Nach all der Aufregung war es im kleinen Lager der Spurenlegertruppe verhältnismäßig still geworden. Einzig ein verkohlter Baum störte das Gesamtbild, doch man konnte ihn problemlos mit der Aufgabe, deutliche Spuren zu hinterlassen, vereinbaren.
Die immer noch in der Luft liegende Anspannung war nicht zu verleugnen, doch ein aufmerksamer Beobachter hätte noch etwas anderes bemerkt. Zwischen den sich in einer sanften Brise bewegenden Blättern am Waldrand schimmerte, kaum wahrnehmbar, ein Licht.
_____________
Auch im Hauptlager war Ruhe eingekehrt, jedenfalls soweit es eine solche Menschenmasse inklusive Verwundeter und Kinder zuließ. Ein paar Männer versuchten, die nicht gerade im Überfluß vorhandenen Vorräte unter den Leuten zu verteilen, doch es war klar, daß für ein Frühstück nicht mehr allzuviel übrig bleiben würde.
Lagerfeuer erhellten erschöpfte Gesichter und schon schlafende Gestalten. Zweimal schon waren sie nur knapp dem Tod entronnen und sie hatten noch einen weiten Weg vor sich.
Der Totenbeschwörer schaute auf, als er ein paar Füße in schweren Stiefeln vor sich stehen sah. Sein Blick wanderte hoch, und er zuckte zusammen, als er den Ritter vor sich erblickte. „Tschuldigung“, murmelte er, in der Annahme, dass der Ritter auf einem Kontrollgang ihn beim Nachdenken und Träumen erwischt hatte. Doch der Ritter sah ihn nur fragend an und sagte:
"Entschuldigt, wenn ich eure Wache unterbreche," war da etwa ein leicht spöttischer Unterton in seiner Stimme? "aber könnte ich Euch mal einen Moment sprechen?" Noch während er redete, stellte sich einer der anderen Söldner in der Nähe auf, um Maelnars Wachdienst zu übernehmen. Der Mann sah nicht besonders zufrieden aus, aber offensichtlich war er trotzdem bereit, den Befehlen des Ritters Folge zu leisten.
Dieser überzeugte sich mit einem kurzen Blick, dass die neue Wache auch außer Hörweite war, und fuhr fort: "Ihr tragt ja eine Menge Informationen mit Euch herum..." Zweifellos hatte er Maelnars kleine Büchersammlung bemerkt. "Unser gruppeneigener Anlinyenwë-Fana- äh, Priester war in dieser Hinsicht keine große Hilfe, also wende ich mich an Euch..."
„Anlinyen-wer? Oh-ohh…“, machte der junge Beschwörer, als ihm die Bedeutung des eben Gehörten klar wurde. „Der Priester des Anlinyenwë ist tatsächlich in unserer Gruppe? Deshalb hatte ich vorher so ein Gefühl, als wenn ich ihn kennen müsste“, murmelte er. Das war in der Tat ein seltenes Ereignis. Einige Totenbeschwörer sahen die Religion des Anlinyenwë als eine Art Konkurrenz zu ihrer Kunst an und leugneten gar die Existenz jenes Gottes, doch Maelnar hatte auch die Überlieferungen alter Schriften im Kopf, nach denen die Jünger des Rathma und des Anlinyenwë viele Gemeinsamkeiten verbanden.
Das genervt klingende Räuspern des Ritters riss den Totenbeschwörer aus seinen Gedankengängen. „Oh. Ja, richtig, Ihr sagtet, dass Ihr ein Problem habt. Entschuldigt, falls ich unhöflich bin, aber was für eine Angelegenheit beschäftigt Euch, dass Ihr damit zu mir kommt? Ich meine, Ihr seid ein Kämpfer“, – er stutzte, wo waren denn die Waffen des Mannes? – „wie soll ich Euch dabei helfen können?“
"Und Ihr seid ein Nekromant, stimmt’s? Ich denke, Angelegenheiten von Dämonen und Besessenheit fallen genau in Euer Gebiet." Der Paladin kratzte sich kurz am unrasierten Kinn. Verdammt, er war noch nie gut im Lügen gewesen. "Es geht um diese Wölfe, die uns vorhin angegriffen haben. Ihr werdet mir sicher dabei zustimmen, dass sie von irgendwas besessen waren. Ich habe da so eine Vermutung, und in einem Eurer Bücher steht bestimmt Näheres über Dämonenkunde und so weiter..."
