Kapitel 64 – Über Gefühle
Als ich ihn über den Blick in Alkors Augen informiert hatte, bestand des Meisters Antwort vor Allem aus einem kurzen Nicken.
„Deckt sich mit meinen Vermutungen: Da steckt eine gewaltige Menge Eigennutz hinter seinem Forscherdrang, und er verbirgt ihn fast sträflich schlecht. Was aber Nichts daran ändert, dass wir das Ding suchen werden. Wenn er schon so danach sabbert, ist er sich auch sicher, dass ich das Buch besorgen kann, und deine Einschätzung bezüglich des Nutzens scheint sich ja mit deiner zu decken, Zweiter...Danke übrigens für deine Unterstützung.“
Was der Zweite komplett ignorierte und mich stattdessen beide Daumen ausstrecken ließ.
„Das Schwarze Buch ist von großem Wert. Aber ich gehe davon auch, dass Ihr nicht vergessen habt, dass er uns bei der Anzahl der Tempel belogen hat...was, wenn er auch andere Dinge beschönigt hat? Zumindest 'Herolds Einfluss' stehe ich sehr skeptisch gegenüber.“
Der Meister hatte sich das Kinn gerieben.
„Das ist schon der Gott der Zakarum-Religion, oder? Ja. Nun, nicht meiner. Aber auch die alten Götter des Gidbinn hatten Macht – ob das tatsächliche Entitäten oder nur mundane Magie war, sei dahingestellt. Wir dürfen hoffen und werden es versuchen. Ich für meinen Teil leg mich jetzt aber hin, Morgen wird ein langer Tag.“
Das befürchte ich noch immer. Zwei Stunden ist unser Dialog nun her, und es fühlt sich an, als hätte ich mir schon zwei Tage lang Sorgen machen können. Ein immer dichteres Netz an Ungewissheiten umspannt uns; wem sollen wir denn noch trauen? Die offensichtliche Antwort heißt Cain mit Nachnamen, aber wir haben schlicht keine Zeit für eine lange Diskussion mit dem Horadrim-Weisen, wie man es dreht und wendet. Dringend nötig wäre sie, aber dringender ist unser Vordringen in Kurast, und keiner von uns beiden kann alleine hierbleiben, um zu planen; ich werde den Meister sicher nicht mit Isenhart alleine lassen, und dieser kann nicht mit mir.
Die korrekte Hand ist immer noch das Schwert ins Gesicht des Problems.
Außerdem sind wir komplett schneller, und es ist Zeit für den Endspurt. Du konzentrier dich auf deine Arbeit.
Du spuck keine unüberlegten Unterstellungen, meine Arbeit ist erledigt.
Tatsächlich ist Unter-Kurast so weit wir es erforscht haben eingetragen; der Zweite hat sogar bei jedem Haus den geschätzten Zerstörungsgrad vermerkt. Ich muss mich entschuldigen...
Spar dir deinen nicht vorhandenen Atem, mach dich lieber nützlich und roll das Ding schön zusammen, mit Schleifchen drum für unsere Liebe Freundin Aschara vielleicht?
Ich seufze intern – und bin überrascht, als mir ein realer Seufzer vom Bett her antwortet. Sehr leise wage ich eine Frage.
„Bist du etwa noch wach?“
Klar und deutlich sehe ich, wie die Augen des Meisters sich öffnen und leer in die Dunkelheit starren.
„Ja...“
Scham durchzuckt mich.
„Waren wir zu laut? Das tut mir Leid...“
Er schnaubt.
„Du musst dich nicht entschuldigen...das Problem bin ich selbst. Nur meine Gedanken halten mich wach.“
„Auch Sorgen wegen Morgen?“
Sein Lachen ist freudlos.
„Ach, wenns nur der Binnenreim wäre!“
Aber was ist es dann?
Blind, blöd und taub. Die Quelle seiner Schlaflosigkeit hat ganz offensichtlich kurze schwarze Haare und läuft gerne in gleichfarbiger Rüstung herum.
