So, bevor ich das morgen noch vergesse... Kommt eben heute schon das nächste Kapitel.
Viel Spaß damit :>
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XI. Das Ende der Heimlichkeit
Vom Festungshof aus ging Hadan den Hang hinunter.
Inzwischen staunte er nicht mehr darüber, wie säuberlich sich der unheilvolle Bann auf das Bauwerk beschränkte. Doch obwohl man, sobald die Steinplatten hinter einem lagen, etwas freier atmete, war zweifellos die gesamte Freifläche inmitten der Waldborten betroffen.
Der Nekromant warf den zwei Wagen und all den Dingen, die die wohl chaotischen Zustände auf Schwarzfels über den Hang verstreut hatten, im Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick zu. Er schritt aus, ohne sich dabei zu sehr zu eilen – Pereîs konnte ihn vom Hof aus immer noch sehen. Hadan hatte ihm gesagt, er wolle hangabwärts nach Feuerholz suchen, und dorthin bewegte er sich auch, aber er hatte etwas ganz Anderes im Sinn.
Die Errichtung eines Scheiterhaufens musste warten. Der Rauch eines Feuers solcher Größe würde wie ein Leuchtsignal über dem Wald stehen. Vielleicht der entscheidende Anstoß für die in der Nähe lebenden Menschen, sich endlich um die verfluchte Festung und zwei Eindringlinge zu kümmern. Hadan hatte allerdings noch einen weiteren Grund, die Leichenverbrennung aufzuschieben.
Während ihres erschöpften Luftholens an der Mauer hatte er ihn bemerkt, den Störenfried. Ein neues Lebenslicht, irgendwo in den Bäumen unterhalb der Festung. Es wäre ihm fast entgangen, weil er müde, in Gedanken und vom klagenden Glimmen der Toten umgeben gewesen war. Doch das Licht hatte sich trotzdem verraten.
Der Nekromant war beunruhigt. Für einen Moment hatte er mit dem Antrieb gerungen, Pereîs von seiner Entdeckung zu berichten. Neugier und die Gewohnheit, gewisse Dinge allein in die Hand zu nehmen, hatten gesiegt. Es war nur ein einzelner Mensch, der dort unten wartete. Einzelgegner brachten Hadan selten in Bedrängnis.
Er ging jetzt langsamer, kam bei den zwei Pferden an. Sie standen still und mit gesenkten Köpfen nebeneinander unter einem Baum. Hadans Auftauchen führte zu nervös geblähten Nüstern, aber zum Glück wieherten die Tiere nicht.
Der Nekromant blieb stehen und lauschte. Er hörte nichts, doch das Lebenslicht drängte sich unverändert in seinen Geist. Mit der Linken zog er sein Crismesser aus der Beinscheide und konzentrierte sich, die Augen schmal. Er war nicht dazu in der Lage, die Bewegungen eines Menschen durch seine Gabe zu verfolgen, aber in gebührender Ruhe konnte er grob abschätzen, wie es um den Träger des Lichts stand.
Das Licht des Spähers vom Vortag hatte einer Kerzenflamme geglichen, klein, aber immer gleich stark, und trotz der bedrohlichen Umgebung fast ruhevoll. Dieses Licht war anders, ungestümer, flackernd, fiebrig.
Hadan suchte sich behutsam einen Weg zwischen den ersten Bäumen hindurch.
Plötzlich vernahm er Knacklaute von irgendwo unterhalb seiner eigenen Position. Als der Träger des Lichts auftauchte, vielleicht achtzig Schritte entfernt, wusste der Nekromant nicht gleich, ob er erleichtert oder grimmig verblüfft sein sollte.
Der Mann bewegte sich durch den Wald wie ein Blinder.
Offenbar war er auch am Ende seiner Kraft. Bewaffnet, doch ohne Waffen in den Händen, weil er diese zum Ertasten seines Weges brauchte, wankte er durchs Unterholz, eine aberwitzige, dunkle Gestalt mit vorgestrecktem Kopf. Er stolperte häufig. Zwei- oder dreimal stieß er auch gegen einen Stamm, scheinbar zu erschlagen, um sich noch zurechtzufinden.
Sein schwerer Atem und ein Gemurmel, das er hin und wieder hervorbrachte, tönten laut in der Stille. Ein großer Hund trottete hinter ihm her.
Das Tier sah Hadan. Es griff augenblicklich an.
Einen heiseren Ruf seines Herrn ignorierend, kam es mit langen Sätzen bergauf, so schnell, dass dem Nekromanten keine Zeit für Überlegungen blieb. Das Crismesser erhoben, wich er zurück und fasste in seinen Gürtel.
Das Säckchen war aus dünnem Tuch. Es zerplatzte auf kräftigen Druck hin. Die gelbliche Giftwolke und der Hund waren gleichzeitig da.
Der Schädel des Tiers brach durch das erstickende Gelb, mit weit aufgesperrten Kiefern, während die Vorderpfoten Hadan gegen die Brust stießen. Er konnte sich eben noch darüber wundern, wie riesig der Hund war. Dann verbiss sich das Tier in seinen linken Unterarm.
Das Gewicht allein riss den Nekromanten fast um. Zähneknirschend kämpfte er um festeren Stand. Sein Armschoner hinderte den Hund daran, ihn sofort zu zerfleischen, aber er würde rutschen, sich lösen.
Fellgestank, wildes Knurren, und über allem der gelbe Nebel.
Dieser Nebel wendete das Blatt zu Hadans Gunsten.
Plötzlich ließ das ruckende Zerren an seinem linken Arm nach. Die Zähne des Hundes lösten sich aus seinem Armschoner. Das Tier setzte sich erst winselnd auf die Hinterläufe, dann fiel es seitwärts zu Hadans Füßen ins Laub.
