Kapitel 24 – Nachtlicht
Nun, das war unerwartet. Für einen Moment stehe ich reglos da, völlig überrascht. Der erste Schlag war der letzte. Nahezu ohne Widerstand zerschmetterte der Hammer der Höllenschmiede Mephistos Seelenstein. Große und kleine Splitter sind überall verstreut, von der Wucht des Aufschlags, in den ich viel zu viel Kraft gesteckt habe, in alle Richtungen geschleudert. Das...scheint ein besonderes Werkzeug...
Meine momentane Starre wird dadurch unterbrochen, dass die Welt explodiert. Während ein gewaltiges Heulen ertönt, schießen aus der Stelle, wo Kristall unter Metall zerbrach, Nebelschwaden hervor, blütenweiß, vage Gestalten formend, die zu schnell vorbeifliegen, als das ich etwas erkennen könnte. Ein Vortex formt sich, um die Schmiede wirbelnd, rascher und rascher, bis sich langsam eine Form bildet, oder dies zumindest versucht. Wie wenn es eine Wolke am Himmel wäre, glaube ich, etwas zu erkennen...dürre Arme, ein behörnter Kopf...
Natürlich. Der Stein hat Mephistos Seele freigesetzt. Und jetzt...will er verzweifelt ihren Zusammenhalt bewahren. Ohne Körper, der sie behaust, ohne Stein als Gefängnis...und die Hölle hungert nach Seelen.
Stumm stehen der Meister und ich da. Wir könnten ohnehin Nichts tun, der Seelendampf ist nicht stofflich. Seltsam aber, dass er weiß erscheint...
Was Mephisto schreit, ist nicht zu verstehen. Aber was er fühlt, ist eindeutig. Er wird auseinander gerissen. Und er kann sich dagegen nicht wehren. Der Nebel, welcher ihm noch vage Gestalt gibt, wird dünner, in alle Richtungen gesogen. Sein Geistermund reißt auf, puster Verzweiflung herausbrüllend...dann verschwindet jede Erinnerung an ihn so schnell, wie sie aus dem Seelenstein herausquoll.
Die Hölle fraß einen ihrer Herrscher.
Wir sehen uns an, nicken uns zu.
„Einer von drei.“
Der Meister macht ein paar Schritte nach vorne. Ich hebe eine Feuerbraue. Schnell verschwindet das größte Bruchstück des Seelensteins im Horadrim-Würfel. Als er sich aufrichtet, bemerkt er meinen Ausdruck.
„Was? Das glitzert auch nicht anders als ein Saphir. Gibt uns sicher Jemand ordentlich was dafür.“
Ich schüttle den Kopf.
„Vergiss wenigstens nicht, das Ding hier mitzunehmen.“
„Ach ja...nachher klaut ihn noch einer.“
Als ich ihm Hephaistos Hammer übergebe, in beide bereit erhobenen Hände, wird er davon überrascht, wie leicht das Werkzeug ist. Mit der rechten allein hebt er den scheinbar schweren Schmiedeknüppel.
„Na sowas. Ob man damit auch Dämonenköpfe eindellen könnte?“
„Auch, wenn ich das Ding nicht wirklich großartig finde, steht dir ein Dolch dann doch noch mehr.“
„Soso. Na, wenn du meinst.“
Damit ist das erledigt. Ich versuche, einen Blick in die Ferne zu werfen, aber die wabernde Luft verhindert das noch immer.
„Was jetzt, ein Portal?“
„Nein. Wir suchen den Wegpunkt hier. Es liegen noch mehr als genug Leichen hier überall, um die Armee wieder aufzubauen, dann marschieren wir zügig zum Ende. Das hier sollte ihr größter Widerstand gewesen sein, den haben wir gebrochen, jetzt geben wir ihnen keine Gelegenheit, mehr Truppen über Nacht herzuschaffen.“
„Du bist wahnsinnig.“
„Sind nicht deine Beine, die weh tun, oder? Lass das mal meine Sache sein. Ich verspreche dir, dass ich mich lange hinlegen werde, sobald wir über Teleportstein zurück in die Festung gereist sind, aber eben erst dann.“
„Dann beschwer dich das nächste Mal nicht, wenn ich dich tragen muss.“
Da lacht er. Und ich muss einstimmen. Es fühlt sich gut an, dieses Kapitel definitiv zu Ende gebracht zu haben. Wenn er nur nicht weiter so stur wäre...
