte dann hinzu: „Manchmal werden Einzelne, die ungewohnte Maße an Talent zeigen, ausgestoßen. Weil sie sich nicht anpassen können und ihre Lehrer nicht wissen, wie sie ihnen begegnen sollen.“
Jonah schmunzelte. „Sprecht Ihr von meiner Mutter oder von Euch selbst?“
Flüchtig hatte er ihn in der Hand, den Zugang zu den Geheinissen dieses Mannes. Aber bevor er weiterspüren konnte, wies der Nekromant mit dem Kinn auf die Höhlenöffnung. „Gellen kommt zurück.“
Es klang aufrichtig, und tatsächlich besaß Hadan wohl die Gabe, das Herannahen anderer Menschen durch irgendein nekromantisches Gespür zu wittern.

Die Bedeutung der Rückkehr des Druiden überdeckte Jonahs Gefühl, übertölpelt worden zu sein, aber nicht vollständig.
„Jetzt ist es Euch doch noch gelungen, mich auszuhorchen“, sagte er zu Hadan.
Unverhofft erschien ein Lächeln auf dem bleichen Gesicht. „Eine Schicksalsfügung.“ Der Nekromant erhob sich. „Vielleicht erzähle ich Euch meine Geschichte noch, Paladin. Später. Wenn wir das hier überlebt haben.“
Auf der natürlichen Plattform vor der Höhle erklangen Schritte. Es waren die Schritte eines einzelnen Menschen, ging Jonah auf, der unwillkürlich nach seinen Schwertgriffen und seinen Auren getastet hatte.
Gellens hoher, hagerer Umriss tauchte ins Höhlenlicht. Einen Herzschlag später trat der Druide ein. Er zeigte kein Erstaunen darüber, dass seine Gäste ihn hellwach und deutlich nervös erwarteten.
„In der Nacht ist mein Entschluss gereift“, sagte er ohne Umschweife. „Ihr habt gehandelt, wie es Anstand und Hoffnung gebieten. Wir müssen eine Beratung einberufen.“
Die zwei Männer sahen ihn fragend an, und auch das angespannte Schweigen nahm der Druide auf, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Zu diesem Zweck habe ich einen Vertrauten aufgesucht“, fuhr er fort. „Er weiß viel über das Böse unten im Wald. Er wartet in einiger Entfernung. Auf euer Wort hin werde ich ihn holen.“ Er breitete die Hände aus. „Das heißt, sofern ihr den Bann der Schwarzen Festung immer noch brechen wollt.“
Jonah wechselte einen Blick mit Hadan. Sie verständigten sich ohne Worte und ohne besondere Mühe, beinahe wie aufeinander eingespielte Gefährten.
Als sie gleichzeitig nickten, hockte sich Gellen hin.
 
Bist du schon wieder im Urlaub? Bitte nicht, wir wollen doch lesen :( :p
 
Ob dies hier wohl eine weitere Story wird, die angefangen und nicht fertiggeschrieben wird? Ne, Reeba, dafür schreibst du zu gut als das man deine Stories verhungern lassen könnte ;)

gogo :go:
 
Lieber Horseback, liebe sonstige Leser,
ich entschuldige mich für die lange Pause.
Derzeit gehe ich einem Fall von Plagiarismus nach, der mit einer anderen, vor Jahren von mir im Internet veröffentlichten Story in Zusammenhang steht. Nämliche Story wurde kopiert und ohne mein Wissen oder gar meine Zustimmung als Buch herausgebracht.
Aus diesem Grund habe ich im Moment, wie ihr vielleicht verstehen könnt, weder die Zeit noch die Muße, hieran weiterzuschreiben.
Ich möchte 'Lehrjahre' aber auf jeden Fall fertigstellen.
LG, Reeba
 
oha das ist ein starkes Stück :eek: Ich wünsche dir viel Erfolg und gutes Gelingen um deinen Anspruch durchzusetzen :top: Wurde denn 1:1 kopiert sodass man den Schwindel auf Anhieb erkennt oder wurde das "Grundmuster" übernommen und der Rest abgewandelt? Und verrätst du uns um welches Buch es sich handelt?
 
Danke für die guten Wünsche :>
Es wurde bis auf wenige Stellen 1:1 kopiert. Allerdings hat die 'Autorin' sämtliche Namen meiner Originalcharaktere (es handelt sich um eine Fanfiktion) abgeändert, stellenweise mit Unregelmäßigkeiten, die Käufern des Buches bereits aufgefallen sind. Auch schwankt der Stil zwischen den Originalstellen und den von ihr hinzugefügten oder umgeschriebenen Abschnitten so stark, dass es kracht.
Da die Rechte für die Fernsehserie, auf der die FF aufbaut, und also auch die Rechte für Bücher zur selbigen Serie bei amerikanischen Produzenten liegen, hätte das 'Buch' es eigentlich nie bis zum Druck schaffen dürfen. Offenbar wird bei Selfpublisher-Verlagen überhaupt nicht auf die Texte geschaut.
Um welches Buch es sich handelt, werde ich hier öffentlich nicht bekanntgeben, höchstens per PN. Da die Rechtslage bisher noch ungeklärt ist, bewege ich mich im Moment noch sehr vorsichtig.
LG, Reeba
 
[...] Ich möchte 'Lehrjahre' aber auf jeden Fall fertigstellen. [...]
Das wünschen wir uns auch.

Wahlweise kannst Du uns ja häppchenweise etwas zum Fortgang deines "Hinderungsgrundes" erzählen. "Rechte für die Fernsehserie"? :eek: Jedenfalls wünsche ich Dir alles Gute für die Auseinandersetzung mit der Plagiatorin!
 
@Tom: Danke. Ihr dürfte in diesen Tagen ein anwaltliches Schreiben ins Haus flattern.

So, ihr Lieben. Nochmals ein dickes 'Sorry' für die ewig lange Pause.
Es geht ein bisschen weiter.


