Kapitel 53 – Geistige Sackgassen
Wir waren hier schon einmal.
Nein wirklich. Ich kann die Karte, die du mir zeigst, auch lesen. Ist ja nicht so, als ob wir irgendeine Wahl hätten als hier langzugehen!
Wenn du an der Kreuzung nach der letzten Sackgasse nach links gegangen wärst...
Dann wären wir an der Außenwand gelandet. Ich beginne nämlich, im Gegensatz zu dir, den Aufbau hier unten langsam zu verstehen.
Der Aufbau völlig willkürlich angeordneter Wände, Gitter und gelegentlich eingestürzter Torbögen? Wir haben schon die dreifache Fläche erkundet, wie sie die oberen Stockwerke hatten, und du kannst mir nicht erzählen, dass diesen zufällig zusammengewürfelten Fallen, Sackgassen und idealen Stellen für Hinterhalte irgendein System zugrunde liegt!
Doch, das kann ich, nämlich das „wir graben ein tiefes Loch mit quadratischem Grundriss“-System, weswegen, was Jeder mit einer halben künstlichen Intelligenz gemerkt hätte, jedes Stockwerk insgesamt die gleiche Fläche einnimmt. Dieses Untergeschoss hat nur viel mehr Wände. Hab ich dir gerade eben das Gehirn gebrochen, oder was?
Keine Sorge, das ist intakt, auch wenn dir das anders wohl lieber wäre. Intakt und jederzeit bereit, deinen kranken Geist wieder in das Gefängnis zu stoßen, aus dem er gekrochen ist!
Wenigstens bleibst du hier deiner Ehrlichkeit treu. Du weißt natürlich auch, dass ich es ebenfalls todernst meine mit den Konsequenzen, falls du das versuchst. Zur Hölle, man könnte meinen, das wäre deine Frau gewesen, so sehr, wie du das Bild ihrer Leiche anstarrst. Ich wollte dir eine Lektion erteilen, nicht eine hoffnungslose Liebesbeziehung aufzwingen.
Du weißt ganz genau, was der Grund ist.
Ja, dass du trotz all dem, was geschehen ist und was du selbst getan hast, noch so naiv und geradezu ekelhaft idealistisch bist, dass es förmlich weh tut – aber mir weniger als dir selbst, weswegen meine Erinnerungen auch so eine schöne Folter für dich sind. Obwohl du ganz genau wusstest, wie ich zu deinen lächerlichen Überzeugungen stehe, denkst du, ich habe mir die ganzen lustigen Anekdoten aus meiner Vergangenheit ausgedacht, die ich dir bereits erzählt habe?
Ja, von Kämpfen gegen Dämonen, die wahrscheinlich alle verdient haben, was du ihnen angetan hast, aber eine Frau und ihre Kinder?
Bluten auch nicht anders als die meisten Monster. Hast du ein Problem damit, weibliche oder junge Untiere zu töten? Halt, ich vergaß...hattest du schon öfter nicht. Du hast nicht einmal einen Gedanken darauf verschwendet. Ich weiß ganz genau, welche von den Monstern, die wir getötet haben, nicht in dein verqueres Bild akzeptabler Opfer passen, möchtest du sie alle sehen? Nebenbei kann ich dir gleich noch ein paar Zitate von mir ins Gedächtnis rufen.
Er tut beides, und ich zucke innerlich zusammen, als ich gezwungen werde, mich zu erinnern.
Es war, wie du siehst, sonnenklar, dass ich Menschen getötet habe. Viele Menschen, und auf viele verschiedene, äußerst kreative Weisen. Du hast getan mit den dir frei verfügbaren Informationen, was du immer tust, wenn dir die Lächerlichkeit deiner „Moral“ offen gelegt wird: Sie ignoriert. Aber dein photographisches Gedächtnis ist da wie ein Fluch, hm? Oft hast du dich schon genau so darüber beschwert. Ich für meinen Teil habe es nie als etwas anderes gesehen als ein wunderbares Geschenk des Meisters, auch wenn er es mir als zweischneidiges Schwert übergab. Ein solches wird dich nur verletzen, wenn du damit nicht umgehen kannst, bloß blöd, dass du dich hier völlig unfähig zeigst.