Tatsächlich aber stellt es sich als überhaupt kein Problem heraus, zum Ende des Flammenflusses zu gehen. Eine Gruppe Urdars stellt sich uns noch in den Weg – sie sterben – dann finden wir auch schon den Wegpunkt in der Ferne. Ein breiter Landstrich führt darauf zu, der Weg flankiert von überlebensgroßen Statuen, humanoide Dämonen in schwerer Rüstung.
Während wir durch diese finstere Allee schreiten, fühle ich mich von ihren glühenden Augen beobachtet.
Vermutlich, weil sie das auch tun.
Oh, du...
Ihre Köpfe folgen unserer Bewegung.
„General, ich würde das Ding schnell aktivieren und hier verschwinden.“
„Ja...ja, natürlich.“
Er tut es. Nervös sehe ich immer wieder über die Schulter. Aber ich kann meinen Blick auch nicht völlig abwenden von dem, was vor uns liegt: Ein gewundener, schön gepflasterter Weg, wie eine Prachtstraße direkt aus Travincal, jedoch...chaotisch verzweigt, und selbstverständlich umgeben von flüssigem Feuer.
Dahinter, eine Kathedrale. Ein gigantisches Gebäude, das sehr wohl auch als heiliger Ort durchgehen könnte, wäre das Material nicht von der Farbe getrockneten Blutes und Alles umgeben von Flammen.
Ich bin mir sicher, wenn wir näher kommen, werden sich die Dekorationen auch als nicht ganz koscher herausstellen.
Wie ich mich schon darauf freue...
„Festung des Wahnsinns!“
Und wir sind zurück in logischen, sterilen, kühlen Hallen.
Der Meister nimmt einen tiefen Atemzug.
„Weißt du, so komplett saubere und aromafreie Luft hat auch mal etwas.“
„Er ist zurück.“
Kurz nach Tyraels Ankündigung kommen Deckard und Tenarion hergeeilt. Beide lächeln den Meister an – und beginnen, zu applaudieren. Der Horadrim-Weise verbeugt sich leicht.
„Wir haben es schon gesagt bekommen, dass Ihr eine Tat vollbracht habt, die die Hölle in ihren Grundfesten erschüttern musste. Mephisto ist für lange Zeit Geschichte. Eine unvergleichliche Leistung.“
Der Meister lächelt verlegen.
„Nun, wir haben ja noch einiges Anderes vor...“
Tenarion winkt ab.
„Ehre, wem Ehre gebührt. Wir beiden alten Männer sind zwar kein besonders aufregendes Empfangskommitee, aber stolz auf dich sind wir trotzdem. Das darfst du ruhig wissen.“
„Auch meine Erwartungen habt Ihr übertroffen, General. Diablo wird nun wissen, dass Ihr mehr als nur eine kleine Gefahr für ihn darstellt.“
„Das ist ja beruhigend, Tyrael...“
Der Meister seufzt tief.
„Leute, es ist sehr nett von euch, dass ihr hier auf mich gewartet habt, aber...ich fühle mich, als hätte ich seit Tagen nicht mehr geschlafen. Ich denke, ich werde eurem Drängen nun doch einmal nachgeben und eine kleine Pause machen.“
Sein Gefühl ist wohl darin begründet, dass er wirklich schon seit Tagen nicht mehr geschlafen hat.
Wir wollen mal nicht so sein. Gegen Erfolge kann man schlecht argumentieren.
Deckard nickt.
„Selbstverständlich, General. Euer Bett ist bereit.“
„Ich lasse ein paar Ausrüstungsgegenstände vor der Tür, da gibt es Einiges zu flicken...“
„Halbu wird sich darum kümmern.“
„Dann...bis später...weckt mich in, sagen wir...sechs Stunden? Das sollte reichen. Wir sind hier nicht fertig.“
„Natürlich.“
Das kann er sowas von vergessen.
„Ich habe die Zeit im Auge, General.“
Und werde sie ignorieren. Er schläft sich aus, ob er will, oder nicht.