Mit seinen Atemzügen hatte es sich genug Gift in die Lunge geholt, ein Gift, das lähmte und fast unweigerlich zum Tod führte. Es sei denn, man hatte Immunität dagegen erlangt, so wie Hadan selbst.
Er berührte den rasselnden, pumpenden Brustkorb des Hundes mit der Stiefelspitze, beugte sich hinunter und trieb dem Tier das Crismesser durch das Ohr in den Schädel. Das Rasseln brach ab. Grausamkeit war hier unnötig.
Der Nekromant trat aus dem dünner werdenden Nebel.
Am Hang unter ihm, jetzt viel näher, war der Mann stehen geblieben. Er wandte den Kopf suchend hin und her, schien Hadan jedoch nicht sehen zu können. Er war in schwarze, stellenweise eisenverstärkte Ledersachen gekleidet, bärtig, zäh. Aber seine Haltung verriet seinen elenden Zustand. Sogar über die Entfernung hinweg konnte Hadan seinen Schweiß riechen. Dann entdeckte er die Armbrust.
In der Tat, viele Fäden liefen in Schwarzfels zusammen. Er hockte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und wartete.
Der Andere spürte deutlich, dass jemand in seiner Nähe war, hatte den Kampf sicher gehört, und das Winseln seines Hundes wohl auch. Mit taumelnden Schritten setzte er sich wieder in Bewegung und kam langsam zu Hadan herauf. Ein Lichtfleck, den er passierte, zeigte sein Gesicht plötzlich in aller Schärfe. Der Bereich um seine Augen war verbrannt, die Lider mit der sie umgebenden Haut zusammengebacken.
Keuchend, Speichelfäden am Kinn, hielt er kaum ein Dutzend Schritte entfernt inne.
Schweigen erfüllte den Wald.
„Du musst Brandulf sein“, sagte Hadan schließlich.
Der Mann erstarrte. Sein Atem stockte hörbar.
Eine fremde Stimme, der Hund, der nicht zu ihm zurücklief, vielleicht auch ein Gespür, das Hadans Aura erfasste.
Nach einem tiefen Luftholen stieß der Ankömmling hervor: „Wer zur Hölle ist da?“ Seine Stimme war wund und belegt. „Pereîs?“
Damit verging auch der letzte Zweifel.
„Nein, nicht Pereîs“, entgegnete der Nekromant. „Doch der wird sich bestimmt bald zu uns gesellen.“ Er lächelte. „Das hattest du nicht erwartet, vermute ich – dass dir dieser kleine Mann solche Schwierigkeiten machen würde, was?“
Sein Gegenüber stand da und wankte sacht. Das verbrannte Gesicht verriet Ungläubigkeit, auch ohne einen Augenausdruck.
„Ich weiß, wer du bist“, fuhr Hadan fort. „Und auch, dass du einen Gesandten deines eigenen Ordens töten wolltest. Ihn und seinen Diener. Du warst nur zur Hälfte erfolgreich. Pereîs hat die Festung erreicht.“
Der Mann rührte sich kaum, doch seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Soweit sich Hadan den Hintergrund dessen, was Jonah Pereîs ihm in wenigen Worten über die Angelegenheit anvertraut hatte, zusammenreimen konnte, hockte er hier vor einem Fall von Hochverrat. Madalën, das war ihm bekannt, führte einen Stellungskrieg gegen die Barbaren dieser Waldgegend. Pereîs hatte behauptet, er sei einzig und allein angereist, um die auf Schwarzfels gestorbenen Paladine zu suchen – doch natürlich konnte er gelogen haben. Und andere Parteien hatten womöglich nie genau gewusst, warum er hier war.
Hadan legte den Kopf schief. „Du hättest nicht herkommen sollen“, sagte er zu Brandulf.
Der wahrscheinliche Madalëner Unterkommandant griff trotz seiner Verfassung mit einer für mörderische Nahkämpfer reservierten Schnelligkeit hinter sich. Aber er war außerstande, Hadan einzuordnen.
Derselbe Fluch, den der Nekromant über Pereîs geworfen hatte, traf ihn, bevor er seine Waffen ganz ziehen konnte. Er schwankte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie, die Fäuste noch an den Griffen zweier Äxte, das Gesicht eine Fratze der Pein.
Hadan verdoppelte den Fluch unnachgiebig, trotz der Energie, die ihm das abzog. Danach erhob er sich, ging zu Brandulf hinunter und nahm ihm die Waffen ab. Dazu musste er ihm fast die Finger brechen. Der Mann war hilflos über die Wirkung des Fluchs gekrümmt, aber er kämpfte, klammerte, die Muskeln eisenhart.
Die Äxte und die Armbrust warf Hadan in den Wald.
Dann machte er den Gürtel seines Opfers los, wand ihn um die bebenden, harzverklebten, schmutzigen Hände und schleifte Brandulf hangaufwärts.
Er musste sich nicht lange abmühen. Sie waren kaum am Rand der Lichtung, als oben, dort wo die Erde in den Festungshof überging, eine Gestalt auftauchte. Hadan nickte finster und lehnte sich wieder in den Gürtel.
Jonah Pereîs kam ihnen entgegen, den Hang hinunter.
Der Paladin blieb stehen. Er hatte Hadans Last erkannt.
Und es war eine Spur beunruhigend, wie sein ganzer höflicher, zurückgenommener Auftritt plötzlich in Teilen zu einer Verkleidung schrumpfte, zu einer Larve. Seine Augen, die denen Hadans begegneten, waren kristallklar und hart.
„Wie sich herausstellt, gab es da unten Interessanteres als Feuerholz.“ Mit einer letzten Anstrengung zerrte Hadan ihm den halb Gelähmten vor die Füße, ließ den Gürtel los und trat zurück. „Ich denke, das gehört Euch, Pereîs.“
*
Jonah starrte auf den Mann, der vor ihm im Gras des Hanges lag. Das Attentat hatte sich vor nicht einmal anderthalb Tagen ereignet, doch die Gestalt zu seinen Füßen sah aus, als habe sie eine sehr viel längere Zeitspanne in der Wildnis zugebracht.