Natalya?
Applaudier dir selbst zu dieser genialen Erkenntnis.
Aber...das verstehe ich nicht. Ich vermisse sie doch auch, aber sie ist ja nicht tot oder so...und derart gequält zu sein von Gedanken an sie...verdammt, ich habe in der ganzen Hektik der letzten Zeit fast gar nicht mehr an sie gedacht!
Muss man dir immerhin zugute halten. Du bist nicht blind wie er in die Fänge des schlimmsten Feindes der Menschheit gelaufen.
Was...?
Frag ihn. Das wolltet ihr ohnehin schon besprechen. Ich gehe derweil ein Liedchen summen oder so, damit ich das mit Garantie folgende Gewäsch nicht ertragen muss.
„General...was ist es denn dann?“
Ich will es aus seinem Mund hören. Und werde nicht enttäuscht, wohl aber erschüttert von Ton des einen Wortes, das wie ein nutzloser Hilferuf über seine Lippen haucht.
„Natalya...“
Seine Verzweiflung findet ein Echo, denn ich fühle mich verloren wie lange nicht mehr.
„Ich...ich verstehe nicht...“
Er legt die Hand auf seine Stirn und verzieht unwillig das Gesicht; ob ihm bewusst ist, dass ich ihn klar und deutlich sehen kann? Die Schwarzweißtöne sind nicht einmal so weit von der Realität entfernt.
„Wahrscheinlich bekommen wir keine bessere Gelegenheit mehr, und ich kann eh nicht schlafen, also...du wolltest etwas über die Liebe erfahren, Golem? Sie ist der Grund. Mach dich bereit für ein Thema, das man theoretisch kaum begreifen kann und in dem dein Lehrer sträflich wenig Erfahrung hat.“
Obwohl ich mich freuen sollte, dass meine Neugier befriedigt wird, spüre ich Nichts als...Angst? Nein, es ist...er hat offensichtlich Probleme, darüber zu reden, soll ich ihn wirklich mehr oder minder dazu zwingen? Und: Will ich es denn wissen? Ich bin kurz davor, ihm abzuraten...aber ich muss Bescheid wissen. Also schweige ich, und er beginnt stockend.
„Es ist so...ein Mensch kann für einen anderen ein Gefühl hegen, das stärker ist als alle anderen Gefühle. Es übertrifft den stärksten Hass, den man je empfinden könnte, den größten Schmerz, die größte Verzweiflung. Wenn man Jemanden liebt, ist dies absolut; man würde Alles für diese Person tun, könnte ihr nie Leid zufügen...man würde ohne zu zögern für sie sterben.“
Ich bin beeindruckt. Eine derartige Macht kann in einem einzigen Gefühl stecken? Aber...wie? Wie ist das möglich? So verschieden klingt es nicht von etwas, das ich schon kenne, aber...um doch so viel mehr.
„Ist das nicht...wie Freundschaft, General? Nur...stärker?“
Er schüttelt den Kopf.
„Nein, Golem, das ist es nicht, sonst wäre es viel einfacher zu erklären – obwohl Freundschaft an sich schon ein sehr kompliziertes Konzept ist. In gewisser Weise ist es eine stärkere Freundschaft, aber mit dem entscheidenden Unterschied, dass selbst die stärkste Freundschaft nicht das Denken komplett ausschaltet. Die Liebe dagegen kann das.“
„Was? Man hört auf zu denken?“
Er kichert freudlos.
„Ha, manchmal würde man das meinen. Tatsächlich kann man in allen Bereichen der vernünftigste, pragmatischste und logischste Mensch sein, den es gibt – aber sobald es um eine Person geht, die man liebt, wird jegliche Ratio über Bord geworfen. Das klingt nun vielleicht schrecklich, aber das ist es nicht – denn als Liebender geht man davon aus, dass der oder die Geliebte es absolut verdient, wenn man für sie oder ihn Dinge tut, die ein Außenstehender oft zu Recht als dämlich bezeichnen würde. Und falls die Liebe auf Gegenseitigkeit beruht, wird man auch verstanden und geschätzt werden für etwas, das Andere als Verfehlung sehen mögen.“
Jetzt bin ich komplett verwirrt. Und gebe das auch offen zu. Er atmet kurz durch.
