Kapitel 69 – Kuchen
Als ich durch das Portal trete, nach einem letzten Blick auf die Leiche meines Freundes, muss ich erst einmal kurz stehen bleiben.
Vor mir führen zwei Treppen, im rechten Winkel zueinander angeordnet, gekurvt nach unten, sodass sie sich an einer Plattform vereinigen, von der aus vier Wege in alle Richtungen abzweigen. Sämtliche Oberflächen sind aus einem steinartigen Material, das dennoch metallisch anmutet...jedoch von absolut neutraler Temperatur ist. Auf jeden Fall ist es silbrig...grau...bläulich? Schwer festzustellen.
Die Treppen, die Plattform und die Wege haben kein Geländer...und keine Fundamente...neben ihnen, unter ihnen, zwischen ihnen – Nichts. Einfach...Schwärze. Leere. Die Plattform drei Meter auf drei, die Wege einen breit und irgendwohin führend – der Blick in die Ferne...ich muss ihn abwenden, es ist enorm. Riesige Metallsteinwasauchimmergebilde, enorm, gewaltig, dennoch filigran, künstlerisch, übereinandergestapelt, gefaltet, eine Architektur, ein Gemälde, ein Stilleben, wie die Landkarte des Gehirnes eines wahnsinnigen Genies...
...zu nahe an der Wahrheit, wie ich vermute, um gesund zu sein. Ich sehe die Wege von schräg oben. Und sie schweben in...nicht in der Luft. In der Schwärze. Bewegungslos, und doch...die Schwärze ist durchzogen von...Lücken. Weiße Punkte sind es, aber sie sind nicht wie Sterne, nicht wie Flecken – es sind...Löcher. Weiße Löcher in einem schwarzen Pergament. Es scheint durch den Schleier des Nichts...Etwas. Licht? Nein. Einfach nur...Weiß.
Sie bewegen sich, die...Löcher? Punkte? Das Weiß. Myriaden von ihnen, unzählbar auf dem endlosen, schwarzen Hintergrund, schnell, langsam, so fix, dass sie Striche hinter sich herziehen, weil das Auge mit der Bewegung nicht mitkommt, so lahm, dass sie fast stillstehen – aber eben nur fast...und sie überdecken sich nie! Zwei weiße Löcher treffen sich auf keinen Fall. Sie alle laufen parallel nebeneinander, mit unterschiedlichster Schnelligkeit, aber keines holt das andere ein, aber keines wird je langsamer...
Ich schließe die Augen...und die Schwärze bleibt. Ich habe gar keine Augenlider, fällt mir jetzt erst auf – und? Bisher hat es funktioniert, ich wollte Nichts mehr sehen, ich sah Nichts mehr. Aber jetzt...wie kann ich Schwärze ausblenden? Und warum sind da immer noch diese weißen Löcher?
Ich wanke die Treppe hinab, am Ende meiner geistigen Gesundheit. Wie soll ich hier nur...ah...ich falle hin, gerade so nicht hinab.
Langsam krieche ich die Stufen hinab, das Gesicht dicht über ihnen, nur das seltsame Material im Blick, aus dem sie bestehen, auf keinen Fall die Schwärze, die Löcher darin, die Unmöglichkeiten, die Paradoxe, den...Wahnsinn.
Ich stoße mir den Kopf. Langsam sehe ich hoch...was hielt mein Kriechen auf?
Es ist ein Kelch...flach, auf dünner Stange stehend, leer. So etwas habe ich schon einmal gesehen...
Ich stemme mich hoch, um die ganze Struktur zu sehen: Tatsächlich! Ein Wegpunkt! Dies ist eine der beiden Stellen, worin später blaue Flämmchen brennen werden.
Die vertraut anmutenden Runen, obwohl diese doch nur Relikte einer uralten, fremden Sprache sind, der eindeutige Stein, das ganze bekannte Gebilde holt mich zurück. Endlich kann ich wieder klar denken, weg von Schwärze mit Punkten darin, hin zu...
Wo ist der Meister?
Ich springe sofort auf, nachdem dieser Gedanke sich in mein Hirn gebohrt hat – er wird doch nicht...
