@Insidias: Moin moin! Gibt es Dich auch noch? XD
Das ist sehr schön. Und danke für Dein Lob. Falls Du Lust hast: lass uns doch mal per PN ein Update zu unserer persönlichen Chose vornehmen *knuffel*
@Horseback: Danke für deine Rückmeldung. Für Hinweise zu Fehlern bin ich immer dankbar :>
@Ifurita: Auch über Deine Meldung freu ich mich sehr.
Der Rechtsstreit ist noch in vollem Gange.
Abgesehen davon haben mich das RL und die Arbeit an meinem ersten ernstgemeinten Buchprojekt ziemlich mit Beschlag belegt.
Wer trotzdem noch da ist und weiterlesen möchte, kann das jetzt tun.
Und sorry für die lange Funkstille.
LG an euch alle,
Reeba
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XV. Chaos
Entsetzen und Verzweiflung schärften seine Sinne. Er sah die Baumlinie ganz deutlich, sogar einzelne Stämme und das Unterholz und die Nachtschatten zwischen ihnen. Er hörte seine eigenen, hastigen Atemzüge. Und er fühlte selbst in vollem Lauf den Boden unter sich erbeben.
Der Bär hinter ihm war in Trab gefallen und wechselte nach einem Moment in die nächste Gangart über. Er würde ihn bald einholen.
Jonah brachte das Rückenschwert in seiner Scheide unter, während er rannte. Das andere Schwert behielt er in der Faust. Wofür er eine Hand freihaben wollte und was er eigentlich meinte, mit einem Kurzschwert gegen einen Bären ausrichten zu können, verstand er selbst nicht. Irgendwann hatte er es wohl aufgegeben, nach dem Verstand zu handeln.
Gellens Fall, die niederstoßende Schnauze, das schreckliche Reißen – es klebte an ihm wie eine Schicht aus Eis, und dahinter ragte das gehetzte Begreifen größerer Zusammenhänge auf. Sein Verfolger war kein schlichtes Tier und auch kein rasender Gestaltwandler. Schwarzfels hatte sich ein Gefäß gesucht. Der Dämon war frei.
Jonah stob zwischen den ersten Bäumen hindurch. Äste griffen nach seinen Stiefeln, Unebenheiten lauerten. Er schaffte es, auf den Beinen zu bleiben und nicht in den nächstbesten Baum hineinzurennen, aber das würde ihn nicht retten. Hinter ihm brach der Bär durchs Unterholz, hatte den Waldrand also auch schon passiert. Die Atemzüge der Bestie kamen im Rhythmus ihres Laufs, speichelnass, heftig, wie aus einem riesigen Blasebalg.
Verzweifelt wich Jonah zwei dicht zusammenstehenden Stämmen aus. Sein Verfolger erreichte sie Herzschläge später, streifte sie. Ein Gebrüll wie aus der Geburtshöhle aller Albträume schleuderte den Paladin weiter. Er stolperte, fing sich mit Mühe.
Vielleicht konnte es ihm gelingen, einen Bogen zu schlagen und zur Lichtung zurück zu rennen. Der Nekromant musste noch irgendwo dort sein.
Und dann? Erneut das Gebrüll. Jonah verschluckte sich fast an seinem eigenen, geschockten Luftholen.
Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, welcher Kreatur sie gegenüberstanden. Schon ein gewöhnlicher Bär war ohne Hunde, Speere und viele Bewaffnete fast unmöglich zu töten. In diesem Tier steckten Faelan und der Geist von Schwarzfels.
Blätter raschelten, Zweige zersplitterten, Schritte erschütterten den Boden, näher jetzt.
In dem Augenblick, als Jonah die Lichter zwischen den Bäumen sah, Lichter, die in einem weiten Halbkreis in seine Richtung durch den Wald herankamen, holte der Bär ihn ein.
Ein Stoß warf den Paladin nach vorn. Er prallte mit unbeschreiblicher Wucht gegen ein Hindernis, wurde vom Schwung daran vorbeigetragen und rollte über den Boden. Kurz war er blind, unfähig, sich zu rühren. Der Schmerz schnappte verzögert nach ihm.
Dann kam er irgendwie auf die Füße. Die Welt war nicht so dunkel, wie sie sein sollte. Auf dem Blätterteppich und den Stämmen lag ein schwacher, gelber Schein.
