Kapitel X - Teil II
„Öffne. Diese. Truhe.“
Kurze Pause.
„Sofort!“
Varlas Stimme ließ keinen Zweifel zu, dass sie es gewohnt war, zu befehlen.
Dennoch weigerte sich Sadira seit Stunden standhaft ob der Ohrfeigen, die sie auch dieses Mal erhalten hatte.
Varla seufzte genervt, als Sadira nur erneut stumm und trotzig den Kopf schüttelte und weder Varla noch die Truhe eines Blickes würdigte.
Varla umkreiste die auf dem Stuhl sitzende Sadira mehrmals und blieb dann abrupt hinter ihr stehen.
Sadira drehte sich nicht um, doch sie wusste, dass Varlas Blicke ihren Hinterkopf durchlöcherten.
Dann spürte sie eine Bewegung, Varla hatte sich zu ihr hinuntergebeugt und hielt ihren Kopf nur wenige Zentimeter über Sadiras Schulter.
„Weißt du, wir können auch anders. Ich habe mich dir gegenüber nun wirklich sehr lange sehr geduldig gezeigt, doch nun reicht es!“, flüsterte Varla.
Dann verlagerte sie ihren Schwerpunkt und flüsterte Sadira nun ins andere Ohr:
„Ich weiß, dass du deine Hände brauchst, um die Truhe zu öffnen – aber wie steht es mit deinen Füßen?“
Sie machte ein kleine, wirkungsvolle Pause und ließ Sadira über die Konsequenzen ihrer Drohung nachdenken, bevor sie die Wache an der Tür in den Raum rief und sich eine Zange geben ließ.
Salopp hielt sie diese Sadira unter die Nase.
„Hier.. freunde dich doch schon mal damit an“, forderte Varla Sadira auf und schnappte mit der Zange ein paar Mal demonstrativ vor ihrem Gesicht.
Kleine, rostrote Blutflecken grüßten Sadira fröhlich und ließen keinen Zweifel daran, wofür diese Zange gedacht war.
Ihre großen, aber stumpfen Schneidflächen hinterließen sicher sehr schlecht verheilende Wunden.
Sadira schluckte schwer.
Als Varla höhnisch lächelnd die Zange an Sadiras kleinen Zeh des linken Fußes ansetzte, sie das kalte Metall an ihrer Haut fühlte, wusste sie, dass es vorbei war.
Sie konnte nicht mehr und sie wollte auch nicht mehr.
Es kam nur als kleines Flüstern über ihre Lippen, aber Varla hörte es.
„Bitte... bitte nicht...“
Varla erhob sich, schlug Sadira noch ein letztes Mal mit dem Handrücken ins Gesicht und schob ihr dann unter sichtbarer Anstrengung die Kiste heran.
Mit beiden Hängen stützte sie sich auf den Deckel, schaute Sadira direkt an und sagte:
„Ich wusste doch, dass du ein vernünftiges Mädchen bist“, sie lächelte höhnisch, „ nun sei auch noch ein braves und öffne diese verdammte Truhe!“
Die letzten Worte hatte Varla ihr regelrecht ins Gesicht gespien.
Sadira nickte hilflos, wagte nicht einmal, sich über die schmerzende Wange zu streichen, und machte sich sofort daran, die komplizierten Bewegungstechniken auszuführen, die zum gefahrlosen Öffnen der Truhe nötig waren.
Ihre steifen Fingerglieder brauchten zwei Anläufe, bevor sich das Schloss hörbar knackend öffnete.
Ein stärkeres Ich in Sadira wünschte sich, sie hätte eine ihrer Fallen durch eine falsche Bewegung ausgelöst und so Varla und sich in den Tod gerissen.
Sie schämte sich für diese Schwäche, mehr, als alles andere auf der Welt, aber der kalte Griff der Zange an ihrem Zeh hatte etwas in ihr zerbrochen.
Dennoch hatte sie, als letzte Bastion der Gegenwehr, die komplizierte Öffnungsbewegung nicht vollständig ausgeführt.
Stille Hoffnung keimte, dass Varla Sadiras Geheimfach nicht entdecken würde...
Als sich der Deckel der Truhe langsam knarzend öffnete und als erstes den muffigen Geruch abgestandener Luft und alten Holzes freigab, trat ein leicht bläulicher Schimmer aus und tauchte den kleinen Raum in mattblaues Licht.
Varla trat gierig näher.
„Zur Seite, du Stück“, grob stieß sie Sadira zu Boden.
Varla riss den Deckel ungeduldig hoch, worauf die alten Metallscharniere, wie zum Protest auf diese grobe Behandlung, mit einem schrillen Quietschen antworteten.
Über Varlas Gesicht lief ein Lächeln.
„Das... das ist er wirklich! Bei ilah, ich hätte nicht gedacht, dass er so schön ist...“, hauchte sie verzückt.
Dann streckte sie die Hand aus.
Sadira wusste, was Varla sah und konnte ihre Verzückung verstehen. Sie hatte nicht anders reagiert, als sie den Stein tief in den Katakomben des kurastschen Tempels gefunden hatte.
Mehrmals hatte sie sich gefragt, wie man so etwas schönes zurücklassen konnte!
Sie brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um sich den Stein in Erinnerung zu rufen:
Die bläulich glänzende Oberfläche glatt, dennoch mit winzigen Mulden versehen.
Ein schimmern tiefstes Kobaltblaus im Inneren des Steins, welches nach außen hin immer heller, beinahe schon unerträglich hell wurde.
Sah man zu lange hin, biss das hellblaue Strahlen in die Augenlider, fraß sich den Weg durch die Pupillen und hinterließ einen unangenehmen, bläulichen Schleier auf der Netzhaut.
Dies schien nun auch Varla widerfahren zu sein, denn ihre ausgestreckte Hand verharrte noch oberhalb des Truhenrandes.
Sie blinzelte irritiert, als ob sie einen Moment vergessen hätte, dass hier kein schnödes Schmuckstück vor ihr lag, sondern ein mächtiges Objekt.
Rasch erhob sie sich und ordnete kurz ihre Kleider.
Dann eilte sie zu der kleinen Tür, öffnete sie und wechselte ein paar Worte mit der Wächterin.
Sadira schien vergessen.
Sie hatte aber auch kein Bestreben, sich schneller als nötig in Erinnerung zu rufen.
Wenige Minuten vergingen, in denen Varla langsam wie ein Wachhund um die Truhe schlich, dann öffnete sich die Tür wieder und die Wache erschien.
Sie hatte ein abgenutztes, ledernes Tuch bei sich und überreichte dieses Varla.
Sadira wusste, dieses Ledertuch schien nur auf den ersten Blick gewöhnlich.
Der Kenner erkannte an der kaum sichtbaren Maserung des Leders und der Art, wie es sich an die Hand schmiegte, dass es sich hierbei um Drachenleder aus dem Unterbauch eines Alttieres handelte.
Sadira selbst hatte so ein Tuch benutzt, um den Stein in ihre Truhe zu transportieren.
Zu groß war die Angst, was passieren könnte, würde ihre nackte Haut dieses magische Objekt direkt berühren.
Varla packte den Stein nun sanft mit dem Tuch und schlug ihn dann rasch ein,) sorgsam darauf bedacht, den Stein nicht zu berühren.
Dann drehte sie sich zu der Wächterin um.
„Das hier muss sofort zu unserem Herrn! Nein“, wehrte sie die Bemühungen der Wächterin ab, ihr den Stein abzunehmen, „nein, das mache ich selbst. Ihr bringt diese Frau wieder in ihre Zelle. Sie hat ihren Zweck erfüllt. Und diese Truhe.. ach.. bringt sie vorerst in die Wachstube... Und beeilt euch!“
Damit verschwand sie eilig aus dem Raum, den Stein wie ein Säugling im Arm.
Sadira wurde unsanft auf die Füße und zu ihrer Zelle gebracht.
Im letzten Augenblick konnte sie erkennen, dass die Wachstube, wo eine andere Wächterin gerade ihre Truhe hinbrachte, nur wenige Türen von ihrer Zelle entfernt war.
Sie wusste zwar nicht, ob diese Information ihr irgendwann Nutzen bringen würde, war aber beruhigt zu wissen, dass ihr Eigentum in ihrer Nähe verblieb.
Die letzten Tage waren wie im Traum vergangen. Schleppend zog sich die Zeit, zäh und klebrig wie Kautschuk und ebenso eintönig wie der ewig kräftig rot-gelbe Sand der Umgebung, welche sie bereisten.
Die kurzen Stunden der Muße und Rast waren nur von wenig Kurzweil durchzogen und auch ein Gespräch kam kaum zustande.
Cassandra und Ivon zogen es vor, sich bei Tagesanbruch zusammen auf ihre Decke unter dem Sonnensegel zu verziehen, während Naeemah lieber im Schatten ihres Kamels döste.
Das Leben der drei unfreiwilligen Gefährten dümpelte in der Wüstenglut so nebeneinander her, gab es doch nur wenige Berührungspunkte zwischen ihnen.
Aber allem Anschein nach gab es genug Berührungspunkte zwischen Cassandra und Ivon, dachte Naeemah irritiert.
Sollten sie, schoss ihr danach durch den Kopf, wer weiß, wie lange sie dafür noch Zeit hatten, sich aneinander zu erfreuen.
Sie vertrieb die Gedanken und konzentrierte sich auf ihr Ziel, welches nur noch wenige Tagesreisen entfernt war.
Allmählich begann die Luft um sie herum unmerklich abzukühlen. Nur der sandige Boden unter ihr strahlte unvermindert die Tageshitze ab.
Naeemah streckte ihre Beine aus, die vom Sitzen schon ganz steif waren. Ihre Kniegelenke gaben ein protestierendes Knacken von sich, als sie sich langsam erhob und zu ihren Reisegefährten hinüberging.
Diese hatten sich, trotz der Hitze, schweißtreibend nahe aneinander gekuschelt.
Naeemah fühlte sich wie ein Eindringling in die Privatsphäre der beiden, als sie sich unter das Sonnensegel duckte.
„Ivon, Cassandra“, begann sie, „wir müssen uns kurz besprechen.“
Ivon und Cassandra sahen hoch und nickten zustimmend.
Naeemah wartete nicht, bis sie sich aufgesetzt hatten, sondern ließ sich gleich am Rand der Decke nieder.
„Kommt hier herüber“, forderte sie die beiden auf, „ich brauche den Sand. Er wird unser Papier sein.“
Rasch setzte sich Ivon zu ihrer Rechten nieder, während Cassandra zu ihrer Linken Platz nahm.
Naeemahs rechte Hand traf mit einer fahrigen Bewegung auf die Oberfläche des Sandes vor ihr auf und erschuf so eine relativ ebenmäßige Fläche.
Rasch begann ihr Zeigefinger am linken Rand der Fläche eine gezackte Linie zu zeichnen.
„Das ist die Bergkette, deren Gipfel wir im Westen erkennen. Dort liegt die übliche Reiseroute derer, die die Masyaf erreichen wollen.“
Dann zog Naeemah am rechten Rand der Fläche in einem Winkel von etwa zwanzig Grad eine gebogene Linie.
„Das hier“, erklärte sie weiter, „ist der nördlicherere der Zwillingsseen.“
Ihr Finger fuhr über ihre behelfsmäßige Karte und bohrte sich am Ende der symbolisierten Bergkette in den Boden.
„Der Klosterpass..“, begann sie, „und hier..:“
Ihr Finger bohrte sich nur wenig südlicher, am Rande des Meeres in den Boden.
„..das hier, das ist Lut Gholein.“
„Und hier, kurz bevor die Bergkette beginnt, sich stark nach Osten zu bewegen, fast horizontal gegenüber dieses markanten Fjords, dort liegt unser Ziel!“
Naeemah setzte einen weiteren Punkt.
„Die Masyaf...“, sie hielt kurz inne, „gestern Abend habe ich nochmal anhand der Sterne unsere Position bestimmt. Wir sind in etwa hier..“, ihr Finger stach nahe des letzten gesetzten Punktes in den Boden, „ also in etwa auf demselben Längengrad wie die Masyaf, nur noch etwa zwei bis drei Tagesritte weiter östlich.“
Naeemah setzte kurz ab und trank einen Schluck aus ihrer Gürtelflasche. Langsam wurden die fallenden Temperaturen spürbarer.
Ivon und Cassandra saßen still da, schienen aber äußerst aufmerksam zuzuhören.