Was für eine blöde Analogie. Mich hat ein solches Schwert auch noch nie verletzt, denn meine Haut ist ein Panzer. Ich bin sicher vor der Doppelschneide, so wie man sich immer schützen kann.
So? Dann tu das doch. Dein Inneres ist weich und verletzlich wie das einer Muschel. Meines ist Stahl.
Und was hat dein Stahlherz doch einmal zum Schlagen gebracht, als du die Dienerleiche so gnädig unter das Fenster gelegt hast?
Sag mal, hast du eigentlich nicht verstanden, was ich mit „nerv mich nicht“ gemeint habe?
Erneut verschwinden die modrigen Wände, gesplitterten Steine und verbogenen Gitterstäbe, um durch ein anderes Bild ersetzt zu werden. Entsetzen erfüllt mich wieder, als eine Hand – meine Hand – mit flammenden Knöcheln an eine Tür klopft. Als ein sofort bleich werdender Mann öffnet, wird hinter ihm ein Raum offenbar, in dem fast ein Dutzend Menschen um einen Tisch gruppiert sitzen.
„Einen wunderschönen guten Abend zusammen. Mir kam zu Ohren, dass hier ein kleines Kaffeekränzchen gefeiert würde. Ist eine Tasse für mich drin?“
Manche ziehen Schwerter, Manche versuchen zu fliehen.
Während der Zweite sie einzeln, mühelos und genüsslich niedermetzelt, versuche ich mich verzweifelt abzulenken, indem ich an etwas Anderes denke. Schon wieder hat er mich mit seinem schonungslosen Eingeständnis der eigenen Verderbtheit - die er natürlich nicht so sieht – argumentativ völlig überrollt. Ich bin einfach nicht gefestigt genug in meiner eigenen Moral, um gegen seine verquere anreden zu können. Immerhin bin ich stets absolut davon überzeugt, dass er Unrecht haben muss, aber diese Überzeugung wird zwangsweise irgendwann wackeln, wenn ich sie nicht schleunigst mit Argumenten zu untermauern beginne...schon jetzt stimme ich ihm zu oft heimlich zu. Bis jetzt hatte ich schlicht keine Zeit, über diese abstrakten Konzepte nachzudenken, zumal ich immer und immer wieder in meinen standhaft geglaubten Prinzipien erschüttert wurde. Ich war ungehorsam, gierig, rachsüchtig...unehrlich. Was steht denn noch in der Reihe von wie Dominosteinen kippenden Überzeugungen meiner? Der absolute Pragmatismus des Zweiten am Ende?
Ein Luftröhre gibt unter dem Druck eines Tontentakels nach.
Nein, das kann und darf nicht der Weg sein. Wenn ich irgendwann beginne, ihm zuzustimmen, sollte ich stattdessen lieber den Meister bitten, mich zu vernichten und nie wieder zu beschwören.
Wobei die Situation wirklich nicht fair ist. Er hatte schon der Himmel weiß wie lange Zeit, in seinem früheren Leben unter einem anderen Meister den eigenen Weg zu finden, einem Meister, der offensichtlich ganz klare – und völlig falsche – Vorstellungen davon hatte, was gut und richtig und akzeptabel ist. Mein eigener und sein neuer Meister ist im Grunde immer noch auf der Suche nach sich selbst, nach seinen eigenen Überzeugungen, früh in eine Rolle geworfen worden, die ihm mehrere Nummern zu groß war. Er hat sein Bestes gegeben, sie auszufüllen, und beeindruckende Fortschritte gemacht, aber es geht immer noch Alles zu schnell, es kommt zu viel auf ihn zu, wie auch auf mich; solange wir ständig weiter hetzen, werden wir auch keine Zeit finden, uns klarzumachen, was wir wirklich wollen, wie weit wir bereit sind zu gehen...schon öfter hat sich gezeigt, wie problematisch es sein kann, wenn wir nicht miteinander reden, und haben wir etwas daraus gelernt? Ich habe mir immer noch nicht von ihm erklären lassen, was Liebe ist.
Messerscharfe Klauen schließen sich um ein noch schlagendes Herz, das kurz darauf aufhört damit.
Fokus, Golem, Fokus! Selbstmitleid hat mir noch nie geholfen, also wird es Zeit, sich notfalls mit Gewalt davon zu entfernen. Ja, ich blicke mit Hoffnung in die Zukunft, etwas, für das mit der Zweite immer gescholten hat, aber auch hier darf er nicht Recht haben: Es wird sich Alles zum Guten wenden. Es muss.