****

XIV. Der Schatten des Dämons




Die Gemütsruhe und Selbstsicherheit ihres Gastgebers hatte ihm in den vergangenen Stunden mehrmals um ein Haar den letzten Nerv geraubt. Daher sah Hadan jetzt mit einer gewissen Genugtuung, dass Gellen sich sorgte, dass auch er durch die Bedrohung von Schwarzfels aus seinem Gleichmut gerüttelt wurde.
Es war allerdings eine recht kurzlebige Genugtuung.
Man konnte den Bewohnern des Hochwalds Nichteinmischung vorwerfen, sicher. Aber sie hatten gute Gründe gehabt, die Festung zu meiden. Genauso konnte man ihm, Hadan, und Jonah Pereîs ihr Herumgepfusche in einer Sache anlasten, die sie gar nicht direkt betraf. Und sie hatten dafür nicht weniger gute Gründe gehabt. All das zusammengeworfen ergab - nichts.
Nur die Tatsache des Unheils von Schwarzfels blieb bestehen.
Herumgepfusche traf es übrigens erstaunlich gut, im Nachhinein betrachtet.
Hadan wusste seit dem fehlgeschlagenen Ritus, dass er zu schwach war, um den Bann mit Pakhras Hilfe zu brechen. Das ärgerte ihn maßlos, weil es seine Eitelkeit verletzte. Obendrein kam noch Beschämung hinzu. Mildernd ließ sich vielleicht anführen, wie wenig andere Möglichkeiten sich ihm geboten hatten, aber das änderte nichts daran, dass er sich aufgeführt hatte wie ein hirnverbrannter Neuling.

Während sich der zurückgekehrte Druide ihnen gegenüber hinhockte, warf Hadan Jonah Pereîs einen versteckten Seitenblick zu. Der Paladin hatte ihn aus einer beginnenden Trance errettet, einer von der Macht des Dämons gelenkten Vorstufe des Wahnsinns. Wahrscheinlich ahnte Pereîs nicht einmal, wie nah Hadan daran gewesen war, ihn umzubringen, eine Tat mit fatalen Folgen zu begehen – für das Seelenheil und vermutlich auch für den Ausgang dieser unerfreulichen Geschichte.
Gesetzt der Fall, er wäre in den Osten zurückgekehrt und hätte den Oberhäuptern der nekromantischen Zirkel seine Tat gebeichtet. Manche hätten ihn gelobt. Schließlich handelte es sich um einen Paladin, einen Andersgläubigen und Vertreter einer lästigen Expansionsmacht. Wieder Andere aber hätten ihn getadelt. Denn dies war nicht irgendein Paladin.
Pereîs wurde als möglicher Magierfreund gehandelt. Solche seltenen Männer auf bedeutenden Posten in der Westmarschener Hierarchie zu wissen, fand in den alten Tempeln des Ostens Zustimmung.
In diesem Moment begriff Hadan, dass Jonah Pereîs vor ihm sicher war. Vorerst endgültig.
Pereîs allerdings schien keinen sechsten Sinn für seine just eingetretene Erlösung zu besitzen, sondern widmete seine ganze Aufmerksamkeit Gellen.
Hadan schüttelte seine Gedanken ab und tat es ihm gleich.

„Bevor ich meinen Vertrauten zu uns bitte“, sagte der Druide, „möchte ich euch erklären, wer er ist.“ Er sann eine Weile nach. „Ihr seid an große Menschenansammlungen gewöhnt. Sogar unsere einstigen Verwandten, die Barbaren, leben in Gemeinschaften, die selten aus weniger als zwei oder drei Dutzend Leuten bestehen. Bei meinem Volk ist das anders.“
Pereîs nickte sacht. Sein ungewöhnliches Gesicht verriet nicht, ob er das Wissen, das er von seiner Reise mitbringen würde, zugunsten seines Ordens zu verwenden gedachte. Doch Hadan bezweifelte es. Der Paladin war kein gemeiner Zuträger. Er handelte nach eigenem Ermessen.
„Ihr habt euch vermutlich gefragt, ob ich den Rang eines Anführers bekleide“, fuhr Gellen fort. „Das müsste ich verneinen. Ich kann nur für mich selbst sprechen, und vielleicht noch für meinen Sohn und meinen Vater, die mir in den meisten Dingen gehorchen. Daher ist der Mann, der da draußen wartet, auch kein selbstverständlicher Verbündeter. Aber er wird uns helfen. Und er wird euch die Geschichte der Schwarzen Festung erzählen, denn er hat diesen elenden Ort gewissenhafter bewacht als irgendjemand sonst.“
Gegen seinen Willen musste Hadan sich eingestehen, dass ihn die Offenheit des Druiden beeindruckte. Sie hatten viel zu verlieren, diese Leute – mit einem verwünschten Ort in ihrer Nachbarschaft und der ständigen Bedrohung durch die Westmarsch an ihrer Türschwelle. Jetzt gaben sie ihre Zurückhaltung auf, und das für zwei Fremde, von denen einer ein selbstverständlicher Gegner und der andere ein obskurer Schwarzmagier war.
„Mein Vertrauter ist ein sehr mächtiger Mann“, sagte Gellen mit einem merkwürdig betrübten Lächeln. Er sah erst Pereîs und dann Hadan in die Augen. „Weit bewanderter in den Wegen der Erde, als ich es bin. Wenn wir den Bann über der Schwarzen Festung bezwingen wollen, werden wir seine Hilfe brauchen.“
Pereîs schnalzte leise. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr eine Vereinigung all unserer Fähigkeiten im Sinn habt?“
„Was sonst?“, antwortete der Druide mit einer Gegenfrage. „Denkst du, wir hätten nicht daran herumgerätselt, wie wir dieser Gefahr beikommen können? Wir waren vielleicht zu zögerlich, aber wir sind nicht blind.“ Er wies erst auf Hadan, dann auf den Paladin. „Hier hat uns das Schicksal einen fähigen Totenbeschwörer und einen Paladin geschickt, der eher seinem Gewissen Folge leistet als den Bestrebungen seiner Brotherren. Wir wären dumm, wenn wir diese Möglichkeit nicht nutzen würden.“
Danach musterte Gellen sie scharf. Hadan wechselte erneut einen Blick mit Pereîs. Der kleine Mann wirkte entschlossen.
„Schön“, sagte der Nekromant gedehnt. „Wofür auch immer es gut sein mag, du kannst auf uns zählen. Hol deinen Vertrauten her.“
Gellen erhob sich. Dann verließ er die Höhle und verschwand in der Nacht.

