Kapitel 36 – Das Offensichtliche
Wir stehen vor verschlossenen Türen.
„Wir sind doch erst vor Kurzem hier durchgegangen, warum ist die jetzt zu?“
Pratham zuckt mit den Schultern. Ich sehe auf den Boden unter der Tür; Risse sind darin. Ich vermute mal, sie ist heruntergekracht, immerhin ist hier drin Alles schon sehr, sehr alt. Sie hat gehalten, bis wir sie gerade das zweite Mal kurz hintereinander geöffnet haben, und während wir in der Würfelkammer waren, muss der Mechanismus den Geist aufgegeben haben. Der Meister scheint zum gleichen Schluss gekommen zu sein.
„Hätte das Ding nicht länger halten können? Na ja, egal – ich hab ehrlich gesagt keine Lust, einen Umweg zu suchen, wenn es den denn gibt, hier ist sicher immer noch Alles viecherverseucht. Wir machen Station in Lut Gholein, aber nicht lange. KoKoMal!“
Und das Stadtportal öffnet sich. Hm, ich hoffe, wir begegnen nicht Griez.
Der Meister scheucht Pratham hindurch und zieht mich kurz zur Seite.
„Ich mach ein paar Besorgungen und lass mir von Deckard den Würfel erklären. Du folgst ihm und schaust, was er macht.“
Aha, er lässt es darauf ankommen! Na schön, ich teste gerne, ob Pratham loyal bleibt. Doch da fällt mir was ein...was ist, wenn ich ihm einmal aus einem Grund nicht folgen könnte? Dann würde ich ja dem Befehl des Meisters zuwiderhandeln...aber jetzt tritt er schon durch das Stadtportal.
Pratham steht wartend da und ich kann Nichts machen. Na super.
„Also, Pratham, du hast jetzt eine halbe Stunde frei, kauf dir was zu essen oder so, hier ist ein Vorschuss vom Sold; wir treffen uns am Marktplatz.“
Und Pratham geht los, und ich mit ihm mit – was soll ich sonst machen?
„Stop mal!“
Pratham bleibt stehen, ich auch.
„Nicht du – der Golem. Du kannst gehen.“
Pratham runzelt die Stirn. Merkt er was? Aber er zuckt mit den Schultern und geht, dem alten Lethargiker ist das mal wieder völlig egal.
„Du nimmst das ein wenig zu wörtlich, hm? Folg ihm so, dass er dich nicht sieht, und ja, wenn es die Umstände gebieten, kannst du auch mit dem Folgen aufhören...“
Danke! Danke! Danke! Aber jetzt hinterher, irgendwann muss ich doch mit dem Folgen anfangen, um wieder aufhören zu können.
Pratham ist um die Ecke verschwunden, ich spähe dahinter, er ist weg. Hm, na super...doch halt, so schnell kann er nicht gelaufen sein, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, das heißt, er ist wohl in einem der Gebäude.
In diesem vielleicht? Ich luge durch ein glasloses Fenster.
In der Tat, er sitzt schon am Tresen von Atmas Taverne. Und bestellt, das höre ich schwach, ein Bier.
Keine Gefahr, schätze ich. Nur zur Sicherheit, und um dem Befehl auch sicher zu genügen, bleibe ich noch ein Weilchen stehen, aber er trinkt, und Niemand kommt, um mit ihm sinistre Pläne zu schmieden.
Was mache ich jetzt, weiter warten? Wozu denn...ich kontrolliere kurz das Stadtportal, aber so abgelegen, wie das liegt, findet das wohl Niemand von den wenigen in der Mittagshitze flanierenden Passanten. Im Grunde...ist hier gar Keiner.
Also begebe ich mich zum Marktplatz, in der Hoffnung, ein paar „Worte“ mit Deckard wechseln zu können.
Dieser ist allein, aber der Würfel ist bei ihm. Er sieht auf und ein Lächeln überzieht sein Gesicht, als er mich erkennt.
„Golem! Wie schön. Setz dich doch.“
Ich tue wie geheißen.
„Schau dir dieses Prachtstück an. Ich hätte nie gedacht, so einen zu Lebzeiten noch einmal zu sehen. Früher haben wir sie oft benutzt, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Jetzt könnte er fast ein Unikat sein. Ich habe deinem Meister schon gezeigt, wie man ihn benutzt, aber ich bekomme nicht genug davon. Schau her!“
Er klappt den Würfel auf, indem er einfach an einer leichten Naht drückt, der Deckel öffnet sich sofort ohne einen Ton. Dann nimmt er einen Köcher voller Pfeile, der unter seiner Bank gelegen ist.
Er steckt ihn in den Würfel, und klappt den Würfel zu.
Moment! Der Köcher war doch länger als der Würfel? Ich sehe ihn schief an, er grinst schelmisch zurück, und reicht mir den Würfel. Vorsichtig nehme ich ihn entgegen, aber er scheint robust. Der Deckel öffnet sich beim ersten Versuch, und der Würfel – ist leer.
