Gift und Heilmittel
Micaya stand in der Tür.
Ob sie schon länger da gewesen war, oder ob sie erst gerade eben hereingekommen war, wusste keiner.
In jedem Fall betrachtete sie das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen und zusammengekniffenen Lippen.
__„Morwen.“
Die beiden Assassins wechselten einen kurzen Blick.
Dann packte Morwen Simon, Micaya hielt Shar'Tel fest und Amaion ging nach draußen – den Heiler holen.
Als er gefolgt von Medicus wieder auftauchte, schüttelte er den Kopf.
__„Mich nennt ihr einen Dämonen, aber selber schafft ihr es, noch viel mehr Chaos und Blutvergießen zu erzeugen...“
Morwen ließ Simon los und wischte sich die Hände an ihrer Hose ab, als müsste sie etwas ziemlich ekelhaftes loswerden.
__„Seid ihr beide jetzt total durchgeknallt?“
Micaya lies die Amazon los.
__„Sieht so aus....“ murmelte sie.
Der Heiler ging zu Simon hinüber und besah sich die tiefe Wunde in der Hand des jungen Mannes.
Die Wundränder waren leicht verfärbt und ein unguter Geruch stieg von der Wunde auf.
Medicus runzelte die Stirn.
__„Welche Waffe hat diese Wunde verursacht?“
Micaya sah sich um und klaubte Morwens Dolch vom Boden auf.
Sie roch an der Klinge und runzelte die Stirn, als sie die Waffe an den Heiler weiterreichte.
Der riss die Augen auf, als er den Geruch erkannte.
__„Du solltest auf vergiftete Waffen besser aufpassen!“
Ein vorwurfsvoller Blick traf Morwen.
Simon starrte mit offenen Augen die Wunde an. Dann verengte sich das rechte Auge.
__„Du SPAST, und jetzt?“
Simons Zunge wurde schwer, während er versuchte zu antworten.
__„Nächstes Maall soolltest Du vvielleicht weniger durchdreeeheeengh...“
Seine Augen wurden langsam glasig.
__„Daaaa kaannhn maaa dooch was maaaachn, odrrr?“
Der Heiler überlegt.
__„Ich muss genau wissen, um welches Gift es sich handelt, gerade bei Waffen von Assassins werden oft Gifte verwendet, die einer sehr exakten Behandlung bedürfen, teilweise gibt es nur ein wirksames Antidot...“
Schwankend und um jedes einzelne Wort ringend meldete sich Simon noch einmal zu Wort.
__„Aaaach ma so nebnbeeeieieie...hat Yaaawi nich Shaaa-Tel verleetst?“
Micaya war die Erste die sich zu der Amazon umdrehte. Aber die anderen folgten schnell, als sie hörten, wie die Assassin entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ausstieß.
Shar'Tel stand schwankend da, eine Hand auf die Schulterwunde gepresst.
Morwen nahm den Dolch und sah ihn an.
Als sie erkannte, welche Waffe Simon da gegriffen hatte, wurde sie blaß.
__„Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand das entsprechende Antidot rechtzeitig besorgen kann.“ flüsterte sie.
__„Dieses Gift tötet in zwei Minuten, so klein die Wunde auch gewesen sein mag, schlimmer noch, es lässt den betroffenen Körper explodieren...“
Ein panischer Blick glitt über die Anwesenden.
__„Es ist besonders schmerzhaft, und der Betroffene bekommt genau mit, wie die Lähmung sich ausbreitet und leidet unter unerträglichen Schmerzen...“
Keiner hatte gesehen, wie Joreth die Taverne wieder betreten hatte.
Aber jetzt stand er bei dem Heiler und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Wortlos reichte er Medicus ein kleines Fläschchen mit einer merkwürdig aussehenden Substanz.
Der Heiler öffnete den Verschluss und roch daran.
Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe.
__„Sei sparsam damit.“ sagte der Necromancer mit tonloser Stimme.
__„Ich habe nicht mehr viel davon, und die Quelle...“
Er unterbrach sich.
__„Die Quelle existiert nicht mehr.“
Damit wandte er sich um und wollte gehen.
Sein Bruder packte ihn am Arm und hielt ihn auf.
__„Rynna?“
Joreth riss sich los und verließ den Raum.
Amaion beobachtete, wie der Heiler sorgfältig die Substanz auf die Verletzungen auftrug.