Brandulfs Kleidung und Haut war verschmutzt, sein Hals schweißnass, die Hände zerschrammt. Durch irgendeinen Trick des Nekromanten, vielleicht einen Fluch, gelähmt und geschwächt, lag er keuchend und mit steifen, zitternden Gliedern auf dem Rücken. Und diese Rückenlage setzte ein weiteres Detail dem Tageslicht aus: Brandulf würde nie wieder sehen können.
Jonah betrachtete das blasenübersäte, rote Durcheinander, das einst Brandulfs Augen und Brauen gewesen war, und ein kalter Schatten senkte sich auf sein Gewissen. Das hatte er getan. Er, dessen Akte der Verletzung Anderer sich bis heute auf einen Schwerthieb beschränkt hatten, der einem Wegelagerer den Bauch aufgeschlitzt hatte, und auf die wenigen Treffer, die er bei Übungskämpfen hatte landen können – er hatte einen Menschen geblendet.
Doch mit der Erinnerung an das Attentat und Simons Tod versandeten sein Mitleid und seine Scham.
„Wo habt Ihr ihn gefunden?“, fragte er den Nekromanten.
„Ein Stück weiter unten im Wald.“ Hadans Miene war unleserlich. „Allein, bis auf seinen Hund. Er und ich haben uns noch nicht ausführlich unterhalten, geschweige denn einander vorgestellt, aber ich nehme doch an, dass er der Madalëner Unterkommandant ist, von dem Ihr gesprochen habt?“
Jonah nickte. „Ja. Das ist er.“
Womöglich peitschte der Klang seiner Stimme etwas in dem Daliegenden auf, denn er rollte plötzlich in Jonahs Richtung herum. „Pereîs!“
Mit einem sicheren Gefühl für Brandulfs beschränkte Bewegungsmöglichkeiten, das er in dieser Art nicht von sich kannte, ging Jonah in die Hocke. Das brachte sein Gesicht auf die Höhe des zerstörten Gesichts des Anderen. Er schaute zu Hadan auf.
Der Nekromant erwiderte den Blick. „Wollt Ihr ihn befragen?“, erkundigte er sich.
Er mochte immer noch ganz eigene Motive für sein Verhalten haben, aber seine Bereitschaft, das Geheimnis um Schwarzfels zu lüften und das hier oben brütende Unheil zu bekämpfen, gab ihm nach Jonahs Meinung das Recht, alles über die jüngsten Verwicklungen zu erfahren.
„Ja“, sagte er leise.
Der überlegene Teil seines eigenen Wesens – der Teil, der ihm erlaubt hatte, sich in die wichtigsten Belange seines Ordens und in die Kreise weit mächtigerer Männer einzustehlen, immer gesittet, immer anpassungsfähig – wich zunehmend vor einer heillosen Wut zurück.
Brandulf spuckte aus. „Von mir erfährst du nichts, Pereîs“, knurrte er.
„Das werden wir sehen.“ Jonah schaute sich nach dem Gürtel um, an dem der Nekromant Brandulf den Hang hinauf geschleift hatte. Er fand ihn, hob ihn auf. „Warum hast du versucht, uns zu beseitigen? Wie lautet dein Auftrag?“
Das Gras bewegte einzelne Halme, nicht mehr. Die Lichtung hörte immer noch keine Vogelstimmen. Oben in der Festung verfaulten fünfzig Leichen, und auch Simons Körper würde bald den Weg allen Fleisches gehen.
Brandulf schwieg, streckte unbeholfen die Beine.
„Ich fürchte, es ist ihm ernst“, sagte der Nekromant.
„Vielleicht.“ Jonah neigte sich noch ein Stück zu dem Daliegenden hinüber. „Hör mir zu, Brandulf. Gerüchte oder eine vorgefasste Meinung mögen dich davon überzeugt haben, dass du auf meine zivilisierten Seiten zählen kannst, auf Nachsicht, Skrupel oder Moral. Aber du stehst mir im falschen Augenblick gegenüber. Ich befinde mich in Schwarzfels, bin müde und habe eine Menge zu tun. Und du hast meinen Freund umgebracht.“
Brandulf kämpfte stumm gegen die Nachwirkungen nekromantischer Macht an.
Auch Hadan sagte kein Wort.
„Daher wiederhole ich meine Fragen nur noch dieses eine Mal“, fuhr Jonah fort. Seine Zähne klebten aneinander, er musste sich um einen ruhigen Tonfall bemühen. „Warum das Attentat? Zu wem gehörst du?“
Der Liegende lachte schütter. Dann sprach er eine Empfehlung aus, wohin sich Jonah sein eigenes Geschlechtsteil stecken könne.
Jonah beobachtete ihn. Eine abgespaltene Ebene der Wirklichkeit zitterte in greifbarer Nähe, rief nach ihm, aber er verspürte keinerlei Neigung, auf ihr Mahnen zu hören.
Stattdessen stand er auf, trat um Brandulf herum, schlang den Gürtel um das nach oben weisende Handgelenk des Liegenden und zerrte den Arm nach hinten. Dann holte er den zweiten Arm unter Brandulf hervor und fesselte ihm die Hände.
Er wälzte den Unterkommandanten wieder auf den Rücken. Brandulfs Spucke verfehlte ihn knapp.
Jonah kniete sich auf seine Brust. Ekel darüber, dem Anderen so nah kommen zu müssen, kroch in ihm hoch, aber auch auf ihn hörte er nicht.
Er legte die Rechte auf Brandulfs schweißnassen Hals. Aus irgendeinem aufgesprengten Verlies kam die Wärme, sonst immer nur erwachend, wenn anderes Feuer in unmittelbarer Nähe war. Brandulf schien zu spüren, dass sich die Hand an seiner Kehle erhitzte. Sein Körper bockte schwach.