Schließlich unterbrach Ivon die Stille.
„Wie kommen wir denn in diese Masyaf hinein? Ich nehme an, du möchtest nicht unbedingt durch das Haupttor marschieren?“, fragte er.
Cassandra lachte amüsiert auf.
„Nein“, Naeemah ließ sich durch das Gelächter nicht stören, zu ernst war ihre Lage, „nein, in der Tat nicht. Habt ihr euch die Landkarte in etwa eingeprägt?“
Als sie bestätigendes Nicken auf ihre Frage erntete, wischte sie mit einer schnellen Bewegung ihre bisherige Zeichnung weg und erschuf erneut eine freie Fläche.
Zuerst zog sie zwei Linien, die in etwa in einem hundert Grad Winkel aufeinandertrafen.
Der Schnittpunkt sollte der höchste Punkt der Zeichnung werden.
Etwa eine handbreit von dem Treffpunkt entfernt setzte sie jeweils eine rechtwinklige Linie an die erste und an die zweite. Die beiden neuen Furchen im Sand waren aber nur wenige Zentimeter lang und besaßen keinen gemeinsamen Schnittpunkt.
Daher zog Naeemah noch eine letzte, welche die beiden kurzen Seitenteile miteinander verband.
„So,“, sagte Naeemah, „das hier ist der Grundriss der Festung. Die ersten beiden Linien, die ich gezeichnet habe, bilden die Rückwand der Masyaf. Sie wurde in einem Stück aus dem Fels gehauen, liegt also in einer Felsspalte. Der Zutritt ist somit an diesen beiden Seiten komplett unmöglich.“
Sie holte kurz Luft.
„An dieser Stelle hier“, erklärte sie und deutete dabei auf das linke kurze Seitenteil, „liegt das Tor. Es zeigt nach Süden. Ein schmaler Pfad führt an dieser Stelle die Felswände hinauf und man kann Besucher schon von weitem sehen. Außerdem ist dies der einzige Eingang, der für Reisende benutzbar ist. Er ist direkt an die Reisestrecke entlang der Bergkette angeschlossen. An den anderen beiden Seitenteilen gibt es kein Tor, nur nackten, glatten Fels.“
„Aber wie kommen wir denn dann hinein?“; fragte Cassandra erschrocken, „wenn das hier wirklich der einzige Eingang ist, dann wird dieser ja sicher scharf bewacht!“
„Richtig“, entgegnete Naeemah, „und die Antwort deiner Frage ist: Gar nicht!“
Ivon und Cassandra starrten Naeemah ungläubig an.
„Aber“, warf Ivon ein, „du weißt schon, dass wir nicht durch Wände gehen oder meterhohe, glatte Fels hinaufklettern können..?“
„Das müsst ihr auch nicht, wenn es so klappt, wie ich mir das vorstelle“, behauptete Naeemah.
„Aber wie..?“, hub Casssandra an zu sprechen, doch Naeemah unterbrach sie sofort.
„Als ich klein war, entdeckte ich einen alten Luftschacht, der in die Kellergewölbe der Masyaf führt. Eigentlich waren zu der Zeit schon alle Luftschächte vergittert, doch dieser wurde wohl übersehen. Er belüftet einen Lagerraum, wo vor allem alte Stoffe, Wolle und Garn lagern, also Gegenstände, die man nicht jeden Tag braucht, und seine Öffnung liegt in der dunkelsten Ecke des Raumes.. dort gibt es kein Tageslicht und Fackeln brennen nur, wenn jemand den Raum betritt.“
Ivon begann, zaghaft zu lächeln.
„Das klingt doch gut“, stellte er fest.
„Ja“, erwiderte Naeemah, „aber es wird noch besser. Dieser Lagerraum ist nicht weit von dem Zellentrakt entfernt. Es wäre perfekt!“
„Entschuldige, wenn ich jetzt unken muss“, warf Cassandra ein, „ich kenne zwar nicht viele Burgfesten, da es sowas bei uns nicht gibt. Wir sind mit stabilen Palisaden bereits gut bedient. Aber ich meine zu wissen, dass so ein Luftschacht nicht einfach auf dem Boden endet, sondern weit oberhalb. Sonst wäre dies ja eine wahre Einladung für Angreifer!“
„Gut erkannt!“, lobte Naeemah und zwinkerte Cassandra gönnerisch zu, „dieser Schacht ist auch nicht besonders groß. Im Alter von sechs Jahren konnte ich dort gerade noch stehen – aber ich war auch sehr klein für mein Alter. Ich war oft in diesem Schacht... so jung und als Fremde hatte ich bei den anderen Mädchen schlechte Karten. Es war mein Rückzugsort. Dieser Schacht befinde sich auf der nordöstlichen Seite und führt schräg durch den Fels und endet in einer Höhe von etwa dreißig Metern über dem Boden. Der Fels ist glatt und es gibt keine Chance, die Öffnung zu erreichen. Allerdings..“
Naeemah legte eine dramatische Pause ein und nahm einen weiteren Schluck Wasser.
„Allerdings ist dieser Luftschacht nicht mehr ganz intakt. Ihr müsst verstehen, die Bergkette, die Aranoch von der Sharvalwildnis trennt, ist durch Aufschiebung zweier großer tektonischer Platten entstanden. Diese sind ineinander verkeilt... dennoch arbeitet die Erde und somit auch die Berge. Dieser Luftschacht... er ist durchzogen von Rissen und Spalten. Die meisten davon sind klein und schmal und enden im Berg. Aber einer dieser Spalten... sie mündet etwa fünfhundert Meter weiter in einer kleinen Höhle. Der Zugang zu dieser Höhle ist einfach.. ich hoffe nur, dass wir durch diesen Spalt passen, ich bin mir da wirklich nicht sicher. Aber dies ist unsere einzige Chance!“
„Gut, wenn wir keine andere Chance haben, dann probieren wir das“, erklärte Ivon und Cassandra nickte zustimmend.
„Wie sieht unsere Reiseroute für die nächsten Tage aus?“, fragte Cassandra.
„Wir ziehen die nächsten Tage weiter nach Norden und halten den Abstand zur Feste. Wir umgehen sie also und kommen dann von Nordosten heran. Das ist gut, denn von dort wird uns niemand erwarten. Das Land dort ist karg, zum Jagen gibt es dort nichts und die Vegetation ist mehr als spärlich. Dies hat allerdings einen Haken: Wir müssen schnell sein. Wir haben einige wenige Tage Vorsprung vor dem Boten aus Lut Gholein, welcher mit Sicherheit geschickt wurde, um ibn Sabbah von meiner Flucht zu berichten. Der direkte Weg durch die Wüste ist wesentlich kürzer, dennoch.. der Umweg nach Norden wird uns Zeit kosten.“
„Aber“, warf Ivon ein, „selbst wenn der Boten vor uns die Feste erreicht, wird man doch wohl nicht annehmen, dass du dich freiwillig in die Höhle des Bösen begibst. Du hast ja auch anscheinend davor keine Anstalten gemacht, dorthin zurückzukehren.“
Naeemah nickte langsam.
„Das bleibt zu hoffen. Aber wir sollten nichts riskieren. Ibn Sabbah... er kennt mich von klein auf. Er weiß, dass ich unberechenbar bin.“
Und er wird dann wissen, dass ich Mellilah gefunden habe, vervollständigte sie den Satz in Gedanken.
Und dass ich diesen Frevel an Mellilah nicht ungesühnt lassen werde, fügte sie noch hinzu.
Der Ritualdolch unter ihrem Hemd schien sich auf einmal in ihre Haut einzubrennen. Unwillkürlich fuhr sie mit der Hand an die Stelle, hielt aber vorher inne und berührte sie nicht.
Sie schüttelte den Kopf.
„Wie dem auch sei... ich halte es für besser, wir erreichen die Feste vor Eintreffen des Boten. Und deshalb müssen wir uns nun auch sputen“, schloss Naeemah den Satz ab, löschte mit einer bedeutungslosen Geste auch ihre zweite Zeichnung aus dem Sand und erhob sich rasch.
„Beeilt euch“, rief sie Ivon und Cassandra zu, „heute gibt es keine Rast. Die Tiere können dann in der Höhle ruhen, dort gibt es eine Quelle in der Nähe. Aber jetzt müssen wir uns wirklich sputen.“
Unermüdlich trieb Naeemah ihre beiden Kameraden beim Packen immer wieder zur Eile an, die es ohne Klagen ertrugen.
Auch die Kamele hatten heute nicht viel Zeit, sich warmzulaufen, ehe Naeemah ihr Tier in einen raschen Passgang trieb und die anderen Kamele mit sich riss.
Die nächsten Tage waren gekennzeichnet von Hetze und Eile; sogar die Laune der Kamele wurde von Tag zu Tag schlechter und das, obwohl sich Ivon nie hätte vorstellen können, dass diese Wüstenschiffe noch viel übellauniger werden konnten.
Am letzten Abend, bevor Naeemah in der Frühe die Höhle zu erreichen plante, wurde Cassandra beim Satteln sogar von ihrem Kamel äußerst schmerzhaft in die Schulter gebissen.
Naeemah warf Cassandra ein kleines Döschen Wundsalbe zu, eher sie sich auf ihr Kamel schwang.
„Da, das wird dir helfen“, sagte sie, „aber versorg die Stelle damit beim Reiten, wir haben keine Zeit!“
Wütend funkelte Cassandra Naeemah an, schien es aber nicht austragen zu wollen und bestieg rasch ihr Kamel, das Ivon für sie gesattelt hatte. Wütend trat sie dem Tier die Hacken in die Seiten und ritt voraus. Naeemah und Ivon folgten ihr in raschem Tempo nach.
Sie erreichten die Höhle etwa drei Stunden vor Morgengrauen, schneller, als Naeemah gedacht hatte.
Die Tiere waren nach Tagen der Anstrengung erschöpft und aggressiv, so dass Naeemah erst an der kleinen Quelle hielt und dort absatteln ließ.
Durstig neigten sich die Kamelköpfe zu dem kleinen Rinnsal herunter, welches in einen sehr kleinen Teich, gleich einer zu groß geratenen Pfütze, strömte und schließlich, wenige hundert Meter später in der Hitze des Sandes verschwand.
„Diese Quelle ist ein kleines Wunder des Herren“, erklärte Ivon und wartete geduldig, nach den Tieren seine Flasche zu füllen.
„Diese Quelle wird von dem Regen auf der anderen Seite der Berge und auch von schmelzendem Schnee und dem Druck der Gletscher gespeist“, erklärte Naeemah, „sie führt nie sehr viel Wasser, fließt dafür aber stetig und ist, solange ich mich erinnern kann, noch nie versiegt.“
„Und dennoch hat sie nicht genug Kraft, für Leben zu sorgen“, schloss Cassandra und betrachtete die zertrampelte, nackte Erde um den Teich. Obwohl es hier zuverlässig Wasser gab, hatten sich keine Pflanzen angesiedelt.
Der Spuren nach zu schließen, wurde die natürliche Wasserquelle aber von verschiedenen Tieren genutzt.
Naeemah schulterte ihr Sattelzeug und das spärliche bisschen Gepäck und sagte zu Cassandra, die interessiert die Spuren auf dem Boden nachfuhr: „Es kommen hauptsächlich Wildesel und -kamele hierher. Aber auch die sind nur auf der Durchreise... dieser nördliche Teil der Aranoch ist wahrlich eine leblose Gegend. Weiter gen Norden verwandelt sich der Boden in pures Salz. Ein totes Land. Kaum einer hat ein Interesse daran, so weit nach Norden zu reisen. Das macht die Masyaf zum perfekten Versteck. Die wenigen Nomadenfamilien, die sich so weit nördlich verirren, sind nur am Füllen ihrer Wasserbehälter interessiert...“
Naeemah wartete, bis ihre Gefährten ebenfalls ihr Gepäck schulterten und lief dann langsam voraus. Sie folgte einem unsichtbaren Pfad, der so selten benutzt wurde, dass er bereits zugewachsen war.
Sie gingen nur wenige Minuten, trotzdem war dies nach den übereilten Ritten der letzten Tage eine große Anstrengung für die Muskeln, welche diese Belastungen aufgrund des ständigen Sitzens nicht mehr gewöhnt waren.
Sie musste sich beherrschen, dass sie nicht schnaubend und nach Luft schnappend den kleinen Pfad zu Höhle hinaufstieg, doch schließlich hatten sie es geschafft.