Pereîs lachte leise und dunkel. „Habt Ihr denselben Eindruck wie ich?“, wandte er sich an Hadan. „Dass Ihr dieser Sache verschrieben seid, ohne eigentlich zu wissen, wieso?“
„In der Tat“, erwiderte der Nekromant. „Aber jetzt seid still.“ Er stockte und fügte hinzu: „Bitte. Ich möchte wenigstens ansatzweise fühlen, wer dieser Vertraute ist. Ich bin mir immer noch nicht ganz darüber im Klaren, ob wir Gellen vertrauen können.“
Es verging eine gute halbe Stunde, bevor ihr Gastgeber zurückkam.
Hadan runzelte die Stirn. Gellen hatte nicht gelogen, wie es aussah – das Lebenslicht, das den Druiden begleitete, war ein Quell ungehemmter Kraft.
Ein letztes Mal gab sich der Nekromant seinen Zweifeln hin. Die Höhle war eng und ihr Vorplatz bot nur zwei unsichere Fluchtwege. Er und Pereîs befanden sich im Nachteil.
Dann tauchte Gellen wieder auf, mit dem Druiden, von dem er gesprochen hatte, im Schlepptau. Dieser zweite Druide war hochgewachsen wie ihr Bekannter, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Wo Gellen hager und langgliedrig wirkte, war er breit, untersetzt. Sein Alter setzte Hadan irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Lebensjahren an, aber bei Druiden war das ungemein schwer zu sagen.
Der Neuankömmling hatte sandfarbenes, struppiges Haar, einen Bart, und derbe, dicht behaarte Arme. Er bewegte sich mit geballter Behäbigkeit, einer trügerischen Zurückhaltung, die der Nekromant als die Körpersprache derer zu lesen gelernt hatte, die ganz unverhofft verheerenden Schaden an ihren Gegnern anrichten können.
„Das“, sagte Gellen, „ist Faelan.“
Im nachfolgenden Schweigen richtete der zweite Druide tiefliegende Augen auf die Gäste seines Freundes.
„Hadan Sakudhra“, stellte der Nekromant sich vor. „Ein Jünger Pakhras.“ Er hatte sich unwillkürlich erhoben.
Pereîs stand ebenfalls auf. Vor der wuchtigen Gestalt des fremden Druiden nahm er sich fast hoffnungslos gedrungen und jungenhaft aus. „Jonah Pereîs“, sagte er. „Gesandter des Ordens zu Kingsport.“
„Ich habe Faelan bereits davon unterrichtet, wer ihr seid und welche Absichten ihr hegt“, ließ sich Gellen vernehmen.
Damit zog er sein schlecht gegerbtes Hemd zurecht und setzte sich hin.

Faelan blieb stehen. Er musterte die beiden Fremden gelassen, hob das Kinn und sog dann mit einem vernehmlichen Schnüffeln die Luft der Höhle ein. Pereîs‘ große Augen wurden noch größer. Hadan selbst unterdrückte den Impuls, sich auf einen Fluch vorzubereiten.
Als der zweite Druide endlich sprach, tat er es mit einer tiefen, belegten, trägen Stimme.
„Es stimmt also“, sagte er, „ dass ihr dem Dämon von Schwarzfels begegnet seid. Nein, ich brauche keine Bestätigung. Ich sehe es euch an.“ Er holte wieder Luft, und seine massige Brust wölbte sich. „Ist er euch erschienen? Oder auf welchem Weg habt ihr herausgefunden, um was es sich bei ihm handelt?“
Hadan gab Pereîs ein Zeichen. Der Paladin antwortete Faelan: „Wir haben eine der Steinplatten des Hofes hochgestemmt. Darunter war eine riesige Hand, oder vielmehr der Handteil einer fremdartigen Rüstung. Davor, nun -” Er zögerte. „Da war ein Gefühl, dass die Steine vibrierten. Und wir haben ein Glimmen gesehen, nachts. Außerdem hatte ich einen Traum oder eine Vision von diesem Ort. Zumindest nehme ich das an.“
Er erzählte in knappen Worten von einer dunklen Lichtung und von Gestalten, die geflohen waren, als ein bläuliches Leuchten aus dem Nachthimmel auf die Erde herabgestürzt und mit Wucht aufgetroffen war. Er schien beinahe zu erwarten, die zuhörenden Männer würden sich über ihn lustig machen. Faelan und Gellen jedoch verzogen keine Miene, und auch Hadan tat sich schwer damit, das Erzählte zum Lachen zu finden.

„Ein ähnlicher Traum wie der, den mein Sohn mehrmals hatte“, sagte Gellen, als Pereîs endete.
Faelan schniefte, spuckte geräuschvoll ins Feuer. „Und die alte Myglidd.“ Er sah Pereîs aus verengten Augen an. „Manche hier haben deinen Traum geträumt, Städter. Nicht immer mit harmlosen Folgen. Du scheinst davongekommen zu sein, aber die Frau, die ich erwähnt habe, hatte weniger Glück.“
„Sie konnte die Lichtung nicht meiden“, löste Gellen ihn ab. „Tage, nachdem sie uns von ihrem Traum erzählt hatte, war sie plötzlich verschwunden. Wie haben sie nie wieder gesehen.“
Pereîs‘ Züge waren gefasst, aber betroffen. Er wandte den Kopf nach Hadan, und der Nekromant erwiderte den Blick ernst. Sie hatten Teile der Wirkung des Unheils am eigenen Leib erfahren – einer sehr verschiedenartig ausfallenden Wirkung, die sich die Schwächen, Neigungen und zersetzenden Gefühle der Opfer zunutze machte.
Faelans Augen huschten zwischen ihnen hin und her. Dann ließ sich der massige Druide auf dem Boden nieder. „Setzt euch.“ Es war kein Befehl, aber eine Aufforderung, die kaum einen Widerspruch duldete. „Es ist an der Zeit, dass ihr lernt, wie aus einer Waldlichtung ein Ort des Bösen werden konnte.“
Sie setzten sich.

Für eine Weile begnügte sich Faelan damit, sie anzustarren, und machte nicht den Eindruck, jemals zu ihnen sprechen zu wollen. Seine Aura war bedrückend in ihrer Stärke, von einer ungehobelten Intensität, die Hadan mit Achtung, aber nicht unbedingt mit Zutrauen erfüllte. Er ahnte, welcher Art die Fähigkeiten dieses Mannes waren. Denkbar, dass er einem der mächtigsten Druiden Sanktuarios gegenübersaß.
„Vor etwas über dreißig Jahren“, begann Faelan endlich, „war der Ort, der nun als Schwarzfels bekannt ist, eine Stätte unseres Volkes.“ Seine Worte kamen gedehnt, so als sei er müde oder als widerstrebe es ihm, die Geschichte zu erzählen. „Keine wichtige Stätte, aber wichtig genug, damit wir sie durch einen Steinkreis gekennzeichnet hatten. Barbaren ließen sie in Ruhe. Ab und zu übernachtete dort jemand oder suchte nach seinen Kräften, oder beides. Mehr nicht.“ Im Sitzen wirkte er noch ungeschlachter, womöglich auch, weil er auf Gesten oder Gesichtsausdrücke verzichtete: ein stoischer Haufen Muskeln, Fett und Haar. „Dann kam eine Nacht, in der eine Versammlung abgehalten wurde. Und mitten in diese Versammlung stürzte ein Brocken des Himmels. Das dachten meine Leute wenigstens, ganz am Anfang.“
„Das könnten die Gestalten aus meinem Traum gewesen sein“, meldete sich Pereîs mit seiner weichen Stimme zu Wort. „Teilnehmer dieser Zusammenkunft.“
„Unterbrich mich nicht, Paladin“, grollte der Druide.
Pereîs, einen Hauch blasser als zuvor, murmelte eine Entschuldigung.