Jonah griff über die Schulter nach hinten und riss das Schwert aus der Rückenscheide. Die andere Waffe war weg. Ihm gegenüber, nur ein Dutzend Schritte entfernt, stand der Bär. Seine Rückenlinie reichte so hoch wie Jonahs Scheitel. Er senkte den Schädel, schnaufte, ein felliger Berg, der durchdringend nach Tier und Wildheit stank.
Zwischen ihnen blinkte das zweite Schwert auf der Erde.
Jonah ging sehr langsam in die Hocke, das Bärengesicht im Blick. Kleine Augen verfolgten seine Bewegungen. Aber irgendetwas schien das Ungetüm abzulenken, und es zögerte und wandte leicht den Kopf. Die Lichter näherten sich von überallher, ein ferner Schwarm von Fackeln, wie Jonahs wirres Denken begriff.
Er hob das Schwert auf und wich zurück. Er zitterte, seine Brust, mit der er gegen den Baum geprallt war, pochte in Agonie, und er brauchte jedes letzte Quäntchen Beherrschung, um seine Blase unter Kontrolle zu halten.
Sie waren allein, er und die Kreatur, dieser Zusammenschluss aus Tier, Mensch und dem Botschafter einer Ebene weit über Sanktuario. Zumindest jetzt noch. Aus großer Entfernung erklangen die ersten Laute, und Unruhe reiste vor den Fackeln her. Von irgendwo hinter dem Bär näherte sich andere Bewegung.
„Sie kommen“, sagte Jonah leise.
Er hatte eben noch Zeit für ein Blinzeln.
Der Tier war so plötzlich über ihm, wie Brandulf es gewesen war. Heißer Atem blies Jonah ins Gesicht. Eine Klaue fegte ihm mit einem einzigen Hieb ein Schwert aus der Hand, schleuderte ihn halb herum und ins Laub. Dann wurde er unter einen mächtigen Schatten gezerrt, und obwohl er dort im Augenblick noch keinen Schmerz fühlte, wurde ihm klar, dass der Bär ihn mit den Zähnen am Bein gepackt hatte. Die Vorderläufe holten ihn weiter heran, unter das Tier, sammelten ihn einfach ein wie eine Lumpenpuppe.
Er konnte nicht einmal schreien. Er stieß das verbliebene Schwert nach oben. Gebrüll machte ihn halb taub. Der Gestank war atemberaubend.
Sein Bein war freigekommen, und jetzt explodierte der Schmerz in einer blendenden Wolke, aber Jonah bekam keine Gelegenheit mehr, das unverhoffte Losgelassenwerden zu nutzen. Etwas Feuchtes, Atem Ausstoßendes streifte seine eine Hand, seinen Hosenschritt, den unteren Rand des Harnisches.
Die Nase des Bären. Sie wegschieben zu wollen war, als versuche man, einen vorwärtsrollenden Felsblock aufzuhalten. Brummen, klaftertief. Jonah fühlte Zähne an den Fingern, erst eine ineinander verschachtelte Doppelreihe, dann Spitzen. Die Welt bestand aus nichts Anderem mehr.
Fast spielerisch schob das Tier den Rand des Harnisches hoch und schnappte zu. Die Zähne gingen dem Paladin durch und durch. Er wurde herumgezerrt, angestoßen. Eine Welle aus Hitze hob ihn empor, aber er konnte sie nicht lenken.
Letztlich gipfelte die Agonie doch in einem Schrei. Danach verschluckte ihn die Finsternis.
*
Hadan rannte schräg über den Hang auf die Bäume zu.
Unterwegs fluchte er lästerlich. Er hatte keine Zeit gehabt, wirklich nach Gellen zu schauen, aber es war auch nicht nötig. Der einstige Faelan, jetzt ein entfesselter Wechselbär und Werkzeug des Dämons, hatte seinen Vertrauten getötet. Nun jagte die Bestie Jonah Pereîs nach, diesem Irren, den irgendeine aberwitzige Anwandlung von Edelmut dazu verleitet hatte, mit Steinen zu schmeißen, anstatt sich in Sicherheit zu bringen, wie es abgesprochen gewesen war.
Der Nekromant tauchte in den Wald ein. Er hatte den Bären wenige Augenblicke zuvor an dieser Stelle zwischen den Stämmen verschwinden sehen. Doch unter den Bäumen herrschte so tiefe Dunkelheit, dass nicht einmal Hadans gute Augen viel erkannten. Er hielt an und lauschte, bemüht, seinen eigenen schweren Atem zu unterdrücken.
