6 - Trainingsstunde
Schweißgebadet erwachte ich und atmete schwer. Erst sehr langsam begriff ich, was geschehen war. Nur ein Traum, betete ich mir vor. Nur ein Traum. Und wie immer, wenn man krampfhaft versucht, sich an einen Traum zu erinnern, verblasst er langsam, aber sicher.
Im ersten Moment war es noch Travincal, im Zweiten nur noch ein Feuer, im Dritten nur noch der Fremde, und im Vierten war alles weg. Als wäre es nie da gewesen. Mein ganzer Körper tat weh. Der Rücken, die Beine und, allen voran, der Kopf. Dennoch setzte ich mich mit Mühe auf und sah mich, immer noch keuchend, um. Das Feuer war ausgegangen, am Horizont ließen sich die ersten Sonnenstrahlen blicken und tauchten die Szenerie in ein Farbenspiel von Rot, Gelb und Orange. Noch bevor ich richtig zu Atem gekommen war und registriert hatte, dass weder Mana noch Kale da waren, hörte ich hinter mir Schritte.
„Hey!“, sagte eine raue Stimme und ich erschrak. Der Barbar war urplötzlich hinter meinem Rücken aufgetaucht.
„Hier, fang!“, sagte er und warf etwas, dass aussah wie ein Stock. Ich fing es, reichlich ungeschickt, sodass es beinahe wieder auf den Boden gefallen wäre. Es war kein Stock, sondern ein grob geschnitztes Holzschwert. Im Prinzip ein Stock mit Griff, mehr aber auch nicht. Verwirrt sah ich Kale an und fragte mich, was genau der Barbar damit nun bezwecken wollte. Dieser interpretierte meinen fragenden Blick wohl falsch und sagte vorwurfsvoll: „Beschwer dich ja nicht, ich hab die ganze Nacht an dem Ding gesessen. Ach, und zieh die hier an.“
Er warf ein paar Schuhe hinterher, die offensichtlich aus irgendeiner Art Leder
zusammengelegt worden waren. Sie sahen nicht sehr stabil aus. Ein wenig verdutzt blickte ich darauf hinab. „Na los, mach schon.“, sagte er in befehlsgewohntem Ton.
Ich zog die Schuhe an. Sie waren bei weitem nicht so bequem wie ich es gewohnt war, aber es war wohl besser, als ganz ohne zu laufen.
„Wollen wir doch mal sehen, was du drauf hast.“, sagte Kale und grinste Breit. Erschrocken sah ich ihn mit großen Augen an.
„Wie b-bitte?“, stotterte ich als Antwort. Natürlich hatte ich noch nie ein Schwert in der Hand gehabt, nicht einmal ein „Übungsschwert“, nicht einmal irgendwas! Es würde wohl nicht so leicht sein wie mit der Maus, dachte ich resignierend.
„Ich... soll
damit kämpfen? Gegen
DICH?“, die letzten Worte schrie ich fast. Ich war vollkommen hysterisch. Was hatte der Barbar vor, und wo zur Hölle war Mana?!
„Nein, natürlich nicht, du Schwachkopf. Gegen mich hättest du doch keine Chance.
Das ist dein Gegner.“
Und als hätte dieser Jemand nur auf seinen Einsatz gewartet, raschelte es in den Büschen zu meiner Rechten. Unruhig betrachtete ich, wie sich das Blattwerk zur Seite bog... und Mana durch das Unterholz auf die Lichtung trat.
„Hallo.“, sie grinste schief. Es sah irgendwie dümmlich aus. Mir klappte der Mund auf. Sie hatte ihre Robe gegen einen langen, grauen Umhang ausgetauscht, der allerdings ebenso mit goldenen Sternen und Monden bestickt war. Ihr braunes Haar hatte sie sorgfältig zu einem Knoten geflochten. In ihrer Rechten trug sie, ebenso wie ich, ein Holzschwert.
„Sekunde mal...“, wollte ich einwenden, doch Kale kam mir zuvor.
„Was ist? Schlägst du etwa keine Frauen?“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
„Nein, dass ist-“, wollte ich ansetzen, doch wieder kam mir der Barbar zuvor. Immer noch grinsend stellte er sich hinter mich und gab mir einen kräftigen Schubser.
„Na dann ist ja gut... viel Glück!“, brüllte er mir noch hinterher.
Dann ging alles Schlag auf Schlag. Als ich meinen Kopf wieder in Richtung meines „Gegners“ wandte, stürmte Mana auch schon auf mich zu, das Schwert mit beiden Händen fest ergriffen. Reflexartig tat ich es ihr nach und parierte so nur mit Glück ihren ersten Hieb, der mich beinahe von den Füßen riss. Doch dieses Erfolgserlebnis sollte nicht lange vorhalten. Sofort setzte sie nach, stach mit der Spitze des Schwertes zu. Instinktiv sprang ich einen Schritt zur Seite, machte mich so dünn wie ich konnte, spürte aber trotzdem, wie mich das Holz streifte.