Micaya dagegen schüttelte den Kopf und folgte Joreth.
Sie hatte ein paar Fragen, die sie beantwortet haben wollte.
Langsam sahen Simon und Shar'Tel wieder etwas besser aus.
Die krankhaften Verfärbungen der Wunden gingen zurück und der üble Geruch ließ nach, während die Gesichter der beiden auch wieder eine weniger leichenhafte Farbe annahmen.
Trotzdem konnte man erkennen, dass beide noch immer mit Lähmungserscheinungen zu kämpfen hatten.
Die Amazon rieb sich mit einer fahrigen Bewegung die Augen, während die andere Hand schon wieder nach dem Schwert tastete.
Amaions Fuß war schneller.
Er schob es außerhalb ihrer Reichweite.
Simon – oder wahrscheinlich eher Yawgmoth – sah seine Angreiferin böse an.
Morwen beobachtete, wie Micaya wieder die Taverne betrat.
Sie sah wütend aus.
Amaion war es, der das dann gleich zu spüren bekommen sollte, denn das Klatschen der Ohrfeige war deutlich durch den ganzen Raum zu hören.
Micayas Handabdruck zeichnete sich rot auf seinem Gesicht ab.
Die Assassin wandte sich um und ging zu den anderen.
Sie nahm dem Heiler die Flasche mit dem Antidot ab und roch daran. Dann nickte sie.
__„Nicht das übliche Rezept, wie ich vermutet hatte.“
Sie gab die Flasche an Morwen weiter.
__„Aber es ist nahe genug daran, um zu erklären, warum sie unserer Clancheffin solche Angst eingejagt hat...“
Sie nahm die Flasche aus Morwens Hand und gab sie dem Heiler zurück.
__„Ich vermute, es wird etwas länger dauern, bevor die Wirkung des Giftes völlig abgeklungen ist, aber dafür dürften sich die Nebenwirkungen in Grenzen halten.“
Amaion streckte die Hand aus um Micaya an der Schulter zu greifen.
Der Abdruck ihrer Hand leuchtete immernoch auf seinem Gesicht.
__„Kannst Du mir erklären, was das jetzt sollte?“
Micaya fuhr herum.
__„Du hattest es verdient!“
Sie hob die Hand, um zu signalisieren dass sie noch nicht fertig war, und so schwieg der Necromancer.
__„Eine Bemerkung von Dir, vor acht Jahren... ich habe es damals nicht verstanden, und deshalb habe ich Joreths Reaktion falsch interpretiert.“
Jetzt war es an ihr, nach seinen Armen zu greifen.
__„Du hast nie nachgefragt, nichtwahr? Du wusstest nicht, dass sie tot ist...“
Amaion senkte den Kopf.
__„Du weißt aber auch nicht alles. Er...“
Sie unterbrach ihn, indem sie ihm einen Finger auf die Lippen legte.
__„Ich war dort. Es ist der Ort, wo ich mit meiner Mutter gelebt habe, nachdem wir fliehen mussten.“
Die Aufmerksamkeit aller hatte den beiden gegolten, und so hatte keiner bemerkt, wie Joreth zurückgekommen war.
Jetzt stand er plötzlich wie aus der Erde gewachsen hinter Micaya und legte ihr die Hand auf die Schulter.
__„Ruhig. Das geht einen Großteil der Leute hier nichts an.“
Sein Blick suchte den seines Bruders.
__„Was hälst Du von einem kleinen Ausflug? Wir werden ein paar Stunden unterwegs sein, ich möchte Dir etwas zeigen...“
Amaion nickte.
Stumm folgte er seinem Bruder aus der Taverne, während Micaya sich auf den Stuhl neben Morwen fallenließ.
Morwen musterte die Ältere neugierig.
__„Was ist da los? Wo wollen die beiden eigentlich hin?“
Sie legte den Arm um die andere.
__„Du kannst mir doch vertrauen.“
Die Angesprochene seufzte.
__„In der Nähe des Dorfes, wo ich herkomme, gibt es einen Wald. Dieser liegt unter einem Schutz, der jede feindselige Handlung verhindert. Ähnlich wie die Städte. Doch wo bei Städten einfach Dämonen ausgesperrt werden, ist es bei Rynnas Wald einfach ein Frieden, der über dem Ort liegt.“
Ihr Blick suchte Morwens.