Die Zeremonie hatte ihn angegriffen, aber nicht so stark wie befürchtet, und das aus einem einzigen Grund. Sie hatte weniger Zeit in Anspruch genommen als erwartet. Vielleicht hatte der Dämon auf der Lauer gelegen und den zweiten Versuch, ihm beizukommen, sofort erkannt.
In gewisser Weise geschah es ihnen allen ganz recht. Zu denken, man könne das Verhalten eines Geschöpfes vorhersagen, das älter und mächtiger war als alles, was auf Sanktuario umherkroch, war nur mit Schwachsinn und Überheblichkeit zu erklären. Gellen hatte für seinen Hochmut bezahlt. Pereîs würde in Kürze für den seinen bezahlen. Und dann war er, Hadan, an der Reihe. Selbst wenn das Ungetüm ihn nicht sofort erwischte, würde es sich mühelos auf seine Spur setzen. Es war weder an diesen Ort noch an irgendeinen anderen Fleck Erde gebunden, nur an den Körper, der den dämonischen Kern beherbergte – den Körper eines Bären oder eines Mannes, je nachdem.
Hadan biss sich auf die Unterlippe. Flüchtig lockte er ihn, der Gedanke an Flucht, und nicht zu knapp. Er schuldete diesen Menschen hier nichts mehr, und er konnte versuchen, das Wettrennen gegen einen Nachsteller zu gewinnen, der vielleicht bald das Interesse an ihm verlor, von anderen, lohnenderen Zielen geködert.
Tiefer im Wald, nicht weit weg, brüllte der Bär ein langes, triumphierendes Brüllen. Es klang nicht so, als suche er sein Opfer noch.
Der Nekromant rannte los, dem Klang nach. Dankbar spürte er, wie der Mann, der auch und zu oft in ihm hauste, abstarb und irgendwo liegenblieb wie eine Larve. Wut ersetzte ihn. Sie verlieh Hadan zusätzliche Schnelligkeit.
Plötzlich erkannte er einen Umriss zwischen den Bäumen, zu groß für einen Menschen. Er schlug einen Bogen und brach aus dem Unterholz. Er war auf einer kleinen Lichtung ausgekommen.
Schräg gegenüber, die Schnauze gesenkt, zerrte der Bär an einem niedrigen Hügelchen herum. Eiseskälte fasste nach Hadan. Da bemerkte der Bär ihn. Der mächtige, quadratische Schädel kam hoch.
Und in diesem Moment gingen dem Nekromanten zwei Dinge auf. Erstens sah er die Umgebung, das Ungetüm und den malträtierten Leib zu dessen Füßen viel zu gut. Dutzende von Feuerpunkten glitten durch den Wald heran. Die gespenstische Stille hatte schon begonnen, sich mit der Ahnung vieler Lebenslichter und mit vagen Geräuschen zu füllen. Hadan hätte am liebsten losgelacht. Ausgerechnet jetzt mussten sie auf der Bildfläche erscheinen?
Doch dann blieb sein gehetztes Denken an dem zweiten Umstand hängen, und ein Funke Hoffnung blühte auf. Diesmal war der Ritus nicht komplett fehlgeschlagen. Der Dämon steckte endlich in einer fleischlichen Hülle – einer sehr widerstandsfähigen zwar, vielleicht zu widerstandsfähig für einen einzelnen Jünger Pakhras. Aber jede Hülle konnte vernichtet werden.
Hadan durchlebte die unbegreifliche Szene noch einmal: der seinen Vertrauten anfallende Gestaltwandler, angeschwollen vor fremdartiger Macht, der Schädel, der sich ihm, dem Nächststehenden, danach zugewandt hatte, und dann der Stein, der aus Pereîs‘ Richtung herangeflogen war und das Schicksal des Paladins besiegelt hatte.
Er knirschte mit den Zähnen. Als sei das das Zeichen, auf das er gewartet hatte, stieg der Bär über Pereîs‘ reglose Form hinweg und stieß ein kehliges Brummen aus.