„Das ist eine letzte Warnung“, teilte Jonah ihm mit.
Vom Rand seines Blickfelds her näherten sich schwarze Stiefel. Mehr Wärme floss in seine Hand, und Jonahs gesamtes Wesen hob sich. In seinen Ohren begann es zu pochen. Und trotz dieser Ekstase der Befreiung, die sich lodernd ankündigte, ahnte er, dass Schwarzfels eine nicht unerhebliche Rolle in dieser Veränderung spielte. Darum war der Nekromant jetzt vermutlich auch so dicht bei ihm. Er hegte denselben Verdacht.
„Hat Madalën dir aufgetragen, Pereîs zu töten?“, hörte Jonah ihn Brandulf fragen.
Brandulf bockte erneut, versuchte, Jonah abzuwerfen und sich der Hand an seiner Kehle irgendwie zu entwinden. Die Haut unter Jonahs Fingern rötete sich.
Der Liegende knurrte, atmete ein paar Male hastig. „Nein.“
„Wer dann?“, wollte Hadan wissen.
Brandulfs Gesicht verzerrte sich – ob aus Schmerz oder in verächtlichem Begreifen, war schwer zu sagen. „Du!“, stieß er hervor. „Was geht denn dich all das an, Totenbeschwörer? Ja, ich habe lange gebraucht, aber jetzt –. Ein verdammter Schwarzmagier. Ihr seid auch nicht besser als die Paladine.“
„Du bist ein Barbar“, warf Jonah ein.
Es war kaum vorstellbar, doch die einzige andere, schlüssige Erklärung.
Als er zu Hadan aufsah, wirkte selbst der Nekromant überrascht. „Er könnte ein Bastard sein“, sagte er.
Unter Jonah war Brandulf ruhiger geworden, bebte jedoch am ganzen Leib. „Ein Bastard“, wiederholte er zischend. „Ja. So wie du, Pereîs.“ Sein Gesicht, das zuletzt Hadan zugekehrt gewesen war, soweit seine Lage das erlaubte, drehte sich wieder zu Jonah. „Oder irre ich mich?“
Anstelle einer Antwort verlagerte Jonah sein Gewicht nach vorn. Für ein paar Augenblicke hatte er das schlummernde Feuer in seiner Hand ersterben lassen, eher unbewusst, gefangen in Brandulfs Entgegnungen. Jetzt las er an der Miene des Unterkommandanten ab, dass es zurückkam, und er wusste nicht mehr zu sagen, ob sein Inneres dafür verantwortlich gemacht werden musste oder Schwarzfels.
„Wer hat dir den Auftrag gegeben, mich zu beseitigen?“, fragte er. Ganz sacht begann es widerwärtig nach schmorender Haut zu riechen. „Und aus welchem Grund?“
Der Unterkommandant fluchte und wand sich, aber er wahrte sein Schweigen, gab nichts preis.
‚Die sterben lieber auf der Streckbank, als den Mund aufzumachen‘, hatte Jaronas gesagt.
Jonah nahm die Hand zurück.
Dies hier, dieser Mann, auf dessen ausgelaugtem, zerschundenem Leib er kniete, war der erste Barbar, den er sah, Bastard hin oder her. Sicher hatte das Leben unter den Westmarschenern, die er offensichtlich zutiefst verachtete, Brandulf geformt, ihn zu einem Zwischenwesen gemacht, das sich an keinen Kodex hielt und gut verwendet werden konnte. Liebten ihn die Leute, die ihn unter den Feind geschickt hatten? Denn dass Brandulf sie liebte, lieben musste, um diesen Weg gegangen zu sein, stand wohl außer Zweifel.
Und er, Jonah, hatte diese Reise am Ende einer langen Scharade sorgfältiger Höflichkeit und geduldigen Ausharrens nicht angetreten, um eins der Opfer von Sanktuarios schwierigen Klassenverhältnissen zu foltern. Er begriff, dass Brandulf seine Leute nicht im Stich lassen würde. Einen Entschluss fassend, erhob er sich.
Der Daliegende zuckte, verwundert über den plötzlichen Abbruch der Befragung. Was für eine Befragung eigentlich? Dass die Barbaren einen Kundschafter ihrer Gegner, dessen Kommen ihnen zugetragen worden war, nicht in ihrem Land dulden würden, lag in der Natur der Sache.
„Es ist gut“, sagte Jonah zu Brandulf. „Du willst und wirst deine Brüder nicht verraten. Auch als Paladin verstehe ich das, und ich respektiere es. Trotzdem solltest du zwei Dinge bedenken. Erstens können wir dich selbstverständlich nicht gehen lassen. Und zweitens, obwohl an alldem vielleicht wirklich nichts Persönliches war, bleibt die Tatsache bestehen, dass du meinen Freund getötet hast.“
Weder hatte Brandulf Zeit für eine Erwiderung, noch kam der Nekromant, der wenige Schritte entfernt wartete, zum Eingreifen.
Das Schwert aus der Rückenscheide zu ziehen, benötigte nur einen Herzschlag. Jonah setzte Brandulf die Spitze unter das Brustbein und lehnte sich mit einem Ruck auf den Knauf.
Brandulf krümmte sich, erzitterte, lag dann still.
Die Klinge trat hinten aus. Er musste einen Stiefel gegen den erschlafften Leib stemmen, um sie wieder freizukriegen.
Gab es eine zustimmende Erschütterung oben in Schwarzfels, nichtmenschlichen Applaus, ein gieriges, lautloses Kichern? Oder war der Akt zu unbedeutend, um ins Gewicht zu fallen?
Nach einem tiefen Luftholen begegnete Jonah dem Blick des Nekromanten. Falls er hatte vorstürzen wollen, um Jonah aufzuhalten, verriet seine Haltung nichts davon. Er hob jetzt nur ein wenig das Kinn.