„Halt!“, schrie der Barbar aus meinem Rücken, der diesen kurzen und sehr einseitigen Kampf beobachtet hatte. „Mana gewinnt.“, und an mich gewandt: „Du solltest sie nicht unterschätzen. Was sie an Magie nicht drauf hat, macht sie durch ihre Kampfkunst locker wett... okay, beide Kämpfer soweit?“
Doch ich hörte ihn kaum. Der Schmerz war vergessen. ALLES war vergessen. Irgendwas kratzte an der Oberfläche, wollte raus, sich in den Kampf stürzen wie eine wilde Bestie. Eine ungeahnte Kraft durchströmte mich. Vielleicht war es nur mein Ehrgefühl, denn gegen eine Frau zu verlieren war mir schon immer gegen den Strich gegangen, aber da war noch etwas anderes, düsteres. Verdammte Scheiße, was sollte das? Ich konnte noch nie mit einer Waffe umgehen, warum also sollte ich es jetzt auf einmal können? Das ist kein verdammtes Videospiel!
Trotzdem, irgendetwas war erwacht. Das Bild eines gewaltigen Schwertes erschien verschwommen vor meinem inneren Auge, gefolgt von zwei gebogenen, feuerroten Klauen.
Nervös balancierte ich das Holzschwert von einer Hand in andere. Dann ergriff ich es fest. Also schön...
„Bereit? Na dann los!“, brüllte Kale. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden, und auch Mana blickte nun konzentriert zu mir hinüber, die Stirn in Falten gelegt. Diesmal war ich es, der angriff. Ich wusste nicht genau, was ich tat, aber es schien zumindest etwas zu bewirken.
Zuerst ein vertikaler Schlag von oben nach unten, dem Mana mit einem geschickten Sprung nach hinten auswich. Sie wollte gerade zu einem Konter ausholen, doch ich war schon nicht mehr da. Mit einer Drehung wich ich dem Gegenschlag aus, noch bevor er ausgeführt wurde, und schlug wieder zu, diesmal horizontal. Doch Mana war schneller. Noch bevor meine Klinge auch nur in die Nähe ihres Umhangs kam, parierte sie von unten meinen Schlag so kraftvoll, dass es mir das Schwert aus der Hand riss. Es landete drei Meter entfernt auf dem Boden.
„Halt!“
Ich ächzte, und starrte fassungslos auf meine nun leeren Hände. Was... war das gewesen?
„Alles... in Ordnung?“, fragte Mana besorgt.
„Ja... ja es geht schon.“, erwiderte ich nur. Das dies natürlich von der Wahrheit am weitesten entfernt war, wollte ich mir selbst nicht einmal eingestehen. Der Barbar kam zu uns und betrachtete mich von oben bis unten.
„Alles klar?“, fragte auch er. Ich nickte nur noch, schluckte heftig.
„Okay, dann noch einmal.“
Mana reichte mir mein Holzschwert, entfernte sich dann mit langsamen Schritten einige Meter und drehte sich wieder zu mir um. Noch immer lag ein Hauch von Besorgnis in ihren Zügen, besonders in den Augen. Man sagt, die Augen seien der Spiegel zur Seele. Und auch, wenn das bei Mana schwierig zu sein schien, da sie immer pechschwarz und scheinbar ausdruckslos waren, so spürte ich in diesem Moment ganz deutlich, dass diese Augen
genau das ausdrückten, was sie fühlte.
„Wir... sollten aufhören. Es reicht für heute.“, sagte sie. Ihre Stimme wirkte unsicher.
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich... krieg das hin.“ Zwar kamen diese Worte aus meinem Mund, aber wirklich
erdacht hatte ich sie nicht. Was geschah mit mir?
„Okay“, sagte Kale und entfernte sich vom Kampffeld. „Los geht’s.“
Diesmal stürmte keiner von uns besinnungslos auf den anderen zu. Wir warteten. Belauerten uns. Ein Krachen, als die Schwerter aufeinander schlugen, dann wieder Stille. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, floss mir tröpfchenweise in die Augen. Ich blinzelte ihn weg. Und Mana war verschwunden! Ich gab meine gebückte Haltung auf und sah mich verdattert um. Da spürte ich einen leichten Hieb auf die Schulter.
„Tschuldigung.“, sagte Mana. In ihrer Stimme schwankte echtes Bedauern mit.
„Uuund Halt! Das reicht für heute.“, sagte Kale und ging Richtung Lagerfeuer. Innerhalb von wenigen Minuten brannte es wieder und verbreitete seine wohlige Wärme.
Immer noch ein wenig verwirrt schmiss ich das Schwert in die Flammen und setzte mich, die Knie angewinkelt, auf den harten Boden. Nach der akuten Beanspruchung kamen die Schmerzen langsam wieder. Ich war völlig ausgelaugt. Die ganze Kraft, die mich kurzfristig während unseres Übungskampfes durchflossen hatte, war verschwunden, hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst wie eine leichte Brise in einem Sommersturm. Und immer wieder fragte ich mich, auch in den nächsten Tagen noch,
was das gewesen war!