Zurück zur Moral. Immer wieder komme ich auf diese eine Frage zurück: Warum hatte er Skrupel, die Kinder zu töten? Der Befehl seines Meisters schien eindeutig, was klar macht, dass dieser überhaupt keine Probleme damit hatte, ihn zu geben. Oder wollte er sich nur selbst nicht die Hände schmutzig machen und hat seinen Golem alleine losgeschickt? Dennoch...gegeben hat er ihn, und hätte der Zweite eine Kinder- statt einer Frauenleiche zurückgebracht, hätte er das sicher auch nicht ignorieren können. Fazit also: Der alte Meister war böser als der Zweite, so schwer vorstellbar das ist – wenngleich auch nur um eine Winzigkeit. Was den Kindern angetan wurde, war ebenfalls außerordentlich verwerflich...aber der Zweite ging nur zu weit. Nicht viel zu weit.
Doch halt...warum ist das so? Warum denke ich so über das, was er getan hat? Sollte ich nicht lieber bei mir ansetzen statt bei ihm, um zu verstehen, was mich treibt, was mich von ihm unterscheidet und warum dem so ist?
Ein Fliehender geht in Flammen auf.
Gibt es denn einen Grund dafür, dass mich es mehr entsetzt hat, dass er kurz davor war, zwei unschuldige Kinder zu töten, als dass er gerade einen ganzen Raum voller erwachsener Männer tötet?
Oder, wie er leider vollkommen richtig angemerkt hat, weswegen ich mir nie groß Gedanken gemacht habe über die Monster, die ich töte?
Streich das, Golem! Ich mache mir Gedanken. Mephistos Hass hat mir gezeigt, wie schnell man ein vermeintlich hehres Ziel über Alles stellen kann und die Details des Wegs an dessen Rand liegen lässt – obwohl die Details Alles ausmachen, denn was ist unser Leben außer eine Ansammlung vieler kleiner und größerer Details? Ich brauche mir hier nicht einzureden, dass ich eigentlich auch schon so geistig korrupt bin wie der Zweite, denn mir war es eben nicht egal, dass wir hier teilweise Tierpopulationen dezimieren, die eigentlich überhaupt Nichts dafür können, dass der Dschungel des Bösen sie verschluckt und zu grässlichen Monstern gemacht hat.
Wie auch Khanduras' Tiere entstellt wurden...und die Menschen, die das Unglück hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Der Meister hatte größte Skrupel, die von Andariel übernommenen Jägerinnen zu töten, und mir war das auch von Anfang an absolut klar, ich habe mir keine Sekunde die Frage gestellt, warum er so denkt. Gleichzeitig hatte er auch nie Probleme damit, die Tiere zu töten, und ich begann erst sehr spät, nämlich vor Kurzem, Selbiges in Frage zu stellen. Wobei...gerne getötet habe ich nie, das kann ich nicht behaupten. Wie er das prinzipiell sieht, weiß ich nicht; aber ich habe ihn noch nie wild lachen hören, als ein Gegner starb, und er war es auch, der mich aufs Schärfste zurecht gewiesen hat, als der Zweite aus mir brach und den Schmied unnötig grausam zerfetzte.
Kann es also sein, dass wir mehr beeinflusst sind von unseren Meistern, als und beiden lieb sein sollte? Immerhin haben wir den Anspruch, freie Geister zu sein, was beide Meister, so unterschiedlich sie auch sein mögen, stets betonten, wenn man beim Zweiten zwischen den Zeilen liest. Es ist wichtig, dass wir individuell denken, das hat sich immer wieder und wieder gezeigt, denn kein Meister ist unfehlbar.
Fast knöchelhoch umspült mich Blut. Ich erschauere ob des Bildes vor meinen Augen...was zu beweisen war.