„Der Steinkreis wurde zerstört“, nahm Faelan seine Erzählung wieder auf. „Der Einschlag war gewaltig, und die Menschen ergriffen die Flucht. Ein paar von ihnen aber blieben in der Nähe, und als sich auf der Lichtung nichts weiter rührte, gingen sie zurück und schauten.“ Zum ersten Mal kroch ein sichtbares Gefühl in seine Züge: staunend erinnertes Grauen. „Sie fanden eine ungeheuerliche Gestalt, ein Ding aus einem Bereich, der der Sage zugeschrieben wurde. Sie wussten gleich, dass ein Dämon über den Rand seiner Welt gestürzt sein musste, und sie versuchten, die Gestalt zu verbrennen, aber sie fing kein Feuer. Dann versuchten sie, sie zu verscharren, und bearbeiteten die Steine des Kreises und legten sie obenauf.“
Hier brach Faelan ab. Er sah jetzt weder Hadan noch Pereîs an, sondern starrte ins Feuer.
„Es war eine schwachsinnige Tat“, sagte er schließlich und hob den Blick. „Eine Tat der Furcht und der Feigheit.“
„Feigheit wohl nicht.“ Gellen lächelte. „Es muss euch viel gekostet haben, tagelang zu graben und Steine zu schleppen, mit diesem Wesen zu euren Füßen.“
„Doch, Feigheit.“ Faelan nickte. „Wir haben nur etwas zugedeckt. Wir wollten es verstecken, um uns selber glauben zu machen, damit würde es verschwinden. An eine Herausforderung, an einen Kampf, haben wir nicht zu denken gewagt.“
Schweigen trat ein.

Hadan atmete flach, das Gewicht des eben Gehörten auf der Seele. Selbst für jemanden, der sich mit der Existenz anderer Sphären und ihrer Herren beschäftigt hatte – etwas, das die Gelehrten aller Klassen taten, wenn sie in die Mysterien von Sanktuarios Entstehung vordrangen -, war es nicht leicht zu begreifen. Aber unten auf einer Waldlichtung lagen die Überreste eines wahrhaftigen Dämons, nach drei Jahrzehnten immer noch mit genug finsterer Essenz behaftet, um ein ganzes Gebiet zu vergiften.
Er entschied, dass die Klärung einiger bedeutender Fragen keinen Aufschub mehr duldete.
„Und jetzt?“, sprach er Faelan an. „Denkst du jetzt an einen Kampf?“
Der Druide musterte ihn ohne Milde. „Ja, Totenbeschwörer. Wir haben nichts für die Leute dieses Mannes da übrig.“ Er wies mit dem Kinn auf Pereîs, der sich ein wenig gerader hinsetzte, jeder Zoll breit Vorsicht. „Trotzdem waren die Qualen und der Tod der Westmarschener ein schlimmes Ereignis. Eines, das auch das Leiden weiterer Menschen in Aussicht stellt. Schwarzfels hat zu lange im Verborgenen gewütet. Die Macht des Dämons muss zerschlagen werden.“
„Wie?“, fragte Hadan schlicht.
Gellen regte sich wieder. „Ich habe Faelan von deinem Versuch berichtet. Er war närrisch und zu schwach -” Er unterbrach sich und lachte. „Mit Blicken töten kannst du wohl noch nicht? Sehr beruhigend. Aber spar dir deinen Groll. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage.“
Bevor der Nekromant etwas erwidern konnte, löste Faelan ihren Gastgeber ab. „Ist es wahr, dass du deinen Gott dazu verpflichten wolltest, dem Dämon beizukommen?“
„Ich kann keine Kreatur von solcher Stärke vernichten“, antwortete Hadan. „Nicht einmal mithilfe meines Gottes. Der Ritus sollte das Gelände reinigen.“
„Darin lag der Fehler.“ Faelans vom Feuerschein übergossenes Gesicht war eine Maske absoluter Sicherheit. „Es geht darum, die Wurzel des Übels zu beseitigen.“
„Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen“, erwiderte Hadan, „- wie?“
Es dauerte eine Weile, bis Faelan erneut sprach. Diesmal klang er nachdenklich. „Selbst ein so abgrundtief verdorbenes Geschöpf hat eine Seele. Mein Volk nimmt sich die Seelen anderer Geschöpfe, formt sie um, macht sie zu Verbündeten oder Dienern. Nachher geben wir sie frei.“ Seine Hände ballten sich zu klobigen Fäusten. „Wenn ich die Seele dieses Dämons zu fassen kriege, kann ich sie vielleicht festhalten. Festhalten, um sie danach umzulenken, aber nicht in die Freiheit. Ins Nichts.“
Pereîs, der zuletzt still dagesessen hatte, sagte: „Eine Austreibung.“
Hadan hob die Brauen in seine Richtung. „Sind solche Praktiken bei Eurem Orden nicht längst verboten?“
Ein Abglanz seiner manchmal durchscheinenden Gerissenheit erhellte Pereîs‘ Züge. „Zum Glück, ja. Aber wir reden hier schließlich von einem Jünger der Hölle.“
Faelan klatschte sich mit einer Hand auf den Schenkel. Das brachte ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ein. „Du hast Recht, Paladin. Es geht um eine Austreibung. Und ich werde sie durchführen. Mit Gellens Hilfe und mit der des Totenbeschwörers. Sogar du kannst etwas dazu beitragen.“
„Mehr als Gebete habe ich nicht anzubieten“, sagte Pereîs mit einem kleinen Lächeln.
Es schien ihn nicht zu stören, dass der Druide ihn mit offener Geringschätzung behandelte. Hadan begriff die Stärke, die darin zum Ausdruck kam. Pereîs war daran gewöhnt, sich in den Dienst einer Sache zu stellen. Mit Haut und Haar.
„Dann bete“, bedeutete Faelan dem Paladin schroff. „Bete, und steh für uns Wache.“