Dann sagte er: „Meine Annahme, Ihr wärt ein zu großer Menschenfreund, muss ich wohl noch einmal überprüfen.“
Jonah wischte das Schwert am Gras ab und steckte es zurück. Dieselbe kühle, tranceartige Entschlossenheit, die ihn bereits vorher gepackt hatte, ordnete seine Gedanken für ihn.
„Brandulf hätte nicht geredet“, erwiderte er. „Und selbst wenn – was soll ich mit dem Namen irgendeines Clans oder Häuptlings? Ich kann schlecht auf eigene Faust zu einer Barbarensiedlung laufen und dort Wiedergutmachung für Simons Tod fordern. Ich bin auch nicht wegen der Barbaren hier.“
Hadan sah ihn unverwandt an. „So ein Vorfall könnte durchaus auf offene Ohren stoßen, dort wo Ihr herkommt“, sagte er nach einem Moment. „Zusätzlich zu dem, was Euren Brüdern widerfahren ist. In ein paar Wochen müsstet Ihr vielleicht gar nicht mehr ‚auf eigene Faust‘ zu den Barbaren laufen.“
„Ich weiß“, entgegnete Jonah. „Aber ich werde keinen Krieg in diese Gegend bringen.“
Wieder betrachtete der Nekromant ihn eine Weile schweigend. Schließlich spitzte er leicht die Lippen und nickte.
Jonah sah sich um. Der Wald zog sich in einem Bogen rings um die Lichtung, stumm und alterslos. Der Himmel war von einer perlgrauen Wolkendecke überspannt. Der Reichtum an Vogelstimmen und anderen Lauten des ersten Abends im Wald mutete wie eine geschönte Erinnerung an, wie ein Traum.
Der Nekromant räusperte sich leise. „Nun, ein Problem wäre gelöst. Doch es herrscht kein Mangel an möglichen weiteren Problemen, denke ich. Dieser Brandulf war nicht der Einzige, der sich in unserer Nähe herumgetrieben hat.“ Auf Jonahs fragenden Ausdruck hin fuhr er fort: „Gestern, bin ich mir sehr sicher, war ein Späher bei der Festung.“
„Vielleicht bewachen die Barbaren Schwarzfels.“
„Nein“, sagte Hadan. „Kein Barbar. Das war ein Druide. Eine Ahnung von Magie, Ihr wisst schon.“
„Simon und ich sind einem Druiden begegnet“, teilte Jonah ihm mit. „Vor zwei Tagen. Er hat uns vor Schwarzfels gewarnt.“
„Zu Recht, wie es aussieht.“ Mit zusammengezogenen Brauen starrte der Nekromant über den Hang hinweg auf die Festung. Sein weißes Gesicht hatte nur wenige Linien. „Ich weiß nicht, ob dieser Späher andere Druiden in Alarmbereitschaft versetzt hat. Aber spätestens die Verbrennung der Leichen wird jeden Menschen im Umkreis von unserer Anwesenheit unterrichten. Womöglich sind schon Leute zu uns unterwegs, egal ob Barbaren oder Druiden.“ Er wandte sich Jonah zu. „Daher schlage ich vor, dass wir unsere Suche fortsetzen und die Toten verbrennen, so schnell es geht.“
Es gab nichts einzuwenden.
Stillschweigend schien Hadan anzunehmen, Jonah werde die Angelegenheit bis zu ihrem Ende durchstehen, und stillschweigend bewies Jonah ihm, dass es so war, indem er begann, Brandulfs Körper den Hang hinaufzuziehen. Der Nekromant fasste mit an, und zusammen hatten sie den zweiundfünfzigsten Toten von Schwarzfels innerhalb weniger Augenblicke neben die im Hof liegenden Paladine gebettet.
Die Krähen waren verschwunden. Nur die Fliegen umschwirrten die leblosen Körper. Einundfünfzig stille, zerfallende Gesichter sahen hoch in den Himmel.
Hadan ignorierte die Leichen, doch Jonah konnte sich ihrer Gegenwart nicht ganz entziehen. Manchmal meinte er, unter seinen Stiefeln eine Art feines Beben zu spüren, und es war dem Eindruck aufgeladenen Steins der vergangenen Nacht beunruhigend ähnlich.
Ohne es zu merken, hatte er dagestanden, das Gefühl der Klinge, die Brandulf durchbohrt hatte, noch in den Muskeln, die Aufmerksamkeit an dieses verhasste Beben gehängt.
Jonah schrak auf, als der Nekromant zu ihm trat. Offenbar war er im Gebäude gewesen.
„Seht Euch das an.“ Hadan hielt ihm einen dünnen Stapel Pergamentseiten hin, die mit einer Kordel aneinandergebunden waren. „Das habe ich gestern schon gefunden, aber erst jetzt, durch den Entschluss, nach dem Quell des Übels hier oben zu suchen, ist mir klar geworden, dass es wichtig sein könnte.“
Die Pergamentseiten enthielten Zeichnungen.
Irgendeiner der Männer der Missionstruppe war anscheinend mit der Aufgabe betraut worden, Skizzen des Bauwerks und der Bautätigkeiten anzufertigen. Jonah erkannte die zwei gedrungenen Wehrtürme auf einem Blatt, auf einem nächsten, was nach Plänen für Stallungen und andere praktische Gebäude aussah, und wieder auf dem nächsten Angaben zu Mauern oder Wänden.
„Die letzte Seite“, unterbrach der Nekromant ihn gedämpft.
Gemeinte Seite zeigte ein aus lauter Rechtecken bestehendes grobes Quadrat. Zunächst sagte die Zeichnung Jonah nichts, doch dann fiel sein Blick auf ein paar hingekritzelte Zeilen: Anmerkungen und Zahlen.