Bald darauf ist er verschwunden. Deckard sieht ihm kurz nach, dann deutet er ein verhaltenes Gähnen an.
„Ich werde mich auch zur Ruhe begeben. Wir haben gespannt gewartet auf ein Zeichen des Erfolgs, und nun, wo die Spannung abfällt...holt mich mein Alter ein.“
Ich sehe Tenarion an.
„Und was machen wir, während die Menschen schlafen?“
Er legt die Finger zusammen.
„Ich könnte deine Hilfe brauchen, um ehrlich zu sein. Die ganze Zeit arbeite ich schon daran, der Geheimen Kunst ihre Geheimnisse zu entreißen, aber ich komme nicht so recht voran. Wenn dein Meister keine Probleme damit hat, sie zu lesen, solltest du das auch nicht tun, oder?“
„Nein...nicht wirklich.“
„Gut. Weil ich nämlich wirklich Probleme habe mit dem Verständnis teilweise. Und auch wenn die Suche nach Inhalten nicht völlig fruchtlos ist, bevor ich nicht jedes Wort in einem Satz verstehe, bin ich nicht sicher, ob ich die Technik dazu empfehlen sollte...“
„Schon klar. Ich helf da natürlich sehr gerne. Sag mir einfach, wo du meinst, dass etwas Interessantes steht, und ich les es für uns.“
Zwei Stunden später sind wir immer noch dabei.
„...das heißt also, man könnte die Knochen nicht nur zu einem Speer formen – was logischerweise möglich ist, jede Form, um genau zu sein – sondern ihnen auch noch eine Beschleunigung mitgeben?“
„Ja, so interpretiere ich das. Wie genau der General sich das vorgestellt hat, ist natürlich so eine Frage. Er schreibt wirklich oft so, als wäre die Funktionsweise von etwas doch völlig klar, wenn selbige es eigentlich nur für ihn ist.“
Höre ich da leichte Kritik an deinem alten Meister?
Ich ernte einen vorgestellten eisigen Blick, sonst ignoriert der Zweite mich.
„Wobei ich nicht weiß, ob unser General sich wirklich mit der Entwicklung eines Knochenspeers befassen wollen würde. Sein Mana ist knapp genug bemessen durch das Zaubern von Kadaverexplosionen.“
Und ganz nebenbei ist es ohnehin eine relativ wertlose Fähigkeit. Jemanden aufzuspießen ist so viel weniger effektiv als eine ganze Gruppe auf einmal explodieren zu lassen. Mein Meister hat sich mit der Entwicklung begnügt und den Speer dann niemals hergenommen.
Mhm...
Tenarion runzelt die Stirn.
„Gut möglich, natürlich. Wobei mich das Addendum hier interessieren würde. Kannst du das entziffern?“
„Natürlich.“
Der Zweite beugt sich nach vorn.
„Ein theoretischer Nutzen könnte natürlich auch darin liegen, wie die Geschwindigkeit des Speeres erzeugt wurde. Das Einzige, was der Reichweite deshalb Abbruch tut, ist die Fähigkeit des Nekromanten, herbeigezauberte Materie auch in gewisser Distanz noch stabil zu halten.“
Der tote Beschwörer reibt sich am Kinn.
„In Ordnung, das war weniger hilfreich, als ich dachte...was meint er denn jetzt damit?“
„Nun...“
Ich weiß, ich bin auf Denkpause, aber was ihm hier wieder offenbar völlig klar ist, ist die Geschwindigkeitsfrage. Also, was erzeugt diese – Magie, nicht?
Worauf willst du hinaus?
Keine Ahnung, frag Tenarion, ob er sich daraus einen Reim machen kann...
Der Zweite gibt meinen Gedanken laut wieder. Unser Forschungspartner überlegt noch etwas, dann hebt er einen Finger.
„Eine unnatürlich erzeugte Geschwindigkeit wird auch nicht auf natürliche Weise langsamer!“
„Das heißt?“
„Der Speer hält nicht an, wenn er etwas trifft.“
Leicht öffnet sich der Mund des Zweiten, als er versteht.