Die Luft in der kleinen Höhle war angenehm kühl und würde es hoffentlich auch über Tag bleiben.
Naeemah warf ihr Gepäck in eine hintere Ecke und lege sich auf ihre Decke.
„Wir rasten bis zur Dämmerung“, bestimmte sie, „dann werden wir losziehen. Ruht euch also ordentlich aus, dass wird kein Spaziergang nachher.“
Sie wartete keine Reaktion ab und bekam auch keine, da Ivon und Cassandra ihre Kurzangebundenheit bereits kannten, auch, wenn sie sie nicht besonders schätzten.
Naeemah drehte sich mit dem Gesicht zu Felswand und fiel fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
Doch sie schlief unruhig.
Die Eindrücke der Landschaft, die ihr so vertraut war, riefen Erinnerungen in ihr wach, die sie lieber tief in ihrem Innern begraben lassen wollte.
Sie träumte von ibn Sabbah und Mellilah; aber es waren nicht diese realitätsnahen Halluzinationen, von welchen sie in letzter Zeit geplagt worden war, sondern einfache, lästige Alpträume.
Sie erwachte von einem stetigen, leisen Geräusch, welches dem Murmeln eines kleinen Baches ähnelte. Nachdem sie sich langsam aus den Armen des unerquicklichen Schlafes befreit hatte, machte sie das Geräusch als leises Flüstern von Ivon und Cassandra aus.
Verwirrt, dass die Zwei doch vor ihr erwacht waren, obwohl sie so schlecht geschlafen hatte, setzte sie sich mit dem Oberkörper auf.
Im Höhleneingang zeichneten sich die Silhouetten von zwei hockenden Menschen ab - Ivon und Cassandra.
Naeemah setzte sich ganz auf und das Schaben des Stoffes auf dem Felsboden ließ den Kopf des einen herumfahren.
Im Gegenlicht und mit verschlafenen Augen war es schwer auszumachen, ob es Ivon oder Cassandra war.
Dies löste sich aber schnell auf, denn die Gestalt stand auf und kam langsam zu ihr herüber.
„Schön, du bist wach“, erklang Ivons tiefe Stimme, „wir haben dir etwas Tee mitgekocht. Wir dachten, etwas innere Wärme könnte gut tun, bevor wir durch irgendwelche Felsspalten ins Ungewisse kriechen.“
Naeemah versuchte misstrauisch, einen vorwurfsvollen Unterton aus dem letzten Satz zu heraus zu hören, doch sie wurde nicht fündig.
Sie streckte sich und ging dann mit Ivon zu Cassandra hinüber, welche ihr einen Becher dampfenden, wässrigen Tees entgegenstreckte.
„Entschuldige, dass der Tee so dünn ist, aber ich fürchte, wir müssen allmählich sparsamer mit unseren Vorräten umgehen. Ab heute müssen wir ja dann auch Sadira mitversorgen und ich fürchte, sie wird nicht allzu gut genährt sein“, sagte Cassandra.
Zustimmend nickend nahm Naeemah den Becher entgegen und verbrannte sich fast die Finger, „Ja... für so spezielle Gäste wie eure Freundin ist die Küche der Masyaf nicht wirklich berühmt.“
Sie setzte sich neben Cassandra und genoss still ihren Tee, der wirklich fürchterlich dünn schmeckte. Aber die Wärme tat gut.
Ivon und Cassandra neben ihr begannen wieder, sich über Rüstungen zu unterhalten.
Der Becher Tee ging zur Neige, als ihre Mitreisenden bei dem Thema Verschnürungen und Schließen der Rüstungen angekommen waren.
Naeemah erhob sich so abrupt, dass die beiden überrascht zu ihr hinauf sahen.
„Seid ihr soweit fertig und gut ausgeruht?“, fragte sie, „dann sollten wir jetzt los!“
Ivon war schon im Begriff, sich zu erheben, als Cassandra sagte: „Warte noch.. eine Minute, Naeemah. Wir müssen ja auf das Schlimmste vorbereitet sein.. es ist ja alles möglich... Aber angenommen.., angenommen, wir kommen mit Sadira da raus.. wohin gehen wir dann?“
Naeemah lachte.
„Ich kenne die Festung von klein auf – länger, als die meisten dort oben. Aber auf jeden Fall viel, viel länger als die Wachen. Da wir quasi aus dem Fels herauskommen, werden wir nur auf wenig Wachen treffen. Sie fühlen sich sicher an dieser Seite... mit dem Gebirge im Rücken! Ich sage nicht, dass es einfach wird, beileibe ist das kein Spaziergang, aber ich schätze unsere Chance, hier unverletzt herauszukommen doch sehr hoch ein. Und unser nächstes Ziel?“
Naeemah ging ein paar Schritte aus der Höhle hinaus, wandte sich nach Osten und hob den Arm.
„Diese Richtung. So schnell es geht und ohne Rücksicht auf die Tiere ans Meer. In einem kleinen Fischerdorf oder Handelsstützpunkt suchen wir uns ein kleines Boot. Wir müssen so schnell es geht über das Zwillingsmeer kommen.
Ich will nicht behaupten, dass wir auf der anderen Seite aus ibn Sabbahs Einflusskreis heraustreten.. aber es wird leichter ihm zu entkommen.
Deshalb räumt jetzt bitte zusammen, füllt auch alle Wasserbehälter und prüft noch einmal die Fußfesseln der Kamele... nachher werden wir es sehr eilig haben.“
Sie klopfte sich den Staub von der Kleidung, prüfte ihre eigenen Vorräte und ihr Reittier.
Dann endlich war es soweit.
Zu dritt begaben sie sich ans Ende der kleinen Höhle, welche sich zunehmend verjüngte. Naeemah entzündete eine kleine Fackel und aus der tiefsten Schwärze zeichneten sich die klaren Umrisse eines Spaltes im Fels ab.
Sonderlich einladend sah der Eingang nicht aus, die Decke des Eingangs war nur knapp Brusthoch und vielleicht dreiviertel so breit.
Wenige Minuten verharrten die Drei vor der Öffnung im Fels, die sich wie eine Wunde durch die Wand zog.
Schließlich räusperte sich Ivon. Naeemah ergriff die Fackel fester und trat mit einem mutigen „Also dann!“ gebückt in die Öffnung.
Die Schwärze schluckt das fahle Licht der Flamme fast augenblicklich.
Naeemah tastete sich vorsichtig vorwärts; unter ihren Füßen lösten sich immer wieder kleine Steine, so dass nur schlecht Halt auf dem lockeren Boden zu finden war.
„Verdammt, ist das hier dunkel“, fluchte Ivon und fügte noch einige Wörter hinzu, die einem Paladin nicht würdig waren, als er schmerzhaft gegen einen Stein stieß.
Naeemah musste insgeheim kichern und überlegte, mit wie vielen Gebeten Ivon nun morgen früh bei seinem Gott um Verzeihung bitten musste.
„Ich sehe überhaupt nichts“, beklagte sich Cassandra, die am Ende der Reihe lief, „und der Boden fühlt sich seltsam an.. hat hier jemand Sand gestreut?“
„Das sind Staub und Kadaver toter Ratten, fürchte ich“, antwortete Naeemah, „und ich fürchte, du wirst noch eine ganze Weile nichts sehen, denn wir können nun leider nicht mehr tauschen.“
In der Enge des Berges klang ihre Stimme seltsam gedämpft, als ob der Fels sie verschlucken würde.
„Achtung.. in wenigen Metern geht es ziemlich bergauf... aber wenn wir das geschafft haben, dann wird die Decke höher.“
Die Drei begannen merklich vor Anstrengung zu keuchen, da das Laufen in den beengten Felstunnel schon an sich nicht sonderlich einfach fiel – die Steigung und der lockere Boden taten ihr übriges dazu.
Doch wenige hundert Meter weiter hatten sie es geschafft und selbst Ivon konnte fast aufrecht laufen.
Der Gang im Fels beschrieb eine langgezogene Wende nach Osten und hatte sich auch unmerklich verbreitert, so dass die Drei seltener ihre Arme und Schultern an schartigen Felsspitzen kratzten.
„Wir sind jetzt fast auf gleicher Höhe mit den Kellerräume“, erklärte Naeemah, „also haben wir es gleich geschafft. Noch etwa fünf Minuten Wegstrecke.. daher sollten wir ab sofort schweigen, falls sich gerade jemand in dem Kellerraum befindet.“
Ivon und Cassandra stimmten ihr zu.
Und wirklich, nach weiteren wenigen hundert Metern ließ sich am Ende des Ganges ein etwas weniger dunkler Fleck in der Schwärze des Berges ausmachen.
Naeemah löschte die Fackel um ihre Ankunft nicht zu verraten.
In tiefster Dunkelheit tasteten sie sich immer an der Felswand entlang.
Schließlich konnte man im fahlen Dämmerlicht ein Gitter ausmachen, welches den Ausgang versperrte.
„Na, wunderbar“, flüsterte Ivon Naeemah von hinten ins Ohr, „und was machen wir nun?“
Naeemah gab keine Antwort, sondern packte das Gitter und löste es ohne größere Schwierigkeiten aus der nicht mehr vorhandenen Verankerung.
Sie stieg als erste aus dem Lüftungsschacht, drehte sich aber sofort um und bedeutete Ivon mittels sanftem Druck auf seine Brust, dass er nicht nachfolgen sollte.
Ihr war lieber, sie konnte zuerst in Ruhe die Lage prüfen.
Der Kellerraum selber sah immer noch so chaotisch und unangetastet aus wie früher. Eine spärliche Beleuchtung gab es nur vom angrenzenden Gang aus, wo eine mickrige Ölfunzel einen aussichtslosen Kampf mit der Dunkelheit focht.
Jeden Muskel angespannt schlich sie durch den vollgestellten Lagerraum und ertastete sich einen schmalen Pfad zwischen alten Stoffen, Garnen und unverarbeiteter Wolle, welche hier ein trauriges Dasein fristeten und den Ratten ein schönes Leben ermöglichten.
Sie erreichte die Tür des Raumes, ohne über die wild durcheinandergeworfenen Stoffballen zu stolpern, die kurz vor dem Ausgang in einer besonders dunklen Ecke lagen.
Naeemah wagte allerdings nicht, mithilfe ihres Dolches in den Gang zu spähen, da das Schimmern des Metalls sie sicher verraten hätte.
So verließ sie sich auf die altmodische Art und Weise und schaute selbst vorsichtig aus der Türöffnung hervor.
Wie sie gehofft hatte, war der Flur leer.
Kaum jemand verirrte sich zu diesen abgelegenen Kellerräumen, was auch die Unordnung und die verdorbenen Waren erklärte.
Naeemah beschloss, Ivon und Cassandra nacheinander nachzuholen und achtete bei beiden penibel darauf, dass diese ihre Schritte vorsichtig setzten.
Als beide sicher und lautlos an der Türöffnung angekommen waren, erklärte Naeemah:
„Wir sind etwa ein Stockwerk unter dem Zellentrakt. Das bedeutet, wir laufen jetzt von Lagerraum zu Lagerraum diesen Gang entlang. Am Ende des Ganges ist eine kritische Stelle, denn dort ist es sehr hell und es gibt kaum Versteckmöglichkeiten. Die Gefahr einer Entdeckung ist hier also sehr groß.
Nachdem wir die Treppe hinaufgekommen sind, wenden wir uns nach rechts und gehen an der Kreuzung nach links in den Gang!“
Naeemah schaute ernst in die Runde.
„Seid euch gewiss, falls wir nachher getrennt werden, dass ihr die richtige Abzweigung erwischt. Denn die andere führt geradewegs über eine versteckte Tapetentür in ibn Sabbahs Thronsaal..!“
„Das wäre wohl ein wenig ungünstig“, fügte Cassandra spitz hinzu.
„Wieso braucht ein Herrscher einen Geheimgang zum Gefängnis?“, grübelte Ivon laut.
„Weil“, erklärte Naeemah, „ibn Sabbah kein gewöhnlicher Herrscher ist. Normalerweise macht er viel selbst oder ist zumindest zugegen – auch, was Verhör und Folter seiner unglückseligen Gäste betrifft. Er liebt kurze Wege, und seine Geheimgänge, die nicht einmal die Wachen und seine normalen Truppen kennen, ziehen sich durch die gesamte Masyaf. Niemand, nicht einmal ich, kennt alle seine Schleichwege. Und er nutzt sie fabelhaft um immer wieder unerwartet irgendwo aufzutauchen. Vergesst nicht, wir sprechen hier von einem Führer von Assassinen und Meuchelmördern...“
„Hm“, grummelte Ivon vor sich hin und dachte insgeheim darüber nach, ob der Ältestenrat seines Klosters auch solche Geheimgänge in dem alten Gemäuer hütete.