Er sitzt vor mir, die Füße über den Rand der Plattform gehängt, in deren Mitte der Wegpunkt liegt, in die Ferne starrend, unbewegt. Das eine Skelett steht neben ihm, verloren wirkend.
Ich überlege kurz...wird er erschrecken? Ich halte vorsichtshalber meine Hand bereit.
„Meister?“
Er bewegt sich nicht, antwortet aber, mit ruhiger Stimme.
„Ah, Golem, schön, dass du da bist. Setz dich doch ein wenig zu mir.“
Ich bleibe stehen, weil das kein Befehl war, sondern eine Einladung...ja?
Ja. Ich darf. Ich schüttle den Kopf, auch wenn er es nicht sehen kann.
„Meister, wir dürfen jetzt nicht trödeln – wenigstens das muss unser hastiges Vorgehen oben gebracht haben, Diablos Vorsprung entscheidend schrumpfen zu lassen!“
Er schlägt plötzlich mit der Faust auf den Boden neben sich.
„Verdammt, ich sagte, du sollst dich setzen!“
Eine Feststellung, kein Befehl – aber ich tue ihm den Gefallen. Ich muss. Sein Zustand ist immer noch höchst labil...was hat ihn denn jetzt schon wieder so aufgeregt? Von völlig ruhig zu so einem Ausbruch...ich lasse auch die Beine baumeln, krampfhaft meine Füße anstarrend – das Nichts ist zu viel für mich. Ihn scheint es nicht zu stören, er schaut weiter hinaus in die Ferne. Es dauert eine Weile, bis er zu flüstern beginnt.
„Ich dachte, gerade du würdest verstehen, dass es genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist, ein wenig nachzudenken – und zu trauern.“
Oh.
Oh, verdammt, natürlich.
Was habe ich mir denn jetzt dabei gedacht? Vorher rüge ich ihn, dass er mit sich klarzukommen hat, und zwar schnell, und jetzt will ich ihm keine Zeit dafür lassen – wo er sich doch vorher selbst keine Zeit dafür gelassen hat, und das hat Pratham ja das Leben gekostet...? Himmel...
„Meister...ich...“
Er seufzt.
„Schon gut, Golem. Auch du meinst es nur gut. Die Mission steht im Vordergrund, nicht wahr? Unsere Weltrettung – ha, du solltest mein Diener sein und mich dabei unterstützen, und jetzt muss ich nicht aufgeben und dich dabei unterstützen, oder?“
Ich setze zu einer Antwort an, aber er ist noch nicht fertig.
„Die Ironie ist köstlich. Ich habe doch anfangs dafür gesorgt, dass du funktionierst – ein Tongebilde, das Schläge von mir fernhält. Du hast funktioniert. Sehr gut sogar. Bis du angefangen hast...mehr zu sein. Und als ich zusammengebrochen bin, hast du dafür gesorgt, dass ich funktioniere – immer und immer wieder. Langweilt dich das nicht langsam?“
Ich schweige. Ich ahne, worauf er hinauswill, und es verursacht mir Magenschmerzen, die ich eigentlich nicht haben sollte, in Ermangelung des Organs.
„Also, Golem, du bist doch der, der über das Funktionieren hinausgewachsen ist, nicht wahr? Sag mir ganz ehrlich, wäre es dir lieber, eine reine Pfeilblockmaschine zu sein?“
„N...nein. Nicht im Geringsten.“
„Warum muss ich dann eine Weltrettungsmaschine sein?“
Genau diesen Schluss von ihm habe ich befürchtet, weil ich ihn zwar auch gezogen habe, aber viel zu spät...gerade eben erst nämlich. Derweil ist es doch so klar...warum beschwere ich mich eigentlich darüber, dass er mit mir macht, was er will, wenn ich das Gleiche doch mit ihm mache? Er versuchte immer, mich zu Jemand zu formen, der bedingungslos Befehlen gehorcht und keine Fragen stellt, der nicht unbequem ist. Und ich versuche, ihn zu Jemand zu formen, der menschlicher wird, der Moral zeigt, Werte hat...aber ist das nicht besser?