„Also könnte man beliebig viele Gegner in einer Reihe durchbohren?“
„Wenn ich das richtig verstanden habe...“
„Hm...“
Ich denke, die Explosion ist dennoch besser. Wann stellen sich Gegner schon je in einer Reihe auf?
Man könnte sie sicher irgendwie dazu bringen...
Du träumst nur von einem ganzen Haufen konzentrischer Löcher.
Eine gewisse Ästhetik ist dem nicht abzusprechen.
Ich glaube, ich übernehme mal wieder.
„Man könnte dies natürlich einmal testen. Aber ich weiß dennoch nicht, wie es um den praktischen Nutzen steht.“
„Stimmt wohl, Golem. Die Theorie ist hiermit erschöpft. Bevor wir mit etwas Neuem anfangen – was hättest du gegen eine Pause? Mein Körper braucht keinen Schlaf, aber der Geist etwas Ruhe.“
„Das ist mir durchaus Recht, ja.“
„Na denn...“
Er sammelt sich kurz, seine Miene wird ernst.
„...du meintest, es wäre eine lange Geschichte, was den General so bedrückt hat, das letzte Mal, als ihr hier ward. Denkst du, du hättest Zeit, sie jetzt zu erzählen?“
Das trifft mich ein wenig unvorbereitet, auch wenn ich es hätte kommen sehen sollen.
Na und? Sag ihm, dass es ihn Nichts angeht.
Er ist unser Freund.
Und das bedeutet was genau, dass er sich in Sachen einmischen darf, von denen auch du die Finger lassen solltest?
Du weißt noch nicht einmal, wie Freundschaft überhaupt funktioniert.
„Zeit...hätte ich schon. Aber ich weiß nicht, ob er wollen würde, dass ich sage, was passiert ist. Es ist eine...sehr persönliche Angelegenheit.“
Tenarion verzieht das Gesicht.
„Die Hölle kann ein extrem grausamer Ort sein. Ein traumatischer. Ich will mir gar nicht vorstellen, was ihr da draußen gesehen haben müsst. Gerade, weil die Verantwortlichen wirklich gut darin sind, die richtigen Knöpfe zum Drücken zu finden. Der General scheint immerhin gut genug damit klar zu kommen, dass er sich nicht davon hat abhalten lassen, mutig voranzuschreiten. Aber nagen tut es dennoch an ihm.
Ich würde ihm nur einfach gerne helfen können, wie auch immer, weißt du? Zwar bin ich prinzipiell nur hier, um ihm dabei zu helfen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, aber ich möchte auch mehr sein. Ein Freund.“
Genau das.
„Das weiß ich auch sehr zu schätzen, Tenarion. Er sicher auch.“
„Deckard hat mir erzählt, dass es da eine Frau gab. Ist es immer noch 'nur' – ha, nur – noch das?“
Ich trommle meine Fingerspitzen aneinander.
„Nun...grundsätzlich...hat es viel damit zu tun, ja.“
Er presst eine Faust auf seinen Mund.
„Na schön...dann...kann ich nicht allzu gut mitreden. Aber wenn er dennoch Jemanden braucht, auch nur zum Reden, dann sag ihm, dass ich da wäre, in Ordnung?“
„Das werde ich. Vielen Dank.“
Unangenehme Stille legt sich über den Raum. Ich breche sie mit Gewalt.
„Also...um die Pause etwas auszudehnen, werde ich mal sehen, ob Halbu schon fertig ist mit der Ausrüstung.“
„Tu das...“
Schnell verschwinde ich. Halbu formt gerade stumpf lächelnd Kettenglieder. Ich erfahre, dass er mit der Rüstung noch nicht einmal begonnen hat; aber die Schuhe sind fertig. Immerhin. Damit ich nicht völlig umsonst hier war, nehme ich sie schon einmal mit und lege sie lautlos vor das Zelt des Meisters.
Da haucht seine Stimme heraus.
„Golem?“
„Oh, hat mein Leuchten dich geweckt? Tut mir Leid...“
„Nein, das war es nicht...“
Ich halte inne. Soll ich...? Der Moment dehnt sich. Dann:
„Kommst du herein?“
Aber gerne doch. Der Meister liegt wieder auf dem Rücken und starrt die Stoffdecke an. Seine Hände sind auf der Brust verschränkt; wären seine Augen nicht offen, müsste ich an eine aufgebahrte Leiche denken. Er sieht mich nicht an.