Ivon schmunzelte.
Bruder Philovinum kannte ganz sicher einen Geheimgang – den zu den Weinkellern, da war er sich sicher!
„.. und dann erreichen wir auch schon den Zellentrakt“, sagte Naeemah gerade.
Verdammt, er war gedanklich abgeschweift! Ivon riss sich zusammen und konzentrierte sich darauf, was Naeemah zu sagen hatte.
Das sollte ihm doch leichtfallen, nach all den Schulstunden im Kloster!
„… und ab dieser Stelle wird es für uns gefährlich“, warnte Naeemah, „denn hier gibt es natürlich auch Wachen. Zwar nicht sehr viele und diese sitzen meistens in der Wachstube, aber auch diese können natürlich stören. Daher müssen wir diese zuerst ausschalten.
Wenn wir Glück haben und es nur wenig Insassen im Zellentrakt gibt, sind zur Zeit nur zwei Wachen stationiert. Die sollten wir geräuschlos ausschalten und dann verschwinden lassen, so dass unser Eindringen unbemerkt bleibt.“
„Hast du einen genauen Plan?“, frage Cassandra und kniff die Augen zusammen.
„Nein“, gab Naeemah zurück, „denn die Wachen bewegen sich frei, nach keinem bestimmten Muster. Wir müssen flexibel reagieren.“
„Das könnte wirklich problematisch werden“, warf Ivon ein, „wenn wir nicht einmal wissen, wie viele Wachen es gibt.“
„Nun, dann werden wir uns wohl auf unser Glück verlassen müssen“, schloss Cassandra, „nun aber los, oder? Sadira befreit sich nicht von alleine!“
Gemeinsam wie die Ratten liefen sie an die Wand gedrückt den Gang entlang und schlüpften in jede Türöffnung der Lagerräume, um kurzfristigen Schutz und Deckung zu suchen.
Cassandras Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihr gefiel es gar nicht, so fernab von Sonnenlicht und frischer Luft zu sein. Die muffige, staubige Luft des Gewölbes presste ihre Brust zusammen und ihre Wunde am Arm schmerzte.
Trotzdem war sie froh, dass sie sich einige Wurfspieße eingepackt hatte. Ihre volle Stärke hatte ihr verletzter Arm noch nicht wieder erreicht, so dass ein Wurfspeer immer noch zu schwer für sie war.
Aber mit den unterarmlangen Wurfhölzern kam sie langsam gut zurecht; aber dafür hatte sie auch einige Zeit fleißig damit trainiert. Sorgen machte ihr allerdings, dass sie dadurch im Nahkampf fast wehrlos war, denn, obschon sie einen kleinen Dolch im Gürtel trug, bezweifelte sie, dass sie sich mit ausgebildeten Assassinen wie Naeemah im Nahkampf messen konnte. Und diese Feste schien ja voll mit Meuchelmördern und Rippenstechern zu sein!
Sie fröstelte, als sie im Schutz von Ivons breitem Rücken den Sandsteingang hinunterlief, und würde erst wieder glücklich sein, sobald sie und die anderen, einschließlich Sadira, das Sonnenlicht wieder sahen.
Die Treppe, von der Naeemah gesprochen hatte, war eine aus dem Fels gehauene schmale Wendeltreppe, an deren Außenwand viele kleine Ölfunzeln für ein doch recht ansehnliches Licht sorgten.
Naeemah schlich wieder als Erste vor und sicherte die Treppe.
Dies war sehr einfach, da sie immer noch auf keinen Burgbewohner gestoßen waren.
Naeemah runzelte die Stirn.
In diesem Teil der Burg war vielleicht nicht wirklich viel los, aber momentan war sie doch etwas ob der geringen Aktivität der Bewohner irritiert.
Irgendetwas stimmte nicht.
Sie passierten die Gefahrenstelle Treppe mühelos und drückten sich danach sofort in den rechten Gang. Dann schlug Naeemah den Weg zum Zellentrakt ein.
Fast lautlos schlich Sadiras Befreiungstrupp durch den Gewölbegang, der nun einen Linksknick vollführte.
Ehe sie diesem folgten, stoppte Naeemah abrupt und bedeutete den anderen beiden, sofort stehen zu bleiben.
Naeemah hatte hinter der Biegung eine Bewegung ausgemacht und vermutete, dass dies eine patrouillierende Wache vor dem Zellentrakt war.
Als sie vorsichtig an den Sandstein des Felsens gepresst um die Ecke spähte, erhärtete sich ihre Vermutung:
Den Rücken Naeemah zugewandt schlenderte eine Wache; der Kleidung nach zu urteilen noch eine der kleinen
uht, die hier ihren ersten ruhigen Wachdienst schob.
Naeemahs Hand fuhr zu der Schlaufe in ihrem Gürtel, wo sie ihre Klauen zu verstauen pflegte, griff aber ins Leere.
Richtig, ihre sperrigen Klauen hatte sie in der Hölle gelassen. Sie waren ohnehin rostig und kaum noch zu gebrauchen.
Just in dem Moment, als sich Naeemah dazu entscheiden wollte, den waffenlosen Angriff zu wagen, drehte sich das junge Mädchen um und schlenderte langsam auf die Biegung zu, hinter der sich Naeemah versteckt hielt.
Hastig zog sie sich komplett in die Deckung zurück, spannte ihre Muskeln und hoffte, dass die uht, gelangweilt und unaufmerksam, wie sie aussah, Naeemah nicht bemerkt hatte.
Das Glück war Naeemah hold: Kurz vor passieren der Biegung drehte sich die
uht erneut auf dem Absatz um und lief in die andere Richtung zurück.
Ihr dunkelbrauner Zopf klatschte ihr dabei aufmunternd auf den Rücken.
Diesen Moment nutzte Naeemah.
Wie eine Raubkatze schoss sie schnell und lautlos aus ihrem Versteck in den Rücken der
uht, packte blitzschnell ihren Kopf und brach ihr mit einer geschickten, oft benutzten Bewegung das Genick.
Das Mädchen zuckte noch kurz, bis es in Naeemahs Armen zusammensank; so verursachte der Tod des Mädchens nicht einmal ein Geräusch.
Cassandra und Ivon kamen gerade um die Biegung, als Naeemah den Körper des Mädchens schulterte und sich anschickte, ihn in der nächsten freien Zelle zu verstecken.
Ivon warf einen unglücklichen Blick auf den Leichnam.
„Musste das sein?“, er ergriff den Kopf der Toten und betrachtete ihr Gesicht, „die Kleine ist doch höchstens zwölf, dreizehn Jahre alt!“
„Diese Kleine“, Naeemah spie das Wort fast angeekelt aus, „weiß genug über Kampfkunst Bescheid, um uns durchaus verletzen zu können. Notfalls würde sie Alarm schlagen. Beides können wir nicht gebrauchen!“
Cassandra warf Ivon einen vielsagenden Blick zu und öffnete Naeemah eine Tür.
Diese legte den Körper mit dem Gesicht zu Wand auf einem Strohhaufen ab und zog auf etwas Stroh über die Kleidung der Toten.
„So“, stellte sie fest, „nun ist es nicht mehr weit. Das hier sind die normalen Zellen, für normale, magisch unbegabte Menschen. Für diese reicht eine unserer Wachen und ein gutes Schloss... doch für Zauberinnen wie Sadira nicht. Ich denke, sie ist in einer der etwas, nun, sagen wir: besondereren Zellen untergebracht.“
„Und wo finden wir die?“, fragte Cassandra.
„Weiter den Gang runter“, erklärte Naeemah knapp, „hinter der Wachstube... da werden wir wohl kämpfen müssen. Aber jetzt...kommt schon!“
Sorgfältig schloss sie die Zellentür hinter sich und eilte im Laufschritt den Gang hinter.
An dessen Ende wartete eine dicke Holztür auf die Drei.
Naeemah bedeutete Ivon, sein Kurzschwert zu ziehen und zog selbst ihr Messer aus der Rückenschlaufe.
Ivon packte den Türgriff und stieß die alte Holztür auf.
Ehe die Wächterin auch nur die Füße vom Holztisch genommen hatte, war Ivon bei ihr.
Sie schaffte es noch, einige seiner Schläge mit dem Armschutz zu blocken und ihrerseits mit dem Essmesser nach Ivon zu stechen, ehe Ivons Kurzschwert seinen Weg in die Brust der Frau fand.
Noch bevor Cassandra den Raum betrat, war die Wache schon tot.
Cassandra wandte den Blick von der Toten ab und sah sich in der Wachstube um.
Es gab in der Mitte einen Tisch, an dem die Tote wohl ihr Essen zu sich genommen hatte, und drei Stühle.
Ansonsten war der Raum sehr leer. An der Wand rechterhand stand ein großer Schrank, in dem wahrscheinlich Kleidung und Waffen gelagert wurde.
Gegenüber befand sich außer einer weiteren Tür, die wohl zu den speziellen Zellentrakten führten, nur noch ein Regal, auf dem ein paar Becher und Teller standen.
Dann fiel ihr Blick nach links auf eine kleine Truhe.
„Ivon!“, rief Cassandra Ivon zu, welcher gerade im Begriff war, mit Naeemah durch die andere Tür zu stürmen, „Ivon, schau mal - da steht Sadiras Truhe!“
Der Angesprochene dreht sich um und folgte Cassandras Blicken.
„Stimmt. In der Tat, das ist ihre Truhe. Also ist sie wirklich hier!“, stimmte Ivon Cassandra zu.
„Ivon...“,fügte Cassandra hinzu, „Ivon, wir können ihr spärliches Hab und Gut nicht hier lassen. Wir müssen ihr die Truhe mitnehmen, wenn wir nachher verschwinden!“
„Nein!“, schaltete sich Naeemah ungefragt in das Gespräch ein, „wir haben weder die Kraft, noch die Zeit, noch den Platz dazu, unnützes Gerümpel mitzunehmen. Die Hexe muss auf ihre Bücher und feinen Kleider verzichten!“
Ohne auf die Antwort Cassandras zu verzichten, verschwand Naeemah hinter der zweiten Tür.
Als Ivon und Cassandra ihr nacheilten, bot sich ihnen ein seltsames Bild.
Der Gang, welcher aussah wie jeder andere, den sie bisher durchquert hatten, besaß auf jeder Seite zehn schmucklose Holztüren, die weder besonders dick noch besonders haltbar aussahen.
Aber Naeemah trat zu jeder von ihnen hin und legte für wenige Sekunden ihre Hand auf das Holz, verharrte kurz und lief dann zur nächsten Tür weiter.
Die zweite Wache, welche ihr vom anderen Ende des Ganges entgegenkam, tötete sie schnell und schmerzlos.
An der fünften Tür auf der linken Seite stoppte Naeemah.
„Eure Hexe ist hier drin“, behauptete sie.
„Und wie sollen wir die Tür aufbekommen?“, fragte Cassandra, „ich sehe kein Schloss oder Türknauf.“
„Nun“, sagte Naeemah„das ist jetzt so eine Sache...“
Sie legte beide Hände auf das trockene Holz der Tür und befahl ihr, sich zu öffnen.
Doch nichts geschah.
Naeemah überlegte. Wieso funktionierte dies nicht mehr? Sie war noch nicht so lange aus der Übung, als dass sie das Türöffnen mit Gedankenkraft verlernt hätte sicher, sie war nie ein Genie in Geistesfähigkeiten gewesen, das hatte sie anderen überlassen.
Aber das Türöffnen von magieabsorbierenden Türen war so alltäglich und fast eine Pflicht gewesen, dass auch sie dies mühelos beherrschte – beherrscht hatte.
Ivon begriff, was Naeemah versuchte. Seine Ordensmitglieder benutzten ähnliche Sicherheitsmechanismen um besonders wertvolles Wissen oder Artefakte auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen zu lassen.
Doch diese Art der Sicherung hatte einen entscheidenen Nachteil und er war gespannt, ob die Assassinen um ihn wussten und ihn behoben hatten.
Er trat zu der zweiten Wächterin und trennte ihr kurzerhand mit seinem Kurzschwert die rechte Hand ab.
Das abgetrennte Glied warf er Naeemah mit einem „Hier, versuch das!“ zu.