Für den Moment aber ging ich darüber hinweg, denn ich wollte die Chancen nutzen, um Antworten zu erhalten. Es gab wichtigeres. Die Fragen wusste ich selbst noch nicht, aber ich ahnte, dass würde ich sie nicht bald stellen, ich eventuell dumm sterben würde. Ein unwürdiger Tod in so einer Situation. Trotzig blickte ich dem Barbaren in die Augen.
„Wofür war das denn?“
„Was?“, fragte er zurück und lächelte milde.
„Na, dieses bescheuerte Training, oder was immer das sein sollte?“
„Ach das... nun ja, wir wollten wissen, woran wir bei dir sind. Das Ergebnis ist ausreichend.“
„Ausreichend wofür?“, mir wurde mulmig bei den Worten.
„Nach reiflicher Überlegung haben wir beschlossen, dich zurück zu den Docks zu begleiten. Dort solltest du – vorerst – sicher sein.“
Mana nickte zur Bestätigung, sagte aber nichts.
„Vorerst? Was soll das heißen?“
Das Lächeln verschwand aus Kales Gesicht, und seine Augen blitzten auf.
„Nun ja, niemand ist gegenwärtig irgendwo hundertprozentig sicher. Es herrscht Krieg, verdammte Scheiße. Diablo und seine Schergen überfluten das Land...“, er machte eine Pause.
„Und... Ihr versucht, sie aufzuhalten?“
Da lachte Kale. Lachte laut und bitter. Mana schwieg sich immer noch aus.
„Danke, das tat gut. Wir?! Nein. Ich bin ein alter Sack mit zwei Zahnstochern, und dieser Grünschnabel hier.“, er deutete auf Mana, „könnte nicht einmal vernünftige Magie wirken, wenn man ihn dazu zwänge. Nein, wir wurden von Ormus hierher geschickt, um einen magischen Dolch zu finden, der die Docks wieder für einige Zeit sicher machen soll. Allerdings-“
„Der Gidbinn?“, fragte ich und horchte auf.
Der Barbar hielt inne und sah mich mit ernstem Gesicht an.
„Ja...“, sagte er langsam, „Aber woher weißt du davon?“
Was sollte ich darauf antworten? Das ich diese Quest schon ungefähr 1,75 Millionen Male absolviert hatte, den Quest-Text auswendig kannte und Ormus eine verdammte Schwuchtel war?
Wohl kaum.
„Hören sagen.“, antwortete ich. Misstrauisch beäugte Kale mich. Natürlich glaubte er mir nicht. Niemand hätte diese schlechte Lüge
nicht durchschaut. Aber er ließ es dabei bewenden.
„Wie auch immer, wir brauchen diesen Dolch... aber das kann warten. Noch halten die Eisenwölfe der Bedrohung stand, nach dem, was ich den letzten Berichten entnehmen konnte. Die sind zwar schon drei Tage alt, aber ich denke, wir brauchen uns keine Gedanken zu machen.“
„Dann seid Ihr also vor... drei Tagen aufgebrochen?“, fragte ich erstaunt. Im Spiel war die Distanz zwischen den Docks und dem Schinderdschungel in einer Viertelstunde zurückgelegt. Dass das mit der Realität, oder wie auch immer man es nennen wollte, nicht übereinstimmt, hätte mir eigentlich klar sein sollen. Dennoch überraschte es mich.
„Ja. Wir sind einer von drei Trupps, die sich vor ziemlich genau 72 Stunden von den Docks aufgemacht haben, um verschiedene Aufgaben zu erledigen.“
„Aber das ist jetzt Zweitrangig. Zuerst bringen wir dich dorthin, dort wirst du... sicher... sein.“, warf Mana hastig ein, stockte jedoch gegen Ende des Satzes. Irgendetwas stimme hier nicht. Ganz und gar nicht.
„Wie auch immer, wir werden heute noch aufbrechen. Ich fülle unsere Wasservorräte, wenn wir uns beeilen, sind wir in zwei Tagesmärschen da.“, brummte Kale, stand auf und verschwand umgehend im Wald.
Also keine Stadtportale. Wahrscheinlich nicht einmal ein Wegpunkt. Nur meine Füße, die in diesen provisorischen Latschen steckten.
Ende für dieses Mal.
Mir persönlich gefällt dieses Kapitel gar nicht, und das gebe ich auch offen zu. Aber ich brauchte eine Überleitung, und ich schwöre, die nächsten beiden (das Grundgerüst steht schon) werden wieder etwas... naja... was auch immer ich halt haben will...
Mein persönlicher Dank für diese Episode geht ins Besondere an Lyricwiki.com, Marylin Manson (Ich weiß, dass das Original nicht von ihm stammt) und, selbstredend, Stephen King, Großmeister des Horrors und mein zweitgrößtes Vorbild in Sachen Literatur
mfg
Löffel
PS @Gentlewhisper: Du darfst, wenn du magst