Denk also schneller Golem, denn die Erinnerung endet bald und du musst bereit sein. Sind wir also zu sehr beeinflusst von dem, was unsere Meister denken, um wirklich unsere eigene Meinung bilden zu können? Nein! Das kann nicht sein, denn würden wir sonst teilweise ihre Anweisungen missachten? Wir würden nie auf den Gedanken kommen, sie in Frage zu stellen, weil wir exakt auf deren Wellenlänge liefen. Doch vom Moment meiner Geburt an hatte ich die Stimme des Zweifels in mir, den Skeptiker der Individualität, und widersprach mein erster, mir sofort aufgeprägter Gedanke, dass der junge Mensch vor mir mein Meister sei, mit allen Implikationen, diesem Freigeist noch für eine Weile, so wurde er doch sehr bald ein Teil von mir.
Ergo sind wir Golems wirklich unserer eigenen Überzeugungen Schmied, je länger wir existieren, desto überdeutlicher wird das. Die Beeinflussung durch unsere wichtigsten Vorbilder ist klar ersichtlich, aber genauso werden wir beeinflusst durch ganz eigene Erfahrungen, andere Menschen und wohl auch durch die Schlüsse, die wir mit der uns gegebenen Intelligenz ziehen, zu denen uns Niemand hilft außer wir selbst. Dagegen können wir auch überhaupt Nichts tun; ich kann mich wehren wie ich will, der Zynismus, Pragmatismus und Pessimismus des Zweiten beginnt auf mich abzufärben, ob ich will oder nicht. Was ich kann, was ich immer konnte, ist, das kritisch zu hinterfragen.
Und das ist auch meine Pflicht und Schuldigkeit. Erneut hat der Zweite hier Recht...die Augen zu verschließen bringt Nichts. Wer sich keine Gedanken macht über das, was er sieht, ist ein unverantwortliches Wesen und macht sich dadurch schuldig; hier ein schlechtes Gewissen zu haben ist völlig legitim.
Gerade, als der Kerker sich wieder vor mir auftut, kommt mir da etwas.
Sollte der Zweite nicht auch ein schlechtes Gewissen haben? Ist er mir nicht gerade eine Antwort schuldig geblieben, als ich ihn fragte, warum er die Kinder „rettete“? Ist er sich diese Antwort vielleicht selbst schuldig geblieben?
Hast du genug? Wenn nicht, dann sag jetzt etwas Unwichtiges.
Eigentlich sollte ich ihm das unter die Nase reiben, bis man sein Gesicht nicht mehr sieht. Aber was will ich mit einem einzigen Riss in seiner Fassade, wenn meine noch nicht einmal verputzt ist? Geduld also, ich habe jetzt Zeit, ordentlich über das nachzudenken, was ich gerade eben angestoßen habe, also sollte ich sie auch nutzen.
Wenn deine These stimmt, sollten wir hier rechts gehen, weil wir dann zwar an die Außenwand kommen, aber die vergitterte Sackgasse vorher – diese hier...ich übermittle ein Bild...uns gezeigt hat, dass eine Abzweigung daraus wieder näher an die Mitte führt, in einen Bereich, den wir noch gar nicht erkundet haben.
Oha, der Golem ist lernfähig. Bravo.
„Wir sollten hier abbiegen, Meister.“
„Ich...vertraue dir da einfach mal...Golem...“
Er tut sich äußerst schwer mit dem Sprechen, was mir neue Wellen der Sorge durch den Geist schickt. Ich beschließe, meine Überlegungen zu unserer Moraldebatte auf später zu verlegen – hoffentlich ist das kein Fehler – denn so kann ich einfach nicht klar denken. Und ich brauche mein Bewusstsein im Hier und Jetzt, um jede Gefahr ausschalten zu können, die den Meister bedrohen könnte.
„Wenn wir wenigstens einmal etwas Anderes...sehen würden...als Fallen. Mir ist ein ehrlicher Kampf lieber...als eine Stachelkugel in den Rücken...die ich nicht vermeiden kann.“
Heißt das etwa, wir sind noch gar nicht angegriffen worden, seit wir im dritten Untergeschoss sind?
Wenn man bedenkt, dass du vielleicht zehn Sekunden pro Erinnerung verpasst hast, ist die Antwort reichlich trivial.
Verdammt...das gefällt mir auch überhaupt nicht. Entweder, unsere zahllosen Kämpfe weiter oben und im Dschungel haben Endugus Reihen bereits so dezimiert, dass die vielen Fallen hier unten seine letzte Verteidigungslinie sind – oder er hat sämtliche seiner Truppen hier zum letzten Gefecht versammelt.