Mit dem Crismesser war Hadan nicht besser bedient als der Paladin mit seinen Kurzschwertern. Eher noch schlechter, denn er hatte nie gelernt, sich im Nahkampf zu behaupten. Doch der Waldboden unter seinen Stiefeln bestand aus Überresten ehemaligen Lebens, war eine Masse zusammengebackener, verrotteter Blätter, Moosfetzen, Zweige, toter Insekten. Und Knochen.
Die Fackeln kamen jetzt rasch näher. Der ganze Wald war in Bewegung. Bald würden die ersten Barbaren sie entdecken, würden wittern, dass auf diesem kleinen, freien Fleck zwischen den Bäumen etwas vor sich ging. Die Zeit wurde knapp.
Hadan intonierte einen der Sprüche der Magie des Fleisches, zu der auch Knochenzauber zählten. In seiner Rechten entstand wie aus dem Nichts ein fahler Schaft, wuchs rasend schnell, Teilchen um Teilchen. Der fertige Knochenspeer war über zwei Meter lang und nadelspitz.
Der Nekromant klemmte sich den Schaft unter den Arm, wie es die Speerkämpfer seiner Heimat taten, und machte einen Ausfall.
Das Tier warf sich nach vorn. Eine Klaue schlug nach der Knochenspitze. Hadan riss sie nach links und griff mit der freien Hand in seinen Gürtel.
Der Bär folgte der Spitze. Wieder ließ er sich schwer und gefährlich nach vorn fallen. Wieder führte Hadan den Speer nach links. Noch hielt die unbekannte Waffe das Tier halbwegs in Schach, aber lange würde es sich nicht foppen lassen.
Beim nächsten Manöver, steif vor Anspannung, warf der Nekromant das Giftsäckchen. Er betete, dass er das richtige gegriffen hatte. Es war zu dunkel, um die Farbe der Giftwolke auszumachen, aber einen Herzschlag später hörte er ein hohles Röcheln, und seine Nase bestätigte ihm, dass er die stärkste Substanz geworfen hatte, die er bei sich führte.
Er stolperte zurück. Dieses Gift durfte nicht einmal er mit seiner mühsam erlangten Immunität einatmen.
Vor ihm, kaum zehn Schritte entfernt, wühlte der Bär den Boden auf, tobte in der Dunkelheit, mit einer Raserei, die an den Nerven des Nekromanten zerrte. Dann schwenkte er plötzlich ab und stürmte davon.
In Schweiß gebadet, keuchend, starrte Hadan ihm nach. Das Tier würde in wenigen Augenblicken auf die Barbaren stoßen. Sie waren jetzt so nah, dass man einzelne Gestalten unterscheiden konnte. Rufe, Befehle und das Gebrüll der angeschlagenen Bestie klangen durch den Wald.
Der Paladin lag am Fuße eines Baums auf der Seite. Hadan ließ sich neben ihm auf die Knie fallen.
Mit fliegenden Händen tastete er den Anderen ab. Als er unter dem Rand des Brustharnisches in klaffendes Fleisch und warme, dickliche Klumpen fasste, ballte sich sein Magen zu einer schmerzenden Kugel zusammen. Unter Pereîs‘ Seite und Schritt war der Boden nass. Es stank nach Exkrementen.
Die nackten Finger blutig, erstarrte Hadan, über den Körper des Paladins gebeugt. Die Bauchwunde war tödlich. Selbst in vollem Tageslicht, auf einem sauberen Lager und mit dem besten Nähzeug und der ausgefeiltesten Medizin zur Hand, hätte er Pereîs nicht retten können. Ohne zu verstehen warum, streckte er die Rechte aus und fuhr dem Paladin übers Haar, in einer Geste, die er in zweiunddreißig Lebensjahren nicht ein Mal vollführt hatte und von der er nicht wusste, ob sie Strähnen glätten, verabschieden oder Achtung ausdrücken sollte.
Sein Magen war jetzt keine kalte Kugel mehr. Wabernde Hitze ließ ihn mit dem benachbarten, hart pochenden Organ verschmelzen.
Er ahnte, dass er erstmalig wirklichen Kummer und gerechten Zorn empfand. Trotzdem war die Sturheit stärker.
Dies hier war eine Nacht der unmöglichen Dinge, oder etwa nicht? – eine Nacht der Grenzübertretungen, des Frevels vielleicht, und wohl auch der Aufopferung. Was er während und nach der Zeremonie gesehen und gespürt hatte, eignete sich ausgezeichnet dafür, die Taue zu kappen, die einen Menschen an die Gesetze seiner Welt fesselten.
