Kapitel 29 – Entsteig
Aliciane und Shar'Tel hatten nach dem Kampf mit den Teufelchen nun allen Grund erschöpft zu sein. Nicht nur, dass die flinken Nervensägen sie ziemlich auf Trab gehalten hatten, sie hatten ihnen auch einige Schnittwunden, Schrammen, Kratzer und Brandblasen beigebracht.
Sie durchsuchten das Lager der Teufelchen nach Wertvollem, doch sie fanden nichts. Ein paar der Kobolde und Schamanen hatten einfache Kurzschwerter und Dolche, die die beiden dann in Entsteig gegen ein paar Goldmünzen tauschen konnten. Die anderen Ausrüstungsstücke waren nur Haushaltsgegenstände, oder Äste und Zweige aus dem Wald. Auch Rashgarroths Kriegskeule war nur ein dicker, schwerer Ast, der sich durch seine besondere Form gut zum Kämpfen eignete. Allerdings hielt Aliciane Rashgarroths dicke Haut und sein feuerfestes Fell selbst für wertvoll. Sie entschieden sich, die Leiche des Anführers nach Entsteig zu schleifen und einen Gerber, oder Pelzzurichter ausfindig zu machen. Die Jägerin malte sich auf dem Weg aus, was sie sich daraus anfertigen lassen wollte: vielleicht eine neue Lederrüstung, oder neue Armschoner und Handschuhe für sich und Shar'Tel.
Die steinharte Haut von Rashgarroth, die so einfach Feuerbälle widerstehen konnte, ihren Blitzen aber nicht gewachsen war, beschäftigte auch Shar'Tel. Sie hatte die Blitzenergie ihres Schwertes gar nicht eingesetzt – ja sie hatte im Kampf nicht einmal daran gedacht. Genauso wie in der Schlacht gegen König Leorics Skelettarmee wirkte die Magie wie von selbst. Sie grübelte nach. Während sie über die Auen am Fluss entlang trotteten, hatte sie genügend Zeit dafür. Schließlich kam ihr der Funke der Erleuchtung und schlug sich in ein breites Grinsen nieder, das bis zum Abend nicht mehr verschwand.
Diana und Charsi hatten recht gehabt, es ihr nicht zu verraten, dachte Shar'Tel. Die Freude selbst darauf gekommen zu sein, war durch nichts zu ersetzen. Es war so einfach und simpel: anstatt sich darauf zu konzentrieren Blitze aus der Klinge zucken zu lassen, brauchte sie sich nur auf das zu konzentrieren, was sie mit den Blitzen eigentlich bezwecken wollte: nämlich den Gegner zu töten. Das machte Kämpfe in Zukunft nicht nur um einiges einfacher, sondern ihre gesamte Ausrüstung auch effektiver. Sie brauchte sich nun nicht bei jedem Schlag die Verzauberungen von all ihren Ausrüstungsgegenständen ins Gedächtnis rufen und für jeden einzelnen Effekt entscheiden, ob sie ihn anwenden wollte oder nicht, sondern konnte sich voll auf den Kampf konzentrieren. Die Gegenstände würden den Rest schon zu ihrem Vorteil erledigen und das sogar, wenn sie ihre Verzauberungen gar nicht kannte. Insbesondere bedeutete dies auch, dass sie sich keine Sorgen machen musste, sich durch die Verzauberung ihrer Schuhe aus Versehen selbst eine offene Wunde zuzufügen.
Aber auch etwas anderes beschäftigte Shar'Tels Gedanken.