Naeemah fing die Hand auf und drückte ihre Handfläche auf die Tür.
Eine Sekunde lang geschah nichts, doch dann schwang die Tür ohne ein Geräusch langsam auf.
„Gute Idee, Ivon“, lobten Cassandra und Naeemah wie aus einem Munde und rätselten, woher er dies wusste.
Dann schauten die Drei hinein ins Dunkel der Zelle.
Ihren Augen bot sich kein Reiz, doch glaubten die Drei, ein Murmeln oder Wispern zu vernehmen, ähnlich dem entfernten Plätschern eines kleinen Baches.
„Was ist das für ein Geräusch?“, fragte Ivon, unschlüssig in der Türöffnung stehend.
„Da flüstert jemand“, stellte Cassandra überrascht fest.
Naeemah verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, in der Hoffnung, die geringe Helligkeit des einfallenden Lichtes möge für sie ausreichen, die Quelle des Flüsterns auszumachen.
War das der Schemen einer Bewegung dort hinten rechts in der Ecke?
Vernahm sie nicht das leise Geräusch über den Boden scharrender Haut?
Sie gab sich einen Ruck.
„Wir haben jetzt keine Zeit dafür!“, entschied sie, packte sich eine der Fackeln von der Wand und betrat die Zelle.
Dabei versuchte sie, den in der Zelle anwesenden Gestank zu ignorieren.
Sie spürte die Anwesenheit eines Menschen und ihr war, als ob dieser um jeden Preis versuchte, dem Licht zu entkommen.
Gekonnt trieb sie den Gefangenen in einen schmalen Schattenspalt zwischen dem einfallenden Licht der Türöffnung und ihrem Fackelschein, dann sprang sie in der engen Zelle beherzt vor; packte mit der linken Hand zu und war sich gewiss, einen menschlichen Oberarm erbeutet zu haben.
Fast grob zog sie den Körper an dem Arm ins einfallende Licht.
Sie hatten die Zauberin gefunden!
Doch bot sie ein erschreckende Bild:
Die Haare verfilzt und blutverkrustet, die Haut mit Prellungen übersäet, die Lippe aufgeplatzt und die Kleidung beschmutzt, was sicherlich der Grund des Gestanks war.
Darüberhinaus war Naeemah sich sicher, dass die Zauberin kurz vor ihrem Tode stand; ihre Magie war schon längst über den normalen Zustand der Erschöpfung verbraucht und der Körper eine Zauberin war unzertrennlich mit ihrer Magie verbunden.
„Bei Gott!“, rief Ivon aus, als Naeemah Sadiras Gesicht gewaltsam ins Licht drückte.
Sadira zitterte am ganzen Körper und schien unbekannte Zaubersprüche zu rezitieren.
Als ihr die Helligkeit des Lichtes ins Auge fiel, begann sie zu weinen und wimmerte um Gnade.
„Sadira, wir sind es!“, rief Cassandra, „Ivon und.. Skadhi! Wir sind gekommen um dich zu befreien!“
Sadiras Blick richtete sich kurz auf die Sprechende, dann verklärte er sich wieder.
Sie schien geistig nicht anwesend zu sein.
„Ivon“, sagte Naeemah, „kannst du da etwas machen? So, wie sie ist, werden wir nicht weit kommen. Ihr Wehklagen wird uns verraten und den schmalen Tunnel wird sie in dem Zustand auch nicht bewältigen können!“
„Ich.. ich weiß nicht“, gestand Ivon zerknirscht, „ich habe keine vollständige Ausbildung als Heiler erhalten und sie scheint sehr verstört. Ich kann nur physische Wunden versorgen, bei seelischen ist das viel schwerer!“
Unzufrieden mit sich selbst legte er die Stirn in Falten.
„Sie sieht aus, als würde sie dem Tod ins Auge blicken“, sprach Ivon weiter, „aber ich kann nicht erkennen, warum. Ihre körperlichen Verletzungen sind nicht stark genug dafür – aber doch scheint sie zu sterben. Ich kann nicht sagen, woran es liegt!“
„Ich glaube, sie braucht Magie“, erklärte Cassandra selbstbewusst.
Ivon sah sie erstaunt an und Naeemah erwiderte:
„Ich denke ähnlich; sie braucht Magie oder ihr Körper stirbt mit ihr. Aber ich habe keine Manatränke bei mir und die wenigen, die ich habe, sind wohl alle verdorben...“
Cassandra nickte zustimmend, auch ihre magischen Heil- und Manatränke waren verdorben; nur noch die kleinen, nichtmagischen auf reiner Pflanzenbasis funktionierten noch.
Ivon legte die Stirn noch stärker in Falten, dann erhellte sich sein Blick:
„Ich glaube, da kann ich helfen. Ich bin nicht sehr gut darin, aber ich kann meinen Gott um etwas magischen Beistand bitten. Er wird mir nicht viel gewähren und es wird lange dauern, sie vollständig zu regenerieren, aber vielleicht reicht dies schon, um Sadira zu einer Besserung zu verhelfen!“
Ohne die Zustimmung der beiden Frauen abzuwarten, kniete er nieder und begann, um die Unterstützung seines Gottes zu bitten.
Nach wenigen Sekunden seiner Litanei wurde Ivon bereits von einem schwachen bläulichen Leuchten umgeben, welches sich schließlich zu seinen Füßen manifestierte und dort wabernd auch von Cassandra, Naeemah und Sadira Besitz ergriff.
„Es hat geklappt“, freute sich Ivon, „aber Sadira sollte sich nicht weit von mir entfernen, ich weiß nicht, auf welche Distanz ich die Wirkung noch aufrechterhalten kann!“
Cassandra schaute Ivon an und sagte: “Du bist ganz schön praktisch, weißt du das eigentlich?“
„Ach was“, erwiderte Ivon und die Röte stieg ihm dergestalt ins Gesicht, dass dies sogar bei seiner dunklen Hautfarbe zu sehen war, „weißte, es ist einfach...“
„Stop!“, sagte Naeemah, „für Schwätzchen haben wir später Zeit. Jetzt verschwinden wir erstmal hier!“
Sie packte Sadiras Arm fester und zog sie mit sich den Gang hinunter, wieder auf die Wachstube zu.
Ivon und Cassandra wechselten einen Blick und folgten Naeemah dann eilig.
Als sie die Wachstube betraten konnte Sadira bereits wieder alleine laufen und betrachtete mit wacherem Blick ihre Umgebung, obwohl sie noch keinen Ton gesagt hatte.
Kurz bevor sie die Wachstube durch die zweite Tür wieder verließen, fiel Sadiras Blick auf die kleinen Truhe, und Sadira begann zu schreien.
Wie tollwütig riss sie an Naeemahs eisernem Griff, zog zu ihrer Truhe hin und wollte keine Ruhe geben.
Naeemah hatte auf einmal alle Mühe, die ihr körperlich unterlegene Zauberin zu bändigen.
Naeemah fluchte.
„Was hat sie denn nur? Wenn sie nicht sofort still ist, werden wir gleich eine Menge Gesellschaft bekommen!“
„Ich glaube“, sagte Cassandra, „sie will zu ihrer Truhe. Ich sagte doch: wir müssen sie mitnehmen!"
„Sie bringt uns alle in Gefahr!“, rief Naeemah erhitzt, „wenn ihr sie jetzt nicht gleich zum Schweigen bringt, ich schwöre, dann vergesse ich mich und ihr müsst Sadira vor mir retten!“
„Dann lass sie doch zu ihrer Truhe gehen!“, rief Cassandra zurück.
Ivon trat zu Naeemah, legte ihr die Hand auf den Arm und sagte: „Bitte, lass sie kurz gehen, danach ist sie bestimmt still! Vielleicht braucht sie noch etwas aus der Truhe!“
Kaum lockerte sich der Griff um Sadiras Arm, hatte diese auch schon den kleinen Raum durchquert und kniete vor ihrer Truhe.
Ihr schien es dank Ivons heilsamer Aura von Sekunde zu Sekunde besser zu gehen, denn ihr gelangen einige kompliziert aussehende Handbewegungen und schließlich sprach sie auch einige fremdklingende Worte.
Dann öffnete sie geschickt die Truhe, warf flugs Kleider und Bücher achtlos heraus bis ihre Finger den Hebel für den doppelten Boden fanden.
Sie zog daran und die im Innern optisch vergrößerte Kiste gab ihr Geheimnis frei.
„Wie geschickt!“, rief Cassandra aus, „sie hat die Kiste wohl mit Magie vergrößert, auf jeden Fall ist ihr nicht anzusehen, dass sie einen doppelten Boden besitzt. Ich hätte jetzt nicht erwartet, dass da noch Platz für ein geheimes Fach ist!“
Während Naeemah an der Tür angelehnt wartet und Sadira schwere Eichenbohlen entfernte, hob Ivon eines der achtlos herausgeworfenen Kleider auf.
Es war ein sehr schlichtes, mit wenig Verzierungen und Tand.
„In Anbetracht ihres Geruches wird sie das hier wohl gebrauchen können, sobald sie sauber ist!“, erklärte Ivon.
Naeemah nickte zustimmend.
Dann wandte sich die Aufmerksamkeit aller wieder Sadira zu, die einen in ein weißes Wolltuch eingeschlagenen Gegenstand aus der Truhe geholt hatte und diesen nun fest in der Hand hielt.
Ihre Erholung schien regelrecht einen Sprung nach vorne zu machen, sie sah erheblich frischer und gestärkter aus.
Ein kleines Lächeln kam über ihre Lippen: „Danke, dass ihr mich da herausgeholt habt!“
„Du sprichst ja wieder!“, riefen Ivon und Cassandra erstaunt.
„Ja, mir geht es wirklich schon besser“, erwiderte Sadira, „aber können wir jetzt bitte gehen? Mir ist hier wirklich nicht wohl!“
Naeemah nickte zustimmend und setzt sich so schnell in Bewegung, so dass die anderen Mühe hatten ihr zu folgen.
Als sie unbehelligt die Treppe erreichten, hielt Naeemah an und wartete auf die anderen.
„Geht ihr schon mal vor“, erklärte sie, „ich komme gleich nach. Wo ich schon einmal hier bin, möchte ich die Gelegenheit nutzen und noch etwas erledigen.“
Unwillkürlich tastete sie nach ihrem Dolch.
„Ich weiß nicht“, meinte Ivon, „das ist mir jetzt nicht so recht!“
„Ich habe auch ein schlechtes Gefühl, Naeemah“, gestand Cassandra, „komm doch bitte gleich mit uns, du begibst dich doch nur unnötig in Gefahr!“
„Nein“, Naeemah schüttelte mit Nachdruck den Kopf, „ich muss gehen. Ihr findet den Weg schon alleine.“
Sie reichte Ivon die Fackel.
„Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht da bin, geht ohne mich!“
Naeemah unterdrückte jeglichen Widerspruch mit einem energischen Kopfschütteln, dann drehte sie sich um und lief den Weg ein Stück zurück.
Doch statt sich wieder in Richtung des Zellentraktes zu begeben, nahm sie den anderen Gang, der schnell zu einem breiten Flur wurde. Teppiche waren dort ausgelegt und Lampen statt Fackeln spendeten Licht.
Zwischen großen Gemälden, die üppig blühende Oasenlandschaften, Kamelherden oder edle, prächtig geschmückte Pferde zeigten, waren in Glaskästen fein gearbeitete Waffen ausgestellt.
Es gab Schwerter, Dolche, Katare und Wurfmesser, doch Naeemah beachtete sie nicht. Sie wusste, dass dies nur Schauwaffen waren, welche schön anzusehen waren, aber beim ersten Kontakt mit echten Waffen und Rüstungen wie Glas zerbrachen
Sie lief den Gang hinter, bis sie zu einem besonders großen Gemälde kam.
Es zeigte eine graue, steigende Stute mit feinem Sattelzeug aus Seide und Elfenbein. Die roten Kordeln des Stirnriemens fielen weit über den konvexen Nasenrücken des Tieres bis über seine Nüstern herab, während die Augen seltsam verdreht viel Weiß zeigten.
Als wolle sie das unruhige Ross beruhigen, strich Naeemah über den geschwungenen Schwanenhals des Tieres und befahl „Ala mahlak, zurafa, ala mahlak!“
Als Belohnung für ihre beschwichtigenden Worte schwang eine kleine Tür unterhalb des Kopfes des Tieres auf.