Hadan hatte hohen Zirkeln seines Gottes beigewohnt. Nicht als das, was man einen Meister nannte, aber mit weit geöffneten Sinnen, einem lernfähigen Geist und einer gefräßigen Seele.
Er hatte gehört, dass es möglich war. Die mächtigsten Handlungen seiner Klasse gingen fast immer mit automatischer Selbstheilung einher, und anders war es auch gar nicht zu erklären, dass der Blutstrom, der manchmal aus seinem Inneren hochkroch, wenn er sich verausgabte, von allein wieder verebbte und nicht einmal Schmerzen zurückließ.
Ein Schütteln durchlief Hadan. Doch dann fielen die heillose Wut und Starrköpfigkeit über seine Vernunft her und drückten ihr die Luft ab. Wild entschlossen legte er eine Hand auf den armen, zerschundenen Leib des Paladins und die andere auf seine eigene Brust.
Inzwischen wurden die zwei Männer am Fuße des Baums wirklich angerufen. Schritte stampften heran. Fackeln rauchten.
Ein innerer Schlag von ungeheurer Rohheit ließ Hadan zusammenzucken. In seiner Brust riss etwas auseinander. Er hustete Blut empor, blieb aber eisern hocken.
Ihn schwindelte. Dann, langsam, begann sich das zerklüftete Fleisch unter seinen Fingern zu schließen. Neue, geborgte Fasern füllten die Risse. Der Nekromant musste sich beherrschen, um nicht zuzudrücken.
Schnell jetzt, nur schnell. Die Barbaren waren schon fast über ihnen.
Flucht kam nicht mehr in Frage. Sofern man ihn nicht augenblicklich niederhackte, würde er den Kriegern des endlich marschierenden Nordvolkes Rede und Antwort stehen müssen. Und er war dazu bereit. Aber nicht mit dem Tod seines ersten und einzigen Gefährten auf den Schultern.
Grobe Hände packten ihn. Stiefel zertraten den Knochenspeer, den er neben sich abgelegt hatte. Irgendwo in der Nähe stob Geschrei auf, untermalt von schaurigem Gebrüll. Der Nekromant erlaubte sich einen Schluck vom unerreichbar geglaubten Pokal des Triumphes, weil das, was er da hörte, die Begegnung des Wechselbären mit Dutzenden bewaffneter Barbarenkrieger war.
Dann zog ihm jemand den Stiel einer Waffe über den Schädel, und er konnte sich nur noch zusammenkrümmen und zulassen, dass sie ihn auf die Füße zerrten.
*
Im Dickicht vor ihm stellten die Männer das riesige Tier, das dem Trupp der Barbaren entgegengelaufen war.
Arlef lauschte auf ihre erregten, verdutzten Rufe, die schnell in Kampfgeschrei umschlugen. Er machte sich keine Sorgen. Kurz hatte er erwogen, dem Bären selbst entgegenzutreten, denn immerhin hatte niemand anders als er seine Leute in die verfluchte Nähe der Schwarzen Festung geführt. Aber er wusste, dass seinen Kriegern in diesem Moment kaum ein Gegner das Wasser reichen konnte. Fast hundert Männer aus den drei am engsten zusammengeschweißten Clans waren seiner Aufforderung gefolgt – genug, um das gesamte Gelände mit einer waffenstarrenden Schar zu überziehen, und mehr als genug, um einen Bären zu töten, ganz gleich wie groß oder wie wild.
Der alternde Häuptling sah sich um. Überall bewegten sich Krieger durch den Wald. Ihre Fackeln sorgten für unstete, aber ausreichende Beleuchtung. Er selbst hatte zwei Männer bei sich, die ihm nicht von der Seite wichen.
Was bei Schwarzfels vor sich gegangen war oder auch noch vor sich ging, war schwer zu sagen, doch auch darum sorgte Arlef sich nicht besonders. Sie würden den verworrenen Ereignissen schon auf die Schliche kommen. Das hatte er sich und den Ahnen geschworen.
Jetzt näherte sich ihm ein einzelner Krieger aus dem allgemeinen Durcheinander zwischen den Bäumen.
Sahawc war mit einem Breitschwert und Wurfäxten, die hinter seinem Gürtel klemmten, bewaffnet und in voller Rüstung, trug jedoch wie die Mehrheit der Mitgekommenen keinen Helm.