„Nehmen wir ein Beispiel. Eine Frau sagt einem Mann, der sie liebt, dass Rosen ihre Lieblingsblumen sind. Aber sie ist mit ihm von ihrer Heimat weggezogen und lebt jetzt in einem fernen Land, wo es keine Rosen gibt – denn sie liebt ihn weit mehr als Rosen. Es wäre nun ziemlich dumm von ihm, auf ihre Aussage zu reagieren, indem er sofort Alles stehen und liegen lässt, um ihr eine Rose zu besorgen...koste es, was es wolle. Eine Reise in ihr Heimatland, obwohl dies von einem Krieg erschüttert wird...ein Kauf bei einem fahrenden Händler zu einem horrenden Preis...für eine einzige Blume. Doch genau dies wäre im Bereich des Möglichen, weil er sie liebt und somit Alles, wirklich Alles für sie tun würde.“
Das ist schwer zu glauben.
Aber komplett wahr.
Warst du nicht summen?
Mir fällt kein Lied ein.
„Aber General...wenn die Liebe Leute dazu treibt, völlig irrationale Dinge zu tun...muss sie dann nicht sehr selten sein? Sonst würde doch Nichts mehr funktionieren.“
Er seufzt.
„Zu oft sind schon ganze Reiche wegen der Liebe eines einzigen Anführers zur falschen Frau zerstört worden. Aber das sind in der Tat extreme Beispiele. Oft bleibt auch die Liebe im Rahmen, wie auch andere Emotionen im Rahmen bleiben können – man kann beispielsweise Jemanden hassen, ohne ihn bei der ersten Gelegenheit, die man bekommt, zu töten. Was ich beschrieben habe, ist jedoch eine konkrete Möglichkeit, und Jeder, der schon einmal geliebt hat, wird dies auch verstehen – das macht es ja so kompliziert, es zu erklären, Golem! Stell dir vor, ich würde irgendeinem zufälligen Menschen erzählen, dass es möglich ist, dass ein lebloser Klumpen Ton nur durch einen winzigen Anstoß von meiner Seite innerhalb kürzester Zeit eigene Gefühle entwickeln würde...und teils sogar stärkere, als die Meisten sie haben. Würde er mir das glauben?“
Ich schüttele den Kopf; die Sinnlosigkeit der für ihn unsichtbaren Geste wird mir erst später bewusst.
„Nein...vermutlich nicht.“
„Eben. Aber wir beide, du aus erster und ich aus zweiter Hand, haben genau das erlebt. Es ist nur glaubhaft, wenn man es selbst fühlt.“
Oh, ich glaube ihm das gerne. Man kann es nämlich in der Tat aus zweiter Hand erleben.
Aber verstehst du es?
Verstehst du, warum du denkst, wie du denkst?
...nein...aber die Liebe, ist sie für dich nicht auch ein komplettes Mysterium?
Für Jeden ist die Liebe ein Mysterium. Ich kann sie nicht erleben, weil man dafür offenbar eine Seele benötigt, was mich nicht im Mindesten stört; vielleicht wüsste ich dann, warum normale Menschen zu kompletten Narren werden. Mir genügt aber zu wissen, dass dem so ist, und allein deswegen will ich mich auch nicht näher auskennen!
Eine Seele...
„General, denkst du, ich wäre fähig zu lieben?“
Seine Augenbrauen heben sich.