Naeemah freute sich, dass ihr Gedächtnis sie nicht im Stich gelassen hatte und betrat rasch den kleinen Gang.
Zwar war dieser stockfinster, doch Naeemah kannte diesen Schleichweg schon von Kindesbeinen an, als sie das erste Mal ibn Sabbah unerlaubt nachgelaufen war.
Der kurze Gang teilte sich schon nach kurzer Zeit. Zu ihrer Linken ging es zum Thronsaal hinauf, doch Naeemah hielt sich rechts.
Der kleine Gang schlängelte sich durch das alte Gemäuer und wenige Minuten später erreichte sie eine kleine Holztür.
Diese entriegelte sie vorsichtig und schob sie geräuschlos einen Spalt auf. Die Scharniere waren wie immer gut geölt, so dass sich die alte Tür mühelos öffnen ließ.
Die aufschwingende Tür gab den Blick auf einen steinernen Bogengang frei.
Dieser musste früher einmal zum Haremsteil der Burganlage gehört haben, denn die Seite zum Innenhof der Burg war mit fein gearbeiteten Holzvergitterungen verkleidet.
Naeemah mochte diesen Gang, da man frei in den Hof spähen konnte, selber aber allen Blicken entzogen blieb.
Der Bogengang galt aber trotzdem eher als vergessen, so hatte der Zahn der Zeit an ihm und insbesondere an den kunstvollen Mustern der Holzgitter genagt: hier und da fehlten Stücke in der Verkleidung.
Durch eines eben jener Löcher warf Naeemah mehr zufällig einen Blick in den Hof und erstarrte.
Der Innenhof war voll mit Last- und Reitkamelen. Die meisten waren schon beladen, nur noch wenige harrten ihres Reiters. In der Mitte des Hofes stand ein hagerer, hochgewachsener Mann in der schlichten, schwarzen Kleidung des Wüstenvolks. Ohne sein Gesicht zu sehen wusste Naeemah, dass dies ibn Sabbah war.
Die aschblonde Frau an seiner Seite musste ohne Zweifel Varla sein... heiße Wut übermächtige Naeemah und sie keuchte. Sie war es nicht gewöhnt, von ihren Gefühlen so übermannt zu werden.
„Packt schneller!“, hörte Naeemah Varla befehlen, „wir sind schon viel zu spät dran. Wir hätten vor einer Stunde bereits losziehen müssen!“
Peitschenartig zischten ihre Worte durch den Hof und trieben die Frauen zu schnelleren Bewegungen an.
Naeemah meinte auch, Reenas hochroten Haarschopf zu erspähen, war sich aber nicht sicher.
Wenige Minuten beobachtete sie das Treiben und starrte vor allem ibn Sabbah regelrecht Löcher in den Rücken.
Als sie sich vom Gitter zurückzog und weitereilte, bemerkte sie nicht, wie sich der Assassinenführer umdrehte und nachdenklich zum steinernen Bogengang hinaufblickte.
Naeemah huschte lautlos weiter. Nun war sie sich sicher, dass sie hier keinen mehr antreffen würde.
Ein Großteil der Assassinen war anscheinend schon abgereist und nun folgte die Nachhut mit dem ibn Sabbah und seinen hochrangigsten Mitglieder.
„Ganz schön hochmütig“, dachte Naeemah, „alle hochrangigen Offiziere in einer Einheit loszuschicken. Hier bietet sich die Chance, der Schlange ein für alle mal den Kopf abzuschlagen!“
Doch sie verfolgte den Gedanken nicht weiter. Sie war alleine und wurde niemals gegen zwanzig, dreißig gut ausgebildete Assassinen und ihre Ausbilder bestehen. Selbst ihre Fähigkeiten hatten Grenzen.
Sie verließ den Bogengang und bog in einen weiteren Flur ein. Auch dieser war mit Lampen erleuchtet und führte zu einem kleinen Innenhof mit Springbrunnen und mehreren Beeten, in denen bunt blühende Pflanzen wuchsen.
Achtlos rannte sie quer über die Beete auf eine der Türen zu.
Als ihre Finger das Holz berührten, zitterte sie fast.
Garstig grinste sie der in Blutrot gemalte Tiger an, das Zeichen der Verräterinnen.
Als Mahnbild für andere Assassinen war dieses Quartier versiegelt worden; niemand durfte es mehr betreten, auf dass die Zeit die Erinnerung an die Verräterin vertilge.
Es hieß, sollte jemals jemand ein versiegeltes Quartier betreten, so würde seine Waffe im schlimmsten Gefecht zerbersten.
Doch Naeemah störte sich nicht daran. Sie war eine Ausgestoßene, bereits verflucht, konnte es noch schlimmer kommen?
Ob sie nun einmal oder zweimal zum Tode verflucht war, was machte es für einen Unterschied?
Beherzt packte sie die metallene Klinke und drückte sie nach unten.
Kreischend entriegelte das Schloss und die Tür öffnete sich.
Zögerlich betrat Naeemah den Raum, den sie so lange ihr Eigen genannt hatte.
Es gab einen kleinen Vorraum mit einem schlichten Spiegel und einer kleinen Kommode und einen Platz, wo sie ihre Schuhe immer abgestellt hatte.
Auf dem Boden lag ein dicker, handgeknüpfter Teppich, welcher ein feines, aber schmuckloses schwarzes Muster auf dem Wollweiß trug.
Durch einen kleinen Bogen gelangte man in das eigentliche Quartier; ein großer, rechteckiger Raum mit einem rustikalen Schreibtisch, Schrank und einem breiten Bett.
Staub lag überall, aber durch die unvergitterten Bleiglasfenster, welche klar Naeemahs ehemalige Stellung unter den Assassinen bezeugten, fiel freundliches Licht auf ihr Bett.
Am Fußende des Lagerstatt stand eine hüfthohe Kleidertruhe, deren eisenbeschlagene Scharniere und kunstvoll verzapften Planken von hochqualitativer Handwerkskunst zeugten.
Dennoch öffnete Naeemah die Truhe rasch mit der Spitze ihres Dolches; es war ein leichtes.
Fahrig warf sie Gegenstände auf das Bett, Kleidung, Essgeschirr und Besteck, dünne Bücher und zwei Paar Stiefel. Als sie auf die zerrupfte Giftfürstenpuppe stieß wünschte sie, sie hätte mehr Zeit dafür gehabt, ihre Sachen in Ruhe durchzugehen.
Schwermütig legte sie auch die Puppe zur Seite.
Zuunterste fand sie, was sie gesucht hatte: Eine besonders schön gearbeitete Klaue.
Sie war ein Geschenk von Mellilah gewesen, als Naeemah ihre Assassinenprüfung bestanden hatte. Die Klaue war nicht magisch, was zweifelsfrei der Grund dafür war, dass sie noch in einem so guten Zustand war, aber dennoch ein hervorragendes Stück Schmiedekunst, die mühelos auch Stahl zertrennen konnte.
Der Griff des Suwayyahs war mit einem gut gepflegten Lederband umwickelt und auf dem breiten Teil der Schneide waren die Worte „in schā' Allāh“ - so Gott will – eingraviert.
Naeemah drückte die Waffe an ihre Brust. Es bedeutete ihr unendlich viel, dass sie es geschafft hatte, sie wiederzubekommen.
Auf ihrer Reise hatte sie alles verloren, was sie an Mellilah erinnerte; doch diese Waffe würde sie nur noch aus der Hand geben, wenn sie ihren letzten Atemzug tat.
Sie nahm sich die Zeit, ihre restlichen Habseligkeiten in die Truhe zurückzulegen und bedachte vor allen Dingen die Puppe noch einmal mit einem langen Blick, ehe sie den Deckel der Truhe schloss.
Dann verließ sie eilig das Zimmer.
Als sie vom dem steinernen Bogengang in den kleinen Schleichweg einbog, hatte sich der Innenhof bereits von Tieren und Menschen geleert.
Eigentlich hätte sie nun sofort die Burganlage verlassen müssen, dankbar dafür, unverletzt ihr Versprechen einhalten zu können. Doch irgendetwas befahl ihr, dem Geheimgang nicht geradeaus weiter zu folgen, sondern zur Rechten abzubiegen.
Sie befand sich auf direktem Weg in den Thronsaal, und obschon ihr Verstand ihr sagte, dass sie sofort umkehren sollte, konnte sie es nicht.
Obgleich sie wusste, dass ibn Sabbah und Varla bereits abgereist waren – oder gerade weil? - musste sie unbedingt noch einmal den Thronsaal sehen.
Leichtfüßig überwand sie die Steigung des Ganges, bis sie bei der Tapetentür angelangt war.
Ihr Finger fanden schnell den Haken, der die Tür entriegelte, und ungehindert betrat sie den Saal.
Direkt vor ihr befand sich die Rückseite eines übermannshohen Sockels, auf dem der luxuriöse Thron stand; Sinnbild der Macht von Hasan ibn Sabbah.
Es war ein prunkvolles Stück feinster Handwerkskunst aus Ebenholz und Elfenbein, denn ibn Sabbah pflegte zu sagen, dass er Herr über Alles sei – Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Schön und Hässlich.
Die Sitzfläche, die Armpolster und die Rückenlehne waren mit feinstem Wendigoleder überzogen und ihre Haare bildeten die Füllung.
Fast ehrfürchtig lief sie um den Thron zur Vorderseite herum, wo breite Stufen zu dem prunkvollen Sitz führten.
Naeemahs Schritte hallten laut im großen Saal wieder, so leise sie ihre Füße mit den Lederschuhe auch auf den schneeweißen Marmor setzen mochte.
Sie hatte noch Zeit, ehe sie zu Cassandra und Ivon zurückkehren musste, daher begann sie, die Stufen hinaufzusteigen.
Dabei fiel ihr ein, wie sie so viele Mal zur Rechten ibn Sabbahs gesessen und seinen Richtsprüchen gelauscht hatte und wie ergeben sie sich ihm da gefühlt hatte.
Diese Ergebenheit war erst allmählich verschwunden, als sich ihre Augen fortan an einer einzigen Person in der Menge der Schwestern, Bittstellern oder Gefangenen festsahen – Mellilah!
Sie setzte ihren Fuß auf die siebte Stufe, als sie ein Geräusch vernahm und herumfuhr.
Die großen Flügeltüren des Haupteinganges zum Saal schwangen auf und herein trat eine hochgewachsene Gestalt in schlichter schwarzer Kleidung.
„Du!“, spie sie aus und unterdrückte den Impuls, auf den makellosen Marmorboden zu spucken.
Stattdessen packte sie ihre Waffe fester und lief leichtfüßig, aber mit festem Blick auf die Gestalt die Stufen herunter.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du noch einmal zurückkommen würdest. Vor allem, nachdem du doch endlich deine ersehnte Freiheit hattest und aus der Zitadelle entkommen bist. Im Übrigen, ein sehr geschickter Streich war das. Ich habe dich wirklich unterschätzt, Naeemah, und ich entschuldige mich dafür.“
Naeemahs Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln.
„Worte, Hasan, Worte. Damit konntest du ja schon immer gut umgehen“, erwiderte Naeemah säuerlich und wog das Suwayyah abschätzend in der Hand ab.
Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Natürlich war dies eine gefährliche Sitation, doch ohne seine Leibwächter hatte sie eine reelle Chance gegen ibn Sabbah.
Sie war nicht so dumm, ihn zu unterschätzen; seine hagere Gestalt täuschte. Was ihm aufgrund seines Alters an Kraft fehlen mochte, machte er mit Schnelligkeit, Wendigkeit und gedanklicher Kraft wett.
Aber doch hatte sie eine reelle Chance und sie würde sie zu nutzen wissen.
Hier und jetzt – es würde enden!
Mit den Stufen des Thron im Rücken erwartete sie einen Angriff, doch Hasan schien sich erst noch unterhalten zu wollen.
„Meine Tochter...“ hub er an, „du hast mich wahrlich enttäuscht. Du warst immer das Kind meines Herzens. Habe ich dich nicht von der Straße weggeholt, dich genährt, gekleidet und dir eine Aufgabe in dieser unwirtlichen Welt gegeben?
Ich habe dich immer gut behandelt, du warst mein Augenstern und hattest Privilegien wie keine Andere hier. Und doch hast du dich von mir abgewandt..!“
Er schüttelte wie zum Bedauern den Kopf.
„Was für eine Verschwendung deines Potentials. Aber ich bin gewillt, dir noch eine Chance zu geben, Naeemah. Komm zurück zu mir, stell dich wieder an meine Seite und du sollst deinen dir angestammten Platz wiederbekommen.