Und mehr als seine ständigen Botschaften von vorher geht mir jetzt auf die Nerven, dass er komplett still geworden ist. Etwas wartet auf uns, aber ich habe keine Ahnung, wie groß es ist und wie gefährlich, und das ist schlimmer als die klare Gewissheit von unübersehbaren Schinderhorden. Dieser verdammte Dungeon hat es stets geschafft, uns aufs Neue zu überraschen, und jede war schlimmer als die letzte. Der Meister wäre an jeder fast gestorben, und wenn er nicht bald Hilfe bekommt, töten ihn die Nachwirkungen; wie soll er die nächste überleben, wenn sie auch nur gleich schlimm ist wie die vorherigen?
Aber...wenn Endugu noch mehrere Truppen zu Verfügung hat, warum hetzt er sie nicht auf uns? Die engen Gänge bevorteilen die flinken, kleinen Schinder ungemein, jeder Messerstich, der den Meister trifft, könnte ihm schon den Rest geben. Ist er schon am Boden? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen, und es macht mich wahnsinnig.
Wen nicht.
Schnell schalte ich meine Gedanken auf privat. Ich war unvorsichtig...wie viel hat der Zweite denn mitgehört? Nun...egal! Völlig egal. Ich konzentriere mich nur auf die Umgebung. Die rhythmischen Schritte der Skelette klicken, nervös schlägt der Meister mit der Stabspitze an die nahen Wände, da stolpert er über eine hochstehende Bodenplatte und fällt fast hin, vor Schmerz zischend, als seine Wunden durch die schnelle Bewegung belastet werden. Hilfloser Zorn ob seiner Ohnmacht erfüllt mich. Warum beenden wir den Wahnsinn nicht und kehren in die Stadt zurück? Ist dieses Risiko wirklich nötig? Mein Gedanke verhallt unbeantwortet, weil es wirklich keinen Sinn hat, den Zweiten diese Frage zu stellen. Seine Antwort war bisher immer eindeutig, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er erneutes Nachfragen als „Nerven“ auslegen würde. Es ist irrsinnig von seiner Seite, mich auch nur für eine einzige Sekunde von der Außenwelt abzuschneiden, aber normales Denken ist hier unten längst verschwunden; es herrschen Hass, Wahnsinn und Schmerzen. Das Labyrinth der Schinder, endlose, sich windende Gänge voller unvorhersehbarer Abzweigungen, vergitterten Passagen und Räumen, deren einziger Zweck es ist, uns mit Stachelkugeln zu bombardieren, fordert seinen Tribut in Form von geistiger und Körperlicher Gesundheit mit jedem Schritt.
Ein Skelett hinter mir wird an die Wand geschmettert, als eine von mir ausgelöste Falle seinen Schädel trifft. Der Meister bleibt stehen, zitternd.
„Einen halben Meter weiter hinten...“
Der weiße Staub lässt ihn husten. Obwohl ich mich hüten werde, auf das versteckte Paneel zu treten, duckt er sich unter der getarnten Öffnung in der Wand hindurch, dabei wieder das Gesicht in einer Grimasse der Pein verziehend. Der Zweite richtet ihn auf, wortlos, und wir gehen weiter; was sollen wir auch sonst machen?
Wir sind an der Außenwand angekommen, zumindest ist sie das, wenn der Zweite sich nicht irrt. Ein größerer Raum, in fast völlige Dunkelheit getaucht, tut sich vor uns auf; keine Fackel sind hier drin, der einzig verbliebene Magier...ein Giftmagier, natürlich...ist die einsame Lichtquelle. Der grüne Schein seiner wabernden Leuchtkugeln tränkt die Szenerie in ein geradezu giftiges Ambiente.
Mehrere Steinblöcke stehen im Raum, in regelmäßigen Reihen angeordnet, etwas näher an der Außenwand als an der gegenüberliegenden.
„Sarkophage...“
Der Zweite spricht aus, was ich mir nicht denken wollte. Verwirrung spricht aus der gepressten Stimme des Meisters.
„Wer liegt hier...begraben?“
Mein Körper zuckt mit den Schultern.
„Sehen wir nach.“
Ohne zu zögern bewegt der Zweite sich auf den ersten Steinblock zu. Zwei Schritte, bevor er ihn erreicht, klickt ein Schalter unter unserem linken Fuß, und eine Stachelkugel schießt heran.