Halt, halt, halt. Ich belüge mich hier selbst. Das ist nicht das, worauf er hinauswill, und ich weiß, dass es nicht das ist, weil mir mein Fehler nur zu klar bewusst ist – und der verursacht mir ja auch diese Schmerzen, diese gefühlten.
Es geht ihm darum, dass ich hier genauso gefühllos wie er handle, um ihn dazu zu zwingen, sein Ding zu tun – egal, ob er das jetzt will oder nicht. Oder ich unterstütze Andere dabei, ihn voranzutreiben. Wie...Pratham.
Himmel, ich habe Prathams Vermächtnis dargestellt als dessen Wunsch, dass der Meister macht, was ich meine, das er zu tun hat!
Natürlich, natürlich muss er es tun. Nur er kann die Welt retten, nur er kann Sanktuario von Diablo befreien. Aber er ist doch immer noch...Mensch?
Genauso wie ich...verdammt, menschlich bin. Gefühle habe. Genauso, wie ich zwar immer noch meine Aufgabe habe, ihn zu schützen, und das auch tue, aber in dieser Aufgabe auch diese Gefühle behalten will!
Ich will nicht nur funktionieren...und, das wird mir viel zu spät klar – er doch auch nicht?
Jetzt starren wir beide auf unsere Füße. Er ist beschämt, weil er, eigentlich schüchtern, wenn es um ihn selbst geht, so aus sich herausgehen musste, und direkt angesprochen hat, was ihn stört...und ich bin beschämt, weil mein Handeln ihn stört!
Wer von uns bricht das Schweigen zuerst? Sollte ich nicht warten, bis er es tut, wo es doch so wichtig ist, dass er endlich beginnt, sich Gedanken um sich selbst zu machen?
Nein.
Nein, das ist doch das komplett falsche Denken! Das ist es doch, was ich gerade als so falsch erkannt habe! Dass ich ihn so krampfhaft verändern will...im Klartext, es wird Zeit, dass ich ein wenig über mich nachdenke. Aber...laut. Jetzt, wo ich es kann.
„Meister...ich verstehe. Ich verstehe viel zu spät. Es...es tut mir Leid...Leid, dass ich...“
Er sieht mich an.
„Dass du was...dass du versucht hast, mich zu dem zu machen, was die Leute von mir erwarten? Golem, das ist nicht etwa egoistisch oder grausam, das ist genau das, was man von dir erwartet hat, und du hast es mit Bravour gemeistert, wie jede Aufgabe, die dir bisher gestellt wurde. Sogar ich habe von dir erwartet, zumindest gehofft, damals, dass du mir helfen kannst aus meiner persönlichen Krise. Jeder hat gehofft, dass du Derjenige bist, der den potentiellen Retter der Welt zu einem wirklichen machen kannst. Denkst du, Niemand hat gemerkt, was für einen guten Einfluss du auf mich hast? Ich habe das gemerkt! Ich! Natürlich wirst du von Deckard eingespannt, mich wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Natürlich denkt Atma, du könntest mir besser ins Gewissen reden als sie selbst. Auch das habe ich mitbekommen – ich werde noch zu einem richtigen Menschenkenner, nicht wahr?
Und denk dir was – ich bin Keinem von euch böse. Dir nicht, weil du – höchstwahrscheinlich auch zu großen Teilen in Eigenregie – diese traurige Entschuldigung eines Meisters zu einem wahren Weltretter machen wolltest, und den anderen nicht, die dieses Potential in mir doch erst erkannt und gefördert haben.
Ich bin euch Allen dankbar, und mache keine Vorwürfe, ich habe nur eine Bitte, eine einzige:
Lasst mich – einmal, kurz, vielleicht – aus meiner Rolle ausbrechen...lasst mich doch mal die Maske des Messias' ablegen...lasst mich doch mal mich sein!“
Was soll ich auf diesen Hilferuf nur sagen? Mir ist nicht im Mindesten wohler, obwohl er mir gerade die Absolution für meine Verfehlungen erteilt hat. Ich kann nur...minderwertig reagieren...den Dolch tiefer in die Wunde drücken, in der Hoffnung, dass ich dabei die Infektion herausschneide.