„‘Hundertzwanzig Platten‘“, las er ab. „‘Geringe Krümmung, ordentliche Qualität. Angeordnet zehn mal zwölf.‘“ Nebenan lagen die Toten, die Rücken auf abgetretenem Stein. Er sah hoch und in Hadans gespenstische Augen. „Platten. Das ist der Hof.“
„Der Hof, in dem wir gerade stehen.“ Da flackerte Erkenntnis in der Miene des Nekromanten auf, und eine Andeutung von Befremden oder sogar Furcht. „Sie haben ihn so angetroffen. Er ist der einzige Teil der Festung, den Eure Brüder nicht gebaut haben. Er muss ihnen wie ein glücklicher Umstand vorgekommen sein.“
Widerwillig, aber wie gebannt senkte Jonah den Blick auf seine Stiefel. Die Hofplatten waren bereits dagewesen, als der Zug der Lichtkrieger vor Monaten aus dem Wald auf diese Lichtung getreten war. Sicher hatte das Quadrat flacher Steine keinen Hof darstellen sollen, aber die Missionstruppe hatte es akzeptiert, wie es war, und die Festung rings darum errichtet. Irgendwo im Wald musste sich ein Steinbruch verstecken. Diese Platten aber waren älter. Eine Stätte.
Und unter ihr hatte das Übel auf die Eintreffenden gelauert.
Die Männer sahen einander schweigend an. Stehen zu bleiben, wo man war, erforderte plötzlich denselben Mut, den man brauchte, um nicht vor einem angreifenden Heer auszureißen.
Hadan war der Erste, der sich rührte. Nach kurzem Umherspähen ging er rasch zur Ostmauer hinüber, an deren Fuß ein paar vergessene Gegenstände lagen, darunter auch Waffen oder Reste davon. Mit einem Kampfhammer in der Rechten und einem Kriegszepter in der Linken kehrte er zurück.
„Hier.“ Er reichte Jonah den Hammer.
„Was soll ich damit?“
„Mir helfen, eine dieser Platten hochzustemmen.“ Als Jonah ihn nur wortlos anstarrte, fügte der Nekromant ungeduldig hinzu: „Irgendetwas befindet sich unter Schwarzfels. Glaubt Ihr ruhig an Plätze, die aus sich selbst heraus eine Aura erzeugen, aber mir ist noch kein Bauwerk begegnet, das so eine Theorie unterstützt hätte.“
Jonah nickte betäubt.
Sie wählten eine der Platten am Rand des Hofes aus, wo die Zeit an der festen Einfügung des Steins ins Erdreich gefressen hatte. Ohne langes Federlesen kniete der Nekromant sich hin und begann, die Erde längs des Rands mit dem Szepter wegzukratzen. Jonah trieb die Spitze des Kampfhammers in die Lücke zwischen dieser und der nächsten Platte, um den Stein zu lockern. Sie arbeiteten stumm, wie besessen.
Um sie herum schüttelte Schwarzfels seinen Schlummer ab. Die Luft schien sich zu verdichten, bis man für jeden gewohnten Atemzug zwei benötigte. Staubteilchen hingen schwerelos über dem Boden. Der Nekromant spürte es auch, Jonah sah es an seiner verbissenen Miene.
Nach einer Weile hatten sie den äußeren Rand der Platte und tiefere Spalten rings um sie herum freigelegt. Hadan bohrte das Szepter unter den Plattenrand, während Jonah versuchte, den Hammerdorn wie einen Hebel in der Spalte anzusetzen.
Das Steinrechteck maß sicherlich sechs mal vier Fuß und musste Einiges wiegen. Eisen scharrte. Sie atmeten schwer.
Dann plötzlich ruckte die Platte. Jonah lehnte sich zurück und zog mit aller Kraft an dem Kampfhammer. Der Nekromant stemmte sich auf den Stiel des Szepters.
Langsam und kratzend kam die Platte hoch, und schließlich konnten die Männer sie auf eine benachbarte Platte schieben.
Dunkler Boden tauchte auf. Aber nicht nur das.
Sie wichen jeder einen Schritt zurück.
Was halb im Boden begraben war, sah auf den ersten Blick aus wie die Beinpanzer großer Krustentiere, lange, gewölbte Formen aus irgendeinem rötlichschwarzen Material. Mit enger Brust, den Atem angehalten, wartete Jonah, bis sein Verstand die Distanz zwischen Ahnung und wirklichem Begreifen aufgeholt hatte.
Es war eine Hand. Mehr als dreimal so groß wie die eines Menschen, in einander überlappende Fingerschutzstücke einer Rüstung gekleidet. Sie nahm zwei Drittel des Raums unter der Platte ein, mit dem Boden verschmolzen, und der gewaltige Arm, in den sie überging, verschwand unter der angrenzenden Platte.
Jonah gegenüber murmelte der Nekromant Worte in einer fremden Sprache, der Sprache seiner Heimat vermutlich. Ob er eine Verwünschung ausstieß oder betete, war nicht herauszuhören.
„Ihr hattet Recht“, zwang sich Jonah zu sagen. Er musste sich räuspern. „Unter Schwarzfels liegt tatsächlich etwas versteckt.“
„Amansuya.“ Hadans Stimme war ähnlich belegt wie seine.
„Wie bitte?“
„Ein Dämon.“ Die fahlen Augen lösten sich von der freigelegten Vertiefung und den fremdartigen Formen und trafen Jonah. „Unter der Festung befindet sich die Ruhestätte eines Dämons. Ihr habt doch sicher auch in der Westmarsch Annalen von der Existenz einer oberen Sphäre.“
„Natürlich“, antwortete Jonah.
„Was“, fuhr der Nekromant fort, „wenn ein Bewohner dieser Sphären gezwungen worden wäre, sie zu verlassen? Da oben wird sicher auch gekämpft. Und Besiegte fallen.“
„Wollt Ihr damit sagen, ein leibhaftiger Dämon ist auf diese Lichtung herabgestürzt?“ Noch während er seine eigene, ungläubige Stimme hörte, traf es Jonah wie ein Schlag. „Grundgütiges Licht, mein Traum.“
„Würdet Ihr Euch freundlichst erklären?“, bat Hadan ihn.