„Golem, ich weiß gerade überhaupt nicht, was mit mir los ist...“
„Du kannst nicht schlafen?“
„Mhm.“
Jetzt dreht er sich zu mir.
„Aber nicht vor unglaublicher Trauer. Oder blindem Zorn. Oder irgendeiner anderen Emotion. Nein, ich fühle mich, als würde ich Nichts fühlen, und das macht mich wahnsinnig.“
„Vielleicht ist das ein gutes Zeichen?“
„Nein, ist es nicht! Die ganze Zeit, seit ich diesen verfluchten Dolch in Natalyas Brust rammte, habe ich mir verboten, darüber nachzudenken, was ich getan habe, weil ich vordringen musste. Weil ich es mir nicht leisten konnte, Schwäche zu zeigen, zusammenzubrechen. Ich dachte, ich verdränge es, kümmere mich später um die Aufarbeitung, ganz pragmatisch, rational. Sperre meine Gefühle ein, mir des Risikos bewusst, yada yada yada. Wir hatten das. Oft. Irgendwann hat mich das bisher immer eingeholt, ich war ein heulendes Elend, aber bin dann drüber hinweg gekommen...glaube ich zumindest...und diesmal wusste ich auch, es ist ja nur für ein paar Stunden.
Jetzt habe ich Zeit, Gelegenheit, und ich kann mir jedes Detail ins Gedächtnis rufen, jeden Satz, den dieser Dämon zu mir gesagt hat, jedes Argument, dass ich mir zurecht gelegt habe, die schon zwanghafte Hoffnung, die Verzweiflung gleich unter der Oberfläche, ich kaue all das durch, aber...Nichts.“
Ich komme näher und knie mich zu ihm.
„Aber...was erwartest du?“
„Was weiß ich? Trauer, Tränen, Tragik! Golem, die ganze Sache lässt mich kalt. Das ist doch nicht normal. Als hätte ich verlernt, wie es funktioniert, Schmerz zu empfinden. Und das sollte mir eigentlich auch Angst machen. Du und Deckard, ihr warnt mich doch immer, dass ich mich selbst vergesse über meiner Aufgabe, dass ich Böses tue, um letztlich das Gute zu schaffen, und das mich das korrumpieren wird. Zur Hölle, Tyrael selbst hat gesagt, dass meine Seele nicht im lichtesten Zustand ist, vorsichtig ausgedrückt. Ich glaube langsam, dass ihr wirklich Recht hattet. Weil ich das spüre. Aber nein, keine Angst. Ich bin nur...irritiert. Ich verstehe es nicht.“
Ein Eisklotz formt sich in meinem Magen. Ist es wirklich so schlimm um ihn? Dass er...das Interesse daran verliert, menschlich zu sein?
Das kann ich nicht zulassen, das darf er nicht zulassen! Aber...woher soll der Wandel kommen, wenn nicht aus ihm?
„General...du machst mir Angst.“
Er lächelt freudlos.
„Das tut mir sehr Leid, Golem. Ja, das tut es. Ich habe nicht meine Seele verloren oder so. Aber irgendwie...mache ich mir doch Sorgen, nicht? Vielleicht ist das aber auch Unfug.“
Um übertrieben mit den Schultern zu zucken, richtet er sich auf. Die Decke verrutscht.
„Vielleicht passiert dies einfach, wenn man einen Ein-Mann-Krieg gegen die Hölle führt. Man stumpft ab. Ich meine, die Entwicklung habe ich ja schon beobachtet, die ist auch an dir nicht vorübergegangen. Wenn das hier nur der nächste Schritt ist?
Und dennoch...sträubt sich etwas in mir dagegen. Darum kann ich nicht schlafen.“
Durch seine neue Position sehe ich mehr von ihm. Was mich den Kopf schütteln lässt.
„Bist du dir sicher, dass du nur nicht schlafen kannst, weil du dich nicht einmal ausgezogen hast? Ich bin zwar kein Experte darin, allzu viel über meine Haut zu spüren, aber so ein schwerer Gürtel kann nicht bequem sein im Liegen.“
Er streicht abwesend über die Drachenschnalle.
