Na denn...eine Seite, wie bestellt.
Leichentuch
Zögerlich krochen die ersten Strahlen der Morgensonne über den stumpfen Gipfel des fernen Berges. Weit hinten berührten sie die höchsten Wipfel, wanderten langsam an den Stämmen nach unten...erreichten die nächste Baumkrone. Küssten die grünen Blätter wach, ließen die uralten, lebensspendenden Prozesse darin beginnen. Baum um Baum des dichten Waldes badete in den hellen Strahlen, die mit steigender Sonne immer näher an den Höhenzug am Horizont wanderten...
Bis der erste Baum nicht mehr badete, sondern umspült wurde, denn ein lebender Baum trinkt aus dem Fluss des Lichtes, thront über ihm. Für einen toten dagegen ist der Fluss so wichtig wie für einen Stein; er interessiert sich nicht mehr für das Licht, kann blätterlos kaum mehr Schatten spenden, zieht keinen Nutzen aus dem Geschenk der Energie des wärmenden Himmelskörpers.
Noch viele tausend Schritte vom Berg Arreat entfernt bestand der einst stolze Wald nur noch aus totem Holz. Die Detonation des mächtigen Gipfels hatte das Leben in gewaltigem Umkreis zerstört, unzählige Pflanzen und Tiere weggewischt, als wären es Brotkrumen auf einem gerade abgeräumten Tisch gewesen; Abfall, übrig nach einem Festmahl, für keinen der Gäste von Wert und störend für die auf Sauberkeit bedachten Gastgeber.
Doch selbst zu Boden gefegte Essensreste können noch die als minder belächelten Lebewesen erfreuen, welche nachdem die Großen sich satt gegessen haben, dafür sorgen, dass der wertlose Dreck verschwindet und zum Nährboden für so viel mehr wird.
Näher am geköpften heiligen Berg der Barbaren waren die Stämme geknickt worden wie Halme im Sturm, ihre nunmehr blattlosen Spitzen von der einen zentralen Explosion wegdeutend, als hätten sie noch fliehen wollen. Alles, was nicht Massivholz war, hatte die Hitze in den Sekundenbruchteilen, die sie gebraucht hatte, um alles zu zerstören, zu Staub zerfallen lassen; in der längst kalten Asche, die auch die nun endlich durch einen bisher verdunkelten Himmel dringenden Sonnenstrahlen nicht wärmen konnten, zeigten sich das erste Mal seit Langem wieder Fußabdrücke.
Der Druide kniete sich nieder, die Falten seines Gewandes mit dem dunklen Staub verunreinigend, und legte sanft seine Hand auf den Boden, als streichle er ein Leichentuch. Was vom Bild her so falsch ja nicht war.
Dort lag sein einstiger Mentor. Er hatte sich zurückgezogen, um in Ruhe in der Natur meditieren zu können.
Dort sein erster Tiergefährte, den er längst entlassen hatte. Der mächtige Bär war alt geworden, er hatte sich einen schönen Lebensabend verdient gehabt, die Gründung vieler Bärenfamilien...seine Leiche lag neben der einer weiblichen Bärin.
Der ganze Wald...er bestand nur noch aus Geistern. Fast mochte der junge Druide verzweifeln, als er den Tod in seinem ganzen Ausmaß um sich herum spürte, von allen Seiten drang das schreckliche Vermächtnis von Baal auf ihn ein, der seinem Titel als Herr der Zerstörung durch die eine grausame Tat, die Verderbung des Weltsteins, mehr als gerecht geworden war.
Eine einzige heiße Träne fiel aus seinem Auge; dann kam erneut der tiefe Frieden über ihn, in dem er seine Reise hierher angetreten hatte, gerufen von...ja, von wem? Seine Hand hob sich gen Himmel. Spürte er eine leichte Brise darüber ziehen? Als der Wald noch lebte, hatte er gewaltige Stürme hervorrufen können...das war vorbei. Ein tiefer Atemzug trug ein Echo des Feuers der Vernichtung in seine Lungen. Warum war er an diesem Ort des Todes?
Noch einmal sah er all die Stellen an, die fernen und nahen, an denen all jene gestorben waren, die ihm etwas bedeutet hatten. Und da begriff er: Bisher war es immer das Leben gewesen, das ihn rief. Nun war es der Tod. Sie hatten ihn hergeholt, die Geister des Ortes...aber wozu?
Er konzentrierte sich. Müsste es denn, im Gegensatz zu den Stürmen, nicht möglich sein...?
Ein oranges Leuchten brach vor ihm aus, verdichtete sich zu einer ätherischen Form, stetig wabernd, aber von einer reinen Symmetrie, wie sie nur die Natur selbst erzeugen konnte. Nie zuvor hatte er einen derart strahlenden Geist hervorgerufen...fast wirkte er wirklich. Fast...er zog seine Hand zurück, die die Erscheinung beinahe berührt hätte. Die Aura des Lebens, die den Weisen umgab, stärkte seine von der langen Wanderschaft müden Glieder, aber sie konnte die Leere in ihm nicht vertreiben. Was war der Sinn?
Da spürte er etwas. Etwas Kleines, Unscheinbares, Unbedeutendes. Nie hätte er es bemerkt, wenn nicht sämtliches Leben um ihn herum zum Stillstand gekommen wäre. Sämtliches Leben, außer...er strich sanft das Leichentuch aus Asche an einer Stelle weg.
Eine Eichel lag auf dem blanken Boden, glatt, makellos...bis auf einen winzigen Haarriss an ihrer Seite. Er wusste, was das bedeutete, und mehr noch spürte er es: Dieser kleine Baumsamen, belebt durch den Geist, der er gerufen hatte, befeuchtet von der Träne, die er vergossen hatte, war dabei, zu keimen.
Er erweiterte sein Bewusstsein, jetzt genau wissend, wonach er suchte. Und tatsächlich: Überall um ihn herum spürte er weitere keimbereite Samen. Der Wald...er war nicht tot. Er schlief nur.
Und irgendjemand musste ihn wecken.
In der Ferne überstrahlte ein rotes Leuchten die Morgensonne. Ein Heulen erfüllte die Luft, ein freudiges Heulen, als einem weiteren Druiden klar wurde, dass dies nicht ein Ende war, sondern ein neuer Anfang, eine neue Chance. Er hob die Hände zum Himmel, die Augen schließend, und begann, die Natur um Regen zu bitten, ein Lächeln auf seinem Gesicht. Mit ihm klangen weitere wortlose Gebete nach oben, von all den anderen, die gekommen waren.
Es würde Jahre brauchen. Aber der Wald würde wieder leben. Das versprach er den Geistern, die ihn gerufen hatten.