„Ja, selbstverständlich.“ Der Paladin fuhr sich mit der Rechten über den Nacken. „In einer der Nächte auf dem Weg hierher habe ich von einem seltsamen Ereignis geträumt. Da war eine Lichtung. Es war Nacht. Dann kam etwas aus dem Himmel.“
„Das da?“ Hadan wies mit dem Kinn auf den Boden.
„Nicht direkt. Eher eine Art Leuchten.“ Jonah machte die Augen schmal. „Es schlug ein. An mehr kann ich mich nicht erinnern.“
Wieder sagte Hadan ein paar Worte in einer fremden Sprache. Schließlich leckte er sich über die Lippen. „Gut. Was auch immer hier vorgefallen ist, diese Überreste haben sich irgendeine Essenz bewahrt. Sie vergiftet die gesamte Umgebung. Und ich glaube, sie nährt sich von lebenden Menschen – und von den Fetzen an Lebenskraft, die sie in Toten finden kann.“
Sie wechselten einen der vielen Blicke stummer Verständigung des Tages.
Jonah sah zu den Reihen der Leichen hinüber. „Wir müssen sie bestatten.“
„Ja.“ Der Nekromant streckte sich zu seiner vollen, recht beeindruckenden Größe. „Und wir sollten für sie beten. Wir beide. Tun, was nötig ist, um ihre Bindung an diesen Ort zu kappen.“
Sie ließen die weggeschobene Steinplatte so liegen, wie sie war. Vielleicht hatten Bewohner dieses Waldes den unwahrscheinlichen, riesigen Leib gefunden, der auf der Lichtung aufgetroffen war, und ihn mangels besserer Möglichkeiten zu verscharren und mit Steinplatten in seinem Grab zu halten versucht. Doch damit hatten sie ihn nur vor den Augen verborgen, nicht vor dem tieferen Bewusstsein.
Die Männer machten sich zum Waldrand auf, um Feuerholz zu beschaffen - genügend Holz für Scheiterhaufen, die hoffentlich heiß genug brennen würden, um die Toten von Schwarzfels zu erlösen.
*
Als sie damit fertig wurden, das Holz aufzuschichten und die Leichen auf den flachen Stößen auszubreiten, schwand das Tageslicht. Es war noch viel zu früh für die Dämmerung, erst die zweite oder dritte Stunde nach Mittag.
Hadan sah in den Himmel. Mächtige, schiefergraue Wolken rückten langsam zu einer Schicht über dem Wald zusammen. Sie hingen so tief, dass man meinen konnte, nur auf einen hohen Baum klettern zu müssen, um sie berühren zu können.
„Das sieht nach Regen aus“, sagte der Nekromant zu Pereîs.
Der Paladin trat von einem Holzstoß zurück, auf den sie soeben den letzten Toten gelegt hatten, und schaute ebenfalls nach oben.
Hatte er bei ihrer Begegnung noch den Eindruck eines im Grunde sehr reinlichen Mannes gemacht, starrte er jetzt vor Dreck. Schweiß und Staub tönten seine Haut dunkler, das Haar, sonst vielleicht ein helles Braun, wirkte fast schwarz. Der Bartschatten, den er zwischenzeitlich abrasiert hatte, kam zurück und ließ ihn Jahre älter aussehen, als er sein konnte.
Um Hadan selbst stand es übrigens nicht besser. Durch das Herumhantieren mit zahllosen Ästen und mit Toten, die sich in allen nur erdenklichen Stadien der Verwesung befanden, waren sie beide harzverklebt, schmierig und stanken vermutlich eine Meile gegen den Wind nach dem penetranten Miasma offener Gräber.
Sie waren während ihrer Arbeiten nicht gestört worden.
Wenn nun allerdings schwere Regenfälle kamen, würde es unmöglich werden, die Feuerbestattung der Toten von Schwarzfels wie geplant durchzuführen.
„Besser, wir beeilen uns.“ Hadan ließ einen letzten Blick über die Scheiterhaufen wandern. Dann sah er Pereîs an. „Was ist mit Eurem Freund?“
Entgegen seiner Erwartung behielten Pereîs‘ Züge ihre Härte und glatte Entschlossenheit der vergangenen Stunden. Entweder war dieser Mann ausgesprochen wandlungsfähig, oder die jüngsten Ereignisse hatten ihn so getroffen, dass alles Weiche an ihm wegschmolz. Hadan wünschte ihm Ersteres. Und nicht nur ihm.
Man durfte sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es sich bei Jonah Pereîs um eine einflussreiche Figur in der Westmarschener Politik handelte. Trotz seiner Randstellung – Hadan konnte sich gut ausmalen, wie Pereîs aufgrund seines Äußeren und seines Auftritts behandelt wurde – war er in der Lage, Ordensväter, Stadträte und Heerführer in ganz bestimmte Richtungen zu lenken, und genau das hatte er, soweit Hadan die Gerüchte zu filtern wusste, auch seit Jahren getan.
Neben dem Osten war die Westmarsch die größte Macht in Sanktuario. Allein Kingsport beherbergte dreitausend geweihte Paladine und konnte im Kriegsfall ein aus Lichtkriegern und Laien gemischtes Heer von zwanzigtausend Mann aufstellen. Wenn sich der Orden des Lichts dazu entschloss, gesammelt gegen ein anderes Gebiet zu ziehen, würde er kaum aufzuhalten sein, oder nur unter Verlusten, die Sanktuarios bisherige Klassenverteilung vernichteten. Kehrte Pereîs verändert, verhärtet und voller Groll von dieser Reise zu seinem Orden zurück, konnte er sehr viel Schaden anrichten.