Aliciane sagte, Kaschya habe ihr alles beigebracht, was sie über die Teufelchen wissen müsste. Doch nach dem, was sie von Charsi und Anara gehört hatte, konnte das nicht so wirklich stimmen. Shar'Tel war siebzehn Jahre alt, Aliciane ein Jahr jünger als sie. Der Sieg über Baal lag nun achtzehn Jahre zurück. Nur Wochen zuvor war Andariel aus dem Kloster vertrieben worden und die Schwestern vom verborgenen Auge begannen mit der Reinigung. Akara war damals schon alt und verstarb zwei Jahre später. Anara war nun Äbtissin und hatte ihr Amt übernommen. Sie hatte Shar'Tel erzählt, wie es den anderen ergangen war. Nach ihren Erzählungen hatte Kaschya den Wiedereinzug ins Kloster nicht verkraftet. Nicht nur, dass jede Jägerin, die durch Andariel verdorben wurde einen schmerzlichen Verlust darstellte – die Helden, die gegen Andariel in den Kampf zogen, sahen keinen anderen Weg als die verdorbenen Schwestern zu töten, um sich selbst zu schützen – noch viel grausamer war der Anblick all jener Schwestern, die brutal abgeschlachtet wurden, als die Dämonen das Kloster überrannten. Sie war daran seelisch zu Grunde gegangen. Erst wachte sie des Nachts aus Albträumen auf, dann weiteten sich die Angstzustände auch auf den Tag auf. Schließlich verweigerte sie die Nahrungsaufnahme und verstarb völlig entkräftet nur ein Jahr nach Akara. Aliciane war zu diesem Zeitpunkt gerade erst geboren und noch nicht einmal Novizin im Kloster. Sie hätte also von Kaschya überhaupt nichts beigebracht bekommen können. Wohl wird sie aber von Kaschyas Geschichte gehört haben, dachte sich Shar'Tel, und daraus wird ihr Hass auf die Dämonen erwachsen worden sein.
Damit sich das Fell nicht abrieb, hatten sie Rashgarroths Leiche auf eine Decke gelegt. So schleiften die beiden Kriegerinnen den Kadaver an seinen Beinen hinter sich her. Sie liefen nach Westen; dem Strom auf der linken Seite folgend. Diese Seite war eine flache Grasaue, die bei Hochwasser regelmäßig überschwemmt wurde. Der Boden war noch von Wasser voll gesogen und sumpfig. Viele Insekten schwirrten durch die Luft. Der Kadaver glitschte mühelos über das nasse Gras und fiel den beiden kaum weiter zur Last. Hinter einem Hügel machte der Fluss eine Biegung, floss nördlich an der Stadt vorbei und mündete in den großen Ozean. Entsteig war nicht so groß wie Duncraig und auch nicht so reich, wie Königshafen, aber die Stadt wusste mit dem, was sie hatte, anzugeben. Dicke, hohe, zinnenbewehrte Mauern umgaben die Stadt. Massive Wehrtürme mit Arbalestenschützen bemannt säumten das Stadttor. Vor den Mauern wuchs eine Dornenhecke, die zweifellos auch Bestandteil der Wehranlage war. Die beiden Kriegerinnen liefen daran vorbei, bis sie den Weg erreichten, der von Süden in die Stadt führte. Sie reihten sich in den Strom der Bauern und Händler ein, die sie und ihre Beute mit erstaunten Gesichtern beäugten.
Die Soldaten der Stadtwache trugen große stählerne Brustplatten über weißen Lederrüstungen. An ihren Waffengürteln steckten Breitschwerter. Die zwei Wächter am Tor hielten sie auf. Sie mussten sich erst vergewissern, dass das Teufelchen tot war.
__„Was habt ihr überhaupt vor mit dem Vieh?“
__„Ich möchte das schöne Fell gern als Trophäe behalten,“ antwortete Aliciane. „Wo finde ich denn einen Gerber?“
Zwar konnte sich keiner der beiden Stadtwächter ausmalen, was Aliciane an dem schmutzigen und stellenweise verkohlten Fell so besonders fand, aber sie beschrieben ihr den Weg zum nächsten Pelzzurichter. Als sie das Tor passiert hatten, war Shar'Tel sich sicher: Die Teufelchen waren nie eine Bedrohung für die Stadt. Entsteig ist gut genug verteidigt, um einem Ansturm der Kinder von Bul'Kathos standzuhalten. Aliciane musste die Teufelchen wirklich sehr hassen – genug um ihren Auftrag zu vernachlässigen. Allein wäre Aliciane nicht siegreich gewesen. Aber vielleicht wollte sie auch nur Shar'Tel testen.