*


Während fahles Morgenlicht die Nachtschatten und den Feuerschein in der Höhle ersetzte, plante die Vierergruppe das Ritual.
Ohne sich abzusprechen, wussten alle Beteiligten, dass dieser Versuch der endgültige und letzte sein musste. Sie konnten nur gewinnen oder scheitern. Kein Mensch durfte sich dem verderblichen Wirken der Festung für längere Zeit aussetzen, das hatte ihnen das Schicksal der Missionstruppe ebenso bewiesen wie die Berichte von verschwundenen Einheimischen. Also würden sie noch ein einziges Mal nach Schwarzfels ziehen – zwei in übernatürlichen Dingen bewanderte Druiden, ein Nekromant zu ihrer Unterstützung, und ein Paladin als Wächter.
Jonah hatte seinen Part ohne Widerspruch akzeptiert. Nicht nur, weil er die drei anderen Männer als sachverständiger anerkannte, sondern auch aus einer großen, dumpfen und gleichzeitig leidenschaftlichen Ergebenheit heraus. Bis hierher hatte er sich von den Ereignissen nicht völlig unterkriegen lassen, hatte sich sogar einen gewissen Galgenhumor bewahrt. Aber sein Durchhaltevermögen nahm ab.

Natürlich war es bewegend zu beobachten, wie sich zwei fremde Klassen zu einer Zeremonie ungeheuren Ausmaßes zusammenrauften. Er kannte gelehrte Ordensbrüder, die für die Gelegenheit, so etwas zu beobachten, ein Ohr oder sonst einen unwichtigen Körperteil geopfert hätten.
Trotzdem ging es bei Schwarzfels nicht um ein kleines Völkergeplänkel. In was sie sich hier hineinwagten, war ein Krieg – einer mit nur einem einzigen Gegner, aber nichtsdestotrotz ein Krieg von immenser Bedeutung.
Jonah hatte die beginnende Verwandlung des Nekromanten ja selbst mit angesehen. Wenn die Essenz des Dämons, ihrer fünfzig verwesenden Spielgefährten beraubt, sich ein mächtiges Gefäß suchte und in ihre Gewalt brachte, war sie damit dem ersten Schritt zu fataler Unabhängigkeit vielleicht sehr nah.
Gellen und Faelan wollten den Geist der Bestie bannen. Sie wollten ihn, soweit Jonah begriffen hatte, aus seinem Halbschlaf wecken, in ein Bündel konzentrierten Restlebens verwandeln und diesen Funken dann in den Raum jenseits aller Zusammenhänge zwischen Menschen und höheren Wesen verstoßen. Danach würde Schwarzfels nur noch eine Ruine sein, und das namenlose Ding darunter nur noch ein zerfallendes Gerippe. Vorausgesetzt, der Plan hatte Erfolg.

Später kamen ihm die letzten Stunden in Gellens Höhle wie ein Kriegsrat vor. Aber eigentlich saßen die vier Männer bloß herum, aßen angespannt von dem Fleisch und der Kräuterpaste, die der Druide ihnen anbot, und rafften sich nur selten zu einem Wort auf, das ihre Vorbereitungen betraf.
„Wir müssen bald handeln“, hatte Faelan, der grimmige Vertraute ihres Gastgebers, gesagt. „Ihr habt fünf Barbaren bekämpft und vertrieben. Ich kenne ihren Anführer. Er wird sich das Eingreifen von Fremden nicht ungestraft gefallen lassen. Und für uns Druiden hat er wenig Liebe übrig.“
An dieser Stelle war Gellens Gesicht eingefallen. „Ich kann nur hoffen, dass er den Ernst der Lage begreift“, hatte er den Anderen anvertraut. „Mein Sohn sollte ihm Nachricht von Schwarzfels überbringen. Von euch.“ Er hatte Jonah und Hadan zugenickt. „Das war, bevor ich wusste, dass ihr im Grunde Gutes im Sinn habt. Ich habe meinen Sohn einer bedeutenden Gefahr ausgeliefert, denn die Barbaren sind unruhig, woran der Außenposten der Paladine seit Jahren Mitschuld trägt.“
Dazu hatte sich nicht viel sagen lassen. Stricke aus fremdartiger Macht und ganz weltlichen Ränken zogen sich um Schwarzfels zusammen. Darum gab es an Faelans Hast und Entschlossenheit, die Zeremonie durchzuführen, auch wenig zu rütteln.
Der frühe Morgen verging mit Gesprächen zwischen den beiden Druiden und Hadan. Der Nekromant erteilte erstaunlich bereitwillig Auskunft über seine rituellen Fähigkeiten und seinen Glauben, aber er war düster und wortkarg und beantwortete die Fragen der Druiden recht einsilbig. Über lange Strecken saß er brütend da. Faelan machte ihm darin Konkurrenz. Selbst Gellen sprach kaum noch, nachdem die wichtigsten Dinge geklärt waren.

Jonah hatte zuletzt ausschließlich zugehört. Er hatte eine Menge über die Geisteshaltung zweier Klassen erfahren, die dem Lichtorden bestenfalls als Schwarzkünstler und närrische Wilde galten, aber er sah keinen Anlass, sich darüber zu freuen.
Wem konnte er dieses Neue schon mitteilen? In Kingsport durfte niemand tieferen Einblick in die Wege anderer Völker erhalten, wenn Jonah vermeiden wollte, zum Auslöser frischer Taktiken und Expansionsbestrebungen zu werden. Es war das alte Lied.
Außerdem bedrückte ihn das Kommende. Die Chancen, dass eine erzürnte und rachsüchtige Barbarenhorde die Zeremonie unterbrach, standen ganz ausgezeichnet. Faelan und Gellen wussten das. Sie hatten Jonah und Hadan geraten, unbedingt zu fliehen, falls es so kam, und keine Zeit an einen Versuch zu verschwenden, mit den Barbaren zu verhandeln.
„Nicht, weil sie ehrlos wären oder ohne Verstand“, hatte Gellen hinzugefügt. „Aber sie hassen deinesgleichen, Paladin, oh, und wie. Sie haben Dutzende ihrer Krieger gegen euren Außenposten verloren. Wer du bist und was du willst, wird sie nicht kümmern.“
Jonah hatte genickt. Er verstand die Barbaren. Er verstand die Druiden, oder wenigstens die zwei, die er kennengelernt hatte. Er verstand sogar den Nekromanten, den eine launige Mischung aus Wissensgier, Hochmut und verkrüppeltem Gerechtigkeitsempfinden anzutreiben und an diese Sache zu fesseln schien. Keiner von ihnen konnte aus seiner Haut. Es gab keine Basis für Verhandlungen. Es gab nur Schwarzfels.