Ich greife hinein – wo ist der Köcher hin? – und ertaste eine Feder.
Oha? Ich ziehe daran, es ist ein Pfeil.
Immer noch ist der Würfel für das Auge leer.
Deckard streckt seine Hand aus, ich gebe ihn verwundert zurück; er greift an die Seiten, klappt diese auch um, sodass der Würfel flach da liegt, die sechs Seitenflächen absolut gleich. Und darauf – der Köcher.
Phänomenal. Wenn das mit größeren Gegenständen auch geht, kann der Meister sich den Rucksack sparen! Ich breite meine Hände aus – wie groß können die Sachen sein? Deckard versteht mich, wie immer, schnell.
„Ich habe ein wenig herumprobiert, dieser Würfel ist recht klein, aber er fasst immerhin einen zwei Meter langen Speer, und dazu noch ein Schwert. Mehr passt nicht hinein, ihr könnt ein wenig experimentieren, wenn ihr unterwegs seid. Viele kleine Gegenstände oder wenige große, je nachdem.
Aber was ja noch viel wichtiger ist als die Lagerung, ist das hier. Pass auf.“
Er zieht noch einen zweiten Pfeilköcher hervor, faltet den Würfel zusammen, über beiden Köchern, die er auf die Segmente legt. Problemlos schließt sich das Artefakt. Dann nimmt ihn Deckard an den Seiten – und schüttelt. Ein sanftes Klirren ertönt.
„Mach auf, und schau dir das Ergebnis an!“
Ich nehme den Würfel, entfalte ihn – problemlos, wieder einmal – und vor mir liegt ein Köcher, mit Bolzen darin.
„Siehst du? Ein altes Rezept, man kann Bogen- und Armbrustmunition ineinander verwandeln!“
Mein Mund steht offen. Wahnsinn!
„Das ist noch nicht Alles, aber für die meisten Rezepte benötigt man Edelsteine. Vielleicht findet ihr ja solche. Auf jeden Fall aber kann man damit einen Horadrim-Stab aus Schaft und Spitze herstellen, aber das weißt du ja schon.
Nun, etwas Anderes. Ich denke mir, es wäre ganz praktisch für dich, wenn du kommunizieren könntest.“
Ich nicke heftig. Das wäre es, in der Tat.
„Gebärdensprache ist leider begrenzt. Man könnte sie jetzt dir und dem Meister beibringen, aber er wird hoffentlich nicht dein einziger Bezugspunkt in Zukunft sein neben mir. Das heißt, etwas Universelleres muss her: Die Schrift.“
Hm, das ist in der Tat ein Gedanke...obwohl...
„Ich werde dir also beibringen, wie man schreibt, und damit kannst du problemlos mit Jedem in Kontakt treten, wenn er denn lesen kann. Das sind leider bei Weitem nicht Alle, aber es reicht, auf jeden Fall kann es der Meister, dafür habe ich gesorgt. Also...nimm mal diesen Zettel und Stift, und ich zeige dir, wie man ihn am besten hält.“
...eigentlich...kann ich doch schreiben? Ich nehme den Stift und das Papier.
„Gut! Du hältst ihn schon richtig. Jetzt versuch mal, damit etwas zu zeichnen, egal, was.“
Ich schreibe. Ich glaube nicht, dass diese Art von Training nötig ist. Ich reiche ihm den Zettel.
Deckard starrt ihn an.
„Du kannst schreiben?“
Ich nicke und zucke mit den Schultern.
„Warum hast du denn das bisher nicht gemacht, um mit uns in Kontakt zu treten?“
Äh...
Eigentlich...
...müsste ich mir eine Ohrfeige geben. Ich belasse es aber bei einer ganz harten Kopfnuss.
„Au!“
Oh, der Meister ist in der Nähe...
„Was soll denn das?“
„Wir haben gerade eine wichtige Entdeckung gemacht: Das Offensichtliche ist manchmal die beste Lösung für ein Problem, aber die, an die man als Letztes denkt.“
„Aha. Interessant. Wir müssen verschwinden, ein Söldner hat mich gesehen, und wollte das gleich Griez berichten, ich habe keine Lust auf eine Konfrontation, und auch gar keine Zeit.“
„Er ‚wollte‘?“
„Na ja, ich hab ihm halt eins übergezogen, aber vielleicht wacht er bald wieder auf, so stark bin ich nicht. Was machst du eigentlich hier?“
Ich greife zu Zettel und Stift und fühle mich immer noch dämlich.
„Lass das, was auch immer. Ist denn nicht sowieso schon eine halbe Stunde um?“
„Ist sie.“
Pratham sprach, der gekommen ist.
„Na ausgezeichnet. Schade, dass das so kurz war, tschüss, Deckard, mitkommen, Pratham, wir sind wieder auf dem Weg.“
Ich stecke mir Zettel und Stift schnell in den Ärmel der Lederrüstung und winke Deckard mit einem Grinsen der Dankbarkeit zu; er nickt nur wissend grinsend zurück.
Und schon stehen wir wieder in der Fernen Oase, am Wegpunkt.