Der junge Beschwörer zögerte mit der Antwort. Zum Einen fühlte er, dass der Ritter ihm etwas verbarg, zum Anderen sollte das Wissen dieses Buches Fremden gegenüber geheim gehalten werden. Andererseits ahnte Maelnar, dass hier mehr dahinter steckte als das bloße und zufällige Interesse an ein paar Dämonen. „Hmm, die Schrift in diesem Buch ist für Euch nicht verständlich. Genügt es Euch, die Abbildungen der Dämonen zu sehen?“ Auf das zögernde Nicken des Kämpfers holte Maelnar den Wälzer hervor und schlug die erste Seite auf. „Sagt es ruhig, wenn ihr mehr Informationen zu einer Zeichnung braucht.“
Zeichnungen! Wie zur Hölle sollte er es an einer krakeligen Zeichnung erkennen? Hatte es überhaupt einen Körper?
Aber er konnte den Beschwörer ja schlecht direkt danach fragen, also blätterte der Ritter langsam die dichtbeschriebenen Seiten durch und hoffte, dass es vielleicht ein oder zwei Beschreibungen ohne Bild gab... plötzlich grinsten ihm ein paar bekannte Fratzen vom Papier entgegen, und er blätterte schnell weiter.
Das erregte natürlich die Aufmerksamkeit Maelnars. "Was ist, habt Ihr etwas gefunden?"
Der Paladin schüttelte rasch den Kopf. "Nur ein paar alte Bekannte." Seltsam, dass er sich an das Aussehen der Dämonen noch so gut erinnern konnte, trotzdem er sie jeweils nur für ein paar Sekunden zu Gesicht bekommen hatte. "Warum musstet ihr auch ausgerechnet nach Calionne..." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch der Totenbeschwörer hatte offenbar gute Ohren.
Erstaunt sah dieser den Ritter an: „Calionne? Ihr ward es, der die Kämpfer in dieser Schlacht befehligt hat? Unsere… äh, Gemeinschaft, bewundert Euren Mut und Eure Taten in diesem Gefecht. Das war ein großer Sieg für das Gleichgewicht der Kräfte.“
"Jaja, Euer heißgeliebtes Gleichgewicht!" Der Paladin spuckte das Wort geradezu aus. "Ihr seid auch nicht anders als dieser Priester. Ihr denkt nicht eine Sekunde an all den Schrecken, der sich damals abgespielt hat, an die Menschen, an die Unschuldigen, die für nichts gestorben sind! Es hat verdammt nochmal kein Einziger von ihnen überlebt, kein Einziger!"
Er atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Er durfte sich einfach nicht so gehenlassen. Und außerdem hatte es Überlebende gegeben: diejenigen, die schlau genug gewesen waren, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen.
Nur mühsam schüttelte er den Gedanken ab und konzentrierte sich darauf, weiter ziellos in dem Buch vor ihm zu blättern und den Totenbeschwörer zu ignorieren.
Maelnar schwieg. Irgendwie konnte er sein Gegenüber verstehen. Früher hätte er sofort widersprochen, doch mit den Erinnerungen an das letzte Gefecht, das zerstörte Dorf und das gesehene Leid der Dorfbewohner hatte sich sein Empfinden in dieser Beziehung verändert. Jetzt konnte er die alten Totenbeschwörer verstehen, die sich von anderen Menschen fern hielten und. Wie viele von denen mochten Ähnliches erlebt haben?