Darum musterte Hadan ihn jetzt auch ganz genau.
„Er wird mit bestattet“, beantwortete Pereîs seine Frage. „Würdet Ihr mir helfen, ihn zu holen?“ Sein Tonfall war beherrscht, fast aufgeräumt.
Der Nekromant nickte. Gemeinsam betraten sie die Festung und dann den Vorraum.
Nachdem sie den Diener in ein sauberes Hemd aus seinem Reisesack gekleidet hatten, trugen sie ihn auf der Decke in den Hof hinaus und zu den Scheiterhaufen hinunter.
Die Holzstöße befanden sich auf halber Höhe am Hang, in einer Entfernung zu Schwarzfels, die den Männern ratsam erschienen war. Es war eine große Ansammlung einzelner Haufen geworden, mit immer etwa fünf Toten auf einem Holzstoß, elf Stöße an der Zahl. Kaum zu glaube, dass sie dies zu zweit vollbracht hatten, doch der Nekromant wusste, dass seine Muskeln ihn am nächsten Tag getreulich an die Schufterei erinnern würden.
Der Körper des Dieners bekam einen Platz für sich allein, auf einem kleineren Holzstoß. Sie wuchteten ihn hinauf, dann trat Hadan zurück.
Sich äußerlich gebend, als sei er in Gedanken versunken, stand er mit niedergeschlagenen Augen da und beobachtete Pereîs heimlich.
Als der Paladin seinem Freund die Hände auf der Brust faltete, bekam seine Miene endlich den Sprung, auf den der Nekromant gewartet und gehofft hatte. Die Rechte noch auf den Händen des Toten, hörte Pereîs für eine kleine Weile auf, sich zu bewegen. Seine Kiefermuskulatur bewies, dass er rhythmisch die Zähne aufeinanderbiss. Dann trennte er sich von seinem Freund und gesellte sich zu Hadan.
Es war inzwischen fast nachtdunkel. Erste Regentropfen pochten auf das Holz der Scheiterhaufen.
Die Männer gingen jeder mit einem brennenden Ast an den Haufen entlang und entzündeten sie. Zum Glück war das Holz trocken. Das Feuer ergriff schnell Besitz von allem, was es berührte.
Die brennenden Scheiterhaufen erhellten die ganze Lichtung, warfen flackerndes, kränklich gelbes Licht auf Bäume, den Hang, Pereîs‘ Gesicht.
Rauch stieg auf. Zwischen den Flammen lagen die Toten, schwarze Gestalten, alle auf dieselbe Weise aufgebahrt. Brandulf, der ehemalige Unterkommandant von Madalën, befand sich unter ihnen.
Neben Hadan zog Pereîs sein eines Schwert aus der Gürtelscheide. Der Paladin starrte noch kurz ins Feuer, das zu einer gewaltigen Lohe anwuchs. Dann schlug er die rituelle Geste seines Ordens, ging auf ein Knie nieder, beide Hände am vor sich aufgestellten Schwert, und senkte die Stirn auf den Knauf der Waffe.
Der Nekromant hörte ihn beten. Pereîs‘ sanfte Stimme war vor dem Prasseln und Knacken der Flammen eben noch zu verstehen.
Mehr Regentropfen fielen, verzischten im Feuer. Hadan sammelte sich und begann sein eigenes Gebet, das sich an seinen erwählten Gott richtete, Pakhra, den Herrn des Todes und der Zwischenwelten.
Er hatte diese Männer, die da vor ihm verschmorten, nicht gekannt, und er stand der Klasse der Paladine misstrauisch und zweifelnd gegenüber. Aber kein Mensch durfte auf so eine Weise zugrunde gehen, den Einflüsterungen höherer, übelwollender Mächte ausgeliefert, dem Wahnsinn überantwortet, mit entsetzlichen Verbrechen beladen, allein unter den Rädern des Schicksals.
Dessen eingedenk, drückte Hadan seinem Stolz die Luft ab und empfahl Pakhra die Seelen der Toten. Er bat ihn, sie aus dem Griff des Unheils von Schwarzfels zu befreien und sie mitzunehmen. Sie Ruhe finden zu lassen.
Pereîs‘ Worte in der Gemeinsamen Sprache, die die Westmarschener benutzten, und Hadans eigene Worte in Jabrah, der Zunge des Ostens, flossen ineinander, bildeten ein Ganzes.
Schließlich erhob sich der Paladin. Er wartete, bis der Nekromant sein Gebet beendet hatte. Vielleicht lauschte er auch.
Hinter ihnen drang allmählich dasselbe fahle Leuchten aus dem Festungsgelände wie in der vergangenen Nacht. Man brauchte sich nicht einmal danach umzudrehen, man spürte es in den Knochen und in der Seele.
Die Männer standen und sahen dem Feuer zu. Lange.
Zu lange, wie sich herausstellte.
Plötzlich streichelte eine Fingerspitze der Warnung Hadans Inneres. Eilig riss er seine Konzentration von der Verbrennungsstätte und Pakhras nachklingender Gegenwart weg und schleuderte sie in den unnatürlich verdunkelten Nachmittag hinaus. Als er das Häuflein Lebenslichter erfasste, senkte sich Schreck in seine Glieder. Schreck, aber keine wirkliche Überraschung.
„Macht Euch bereit“, sagte er zu Pereîs und wandte sich suchend dem aufsteigenden Hang zu. Die Lebenslichter näherten sich aus dem Wald hinter der Festung. „Sie kommen.“
Der Paladin fuhr herum.
Sie spähten den Hang hinauf. Das Leuchten hing böse über den gedrungenen Gebäuden. Sogar bis dorthin reichte der Widerschein des Feuers, malte orangefarbenes Flackern auf Steine und fernere Bäume.
Aus dem Halbdunkel dahinter kamen vier oder fünf Gestalten, hochgewachsen, massig. Barbaren.