Und sogar deine kurzen Haare stehen dir gut!“
Er lächelte, doch es war ein gefährliches Lächeln.
„Nein, Hasan, ich werde nicht zurückkehren, nicht nachdem, was alles geschehen ist,“ Naeemah schüttelte bekräftigend den Kopf und zog mit der Linken den Dolch aus seiner Halterung.
„Ist das so?“, fragte ibn Sabbah fast enttäuscht, „nun denn, ich sehe, du bist fest entschlossen, es jetzt zu Ende zu bringen. Und ich weiß, dass ich dich nicht umstimmen kann, denn so warst du schon als kleines Mädchen. Dann lass es uns jetzt entscheiden!“
Innerhalb von Sekundenbruchteilen warf er sein schwarzes Übergewand ab, zog einen leichten Kampfstab aus der Halterung am Rücken, stand direkt neben Naeemah und griff mit einem mächtigen Hieb an.
Naeemah, kurz überrascht, dass er immer noch die anstrengende Technik des Drachenfluges beherrschte, ließ sich zur Seite fallen, tauchte so unter dem Hieb durch und rollte zur Seite. Dabei stieß sie mit ihrem Suwayyah nach seinem Zeh, doch ehe sie traf, wich er ihrem Schlag aus.
„Ich habe“, sagte er, während er eine graue Strähne seines Haares ordnete, „vergessen wie schnell du bist. Du warst die Beste, Naeemah, aber das wird dir heute nichts helfen!“
Naeemah und ihr Widersacher umkreisten sich abschätzend, jeder versuchte, eine Schwäche des anderen zu erkennen und diese für sich zu nutzen.
Naeemah war sich dem Nachteil ihrer Bewaffnung bewusst und ihr Blut schrie bis in die letzte Faser nach Rache und Genugtuung, doch beherrschte sie sich. Wenn sie übereilt angriff, würde sie verlieren, das stand fest.
Ibn Sabbah nahm ihr die Entscheidung, wann sie angreifen sollte, ab. Mit einem Ausfallschritt in ihre Richtung täuschte er einen geradegerichteten Stoß vor, welchen er, als sie auszuweichen versuchte, in einen senkrechten Hieb verwandelte.
Naeemah fing diesen mit gekreuzten Klingen ab und spürte, wie die Schneiden ihrer Waffen in das Holz des Stabes drangen.
Sie unternahm halbherzig den Versuch, ihre Klingen zu verkanten und Hasan den Stab zu entreißen, doch dieser hatte damit längst gerechnet und befreite seine Waffe mit einer schnellen Drehung um die eigenen Achse.
Dies nutzte Naeemah, um den Abstand zu ihrem Gegner zu verkürzen und griff mit einer schnellen Kombination aus raschen aufeinanderfolgenden Stichen an.
Ibn Sabbah wehrte die meisten davon ab, doch ihr letzter Stich fand sein Ziel und traf ihn seitlich in der Lendengegend.
Er stöhnte und hatte für einen Moment seine Deckung gesenkt, so dass Naeemah sich anschickte, dies auszunutzen, als eine gewaltige Druckwelle sie völlig unerwartet traf und mehrere Meter zurückschleuderte.
Sie überschlug sich, ehe sie vor den Stufen des Thrones wieder auf die Füße kam.
Sie war froh, dass sie ständig einen mentalen Schutz um ihren Geist aufrecht erhielt, so hatte die rohe Macht des Gedankenschlages nur physische Auswirkungen.
Als sie zu ibn Sabbah sah, presste dieser gerade seine Hand auf die Wunde, Blut quoll in einem steten Strom zwischen seinen Händen herab.
„Du bist gut, aber nicht gut genug“, höhnte er.
Dann drehte er seinen Stab, drückte einen ins Holz eingelassenen Knopf und zog ein langes, schmales Schwert aus der hölzernen Hülle.
Mit einem Mal stand er wieder bei ihr und sein Schwert züngelte nach ihrer Kehle.
Sie ließ sich fallen, erkannte aber, dass er dies bereits vorausgesehen hatte und ihr mit einem kurzen Stoß nachsetzte, so dass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als eine ihrer Schattenbomben zu werfen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke bis sich das lichtschluckende Pulver auf dem Boden absetzte, doch diese retteten ihr das Leben. Im Schutz der Dunkelheit hatte sie sich zurückziehen und neu sammeln können.
Erst jetzt bemerkte sie das Brennen am Hals. Ibn Sabbahs Schwert war so scharf, dass die Wunde erst jetzt zu bluten begann.
Doch es blutete nicht so stark wie seine Bauchwunde und Naeemah meinte schon, seine Bewegungen würden in Schnelligkeit und Eleganz nachlassen.
Wenn sie jetzt auf Zeit spielen und ibn Sabbah sich verausgaben lassen konnte, würde sie gewinnen!
Hoch aufgerichtet umkreisten sich die beiden Widersacher. Ibn Sabbah hielt sein Schwert scheinbar lässig gesenkt, so dass die Spitze knapp über dem Boden schwebte.
Der Schein trog; Naeemah wusste genau, wie schnell er diese nachlässige Haltung in die perfekte Defensive verwandeln konnte.
Unschlüssig, was sie nun tun sollte, begann sie unauffällig, die Gegebenheiten des Raumes in sich aufzunehmen.
Es gab bis auf ein paar Ständer mit gelöschten Ölschalen keine Einrichtungsgegenstände; nichts, was sie hätte verwenden, nichts, wo sie hätte Deckung finden können.
In der Gürtelschlaufe auf ihrem Rücken steckten noch zwei oder drei kleine Wurfmesser, aber sie fürchtete, ein Griff danach könnte einen schwer aufzuhaltenden Angriff provozieren.
Als sie gerade ernsthaft darüber nachdachte, den Dolch zugunsten der Wurfmesser fahren zu lassen, startete ibn Sabbah den nächsten Angriff.
Mit einer Serie aus kurzen Schlägen trieb er sie vor sich her und Naeemah hatte alle Mühe, auszuweichen und die Schläge abzufangen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben verfluchte sie die kurze Reichweite der klassischen Assassinenwaffen.
Die kurzen Angriffe, die sie zwischen ibn Sabbahs Streichen ausführen konnte, blockte er gekonnt mit der hölzernen Hülle des Schwertes ab.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich durch den Raum treiben zu lassen.
Sie sah ihrem Gegner an, dass er davon überzeugt war, sie bezwungen zu haben; für ihn war es nur noch eine Frage der Zeit.
Sie erkannte das Glitzern in seinen Augen; ein untrügliches Zeichen für seine Siegesgewissheit. Dieses unmenschliche Glitzern hatte sie schon so oft gesehen, dass sie an dessen Bedeutung keinen Zweifel hatte.
Sie ließ sich weiter zurücktreiben, ließ ihn sich an ihrer Deckung verausgaben, auch wenn sie längst nicht so entspannt seine Angriffe blocken konnte, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Als einer der Lampenständer in Armreichweite kam, sah sie ihre Chance für einen Angriff gekommen.
Sie blockte noch zwei seiner Schläge ab, dann duckte sie sich mit einer Drehung hinter den Lampenständer und trat mit voller Wucht dagegen.
Der schulterhohe Ständer fiel ibn Sabbah entgegen, welcher dies mit seinem Schwert blockte.
Das herausspritzende, noch heiße Öl aus der Lampenschale konnte er aber nicht abwehren.
Es spritzte ihm über den Kopf, lief über das Gesicht, die Schultern und den Oberkörper und hinterließ verbrannte Haut und mit heißem Öl getränkten Stoff.
Als das Öl ibn Sabbah ins Gesicht spritzte, schloss er instinktiv die Augen. Aber es war ihm nicht möglich, die Arme schützend vor sein Gesicht zu reißen, da dann der schwere Lampenständer auf ihn gefallen und ihn zu Boden gerissen hätte.
Diese Sekunden seiner Blindheit nutzte Naeemah. Mit zwei Schritten hatte sie ihn umrundet und stand hinter ihm.
Sie wartete ab, bis er vor Schmerz schreiend zurücktaumelte und rammte ihm dann mit der Linken den Dolch in die Seite.
Dann, während sich seine Schmerzensschreie ins Unermessliche steigerten, griff sie nach einem großzügigen Büschel seiner grauen Haare.
Während sie genüsslich ibn Sabbahs Kopf nach hinten riss, registrierte sie, wie er sein Schwert fallen ließ und nach ihrer linken Hand tastete.
Naeemah zögerte nicht lange: Noch während ibn Sabbah fiel, durchbohrte ihr Suwyyah seinen rechten Unterarm, dann zog sie ihre Waffe wieder aus dem Fleisch ihres Widersachers heraus, damit sie sie nicht verlor.
Als der Körper des Assassinenführer seinen Schwerpunkt überwunden hatte, ließ Naeemah das Haarbüschel fahren und trat zur Seite, damit der hagere Körper ungehindert auf dem harten Boden aufschlagen konnte.
Sie sah Entsetzen in den Augen ihres ehemaligen Ziehvaters; und sie genoss es in vollen Zügen.
Sie konnte ihr Glück kaum fassen: Sie hatte ihn! Seine letzte Stunde hatte geschlagen… In wenigen Sekunden würde er durch ihre Hand sterben.
Ein kaltes Lächeln malte sich auf ihre Züge, als sie sich über den am Boden liegenden Hasan ibn Sabbah beugte, das Suwayyah zum tödlichen Stoß bereit.
Genüsslich kniete sie sich hin, seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln und beobachtete, wie schnell sein Atem ging, weidete sich an seiner Angst und seinem Wissen, dass er verloren hatte.
Langsam hob sie die Waffe, Mellilahs Geschenk, und bereitete sich darauf vor, ihrem ärgsten Feind die Kehle aufzuschlitzen.
In einer schnellen Bewegung fuhr ihre Klinge blitzen auf ihr Opfer nieder, züngelte nach wehrlosem Fleisch wie eine Viper.
Sie konnte es kaum erwarten, sein heißes Blut auf ihrer Haut zu spüren, darin regelrecht zu baden.
Doch kurz bevor sie den tödlichen Schnitt ausführen konnte, traf sie etwas mit voller Härte, nahm ihr den Atem und ließ sie mehrere Meter zurückfliegen.
Schmerzhaft traf ihr Kopf eine Wand und benommen blieb sie kurz liegen, unfähig, ihre Sinne zu sammeln.
Wie hatte ibn Sabbah noch zu so einem mächtigen Gedankenschlag fähig sein können?
Sie stöhnte und versuchte wieder klare Sicht zu bekommen; ruderte hilflos mit den Armen.
Das letzte, was sie sah, war ein heller Lichtfleck und ein Aufblitzen, was ihre geschulten Reflexe automatisch dazu veranlassten, mit ihrem Kopf schräg nach unten auszuweichen.
Dann traf sie etwas unglaubliches Heißes im Gesicht, fraß sich schräg quer über ihre Stirn, durch das rechte Auge, kratzte über den Wangenknochen und hinterließ dabei eine grauenhafte Spur aus Schmerz und Blut.
Naeemah schrie gepeinigt auf – dann wurde es dunkel um sie.
Ivon, Cassandra, und Sadira, welcher es zunehmend besser ging, hatten indes den Tunnel im Lagerraum erreicht. Sadira war gerade im Begriff mit der Fackel in der Hand als erste den schmalen Lüftungstunnel zu betreten, als Ivon anfing zu sprechen.
„Also, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kann Naeemah nicht einfach zurücklassen. Irgendetwas stimmt nicht, dass spüre ich!“
Cassandra nickte nachdrücklich: „Mir ist auch nicht wohl bei der Sache. Aber was sollen wir mit Sadira machen? Wir können sie doch nicht ganz alleine in diesen Tunnel kriechen lassen! Sie kennt doch den Weg nicht!“
Ivon schüttelte den Kopf.
„Sadira scheint es besser zu gehen. Es geht ja auch nur noch geradeaus. Wenn du sie begleiten willst, dann tu das, aber ich lasse hier niemanden zurück!“
Sadira hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt: „Mir geht es wirklich schon viel besser. Ich finde den Weg schon. Sollte ich an eine Kreuzung kommen, setze ich mich hin und warte auf euch. Für eine Konfrontation bin ich noch zu schwach, ich wäre euch nur im Weg – aber kurz alleine bleiben und laufen, das schaffe ich schon!“
Cassandra blickte Sadira prüfend an.