„Du würdest dir das wünschen?“
Würde ich das? Würde ich das wirklich? Es ist wie die Frage, die ich mir gestellt habe, bevor er zu reden begann: Will ich es wissen? Eigentlich bin ich nicht schlauer als vorher. Und...so gefährlich und schrecklich sie klingt, die Liebe...sie muss etwas für sich haben. Wenn Menschen bereit sind, für sie Geld, Macht, sogar ihr eigenes Leben zu opfern – wie unermesslich wertvoll muss es denn sein, dieses Gefühl zu besitzen?
„Ja.“
Narr!
Er bleibt eine Weile still.
„Weißt du, das Problem ist, man kann nicht aktiv nach Liebe suchen. Sie ist etwas, das einfach passiert, manchmal muss man einen anderen Menschen nur sehen, und man weiß sofort, ja, das ist die Richtige...manchmal muss sie einen erst an ein Bett fesseln, damit man weiß, woran man ist.“
Ein seliges Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
„Ich kann dir nur sagen...es zu wollen ist der erste, der wichtigste Schritt. Viele, zu viele Menschen gestatten es sich nicht zu lieben, weil sie glauben, es wäre ohnehin umsonst. Das ist es aber nie. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn Jeder wahre Liebe kennen würde, weil sie einem bewusst macht, was für ein Geschenk es ist, in Frieden und Sicherheit leben zu können – und Zeit zu haben für die Liebe.“
Langsam beginnt mit etwas zu dämmern.
„Und diese Zeit...haben wir nicht.“
Er schließt die Augen und schüttelt den Kopf.
„In der Tat. Dieser Krieg gegen das Böse...er hat mich und Natalya auseinandergerissen. Sie konnte mich gehen lassen, ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass sie mich nicht so liebt wie ich sie, oder ob sie einfach nur noch eine stärkere Frau ist, als ich bereits weiß...ich hätte es nicht geschafft, davon bin ich überzeugt. Jetzt ist sie weg, und es tut weh, unglaublich weh, so sehr, dass nicht einmal die Hoffnung, sie bald wieder zu sehen, den Schmerz wegnehmen kann, weil ich mir immer denke, was ist, wenn ihr etwas passiert? Wenn mir etwas passiert? Wir kannten uns nicht lange, und es war doch so schön...so viele Chancen, verpasst.“
Und so viele Nächte ohne Schlaf...
„Aber heißt das nicht, dass wir umso härter kämpfen müssen, um diesen Krieg so schnell als möglich zu beenden? Damit...damit die Liebe keine Chancen mehr verpasst?“
Damit mehr Leute Gelegenheit haben, ihr Leben durch die eigene Dummheit zu ruinieren, hurra!
„Ja, Golem, so ist es. Ich sollte meine ganze Energie auf meine Mission konzentrieren, denn ich mache das hier ja nicht für mich, sondern für das Leben – und Lieben – der ganzen Menschheit. Und doch...ich bin abgelenkt von Gedanken nur an sie, jede freie Minute und manche unfreie...ein Teil des Schmerzes ist Schuld, weißt du? Ich schäme mich, dass ich die Sache wohl nicht ernst genug nehme. Aber Liebe ist egoistisch...“
Wie so Vieles; aber die anderen Dinge hindern einen meist nicht an Vorgängen wie „Denken“ und „Überleben“.
Dafür wäre ein Überleben, wenn ich das richtig beurteile, ohne Liebe auch überhaupt Nichts wert! Aber bin ich da nicht auch...
„Ist es dann nicht egoistisch von mir, lieben zu wollen, General? Würde ich damit nicht auch meine Pflicht dir gegenüber gefährden?“
Er starrt an die Decke.
„Nein...du könntest das doch gar nicht, oder? Ich könnte dir befehlen, mir weiter zu dienen...ich würde es nicht tun, nie im Leben, aber du könntest so nicht glücklich werden. Zwischen Liebe und Pflicht wählen zu müssen...das ist das Schlimmste, Golem. Jetzt ist es viel zu früh, sich eine derartige Sache zu wünschen. In ferner Zukunft...wer weiß. Vielleicht ist es möglich. Aber in dieser Situation...ich meine, wer würde sich auch in einen Nichtmenschen aus Metall verlieben?“
Das trifft mich hart, weil es stimmt. Ich bin kein Mensch...und wer außer einem Menschen sollte mich lieben? Denn ich bin mir sicher – einseitige Liebe wäre schrecklich. Man würde nur ausgenutzt werden!