In den Augen der Jüngeren sah sie ein schwaches Wiedererkennen aufflackern.
__„Die Hütte die dort steht – es war für mich und meine Mutter ein sicherer Zufluchtsort, für Rynna war es ein Zuhause.“
Sie hielt inne und wischte eine Träne aus einem Augenwinkel.
__„Wahrscheinlich hast Du von der abtrünnigen Sorceress gehört, die die Geheimnisse unseres Volkes stehlen wollte – laut unserer Obrigkeit. Rynna hatte einen Haufen ungewöhnlicher Talente, aber das Töten gehörte gewiss nicht dazu.“
Ihr Blick wanderte zur Tür, doch ihre Gedanken glitten weiter.
Wie im Traum sah sie den Ort vor sich.
Und sie fragte sich, was die beiden empfinden mochten, wenn sie es sahen.
Morwen biss sich auf die Lippen.
__„Aber warum gehen die Beiden jetzt da hin?“
Micayas abwesender Blick lag noch immer auf der Tür.
__„Ich denke, Joreth will seinem Bruder die Gräber zeigen...“
__„Wessen Gräber?“
Morwens Stimme zeigte Neugier, aber zu sehr wollte sie die Ältere nicht drängen.
__„Ein Grab wird auch ihm neu sein, da habe ich meine Mutter beerdigt.“
Micaya schüttelt den Kopf.
__„Joreth hat eine Weile dort gelebt. Bei Maurynna. Mit Maurynna. Aber er war jung und ehrgeizig, so hat er diesen Ort des Friedens verlassen um das Handwerk des Krieges zu lernen. Er wollte immer zurückkehren, aber als er sich dann doch dazu aufraffte, war es zu spät. Sie hatten Rynna aus ihrer Zuflucht gelockt und...“
Sie schluckte trocken.
__„Es wäre die Aufgabe meiner Mutter gewesen, aber sie kannte Rynna und wollte sie nicht verraten. Als Joreth ankam, hatte die Leichenstarre noch nicht eingesetzt. Er hat sich nie verziehen, dass er nicht ein paar Stunden früher zurückgekehrt ist...“
Sie ging zur Theke und bat den Wirt um einen Becher heißes Wasser.
Dann setzte sie sich wieder zu den Anderen.
Aus einer Tasche zog sie einen kleinen Beutel, aus einer anderen einen winzigen Löffel.
Sorgfältig maß sie eine Dosis des Pulvers ab.
Der Heiler griff in den Beutel, zerrieb eine kleine Menge des Pulvers zwischen den Fingern und roch daran.
Micaya sah seinen missbilligenden Blick durchaus.
__„Es geht Dich nichts an.“
Sie trank den Becher leer, verzog das Gesicht und schüttelte sich.
Medicus beobachtete, wie sie den Beutel wieder verstaute.
Micaya sah aus dem Augenwinkel, wie Shar'Tel mühsam zurück auf ihren Sessel kroch.
Die Ablenkung kam ihr gerade gelegen, wollte sie doch lieber erstmal selber verarbeiten, was sie vorher erfahren hatte.
Sie ging zu der Amazon und musterte sie.
__„Geht es Dir besser?“
Shar'Tel nickte unter Schmerzen.
__„Es wird noch eine Weile dauern, bis Du Dich vollkommen erholt hast, aber Du kannst froh sein, dass Joreth einen Vorrat dieses speziellen Antidots hatte – bei dem Originalrezept würdest Du jetzt kotzend im Eck hängen.“
Morwen war ihr gefolgt.
__„Die soll froh sein, dass überhaupt jemand ein Gegenmittel dabei hatte, mir war das immer zu teuer... und die Leute, die ich damit erwische, sollen gewöhnlich sterben!“
Sie trat nach Simon, dem es augenscheinlich auch besser ging.
Dann reichte sie ihm die Hand.
__„Jetzt sind wir quitt.“
Dann wandte sie sich an Micaya.
__„Ich verstehe nicht was dir so sehr an ihrem Wohlergehen liegt!“
Sie wies auf Shar'Tel, die vorsichtig die wiederkehrende Beweglichkeit ihrer Arme testete.
Die ältere Assassin nickte der Amazon zu.
__„Ich würde gerne ihre Gründe hören, und dazu brauche ich sie lebendig und fit.“