Sie brachen nach Mittag auf.
Der Himmel war verhangen. Nebel ließ die Waldteppiche am Fuße der Berghänge aussehen wie Moos, das in Milchsuppe schwimmt.
Gellen voran, stiegen die vier Männer den Hang hinunter. Hadan folgte als Zweiter, dann kam Jonah, und hinter ihm Faelan.
Jonah konnte die große, breite Gestalt des Druiden im Rücken fühlen. Es war, als habe man die Bedrohung durch einen ganzen Trupp Bewaffneter hinter sich, und der Paladin musste sich zusammenreißen, um nicht vorwärts zu hasten. Von ihrem neuesten Bekannten ging etwas aus, das er nicht anders beschreiben konnte als die nervenaufreibende Wildheit eines nur oberflächlich gezähmten Tiers. Unter Faelans behäbiger Art versteckten sich weder Milde noch Friedfertigkeit.
Jonahs mangelndes Wissen führte trotz der unzweifelhaften Ehrlichkeit des Druiden dazu, dass ihm sein Instinkt beständig Warnungen zuflüsterte, und er fragte sich, ob Hadan ähnlich fühlte. Über ihre beiden Begleiter sprechen konnten sie nicht. Jetzt, da die Zeremonie beschlossen war, ließen die Druiden sie keinen Moment lang mehr aus den Augen.
Als sie sich der Baumgrenze näherten, nahm sie der Nebel in Empfang. Der Abstieg hatte Stunden gedauert. Jonah schätzte, dass Schwarzfels mindestens zwei weitere Stunden hangabwärts liegen musste.
Sie rasteten nur, um einen Schluck zu trinken und ein paar Bissen von Vorräten zu essen, die Gellen mitgebracht hatte. Der hagere Druide trug wieder Bogen und Köcher über der Schulter. Faelan war mit einer armlangen Keule bewaffnet.

„Es wird dämmern, bis wir bei der Lichtung eintreffen“, sagte Gellen. Er spähte in den Nebel, der watteartig zwischen den nahen Bäumen hing.
„Vielleicht hätten wir früher aufbrechen sollen“, gab Hadan zu bedenken. „Auf diese Weise hatten die Barbaren mehr Zeit, sich auf einen zweiten Angriff vorzubereiten. Was, wenn sie da unten schon auf uns warten?“
„Dann übergeben wir ihnen dich“, ließ sich Faelan von etwas abseits vernehmen, wo er gegen einen Findling lehnte. „Oder den Paladin. Euch wollen sie am ehesten.“ Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinem harten, bärtigen Gesicht. Es war fast so beunruhigend, als hätte er sie feindselig angestarrt, aber immerhin.
„Faelan scherzt“, stellte Gellen klar.
Hadan erwiderte Faelans Lächeln, und Jonah fand es schwer zu entscheiden, wer von beiden hässlicher lächeln konnte.
„Nun, was tun wir, falls sie schon dort sind?“, antwortete der bullige Druide auf die Frage des Nekromanten. „Wir verbergen uns, warten, sehen nach, was sie hergebracht hat.“
„Ich möchte nicht überheblich erscheinen“, sagte Hadan, „aber ich denke, der Fluch, den ich gegen ihre fünf Krieger benutzt habe, könnte ein Teil dessen sein, was sie herbringt.“
Jonah musterte ihn verdeckt. Er hatte sich nicht danach erkundigt, welche Verwünschung der Nekromant im Einzelnen ausgesprochen hatte, aber das irre, taumelnde Aufeinanderlosgehen der Barbaren stand ihm noch sehr deutlich vor Augen.
„Ein starker Fluch, nehme ich an, wenn er fünf Krieger in die Flucht zu schlagen imstande war.“ Faelan war wieder ernst.
„Er macht Gegner aus Verbündeten“, erwiderte der Nekromant. „Oder aus jeder kleineren Gruppe von Menschen. Sie müssen mir nur nahe genug sein.“
Jonah wusste nicht, ob die freimütige Antwort und der Tonfall Hadans Zufall waren. Er glaubte es kaum.
Falls Faelan die Warnung und Misstrauensbekundung verstand, ließ er sich nichts anmerken. „Dann solltest du wirklich darauf hoffen, dass du ihnen nicht in die Hände fällst, Totenbeschwörer.“
„Das sollte ich wohl“, entgegnete Hadan.
Hiernach führte Gellen sie in den Wald. Der Nebel machte alles seltsam still.
Trotz der Anstrengungen des Abstiegs fröstelte es Jonah. Was vor ihnen lag, war mit gewöhnlichem Denken nicht mehr auszuloten. Der Wald wurde ihm immer heimtückischer zu einer Landschaft des Unbekannten, und er spürte, wie mit jedem Schritt fahles Grauen in ihm wuchs. Irgendein Winkel seines Bewusstseins bestand händeringend drauf, dass er etwas Wichtiges übersehen hatte.
Frühe Dämmerung brach herein, und unterstützt vom Nebel wurde bald Dunkelheit daraus. Niemand sprach mehr. Die einzigen Geräusche waren die Tritte der Vierergruppe, die ab und an einen Zweig zerknackten.