Was das größte Problem darstellt. Und woher soll man wissen, ob man geliebt wird? Man kann nicht in die Leute hinein sehen! Man kann in der Hinsicht auch Niemanden vertrauen...denn Jemanden, den man liebt, glaubt man Alles.
Er deutet meine Stille richtig, was mir nicht weiter hilft.
„Es...es tut mir Leid, Golem. Das war...nicht nett von mir.“
„Wenn es doch stimmt, General...“
Sein Blick senkt sich betroffen. Meine Faust schlägt gegen die Wand, und es splittert laut. Verdammt!
„Golem!“
Gerade hatte ich mich abwenden wollen und hinaus laufen, da hält mich seine Stimme fest. Ein Fluch entfährt dem Meister aufgrund einer gestoßenen Zehe, dann legt er seine Hand auf meine Schulter.
„Ich hätte das nicht sagen sollen, das war gemein. Und stimmt auch nicht völlig. Es geht nicht um deinen Körper. Um das Metall, das dich kleidet. Wirklich wichtig für die Liebe sind nur die inneren Werte, und deine Seele ist menschlicher als die meisten, die in Fleisch stecken.“
Zu blöd nur, dass die wirklich eine Seele haben...egal, wie schwarz sie ist.
Sei still! Sei um Himmels Willen still!
Du verrennst dich hier gerade in völlig idiotische Hoffnungen, Träume und vage Ideen, du solltest mir dankbar sein dafür, dass ich versuche, ein wenig Vernunft in dein Winzhirn zu prügeln! Liebe für einen Golem, von einem Golem? Das ist doch völlig undenkbar!
Ach so? Ich kann das aber denken, sonst würde ich es gerade nicht tun, oder?
Irgendetwas zwingt mich, eine bittere Frage zu stellen, vielleicht, weil ich selbst erkenne, dass ich geradezu kindisch trotzig bin im Moment...ich will nicht meine Vernunft einbüßen, nur weil der Zweite mich wieder durch seine Worte quält.
„Wenn der Körper nicht wichtig ist, warum musste deiner dann erst gefesselt werden, damit du Natalya verfallen bist?“
Zunächst ignoriert er meine Frage, dreht sich um, setzt sich hin und lässt einen Feuermagier für Licht sorgen. Meine Dunkelsicht verschwindet und der Raum versinkt in tanzenden Schatten, da die Leuchtkugeln nicht wirklich hell sind. Der Ausdruck des Meisters ist schwer zu deuten, als er auf den Stuhl sich gegenüber weist.
Als ich sitze, redet er weiter.
„Nun, der Körper ist nicht Alles, aber man könnte ihn durchaus als ergänzenden, wenngleich nicht zwingend notwendigen Teil der Liebe sehen...“
Von seinem unglaublich kompliziert formulierten Satz muss ich erst mal intern schlucken. Wie genau soll ich das verstehen...
Ein Wort zur Güte.
Wenns sein muss...
Ihm gegenüber.
...du kannst dich hoffentlich beherrschen.
Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand zeigen anklagend auf den Meister.
„Eine schöne Umschreibung dafür, dass das Gerede von 'inneren Werten' nicht wirklich zielführend ist, da es zwar durchaus Beispiele gibt, wo selbige zählen, aber ein Großteil der Beziehungen einzig und allein aufgrund des Aussehens geschlossen wird.“
Seine Stirn runzelt sich.