Mit übermenschlichen Reflexen weichen wir aus.
Was zu erwarten war.
Unsere Arme packen den Steindeckel. Was soll das? Warum verschwenden wir Zeit hiermit? Aber ich bringe es nicht über mich, die Frage auszusprechen; Neugierde hat mich fest im Griff, wenn schon der Zweite sich dazu hinreißen lässt, bin ich natürlich völlig gefangen. Der Deckel hebt sich...
Ein sehr leises Knarren ertönt.
Vorsicht!
Eine Wolke aus grünem Dampf schießt aus der Lücke zwischen Steinplatte und Fundament. Ihr Rand umschließt meine Finger; wäre der Zweite nicht sofort zurückgewichen, als meine Warnung in seinem Kopf widerhallte, hätte dieser sich mitten darin befunden.
Das war...bemerkenswert unbeeindruckend.
Ich denke nicht, dass das für einen Menschen sehr gesund gewesen wäre.
So oder so, was auch immer es ist, es ist sicher Jahrhunderte alt.
Was ist dieses Prickeln?
Verdammte...
Meine Finger schlagen Blasen, als das Material heftig verätzt wird. Das ist keine normale Säure, wie sie nur auf die Skelettknochen wirkt, das ist völlig anderes Kaliber! Zischender Dampf geht von ihnen aus, und ich spüre auf äußerst unangenehme Weise, wie die Spitzen einfach wegschmelzen. Heftig schüttelt der Zweite seine Hände aus, aber dadurch fallen nur angefressene Teile komplett weg. Zum Glück war die tödliche Wolke nur kurz mit uns in Kontakt...aber lange genug, um uns sämtliche Kuppen teilweise bin hin zum zweiten Glied wegzuätzen.
„Die Toten scheinen etwas dagegen zu haben, dass du ihre Ruhe störst, Golem!“
Endugu! Der Zweite fährt kurz zusammen, wie auch ich. Aber diesmal entkommt uns der Bastard nicht...der Raum kann kein richtiges Echo aufbauen, und so kann ich blitzschnell auf seine Position schließen. Kurz darauf lostappelnde, sehr leise, aber eindeutig für mich hörbare Schritte bestätigen meinen Schluss.
Diese Richtung, Zweiter.
Jetzt entkommt er mich nicht.
Ja, schau nur zu, dass du ihn in die Finger bekommst. Oh, ich vergaß, bring ihn einfach um!
Keine Skrupel hier?
Nein.
...warum eigentlich nicht?
Wir laufen. Er ist schnell, aber nicht schneller als wir, getrieben von der Kraft des Hasses – ebenfalls ein zweischneidiges Schwert, wie es scheint. Fallen noch und nöcher werden von unseren Schritten ausgelöst, aber kein Konstrukteur hat mit unserer Geschwindigkeit gerechnet. Unserem Ziel muss klar sein, dass er sich beeilen muss, aber wenn er um diese Ecke biegt, wird er nur noch wenige Meter vor uns sein...
...wir rennen mit voller Geschwindigkeit gegen ein bedenklich intaktes Gitter.
„Ich fürchte, ihr habt euch verlaufen! Das Wohnzimmer ist doch ganz wo anders...“
Und weg ist er. Gah!
Das ist äußerst ärgerlich.
Und das war auch noch der einzige Ausgang aus diesem Raum. Wir müssen den ganzen Weg zurück gehen.
Was?
Schau dir die Karte an.
Das ist doch nicht die Möglichkeit...
„Golem...was ist...? Hast du ihn?“
„Nein, General, die kleine Ratte hat uns genarrt! Dieser Raum ist eine einzige Todesfalle, es gibt keinen zweiten Ausgang!“
Unsere reduzierte Faust landet an dem im Weg stehenden Gitter.
Ein dumpfes Geräusch ertönt...von hinter uns.
Sofort drehen wir uns wieder um die Ecke. Der Meister ist zu Boden gesunken.
„Das...kann doch nicht sein. Wie weit müssen wir denn...zurück gehen? Ich...halte das nicht mehr aus!“
Die Glieder des Zweiten zittern vor mühsam unterdrückter Wut.