Sie fanden recht bald den beschriebenen Pelzzurichter und vor allem ohne, wie zuvor befürchtet, Rashgarroth durch die halbe Stadt schleifen zu müssen. Entsteig war mit ihren geschätzt achttausend Einwohnern doch eine der größeren Städte. Aliciane verhandelte eine Weile mit ihm und schließlich einigten sie sich was er für sie anfertigen sollte, auf einen Preis und wann alles fertig werden würde. Die Verarbeitung sollte einige Wochen dauern, aber Shar'Tel hatte nicht vor solange in Entsteig zu verbringen. So bleib mehr für Aliciane übrig. Ein schöner neuer Lederwams sollte es werden.
Aliciane kannte sich in Entsteig grob genug aus und führte Shar'Tel nach Norden durch schmaler werdende Gassen. Auf den letzten Metern zur Bibliothek kreisten Shar'Tels Gedanken noch immer um die Teufelchen:
__„Ich wusste gar nicht, dass Dämonen auch Kinder bekommen.“
__„Manche tun es“, sagte Aliciane, „und manche tun es nicht. Es gibt 'Teufelskreaturen', wie die bekannten Teufelchen, oder auch die Succubi. Wobei letztere gern Menschen verführen und sich an den Gefühlen stärken, die sie in anderen hervorrufen. Sie nehmen Nahrung zu sich und müssen sich von Zeit zu Zeit ausruhen. Auf der anderen Seite gibt es 'Monstrositäten'. Das sind lebende Zerstörungsmaschinen. Sie sind von den ersten Momenten ihrer Existenz auf das töten fokussiert und brauchen keinen Schlaf. Sie sterben nicht an Altersschwäche und nehmen nur Nahrung auf um stärker zu werden. Während die Teufelskreaturen aus Gründen der Selbsterhaltung jagen und töten und um ihr Revier gegen Rivalen zu verteidigen, tun Monstrositäten dies aus Lust und Langeweile.“
Die Gassen waren voller Menschen und schienen noch voller zu werden, je weiter sie kamen. Shar'Tel hatte Mühe niemanden anzurempeln. Die Leute unterhielten sich angeregt. Nicht wenige von ihnen hatten einen Becher Gerstensaft in der Hand, an dem sie gelegentlich nippten. Einige hatten den Komfort auf Bänken sitzen und an Hauswänden lehnen zu können. Wer in den Häusern wohnte, hatte seine Fensterläden geöffnet und bot Getränke, Suppen und Waren des alltäglichen Gebrauchs an. Es war soviel los, dass Shar'Tel kaum sah, wo sie hintrat. Das Kopfsteinpflaster war von einem matschigen Schlick überzogen. Schwarzer Sand, den die Bauern vom Feld herein trugen vermischte sich mit Regenwasser vom Vortag, das sich in den Rillen sammelte und im Schatten der Häuser auch nicht verdunstete. Aliciane versicherte Shar'Tel, dass hier die Straßen nur so voll waren, weil die Häuser so dicht standen und sich das lichten würde, sobald sie den Rathausplatz erreicht haben.
Doch sie sollte sich irren. Auch der Rathausplatz war voller Menschen.
Es gab kein Weiterkommen mehr.
Aber wenigstens sahen Aliciane und Shar'Tel nun auch den Grund dafür: ein Volksfest; auf gleich drei Bühnen auf diesem Platz gaben Gaukler ihr Können zum Besten. Shar'Tel, die mit ihren einmetersechsundsiebzig den durchschnittlichen Entsteiger um einen halben Kopf überragte, konnte zumindest das Geschehen auf einer der Bühnen verfolgen.
Kleine Kinder mit verschiedenfarbigen Haaren – so sah es jedenfalls aus – vollführten Zaubertricks. Während ein etwas größerer Bühnenartist mit blonden Haaren den Zuschauern in atemberaubenden Worten beschrieb, was sie beim nächsten Kunststück zu sehen bekommen, führten die beiden Künstler mit roten und blauen Haaren den Trick vor. In der nächsten Darbietung sollte der Rotschopf den Blauhaarigen mit einem Finger hochheben. Er hielt ihm den ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand hin. Der andere stieg mit einem Fuß darauf. Dann zog er den anderen Fuß vom Boden weg. Er balncierte sein Gewicht auf dem schmalen Finger. Der Rotschopf hob langsam, aber mühelos den Arm über seinen Kopf und streckte ihn ganz aus. Der Blauhaarige balancierte nun mit einem Fuß auf der Fingerspitze und machte Figuren.