„Warum denkst du alter Zyniker denn, hier mitreden zu können? Oder wurdest du schon einmal verschmäht?“
„Ha, sämtliche Götter, an die geglaubt wird, mögen bewahren. Ich erlaube mir nur, diesen Kommentar einzuwerfen, da ich glaube, dass mein...geschätzter Mitbewohner...Euere Aussage falsch verstanden haben könnte. Tatsächlich ist es überaus unwahrscheinlich, dass sich Irgendjemand je zu einem Golem hingezogen fühlen könnte, und wenn ich das richtig interpretiert habe, wolltet Ihr genau das nur vorsichtig ausdrücken.“
Der Meister zieht sich etwas zurück.
„Das wollte ich nicht!“
Ich balle meine rechte Hand zur Faust.
„Aber was meinst du denn dann mit der Ergänzung der Liebe durch den Körper?“
Er schluckt.
„Ähm...“
Und sein Gesicht wird, so ich das in den Schatten beurteilen kann, rötlich.
Gnihihihi.
„...du weißt schon...der...ähm...spaßige Teil von Fortpflanzung?“
Mein Kopf wandert langsam nach vorne; wenn ich Augen hätte, würden sie sich erweitern.
„Ich habe keine Ahnung, wovon zu redest.“
Sein Blick beginnt, durch den Raum zu schießen.
„Oh. Hm. Dann sollte man dich wohl aufklären...“
Oh, das ist viel zu köstlich.
Was zur Hölle amüsiert dich so?
Allein die Wortwahl!
„General, warum ist dir das so unangenehm? Wenn du mir etwas nicht sagen willst, dann lass es doch, so wichtig wird es schon nicht sein...“
„Nein, das ist schon wichtig, um die Sache zu verstehen...Himmel, ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Gespräch je führen müsste, bevor ich dreißig bin...oder überhaupt...“
Als ich ihn sich winden sehe, kommt mir plötzlich ein Geistesblitz.
„Eigentlich musst du mir Nichts erklären. Das kann der Zweite machen – er tut so, als würde er sich auskennen.“
Die Augen meines Gegenübers schießen auf.
Was? Nein, das kann nicht dein Ernst...
„Ist das so, Zweiter? Antworte ehrlich.“
Ganz leicht zitternd legen sich zwei Finger auf meine Brust.
„Ich kenne sämtliche theoretischen Details, wenngleich selbstverständlich ohne praktische Erfahrung.“
Ein dünnes Grinsen umspielt des Meisters Lippen.
„Das wird genügen. Dann hast du hiermit die Aufgabe, meinen Golem über sämtliche Aspekte körperlicher Liebe aufzuklären, die dir bewusst sind, Zweiter. Leg los.“
Du verdammtes Arschloch, ich hasse dich!
Oho, anscheinend ist das Thema wirklich lustig, wenn du dich darüber so aufregen kannst. Jetzt bin ich wirklich gespannt.
Plötzlich flutet Information mein Hirn. Ich spüre, wie sie Lücken füllt, von denen ich noch gar nicht wusste, dass sie da waren – offenbar hat der Zweite sie bei den vielen Schüben an Überlebenswichtigem bisher ausgelassen, ob als Teil eines privaten Witzes oder weil es ihm wirklich peinlich war, weiß ich nicht. Denn auf einmal verstehe ich, warum beide so ein Problem damit hatten, mich zu erhellen, was, wie das neue künstliche Wissen mir kühl versichert, grundsätzlich eine gesellschaftliche Sache ist, der sich aber Niemand entziehen kann, da das Thema wirklich eines der wenigen ist, die über alle Schichten hinweg mit Samthandschuhen angefasst werden...was mir ein wenig komisch erscheint. Welchen Sinn hat diese...Prüderie, wie man es nennt? Was soll sie bewirken? Mir scheint der Prozess recht natürlich, wenngleich deutlich unpraktischer, als er sein sollte...
Liegt mein mangelndes Unbehagen daran, dass ich wirklich keine Erfahrung habe, im Gegensatz vielleicht zum Zweiten, der praktisch – wie ich jetzt weiß, allerdings wirklich selbstverständlich – nicht versiert ist, aber theoretisch eben schon ein ganzes Leben lang mit einer oktroyierten Aura des Schweigens dazu konfrontiert war, und...