„Nun gut“, erwiderte sie, „wenn das so ist, dann lass uns gehen, Ivon!“
Ivon grinste, drehte sich auf dem Absatz um und begann zu laufen.
Sie durchquerten die Gänge rasch, stiegen abermals die Treppe hinauf und liefen dann in den Gang, den Naeemah genommen hatte.
„Es ist doch unmöglich, sie in diesem Gewirr aus Gängen zu finden, meinst du nicht, Ivon?“, fragte Cassandra, „ich meine, hier sieht alles gleich aus! Wenn wir uns nun verirren?"
„Wir verirren uns schon nicht. Wir müssen wenigstens versuchen sie zu finden“, erwiderte Ivon hastig.
Sie liefen den Gang hinunter, ohne die prächtigen Gemälde und Waffen zu beachten, bis sie an ein Gemälde mit einer grauen, steigenden Stute kamen.
„Warum hältst du an, Ivon?“, fragte Cassandra.
„Da ist etwas“, sagte Ivon und begann, mit seinen Fingern das Gemälde abzutasten, „mir war eben so, als hätte ich beim Näherkommen eine Unebenheit, einen Spalt im Gemälde gesehen.“
„Wozu sollte jemand einen Spalt in ein Gemälde…“, hub Cassandra an, gab sich dann aber selbst die Antwort, „ach, du meinst, das könnte die Tapetentür sein, von der Naeemah sprach?“
„Genau“, bestätigte Ivon, als sich seine Fingernägel in Holz gruben.
Mühsam zog er daran, benutzte dann sein Schwert als Hebel und widerwillig öffnete sich eine schmale Tür.
„Da ist sie!“, freute er sich, „was ein Glück, dass sie nicht richtig eingerastet war, als sie zufiel. Das hätten wir sonst nie entdeckt!“
Cassandra schnappte sich noch geistesgegenwärtig eine der Lampenschalen, die fürchterlich heiß in den Fingern war, bevor sie sich nacheinander in den schmalen Durchgang zwängten.
Nach einer kurzen Strecke stießen sie auf eine Abzweigung.
„Hm“, machte Ivon, „was jetzt?“
Cassandra lugte hinter seinen breiten Schultern hervor, erkannte das Problem und erklärte sofort: „Wir gehen links!“
„Wieso bist du dir da jetzt so sicher?“, hinterfragte der junge Paladin ihre Entscheidung.
„Weiß nicht“, erklärte Cassandra, „ist nur so ein Gefühl.“
“Na toll, das ist ja einen sehr rationale Entscheidung!“, frotzelte Ivon, entschied sich dann aber folgsam für den linken Gang, welcher sanft nach oben führte.
Am Ende des Ganges trafen sie auf eine fest verriegelte Tür.
„Mist“, fluchte Ivon, „hier geht es nicht weiter! Was nun? Sollen wir umkehren und den anderen Gang versuchen?“
Plötzlich erklang ein tönendes Scheppern, so als ob ein sehr schwerer, metallischer Gegenstand mit großer Wucht zu Boden gefallen war.
„Nein“, meinte Cassandra, „schau doch mal, da muss es einen Öffnungsmechanismus geben. Und beeil dich bitte, meine Finger sind gleich gut durchgegrillt, wenn ich diese verfluchte Schale noch länger halten muss!“
Im Dämmerlicht tastete Ivon gefühlte Minuten die sperrige Tür ab, bis er meinte, eine kleine Unregelmäßigkeit in den Holzbohlen erkannt zu haben. Mit einem Finger zog er daran und ein leises Klicken verriet ihm, dass der Riegel angehoben worden war.
Vorsichtig öffnete er die Tür.
Der Raum, der sich ihm eröffnete, war erleuchtet, daher wies er Cassandra an, die Lampenschale abzusetzen, was sie auch nur zu gern tat.
Als beide aus dem Gang hinaustraten, bot sich ihnen ein seltsames Bild.
Sie waren wohl im Thronsaal angelegt und direkt vor ihnen befand sich ein Podest mit dem Thron.
Gegenüber des Thrones befand sich in etwa fünfundzwanzig Meter Entfernung ein Tor. Es war geöffnet, und in dem Türsturz stand eine junge, aschblonde Frau.
Die Halle selber war schmucklos, nur mehrere schulterhohe, massivmetallene Lampenständer standen Spalier. Einer davon war umgefallen, was wohl das Scheppern erklärte, die Lampenschale kullerte noch über den Boden.
Knapp dahinter sahen sie Naeemah über einem sichtlich schwer verletzten Mann knien, ihre Waffe zum tödlichen Stoß erhoben.
Noch ehe Naeemahs Waffe die Kehle des Mannes traf, vollführte die blonde Frau eine schlichte Bewegung mit der linken Hand und im nächsten Moment, so schien es, wurde Naeemah von einer unsichtbaren Macht getroffen und durch die Luft geschleudert. Sie traf unglücklich mit dem Kopf an der Wand auf und blieb benommen liegen.
Im nächsten Augenblick stand die aschblonde Frau vor Naeemah, zog einen Katar und versucht, Naeemah die Kehle durchzuschneiden.
Diese schien im letzten Moment zu reagieren, denn sie zog ihren Kopf ein, drehte ihn schräg links weg und rutschte mit dem Oberkörper ein ganzes Stück nach unten.
Weder Ivon noch Cassandra konnten sehen, wie der Angriff der blonden Frau ausgegangen war, aber Naeemahs Schmerzensschrei gab ihnen Gewissheit.
Ivon und Cassandra stürmten vor und zogen noch im Laufen ihre Waffen.
„Halt!“, brüllte Ivon und seine Stimme hallte mannigfach von den Wänden wieder.
Die blonde Frau, die ihrem wehrlosen Opfer gerade den Todesstoß verpassen wollte, hielt in der Bewegung inne und drehte sich überrascht zu den Störenfrieden um.
Unschlüssig, wie sie nun reagieren sollte, wanderten ihre Blicke zwischen dem Verletzten am Boden und Naeemah hin und her.
Angesichts der angriffslustigen Neuankömmlinge entschied sie sich, dem Verletzten, welcher schon wieder auf die Beine gekommen war, unter die Arme zu greifen und zu durch das Haupttor zu fliehen.
Cassandra und Ivon ignorierten die Flüchtenden und hatten nur noch Augen für Naeemah.
Sie gab einen erbärmlichen Anblick ab, wie sie bewusstlos und blutüberströmt auf dem makellos weißen Boden der Halle lag.
Ivon untersuchte sie rasch, konnte aber aufgrund der starken Blutung kaum etwas erkennen und riss sich einen Fetzen aus dem Ärmel, um das Blut wegzuwischen und die Wunde freizulegen.
Es gelang ihm nur zum Teil, aber auch so war ihm klar, dass die Wunde schwer war.
Er war sich nicht sicher, ob Naeemah überhaupt überleben würde, aber er würde alles tun, um sie in ihr Lager zurückzubringen. Dafür musste er aber in einer Erstversorgung die Wunden schließen und die Blutung stillen.
„Kannst du etwas für sie tun?“, fragte Cassandra ehrlich besorgt.
„Ich weiß nicht genau“, Ivon zögerte, „ich kann die Blutung stillen und die Wunde erstmal notdürftig verarzten. Aber Sorgen macht mir das Auge. Der Schnitt ging genau durch. Ich kann die Wunde zwar schließen, aber dann wird sie auf dem Auge nichts mehr sehen können. Ich habe die Lektion ein Auge vollständig und nachhaltig zu heilen leider noch nicht gelernt.“
Er schüttelte unzufrieden den Kopf, „hätte ich mich doch nur schon für einen Klosterbereich entschieden! Wäre es Heilung gewesen, könnte ich ihr Auge jetzt problemlos retten!“
„Und wenn du“, warf Cassandra ein, „die Wunde auf der Haut schließt und das Auge unversorgt lässt?“
Ivon zog die Lippen zu schmalen Strichen zusammen.
„Dann könnte ein guter Arzt vielleicht noch etwas für sie tun, wenn er in Magie bewandert ist. Aber ich fürchte, dass sich die Wunde in der Wüste entzünden wird, eitert, und sie dann den gesamten Augapfel verliert.“
„Aber Hoffnung gäbe es noch, oder nicht?“, hakte Cassandra nach, „wenn ja, dann lass es uns riskieren. Wenn nur eine kleine Chance besteht, dass sie wieder sehen kann, dann sollten wir das probieren. Im schlimmsten Fall wird sie so oder so blind!“
Ivon nickte zustimmend, dankbar, dass ihm die Entscheidung abgenommen war und machte sich ans Werk.
Die Schnittwunde drang bis auf die Schädelknochen, doch Ivon sorgte in seiner Eile nur dafür, dass die durchtrennten Blutgefäße wieder zueinander fanden.
Dann lud er sich Naeemah auf die Schulter.
Beinahe hätten sie nicht durch die Tapetentür und den kleinen Schleichweg gepasst, doch irgendwie ging es, weil Cassandra die Füße von Naeemah trug.
In kurzer Zeit waren sie am Lüftungsschacht angekommen und begannen ihren vorsichtigen Abstieg in die Tiefe.
Auf dem Weg trafen sie Sadira, die es sich in einer Nische bequem gemacht hatte und etwas ruhte.
Schnell war ihr erklärt, was vorgefallen war, während die sich die Drei durch die Gänge arbeiteten.
In der kleinen Höhle am Ende des Lüftungsschachtes angekommen packten die Drei rasch die wenigen Habseligkeiten zusammen, beluden die Kamele und sicherten Naeemah mit Gurten auf ihrem Tier.
Ivon entschied, dass die kleine Gruppe nun auf schnellstem Weg nach Osten reisen würde, um den bewohnten Küstenstreifen alsbald zu erreichen und Hilfe für Naeemah zu finden.
Sadira bekam für den ersten Teil der Reise eine Wasserflasche und ein großes Stück Pide in die Hand gedrückt, ehe sie das Kamel bestieg und die Vier in aller Eile abreisten.
Das erste Mal, als Naeemah erwachte, konnte sie nur verschwommen sehen. Außerdem fühlte es sich an, als hätte jemand ihren Kopf, speziell die rechte Seite, mit einer dicken Lage an feingezupften Kamelfohlenhaaren umwickelt. Nur dumpf gelangten die Geräusche an ihre Ohren.
Sie bewegte sich und stöhnte vor Schmerz, der in ihrer rechten Kopfhälfte pochte, als sich in ihr verschwommenes Blickfeld ein Kopf schob.
„Sie ist wach!“, stellte eine fremde Stimme fest.
Dann griffen zwei Hände fast zärtlich nach ihrem Kopf, richteten ihn sanft auf und flößten ihr ein übel schmeckendes Gebräu ein.
Sie musste würgen, hustete, doch die fremde Stimme redete beruhigend auf sie ein, so dass sie schließlich durstig die widerliche Flüssigkeit trank.
Knarzen ertönte, als ob ein schwerer Mann über alte Eichendielen lief, und dann fragte jemand:
“Wie geht es ihr denn,
hakim?“
Naeemah identifizierte die zweite Stimme als die Ivons.
„Sie wurde schwer verletzt“, erklärte die erste Stimme, die folgerichtig dem Doktor gehören musste, „aber eure Grundversorgung an Ort und Stelle und eure Nachbehandlungen haben Gutes getan. Sie wird wohl eine große Narbe im Gesicht behalten, was ein Jammer bei so einer schönen Frau ist…“
„Und ihr Auge?“, fragte eine dritte, weibliche Stimme, die wohl Cassandra gehörte, „wie geht es ihrem Auge?“
„Es hat sich stark entzündet. Es war gut, dass ihr das verletzte Auge auf eurer Reise abgedeckt habt, aber der Wüstensand kriecht durch jede Öffnung. Ich habe es mehrmals täglich gespült und dennoch ist es entzündet und eitert. Ich glaube nicht, dass sie auf diesem Auge jemals wieder sehen können wird, die Verletzung ist zu tief. Mit etwas Glück und Gebeten kann ich aber den Augapfel retten, so
ilah will“, erklärte der Arzt bedauernd, aber bestimmt.
Als Naeemah diese Worte hörte, konnte sie nur noch einen Gedanken formen, ehe sie wieder in die Bewusstlosigkeit glitt:
“
ilah hat mir in seiner großen Güte zwei Augen gegeben…“
Ende Teil 1 der Geschichte