Applaus von den Zuschauern.
Der Rotschopf zog seine Hand weg und verbeugte sich tief.
Dafür gab es aus der Menge noch mehr Beifall.
Der noch immer in der Luft baumelnde Künstler schwebte nun von der Bühne über die Köpfe der Zuschauer.
„Oh“- und „Ah“-Rufe von den Zuschauern – einige hatten vor Erstauen vergessen weiterzuapplaudieren.
Er schwebte eine kleine Runde und landete dann sicheren Fußes wieder auf der Bühne.
Großer Beifall.
Für den nächsten Trick holten die Gaukler einen Käfig und große schwere Ketten in die Bühnenmitte. Der Käfig wäre für Aliciane zu klein gewesen, aber die beiden kleinen Artisten könnten bequem darin stehen. Der Fußraum des Käfigs war mit Eisen beschlagen und mit Stroh gefüllt.
Shar'Tel stupste Aliciane an.
__„Wie ist hier so die Akzeptanz von Zauberern? In Duncraig kann man zum Beispiel im Gefängnis landen, wenn man ohne schriftliche Erlaubnis zaubert.“
__„Das sieht man hier nicht so eng. Die, die Zaubern können, wären schön dumm, Unsinn zu machen. Ein Entsteiger rennt nicht weg, wie ein Angsthase, sondern holt Verstärkung.“
Der Blondgelockte legte dem Rotschopf die Ketten an, fesselte ihm die Füße an einander und seine Arme hinter dem Rücken und sperrte ihn in den Käfig. Dann wandte er sich an Publikum: "Nun, liebe Leute! Haltet euch fest! Erlebet und Staunet, wie mein kleiner Bruder sich aus seinem Gefängins befreit, noch ehe das Feuer ihn verzehren tut!"
Der Blauhaarige hielt eine Fackel, mit der er das Stroh im Boden des Käfigs entzündete. Bald brannte nicht nur der Boden des Käfigs, sondern das Feuer züngelte auch an dafür angebrachten Lunten die Streben nach oben zu einer Schale mit Öl, die sich dann brennend über den Eingesperrten ergoss. Die Hitze dieser kurz aufflackernden Feuersäule spürten auch Aliciane und Shar'Tel. Das grelle Licht gefolgt von dichtem Rauch schnell verbrennenden Öls verdeckte die Sicht auf das Innere des Käfigs. Die Zuschauer hielten den Atem an. Stroh und Öl waren schnell verbrannt. Es dauerte noch einen kurzen Moment bis sich der Qualm verzogen hatte. Die Ketten waren ungeöffnet zu Boden gesunken. Hinter dem Rücken des größeren blonden Künstler kam der Rothaarige hervor – unverletzt und bester Laune.
Die Zuschauer tobten vor Begeisterung.
Die drei Gaukler badeten noch eine Zeit lang im Beifall und räumten dann die Bühne für die nächsten Künstler. Schließlich zerstreute sich auch der Pulk und die beiden konnten ihren Weg fortsetzen. Nur kurze zeit später erreichten Aliciane und Shar'Tel schließlich die Bibliothek von Entsteig. Die Bibliothek war wie eine kleine Festung gebaut, fiel aber durch den allgemein sehr massiven Stil der Entsteiger Gebäude nicht weiter auf. Aliciane klopfte an das große Eichentor. Nachdem sie dem Pförtner einen Siegelring zeigte, führte er sie beide in den Innenhof. Das Castell beinhaltete eigene Stallungen und Unterkünfte für die Bediensteten. Aliciane gab die mitgebrachten Bücher dem Archivar. Nachdem sie und Shar'Tel mit den anderen Gelehrten zu Abend gegessen hatte, fielen die beiden auch sofort in ihre Pritschen und schliefen nach diesem anstrengenden Tag schnell ein.