„Bist du bei dem Gemäuer gewesen?“, empfing Arlef ihn.
„Ja.“ Sahawc schlug sich mit der Faust gegen die Brust, in einer Bestätigungsgeste, die nur verwendet wurde, wenn die Barbaren in den Krieg zogen. Doch die Geste war knapp, und er wirkte verunsichert. „Auf dem Hof haben wir einen Toten gefunden. Einen Druiden. Erbor meint, er habe ihn vor langer Zeit schon einmal im Wald gesehen.“
„Einen Toten“, wiederholte Arlef sinnend.
„Übel zugerichtet“, unterrichtete ihn sein erster Krieger. „Und nicht von Waffen.“
„Dann war wohl die Bestie, die Jerocs Leute da drüben gestellt haben, verantwortlich“, sagte Arlef.
„Bestie?“ Sahawc wandte sich suchend um, das Breitschwert erhoben.
„Schon niedergemacht“, beruhigte Arlef ihn. „Ein Bär.“
Die Barbaren tauschten einen langen Blick. Tiere mieden die Gegend, und selbst die größten Räuber des Hochlandes – Bären, Wölfe und Luchse – pflegten im Allgemeinen das Weite zu suchen, wenn hundert fackeltragende Menschen durch den Wald zogen.
„Noch ein Druide also“, nickte Sahawc.
Arlef atmete schnaubend aus. „Ein Wechselbalg. Und das an dem Ort, an dem ihr gestern auf den Totenbeschwörer und den Westmarschener gestoßen seid.“ Er bleckte die Zähne. „Es scheint, dass sich unsere Vorfahren endlich dazu durchgerungen haben, die Hand über uns zu halten.“
Sahawc ließ dieses Urteil wortlos in der Luft hängen, mit unverhohlen befriedigter Miene. Doch dann spähte er über die Schulter in Richtung des Gemäuers, das sie von hier aus nicht sehen konnten.
„Ich habe die Männer dazu angehalten, in sich hinein zu lauschen, während sie das Gelände durchkämmen“, sagte er. Es klang ungewohnt zögerlich. Kein Krieger sprach gern über andere Empfindungen als Stolz, Pflichtbewusstsein oder beherrschte Freude. „Sie behaupten, es falle ihnen nicht leicht zu verstehen, warum um Schwarzfels so lange ein Bogen gemacht wurde.“
Arlef erlaubte seinem Zähneblecken, sich in ein starres Grinsen zu verwandeln. „Du kannst ihnen sagen, dass das am sich drehenden Wind liegt. Schwarzfels, wie wir es kannten, gibt es nicht mehr.“
Und es musste wahr sein.
Unruhe war im Wald zu fühlen, der Nachhall eines maßlosen Durcheinanders, das Nachzittern von Tod und fremder Magie – aber keine Bedrohung und keine Angst.
Allerdings war der Häuptling himmelweit davon entfernt, dem Ort erleichtert den Rücken zuzukehren oder ihn mit ausgewählten Kriegern zu besetzen. Reisende aus anderen Weltgegenden hatten in die Geschicke des Hochwalds eingegriffen, noch dreister als die Paladine unten in Madalën, und das würde er nicht ungestraft unter den Tisch fallen lassen.
Bevor er Sahawc weitere Anweisungen geben konnte, wurden die Männer jedoch gestört. Wieder näherte sich ein Krieger. Er hielt vor Arlef an und grüßte den Stammesführer mit einem Senken des Kopfes.
„Unsere südlichsten Kundschafter sind unten im Wald auf zwei Pferde gestoßen“, sagte der Mann. Er atmete rasch, war offenbar von einem Grüppchen zum nächsten gerannt, um Nachrichten einzusammeln und weiterzugeben. „Das müssen die Pferde des paladinischen Gesandten und seines Begleiters sein.“
„Bringt sie herauf“, befahl Arlef.
Der Mann winkte einem anderen, dann fuhr er fort: „Und ich bitte dich, mitzukommen. Wir haben auch zwei Überlebende entdeckt, gleich dort vorn.“
Arlef, seine zwei Wächter, Sahawc und der eben hinzugekommene Krieger setzten sich sofort in Bewegung. Unterwegs konnte der Häuptling einen Anflug grimmiger Zufriedenheit nicht leugnen. Er hatte richtig gehandelt. Die Hundertschaft nach Schwarzfels zu bringen, war die glücklichste Entscheidung seit Langem gewesen.