„Es ist nicht so weit. Die nächste Abzweigung, die wir nicht genommen haben, liegt nur drei Ecken weiter...“
Und führt womöglich in eine Sackgasse, wenn wir immer noch annehmen, dass deine Außenwandtheorie stimmt.
Das muss er jetzt wirklich nicht wissen.
„Was ist...wenn wir hier völlig umsonst sind, Golem? Endugu...er könnte uns von Anfang an belogen haben...wenn nicht ein Organ von Khalim hier ist...dann muss ich, glaube ich...ich weiß nicht, was ich dann tun würde...“
Endugu gewinnt tatsächlich sein teuflisches Spiel...wenn der Meister aufgibt, verlieren wir automatisch, aber wenn wir weiterspielen, verlieren wir auch!
Dann darf er nicht aufgeben!
„General, wir müssen weitermachen. Wir haben bis jetzt immer weiter gemacht...und unser Glaube, am Ende siegen zu können, hat uns so weit gebracht!“
...du hast nicht gerade Optimismus gelobt.
...ich bin Pragmatiker. Wenn es mich weiter bringt...
Aber glaubst du auch daran?
Selbstverständlich nicht!
Selbstverständlich...
„Golem...wo sind wir denn jetzt? Ich fühle mich...als würden tausend Dolche ständig in meinen Magen gerammt...und jeder davon wäre so vergiftet wie meiner...mein Arm ist völlig steif...meine Rüstung zerstört...ich weiß gar nicht, ob ich es schaffe, jetzt wieder aufzustehen...“
Grenzenloses Mitleid erfüllt mich. Aber ich wüsste nicht, was ich sagen sollte, um sein Leiden zu lindern...dieses Mal beneide ich den Zweiten nicht um die Kontrolle. Und: Wenn ich selbige hätte, wäre es gar nicht so weit gekommen.
Sondern viel schlimmer.
Du hast auch keine Ahnung, was du jetzt sagen sollst, oder?
Da tritt ein Wächter hinter den Meister, packt ihn unter den Armen und zieht ihn hoch. Er stützt sich auf die Schulter des Magiers, der neben ihn gegangen ist.
„Es hilft Nichts...geh voraus, Golem. Wir spielen...sein Spiel...bis zum Ende.“
Er...ist wirklich stärker, als ich dachte.
Und dümmer, als ich dachte...dieses Spiel können wir einfach nicht gewinnen. Wir sind nicht der zweite Spieler, der Endugu gegenüber die Figuren über das Brett schiebt, wir sind die Bauernopfer. Und das Brett ist von Fallen übersät, mit Regeln, die wir nicht einmal kennen.
Moment. Wir kennen gewisse Regeln, abgesehen von der ersten, dass es keine Regeln gibt. Die Regeln besagen, dass Figuren auf dem Brett bleiben müssen...
Zweiter!
Was denn?
Brechen wir die Regeln in Endugus Spiel!
Du redest wirr. Ich weiß, dass dich die Situation hier irre macht, aber lenk mich nicht ab mit deinem Wahnsinn!
Hör mir zu. Wenn wir uns an die Wege hier unten halten, die uns vorgegeben sind, irren wir noch Stunden herum und der Meister stirbt noch an Erschöpfung allein, dafür müssen wir nicht einmal angegriffen werden. Wir können uns das ständige Scheitern nicht mehr erlauben. Der Weg um die Ecke führt in die Mitte des Stockwerks, da wollen wir hin!
Falls du dich nicht erinnerst: Dieser Weg ist zugegittert.
Brich die Regeln – brich das Gitter.
Der Zweite bleibt abrupt stehen.
„Was...ist los, Golem?“
„Der Weg dort hinten ist versperrt. Aber Endugu ist durch die Stäbe geflohen. Wenn wir zu Endugu wollen, müssen wir in diese Richtung. Mir ist gerade etwas eingefallen...warum genau gehen wir außen herum?“
Der fiebrige Blick des Meisters bewölkt sich kurz, als er überlegt, was der Zweite damit meint. Endlich dämmert es ihm.
„Wir gehen...durch das Gitter.“
„Ich mache mich sofort an die Arbeit.“
Mit mir bisher unbekanntem Elan dreht der Zweite auf dem Absatz um und läuft zurück zu der Wegsperre, die wir nun einfach ignorieren werden.