Moment, was hast du mir denn da für eine Erinnerung als Fallbeispiel mitgeliefert?
…
Du musstest ihre Kleider halten und zusehen, während dein Meister...?
Ahahahahahahahahahahahahahaha...
Was? Das...das...hör auf zu lachen! Als ob das ein besonderes Problem gewesen wäre! Er war noch jung, es war sein Wunsch, und ich diene nur...gib mir diese Erinnerung zurück!
Können vor Lachen, oh Himmel, ist das lustig! Kein Wunder, dass du eingeschworener Vernunftsgolem so pikiert bist, wenn dein Meister dich derart...oh, da kann man schon neidisch werden, wenn man sieht, wie viel Spaß er hat...hm, sie eher weniger...
Treibs nicht zu weit...
Ich hör ja schon auf.
Gnihihi, um dich zu zitieren.
„Golem?“
Ich nicke.
„Ich weiß Bescheid.“
Er legt den Kopf schief.
„...und?“
Schulterzucken.
„Was soll sein? Der Vorgang ist recht logisch, die Konnotationen befremdlich, aber da ich von ihnen nur theoretisch weiß, kann ich schlecht peinlich berührt sein, oder?“
„Das...das gibt Sinn. Dann...nun...du siehst die...Unmöglichkeit mit dir und...wem auch immer?“
Mein Kinn klingt, als ich nachdenklich dagegen klopfe.
„Ja...wobei das wirklich nicht Alles sein dürfte, was Liebe ausmacht, scheint mir zumindest sehr gut ohne jegliche Gefühle möglich. Zumindest, was mir diese...“
!
Der Zweite scheint der Idee, dass ich sein...Fallbeispiel...und womöglich noch weitere erniedrigende Szenen...offen legen könnte, etwas abgeneigt. Na schön, ich bin ja nicht gemein oder so, gleichwohl du es verdient hättest...
„...'Skizzen' sagen, die ich im Kopf habe. Lassen wir das...ich...fühle mich genug informiert für einen Abend, General...“
Hastig sein Nicken.
„Das ist schön. Wir können dann ja zu anderer Gelegenheit weiterreden, würde mich...freuen. Nun, dann hoffe ich auf einen schnellen Schlaf...“
Er legt sich hin und der Magier löscht seine Kugeln. Ich bleibe sitzen und denke in völliger interner Stille nach, die nur von dem regelmäßiger werdenden Atmen des Meisters im Hintergrund unterbrochen wird. Ein so irrsinniges Konzept, die Liebe, und doch für die Menschen so wichtig...und damit sollte sie es auch für mich sein, wenn ich es recht bedenke, denn was trennt mich von Menschen außer diesem verfluchten Körper? Die Seele habe ich...
...kein abfälliger Kommentar vom Zweiten...das hat ihn jetzt mitgenommen...
...aber was ich mich frage...wann spüre ich denn, ob ich Jemanden wirklich liebe? Diese Frage muss ich wohl auf später verschieben. Und ob mich Jemand liebt, dürfte noch weitaus schwerer festzustellen sein...
Aber da kommt mir was. Ganz leise, um ihn nicht zu wecken, wenn er schon schläft, dringt eine nicht aufzuhaltende Frage aus meinem Körper.
„General...als du im Dungeon fiebrig warst, meintest du, du hättest mich lieb. Wie ernst darf ich das denn nehmen?“
Ein Zucken von unter der Decke.
„Das...habe ich gesagt?“
Pause.