Ein scharfes Einatmen des Ritters ließ den Beschwörer aus seinen Gedanken auffahren. Das Gesicht des Mannes war kalkweiß geworden, wie erstarrt saß er vor dem Buch, und seine Hände zuckten. Seine Augen schienen die Seite förmlich zu verschlingen. Dann, plötzlich, blätterte er rasch mehrere Seiten weiter. „Geht es Euch gut?“, fragte der Beschwörer und musterte den Ritter besorgt, der wie abwesend in die Ferne starrte. Dann begriff er das Gebaren seines Gegenübers plötzlich und blätterte langsam Seite für Seite zurück, die Beschreibungen überfliegend: „Epiphania? Nein“, murmelte er vor sich hin. „Phasma… hmm. NocteVagus? Wohl auch nicht. Moment, das hier passt…“ Sein Blick war an einer Abbildung eines uralten Dämons hängen geblieben. „Verschollen seit zweihundert Jahren, hmm. Ernährt sich von Angst, kann sich auf menschliche Wesen übertragen, oh-oh. Ziemlich heimtückisch, das Biest. So langsam macht das alles einen Sinn, das Gemetzel von Calionne, der Angriff auf das Dorf, und dass dieser Mann ohne Waffen herumrennt. Zumal der Dämon genau dann die Kontrolle über den Wirt übernimmt, wenn…“
"Was?", unterbrach ihn der Ritter plötzlich, ein kleiner Hauch von Entsetzen in der Stimme. "Es ernährt sich von was?"
Maelnar konsultierte kurz sein Buch. "'Angst, Schmerz, Hass und andere negative Gefühle' wäre die exakte Übersetzung."
Gequält schloss der Ritter die Augen. Wenn das tatsächlich stimmte, hatte er dem Dämon die ganze Zeit perfekt in die metaphorische Hand gespielt. Das Vieh brauchte nur zu warten, bis er sich... er vergrub das Gesicht in den Händen. Selbst jetzt genoss das Ding bestimmt jede Sekunde und freute sich über all die Energie, die sein Wirt ihm lieferte.
"Steht da zufällig auch, wie man das Ding wieder los wird?", fragte der von einem Dämon besessene Paladin zwischen den Fingern hindurch, ohne den Kopf zu heben.
„Hmm. Hier steht, dass es schon mehrmals versucht wurde, den Dämon zu vertreiben, allerdings ohne Erfolg. Das Wesen ist anscheinend sehr geschickt darin, zu überleben oder sich auf einen neuen Wirt zu übertragen“, meinte der Totenbeschwörer. „Meistens übernahm der Dämon direkt bei der Prozedur den Wirt vollständig, oder dieser wurde wie ist das passende Wort? – ach ja, verrückt. In dem einen bekannten Fall, wo der Dämon aus dem Wirt vertrieben werden konnte, hatte auch das ein schreckliches Massaker zur Folge, denn der Dämon wechselte direkt in einen der geschwächten Beschwörer und metzelte von diesem aus alle anderen nieder.“
Das war's. Jetzt hatte er es schwarz auf weiß: Es gab keine Lösung. Kein Entkommen. Keine Rettung. Wie hatte er auch nur für einen Moment glauben können, es gäbe einen – noch dazu einfachen – Ausweg?
Und mit jedem Gedanken, den er an seine Lage verschwendete, wurde der Dämon nur noch stärker, saugte die Verzweiflung auf wie ein Schwamm. Es war ein Teufelskreis: je mehr er über es erfuhr, desto auswegloser erschien die Situation und desto mehr Energie führte er dem Monster infolgedessen zu.
Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass es wenigstens nicht noch mächtiger wurde, als es ohnehin schon sein musste, bestand darin, die 'negativen' Gefühle abzuschalten. Er musste es irgendwie schaffen, die Tatsache zu ignorieren, dass er nicht alleine in seinem Körper war und praktisch jeden Moment wieder zu einem blutrünstigen, unkontrollierbaren Killer werden konnte. Ganz zu schweigen von all dem, was er schon angerichtet hatte...