Die Männer näherten sich einem Pulk aus Kriegern auf einer winzigen Lichtung etwas abseits der großen Freifläche. Als Arlef eintraf, wandte sich ihm ein Dutzend harter Gesichter zu.
Eines dieser Gesichter war ihm neu und gehörte einem großen, schwarz gekleideten Mann, der von zwei Kriegern festgehalten wurde. Man hatte ihm wohl ein paar Hiebe verpasst, um ihn zu besänftigen, aber bei Arlefs Eintreffen hob er den Kopf und starrte dem Häuptling feindselig entgegen. Sein Haar war weiß wie das eines Greises, aber sein Gesicht hatte dieselbe Farbe, und er konnte kaum älter sein als dreißig Sommer. Blut fleckte seine Lippen und sein Kinn.
Arlef blieb stehen und stemmte die Fäuste auf den Knauf seiner Axt. „Haben wir dich endlich, Totenbeschwörer“, sagte er. „Du warst das also, der meine Leute verhext hat? Jetzt ist die Zeit für Listen und Winkelzüge vorbei.“ Er wandte sich an die Krieger. „Bindet ihm die Hände. Er darf keinen Moment lang unbeobachtet sein.“
Der Totenbeschwörer ließ die Zugriffe der Barbaren über sich ergehen.
„Wir werden dich mitnehmen.“ Arlef lächelte ihm zu. „Und wenn ich dich zu meiner Zufriedenheit befragt habe, gebe ich jeden Anspruch auf dich auf. Dann gehörst du allein den Männern, die du dazu gezwungen hast, auf ihre Brüder loszugehen.“
Flüchtig sah der Gefangene so aus, als wolle er etwas erwidern, aber im selben Augenblick schleppten weitere Krieger den zweiten Fremden heran. Ihn mussten sie halb tragen, denn er war offensichtlich kaum bei Bewusstsein. Im Fackelschein bemerkte Arlef, dass die Kleidung des Mannes unterhalb seines Harnisches dunkel war von Blut.
Der Häuptling schaute eben rechtzeitig weg, um den Blick des Totenbeschwörers zu bezeugen. Er hatte sich nach dem neu Herangebrachten umgewandt, aber jetzt starrte er wieder Arlef an.
„Er kann nicht weit laufen“, sagte er mit einer von fernen Ländern geprägten Stimme. „Ich habe ihn gerade erst notdürftig verarztet. Ich muss noch einmal nach seinen Wunden sehen -”
„Du musst gar nichts“, schnitt ihm Arlef das Wort ab. „Du und dein kleiner Westmarschener Freund hier werdet uns begleiten.“
Er wollte sich schon abwenden, doch der Totenbeschwörer war nicht so rasch zum Schweigen zu bringen, wie es aussah.
„Der Bär“, sagte er heiser. „Habt ihr ihn getötet?“
Arlef hob verärgert, aber auch lauernd das Kinn. „Was kümmert dich das?“
Dieser Mensch aus dem Osten, fiel ihm jetzt auf, hatte widerwärtige Augen, Augen wie die eines toten Fisches.
„Ihr müsst den Kadaver verbrennen.“ Der Totenbeschwörer schaute in die Runde. „Und ihr müsst einander beobachten. Einer unter euch könnte seltsames Verhalten zeigen.“
An dieser Stelle riss Arlef der Geduldsfaden. Er ahnte, dass alles, was dieser Mann von sich gab, Bedeutung hatte und mit den Ereignissen bei Schwarzfels in engem Zusammenhang stand. Aber er würde sich nicht länger anhören, wie ein Fremder ihm und den Seinen Befehle erteilte.
„Genug jetzt!“, knurrte er und winkte seinen Kriegern. „Knebelt ihn. Und dann ruft die Truppenführer zusammen.“
Diesmal wehrte sich der Totenbeschwörer, aber ganz vergeblich.
Mit schmalen Augen verfolgte Arlef, wie sie ihn und den verwundeten Paladin wegbrachten. Dann sammelte er seine Männer um sich, um die Berichte über das Gelände, über Spuren und Funde erneut zu besprechen, und um den Abmarsch nach Westen vorzubereiten, hinauf in die dortigen Fußhügel, wo seine Haupthalle stand.