„Wer seid Ihr denn?“
Der Meister starrt mich verzweifelt an.
„Wenn ich das wüsste? Golem, dann wäre ich schlauer, in der Tat. Was denkst du? Was bin ich? Wer bin ich?“
Himmel, was muss er mir diese Frage stellen – es fällt doch immer auf mich zurück...ich könnte ihn jetzt formen, zu dem, was er sein soll, zu dem bringen, was er zu tun hat – immer noch, trotz dieser Krise. Ich könnte ihm einreden, dass er zu akzeptieren hat, dass er Niemand anders ist als der General, der Totenbeschwörer, der diese Welt retten wird. Ende. Es würde vielleicht funktionieren, wenn ich die richtigen Worte wähle, aber wie lange? Wie lange, bis er die nächste Identitätskrise bekommt? Diese Lösung hat schon einmal versagt, und ich habe damals nicht erkannt, dass es unvermeidlich ist. Aber was soll ich sagen? Wer ist er wirklich? Wenn er es selbst nicht weiß...wie soll ich das denn wissen?
Muss ich ausweichen...?
„Meister...worauf habt Ihr denn gerade Lust? Was wollt Ihr tun?“
Sein Blick fährt zu mir herum, und entschwindet dann wieder im Nichts. Diese Frage hat er nicht erwartet. Er überlegt, und ich überlege...was ist er...
„Ich will einen Kuchen von Atma.“
Jetzt fährt mein Blick zu ihm – diese Antwort habe ich nicht erwartet. Oder...hätte ich das sollen?
„Ihr wollt...wieder Kind sein?“
Sein bisher leerer Blick wird leuchtend.
„Ich hatte seit Ewigkeiten keinen Kuchen mehr. Früher habe ich sie immer gestohlen. Sie waren zu verlockend. Ich wusste, ich würde dafür gewaltigen Ärger bekommen, aber es war – Kuchen!
Das war damals, Golem – und ich will jetzt, genau jetzt, wieder einen. Du sagst doch immer, man muss mit der Vergangenheit abschließen...aber ich habe eben keine Lust dazu. Ich will nicht wieder Kind sein – aber ich will einen Kuchen!“
Und damit grinst er mich an – sein erstes, richtiges, fröhliches, freches, unverschämtes Grinsen seit einer viel zu langen Zeit. Dieses Grinsen, das ich ausnahmsweise wirklich liebe. Und es lockert etwas in mir. Spannung, Trauer, Eile, das Gewicht einer ganzen Welt, für die wir Verantwortung tragen – kurz hebt es sich, für diesen Moment des Unsinns. Kuchen. Ja, Kuchen! Ich will einen Magen, ich will Geschmacksknospen, ich will auch Kuchen, den ich noch nie hatte!
Wir lachen. Zwei gleiche Stimmen vereint in unverfälschter Freude, weil wir erkannt haben, gleichzeitig, dass das Leben einfach mal Kuchen braucht. Egal, wie hart es ist, man kann und man muss sich seine Freude im Zweifelsfall künstlich schaffen – um wahre Freude zurückzugewinnen. Der Kredit an Fröhlichkeit, das ganze Glück, dass die schlimmen Dinge im Leben sich von dir ausleihen und nicht zurückgeben – auf einmal wirft er doch Zinsen ab. Nur wenig, aber es reicht, um weiterzumachen.
Der Meister wollte eine kurze Auszeit, um Pratham zu betrauern. Haben wir nicht getan, fällt mir gerade ein – aber wozu? Kuchen schlägt Trauer. Das Prinzip eines Leichenschmauses, verinnerlicht von uns durch die vereinte Idee vergangener Süßigkeit – der Tote ist von uns gegangen – aber wir leben. Und freuen uns über diese Tatsache und für ihn, dass er in einer besseren Welt ist. Wir gewinnen auch diesem Verlust noch etwas ab. Wir pressen Freude aus dem größten Granitblock des Weltschmerzes.
Siehst du uns lachen, Pratham? Wir freuen uns für dich, weil du sicher auch wolltest, dass wir nicht traurig sind!