„Ach...den hatte ich ganz vergessen...nein, so unbequem ist er wirklich nicht. Ich dachte zuerst, ich falle wie ein Stein ins Bett und schlafe sofort ein, deswegen habe ich keine Zeit damit verbracht, mich etwas abzulegen...“
„Werd doch wenigstens das Ding los, ich bitte dich. Das ist lächerlich.“
Nach einem Schnauben macht er sich doch daran, den Gürtel abzulegen. Ich nehme ihm das schwere Ding ab und lege es auf den Stuhl hinter mir. Dann versuche ich, ihn auf andere Gedanken zu bringen, auch wenn ich mir nicht bei allem, was ich sage, sicher bin.
„Möglicherweise bist du einfach geistig noch mitten im Kampf, wenn du nicht einmal deine Rüstung komplett zurücklassen kannst. Hm? Versuch, den Kopf frei zu bekommen. Von all dem Chaos da draußen. Du bist nur ein Mann, der dringend seine Ruhe braucht. In einem warmen Zelt, auf einer bequemen Matratze. Schlaf. Morgen denkst du schon ganz anders. Fühlst ganz anders.“
„Ja...vielleicht...“
Ich drücke ihn sanft nach unten und decke ihn zu.
„Und denk daran, dass ich nicht glaube, dass du dich verlierst. Du bist immer noch der Gleiche, der du immer warst. Ein Junge, der viel zu viel Schlimmes in seinem Leben sehen und tun musste. Du bist ein wirklicher Held dafür, dass du überhaupt so wenig Schaden davon genommen hast.“
Mit langsamer Bewegung drehe ich mich um und beginne, aus dem Zelt zu gehen.
Das war jetzt aber eine glatte Lüge von deiner Seite.
Vielleicht.
„Golem...“
Meine Schritte hören auf.
„...bleib doch noch etwas hier. Du musst auch Nichts sagen.“
Stumm drehe ich mich um, lege den Gürtel auf den Boden und setze mich auf den Stuhl. Der Meister schließt die Augen. Legt die Arme an seine Seite, dann packt er eine Handvoll Decke und rollt sich ein.
Mein Leuchten lässt sein Gesicht erstrahlen. Kann er so überhaupt...
Ein Glitzern weckt meine Aufmerksamkeit.
Eine Träne rinnt aus einem seiner Augen.
Bald darauf beginnt er, zu schniefen. Packt die Decke fester.
Ich stehe auf, knie neben ihm. Ohne darüber nachzudenken, hebe ich meine Hand an sein Gesicht und trockne seine Tränen, die jetzt frei fließen. Sein Griff um den Stoff lockert sich, er packt stattdessen meine Feuerfinger.
Im Gegenzug drücke ich seine fester.
Es dauert etwas, aber irgendwann holt ihn doch die Müdigkeit ein. Sein Schluchzen endet. Er entspannt sich.
Noch eine halbe Stunde länger knie ich da, sicher gehend. Plagen ihn Träume? Er scheint tief zu schlafen, als ich ihn verlasse. Was jetzt wohl doch dazu geführt hat, dass seine Gefühle ihn gefunden haben?
Beim Hinausgehen stolpere ich fast über den Gürtel. Verfluchtes Ding! Ich trete es in eine Ecke.
Tenarion ist wieder über die Geheime Kunst gebeugt, als ich zu ihm zurückkomme. Mit neutraler Miene sieht er hoch.
„Hat er...dich gebraucht?“
Ich nicke.
„Ich würde auch gerne weiter bei ihm bleiben. Du siehst nicht so aus, als würdest du hier viel weiter kommen; kann ich das Buch mitnehmen?“
„Selbstverständlich. Außer, um etwas bei der Interpretation der grauenhaften Prosa zu helfen, bin ich da eh nicht allzu nützlich. Wache über ihn. Natürlich braucht er jetzt einen Freund.“
Und so sitze ich noch lange nicht weit vom schlafenden Helden, die Worte eines Tyrannen lesend und ultimativ nicht viel weiter kommend, weil nun meine Gedanken kreisen und kreisen. Worum, weiß ich nicht einmal.