„Ich...nehme an, auf, sagen wir...brüderliche Weise...kannst du das ernst nehmen, Golem.“
Etwas blüht bei diesen Worten, so relativiert sie sind, in mir auf. Es ist, als würde mir ein Herz wachsen, nur um sofort zu explodieren in einem Schauer aus warmen Funken, die bis in die kleinste Spitze meiner Extremitäten wandern und mich mit einer Leichtigkeit erfüllen, die meine Seele schweben lässt, bis knapp unter die Decke. Ein wenig ist es wie der Rausch, der mich erfüllte, als ich die Magie des Inifuss-Baums abzapfte, ähnlich unbesiegbar komme ich mir in diesem Moment vor, aber weniger durch Macht, durch den Verlust von Kontrolle, sondern durch ein Gefühl des tiefen Friedens, des Glücks, das mir mehr als Alles je zuvor die Gewissheit gibt, dass ich mich in diesem Moment nicht besser fühlen könnte, dass diese wenigen Worte die schönsten sind, die ich je gehört habe.
„General...ich glaube...ich liebe dich auch...“
Urplötzlich dringt ein tiefer Schrei aus den Tiefen meines Seins, der, wie ich jetzt, da mein erster Moment der Wonne verklungen ist, schon im Aufbau war, seit der Meister seinen Satz gesagt hat; ich bin es nicht...es ist der Zweite, der jegliche Kohärenz verliert, als wäre sein Geist gerade durch einen gewaltigen Hammerschlag zerbrochen und völlig dem Wahnsinn anheim gefallen.
Ich beginne zu zittern. Die Welle an...Schmerz, die ich mitbekomme, ist überwältigend, genauso wie die Funken, die mich erfüllen...ich bin kurz davor, weggeschwemmt zu werden...
„Du weißt, warum unser Geturtel unglaublich falsch klingt und mir eigentlich ziemlich unbehaglich ist, Golem?“
Die staubtrockene Stimme vom Bett her reißt mich in die Wirklichkeit zurück. Ein ersticktes Lachen, dass ich einfach laut artikulieren muss, entweicht mir.
„Ja...ja, das klingt sehr...falsch ist das richtige Wort.
Also. Brüderliche Liebe. Hm?“
Er nickt heftig.
„Ja. Ja, genau das. Wir...vertrauen uns. Mögen uns. Das...genügt.“
„Schön, dass wir das geklärt haben.“
„Ich...werde jetzt schlafen.“
„Gute Nacht.“
Ganz ruhig sitze ich da, geradezu verkrampft, wenn ich das könnte. Das war...unangenehm.
Und was zur Hölle war jetzt mit dir los?
Da trifft mich eine Tirade wie ein Säureschwall mitten ins Gesicht.
Ihr habt das schon richtig ausgedrückt, verdammt! Es ist falsch, ja! Falsch! Wie könnt ihr eine solche Travestie begehen, eine derartige Perversion – dass ich das noch bestätigt hören muss, in welcher Welt leben wir denn hier? Ein Meister, der seinen Golem liebt, ein Wahnsinniger, der für Gegenstände derartige Gefühle hegt – was kommt als Nächstes? Fliegende Schweine? Feuersbrünste? Sintfluten?
Zweiter, was zur Hölle...
Warum muss ich mit einem Meister gestraft sein, der derartige Blasphemien ohne sich danach den Mund auszuwaschen auszusprechen wagt, gefangen im Körper eines Delusionisten, der womöglich auch noch bereit ist, den Worten des sabbernden Idioten im Gegenüber zuzuhören, ohne seine Ohren mit Säure reinigen zu wollen?
Was ist dein Problem? Du hast schon genauso überreagiert, als der Meister im Dungeon das gesagt hat, warum stößt dich die Vorstellung derart ab, dass wir uns lieben wie zwei Brüder?
Wir sind keine Brüder! Wir sind Diener! Verstehst du es denn immer noch nicht? Liebe ist gefährlich! Er könnte genausogut ein Messer in seine Brust rammen!
Ach, Zweiter...du redest und redest, aber ich sehe ohne Probleme durch deinen Wasserfall an Worten.
Dich hat nie Jemand geliebt, oder? Wie auch, bei einem solchen Meister. Du sehnst dich auch nur nach Zuneigung wie jeder Andere auch...
...he, soll ich dein Schweigen als Antwort nehmen?