Schließlich hielt Gellen an.
„Wartet hier“, wisperte seine Stimme aus den nächtlichen Schatten.
Er war weg wie ein Gespenst. Jonah spähte in die Dunkelheit, roch den Schweiß der beiden Männer, die mit ihm warteten, links schwächer, untermischt mit Kräutern, rechts scharf, fast ranzig.
Als Gellen wieder auftauchte, kam er aus einer anderen Richtung. Offenbar war er in einem Bogen gelaufen.
„Ich kann niemanden entdecken“, unterrichtete er sie. „Die Festung glimmt, aber ich wage es nicht, dieses Glimmen zu deuten. Es ist schwächer. Die Angst, die man spürt, scheint mir jedoch dieselbe zu sein wie zuvor.“
„Dann sollten wir sofort anfangen“, grollte Faelan.
Diesmal führte er sie an.
Zwischen den Bäumen tauchte die Lichtung auf. Jonahs Herz begann dumpf zu pochen, als er sie hinter den Anderen betrat. Dieses widerliche Zerrbild eines Gebäudes – und einer alten, wohlwollenden Druidenstätte – noch einmal sehen zu müssen, erfüllte ihn mit abgrundtiefem Widerstreben. Um die Toten zu verbrennen hatte er es ertragen, aber jetzt war Schwarzfels nackt, entblößt von jeder Verpflichtung als der, den Dämon zu bannen.
Die Festung kauerte über dem Hang wie ein Grabmal. Ihr Glimmen erhellte den Nebel. Die Sicht aber war schlecht, ein Albtraum für jede Strategie, die sich wie die der Gruppe einzig darum rankte, Gegner rechtzeitig genug zu bemerken, um sich aus dem Staub machen zu können.
Natürlich musste man Hadans Gabe in Betracht ziehen, doch solange er den Druiden bei der Zeremonie assistierte, war der Nekromant abgelenkt und beinahe hilflos. Mit Faelan und Gellen, ahnte Jonah, würde es sich ähnlich verhalten. Ihre scharfen Sinne würden unter der Hingabe an die Zeremonie leiden.
Die Verantwortung, die ihm das auferlegte, beunruhigte ihn. Seine Ratschläge hatten in den vergangenen Jahren über viele Menschenleben entschieden, manchmal über Hunderte, sogar Tausende, wenn es um die Bewegungen ganzer Heere oder um Angriffe auf widerspenstige Dörfer und Magierschulen ging. Aber er war nie unmittelbar an der Front gewesen. Jetzt sollte er drei betende Männer vor möglichen Gegnerscharen schützen. Oder vor noch Schlimmerem.

Faelan betrat die Lichtung, ohne zu zögern.
Von den Pferden war keine Spur zu entdecken. Die Scheiterhaufen lagen schwarz im Nebel, niedergebrannt. Die Stille war allgewaltig. Auch wenn niemand sprach, wussten alle Mitglieder der Vierergruppe, dass ihr Kommen irgendwo sehr tief unter der Festung eine Saite berührte, und diese Saite brummte tonlos, mit einer feinen Vibration, die Boden und Seele gleichermaßen eroberte.
Mitten am Hang hielt Faelan auf einmal inne. Jonah tastete nach seinem Hüftschwert, und auch Hadan erstarrte. Aber der Druide stand nur da und schaute schweigend zur Festung. Vielleicht war er lange nicht mehr hier gewesen. Nun sah er einem uralten Schrecken endlich ins Auge.
Nach einer kurzen Weile setzte Faelan den Weg hangaufwärts fort. Er ging an den Scheiterhaufen vorbei bis zum Rand des Hofs.
Hier blieb die Gruppe erneut stehen, um zu lauschen. Als sich kein anderes Wesen in der Nähe zeigte, nahmen die Männer zuvor vereinbarte Positionen ein.
Faelan betrat den Hof mit festen Schritten. Er suchte sich einen Platz in der Mitte und ließ sich ohne lange Umschweife nieder. Hadan folgte etwas weniger entschlossen, ging zu einer Stelle rechts von ihm und kniete sich dort hin, das Gesicht dem Druiden zugewandt. Gellen tat dasselbe auf der anderen Seite. Jonah war der Einzige, der außerhalb des Hofes blieb. Er musste gegebenenfalls auf- und abgehen können, um seine Aufgabe als Wächter zu erfüllen, und er war heilfroh darüber. Die Vorstellung, sich auf diese Steinplatten zu setzen, machte ihn schaudern.

Ein ungewisser Moment verstrich in Stille.
Dann ertönte Faelans tiefe Stimme. „Wir sind am Ende aller Ausflüchte.“ Es kam verblüffend bescheiden, mit offener Furcht. „Ich bitte die Erde und den Gott des Nekromanten, und auch das Licht, an das unser Wächter glaubt, darum, uns beizustehen. Fangen wir an.“
Es sollte das letzte Mal sein, dass Jonah ihn sprechen hörte.
Wegen des Nebels war er außerstande, die Gesichter der anderen Männer zu erkennen, aber er vermutete, dass sie die Augen schlossen. Er hatte erwartet, spätestens jetzt in Schweiß gebadet zu sein. Stattdessen schien sein Körper alle verfügbare Feuchtigkeit in sein Inneres hinabzuziehen. Sein Mund war trocken, seine Haut klamm, auch wenn er keine Kälte fühlte. Er fühlte nur, dass das Unheil von Schwarzfels seine Aufmerksamkeit auf die Mächte richtete, die die Männer anzurufen begannen.
Beim ersten, fehlgeschlagenen Ritual hatte er von Hadan kaum mehr als eine Aura verstärkter Konzentration empfangen. Nun jedoch breitete sich um den Nekromanten ein Schatten aus, ein Puls lebendiger Versenkung. In Jonahs Geist erstand das Bild einer ungeheuerlichen Gestalt, knochig und schwarz, mit dem Kopf eines monströsen Widders, in ölige Rauchschwaden gehüllt.
Faelans Handlungen, oder eher ihre Ergebnisse, waren nicht weniger befremdlich. Über dem Druiden erschien ein orangefarbenes, gelb geädertes Licht. Es war schwach und flackerte oft, aber der Anblick machte trotzdem so verdutzt, dass sich der Paladin dazu zwingen musste, nicht unausgesetzt hinzustarren. Um Gellen blieb es dunkel, doch der Druide verströmte Wachsamkeit und gleichzeitige Weltferne.
Sie waren jetzt alle drei in einer Sphäre, zu der Jonah keinen Zugang hatte. Er zog beide Schwerter und kreuzte sie vor den Knien. Es war keine Pose der Vorbereitung. Er wollte sich nur an irgendetwas festhalten.
In der Mitte des Hofes beugte sich Faelan nach vorn und legte beide Hände flach auf die Steinplatten. Danach bewegte er sich nicht mehr. Hadan und Gellen knieten reglos da.
Durch den Mund atmend, spähte Jonah in die neblige Dunkelheit zu beiden Seiten der Festung, aber seine Aufmerksamkeit schnellte wie an einem dehnbaren Band wieder zu den Anderen zurück. Er meinte, den Nekromanten murmeln zu hören, und Gellen hatte angefangen, sich sacht vor- und zurückzuwiegen.
Verfolgten sie die Schritte der Zeremonie noch, oder war er, Jonah, bereits Zeuge, wie die gierige Essenz des Dämons seine Schicksalsgefährten zu korrumpieren begann?
Zeit verstrich mit angespanntem, quälend in die Länge gezogenem Warten.