Hier, direkt neben dem ehemaligen Paladin, hatte der Totenbeschwörer keine Probleme, den Dämon wahrzunehmen. Es war tatsächlich die dunkle Macht, die er schon früher in ihm bemerkt hatte. Er legte dem Ritter, der in seiner Verzweiflung versunken im Gras kauerte, eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen, und konnte den Dämon förmlich über sie beide lachen hören. Der labte sich wahrscheinlich gerade an den negativen Gefühlen und wurde dabei immer stärker. Er musste unbedingt aufgehalten werden, denn wie lange mochte es noch dauern, bis der Dämon stark genug war, den Ritter nach seinen eigenen Wünschen zu lenken? Zwar hatte der Totenbeschwörer bereits im Buch nach einem Hinweis gesucht, doch keine befriedigende Antwort gefunden.
Maelnar fühlte sich leicht überrollt von den letzten Ereignissen – zuerst der Kampf mit den Dämonen im Dorf und besonders dem Overlord und jetzt die Entdeckung dieser gefährlichen Bestie im Ritter. Ein falscher Schritt, und das Gleichgewicht der Kräfte mochte nachhaltig beeinflusst werden. Und er wäre schuld daran. Mit einiger Mühe schob er die bedrückenden Gedanken beiseite, jetzt war es erstmal wichtiger, dem ehemaligen Paladin Mut zu geben. „Ich kann mir vorstellen, dass das alles nicht leicht für Euch ist. Aber denkt an die guten Dinge für die Menschen, die ihr bisher geleistet habt. Ohne Euch wäre das Dorf überrannt worden, aber so haben die Leute eine gute Chance zu überleben.“ Natürlich nur, wenn sie es schafften, den Dämon unter Kontrolle zu halten. Bemüht, weiter mit zuversichtlicher Stimme zu reden, fuhr der Totenbeschwörer fort: „Konzentriert Euch auf die Aufgabe, die Ihr habt. Ihr müsst die Dorfbewohner sicher nach Dor Gulin bringen. Ich glaube, dort können wir auch Hilfe für Euer Problem finden.“
Das war zwar äußerst unwahrscheinlich, aber mit dem Rest hatte der Nekromant zweifellos recht. Wenn er jetzt aufgab, würde alles nur noch schlimmer werden.
Natürlich war das einfacher gesagt als getan, aber er war es den Leuten hier schuldig, es zumindest zu versuchen.
Na gut: positive Gefühle. Er wusste jetzt immerhin, mit was er es zu tun hatte. Er wusste, wie sich das Ding übertrug, wie es aussah (ein formloser Glibber) und wie man es besiegen konnte (offenbar gar nicht).
... Nein, so funktionierte das nicht. Seufzend erhob sich der Ritter.
Er hatte keine Ahnung, woher der Totenbeschwörer seinen Optimismus nahm, aber allein die Tatsache, dass der junge Mann ehrlich versuchte, ihn aufzumuntern, schien ein wenig von diesem Optimismus auf ihn abzufärben. Überhaupt reagierte der Beschwörer äußerst gefasst auf das Ganze. Wahrscheinlich hatte er sowas in seiner Ausbildung täglich erlebt.
Der ältere Mann warf noch einmal einen kurzen Blick auf das Buch. Die amorphe Zeichnung des Dämons schien ihn hämisch anzugrinsen. "Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Ihr das besser für Euch behaltet. Und falls es irgendwelche Anzeichen geben sollte, dass..." Seine Hand beschrieb eine vage Geste. "... Ihr wisst schon, dann rennt, so schnell Ihr könnt." Eigentlich sollte er das tun: so weit wie möglich von hier abhauen, bevor sich die Geschichte wiederholte. Doch andererseits... langsam begann sein Kopf zu schmerzen.