Dann plötzlich rührte sich Faelan. Jonah erstarrte.
Wieder stach die irre Angst auf ihn ein, das unter den Steinplatten begrabene Ding könne wider jede Vernunft ins Leben zurückfinden. Hitze kroch in ihm empor. Er würgte sie hinunter.
Warum litt er diesmal nicht unter Einflüsterungen oder Empfindungen, die so viele stärkere Männer vor ihm überwältigt hatten? Und war da auf dem Rückweg von Gellens Höhle nicht etwas gewesen, ein Gedanke, eine Ahnung, dass eine entscheidende Schwäche des Plans seinem Hirn ein Schnippchen schlagen wollte?
Als er sich eben aus seinem steifen Dastehen löste, als er den den Fuß hob, um auf die Steinplatten zu treten und nach Faelan zu schauen, erlosch das gespenstische Glimmen von Schwarzfels. Rechts kam Hadan auf die Beine, schwankte, strauchelte und fiel hin wie ein Betrunkener. Links hatte Gellen das Gesicht in den Händen vergraben. Die unverhoffte Finsternis, nur vom Mond ganz schwach erhellt, hing für die Dauer einiger Herzschläge über allem, und Jonah hörte die anderen Männer mit etwas ringen, das keine Form und keinen Namen hatte.
Er wich wie unter einem Hieb zurück, als das Glimmen zurückkehrte. Diesmal war es eher ein Leuchten. Das bläuliche Leuchten aus einem Traum. Es badete den gesamten Hof in seinen Schein, und das feine Beben wuchs.
Hilflos, entsetzt, die jetzt herunterhängenden Schwerter an den Seiten, verfolgte Jonah, wie das Leuchten die Umrisse einer Gestalt annahm – dreimal so groß wie ein Mensch, geflügelt, gerüstet. Sie richtete sich langsam, ganz langsam aus ihrer liegenden Position auf.
Im nächsten Augenblick zerfaserten sich die Umrisse zu bläulichen Strömen oder Schwaden. Sie liefen zusammen und rauschten auf einen Punkt nieder, den Jonah schon ahnte, bevor er es mit ansehen musste.
Sie hatten die Essenz des Dämons ins Nichts hinausschleudern wollen. Was, wenn diese Essenz aber ein Schlupfloch fand, weil sie gar nicht daran dachte, sich vom Angesicht der Welt tilgen zu lassen?
Die bläulichen Schwaden verschwanden restlos in Faelans vornüber gesunkenem Körper.

Jonah würgte an einem Schrei, bekam nichts heraus, machte zwei, drei Schritte nach vorn. Ein anderer Schrei stoppte ihn.
„Zurück!“ Überschnappend, heiser. Hadan.
Der Nekromant stand auf den Füßen. Auch Gellen erhob sich.
Kurz blieb Faelan noch ein kauernder Haufen Mensch. Dann veränderte er sich. Es ging schnell und spottete allen Gesetzen, an die der Lichtorden sich seit Jahrtausenden klammerte. Innerhalb von Augenblicken wurde aus dem Mann, der die Fremden so stolz und selbstsicher behandelt hatte, eine Bestie. Jonah erinnerte sich an seine Eindrücke, die sich auf einmal nahtlos zusammenfügten.
Natürlich. Er war einem Gestaltwandler begegnet, ohne es zu sehen. Aber jetzt sah er es.
Glieder blähten sich, Haut wurde unter Fell begraben, die Massigkeit streifte ihre Fesseln ab.
Der Bär war riesig.
In den Städten der Westmarsch wurden manchmal Tanzbären vorgeführt, oft elende und räudige Geschöpfe, die selbst auf ihren Hinterläufen stehend kaum größer wirkten als Halbwüchsige. Dieses Tier maß und wog sicher das Doppelte.
Es kam in einer Explosion aus Kraft auf die Füße und schwenkte den Schädel.
Gellen stand jetzt aufrecht da. Er hob langsam eine Hand in Richtung seines Vertrauten. Flüchtig blieb alles ruhig, und das erloschene Schwarzfels schaute zu.

Dann, als Jonahs Wille ihm endlich einen Schrei abrang und der Nekromant seinen Mantel zurückwarf und den Dolch aus der Beinscheide riss, stürzte sich der Bär auf die einsame, hagere Gestalt des Druiden. Der Aufprall fegte Gellen zu Boden. Das Tier war im Handumdrehen über ihm und stieß mit der Schnauze auf die dunkle Form zwischen seinen Pfoten nieder.
Jonah hörte das entsetzliche Reißen, sonst nichts. Er wusste, dass der Mann vom anderen Ende der Klassen, der ihn gewarnt, bedroht und schließlich in sein Heim eingeladen hatte, umgehend starb.
Jetzt kam die Schnauze wieder hoch, klappte auf, und ein Brüllen erschütterte die gesamte Lichtung. Während Jonah noch den Nachhall seines eigenen Schreis im Ohr hatte, wandte sich das Tier nach dem nächsten Gegner um.
Hadan duckte sich leicht. Er wich nicht sofort zurück, kämpfte womöglich noch mit seiner eigenen Erstarrung. Doch als der Bär, in den sich Faelan gemeinsam mit den Schwaden der dämonischen Essenz verwandelt hatte, schwer und still auf ihn zuwankte, machte der Nekromant die ersten Schritte rückwärts.

Jonah ließ das rechte Schwert unter die Achsel des anderen Armes gleiten und bückte sich, ohne den Blick abzuwenden. Er war am Rande des Hofes, ungefähr dort, wo er und Hadan die Platte hochgestemmt hatten. Er fand einen Stein, richtete sich auf und schleuderte seinen Fund mit aller Kraft gegen das Tier.
Der Stein prallte vom Boden neben einem Hinterlauf des Bären ab, anstatt ihn zu treffen. Ein winziger Funke, der in Jonah überlebt hatte, war alles andere als überrascht. Aber es half.
Es half genauso wie alle Ablenkungsmanöver, in denen er es zur Meisterschaft gebracht hatte. Mit einem erneuten Brüllen wandte sich das gewaltige Tier von Hadan ab.
Noch während er sich selbst umdrehte, hörte der Paladin das schneller werdende Auftreten der Pfoten und das Hecheln, das sich an seine Fersen heftete. Von irgendwo hinten schrie Hadan etwas, aber Jonah verstand ihn nicht.
Er lief los. Es gab kein Entkommen.
Trotzdem rannte er wie besessen, auf den Flügeln des Entsetzens und der Trauer, rannte an der Festung entlang und auf die Wand der Bäume zu.
 
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