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[Story] Herzblut

Ah, endlich läufts wieder. Hier ist das, was ich am WE geschafft habe.
Noch eine Frage vorher: mir ist aufgefallen, dass die Hauptcharaktere und die meisten Hauptnebencharaktere, nämlich Khalid & Ludger (16), Daved (Anfang 20), Hilda (17-20), Alef (8), ungeplanterweise alle sehr jung sind. Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass das Ganze damit zu sehr in Richtung Jugendroman tendiert und das war von mir nicht so beabsichtigt. Was ist eure Meinung dazu?

11

10 Oris, 1084 Laurane; nachts

Die Stunden zogen sich endlos dahin. Nie hatte Alef geahnt, wie langweilig simples Laufen doch sein konnte. Und wie anstrengend. Seine Bewegungen und auch die der anderen glichen mittlerweile mehr einem kraftlosen Vorwärtskriechen.
„Alef, mir tun die Füße so weh. Und ich hab solch einen Hunger!“
Verärgert blickte der Junge zu Yasemina hinüber. Er konnte sie ja verstehen und sie tat ihm auch leid, aber ihre Quengeleien zerrten an seinen Nerven. Schließlich ging es ihm und den Anderen auch nicht besser.
„Wir sind bald da“, sagte er zum nun wohl schon hundertsten Male. Im Kopf sang er diese Litanei bereits die ganze Zeit.
Wir sind bald da. Wir sind bald da.
Es half nicht viel, aber es half.
„Das sagst du schon seit Stunden“, schmollte das Mädchen.
Wie viele Stunden waren sie überhaupt schon unterwegs? Alef hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber es sah so aus, als wären sie dem Abend mittlerweile näher als dem Mittag. Vom Zug war kaum etwas zu hören, alle Gespräche waren den Mühen zum Opfer gefallen, nur gelegentlich gab jemand ein Stöhnen von sich. Einige der Alten und Schwachen wurden von den Stärkeren gestützt, weil sie nicht mehr alleine gehen konnten.
Mutter Rebecca aber war von Erschöpfung nichts anzumerken. Wie die hölzernen Figuren am Rumpf großer Schiffe, von denen sein Vater ihm einmal erzählt hatte, dem Sturm trotzten, so schritt sie unbeirrbar voran. Doch auch sie hätte vermutlich schon zur Pause gerufen, wenn der Hunger sie nicht alle vorantreiben würde.
Alef flüchtete sich in seine Gedanken. Dort gab es eine Welt, in der alles noch so wie ehedem, vor dem Überfall, war. Es war schön, sich das vorzustellen. Um das Kloster und sein altes Leben tat es ihm nicht leid, er konnte genauso gut nach Hause zurückkehren, auch wenn es dort vermutlich eher langweilig war. Aber all dieser Schmerz, dieses grundlose Leiden, er konnte es nicht verstehen. Vermutlich war er noch zu jung, um den Sinn dahinter zu sehen.
Irgendwann, es mochten erst wieder einige Minuten vergangen sein, vielleicht aber auch eine ganze Stunde, rief jemand plötzlich aufgeregt:
„Ein Hof! Dort in der Ferne liegt ein Hof!“
Allgemeines Gemurmel brach aus, als man die Gebäude erblickte, die soeben in einiger Entfernung aufgetaucht waren.
„Ein Hof, dort gibt es Essen!“
„Essen!“
„Endlich!“
„Und wir können uns ausruhen!“
Doch bevor die Euphorie endgültig ausbrechen konnte, wurde die Menge von Rebecca ermahnt.
„Wartet, meine Freunde! Das ist nur ein einzelner Hof, man besitzt dort bestimmt nicht genug Nahrung, um uns alle zu versorgen.“
Eine Mischung aus Enttäuschung und Wut machte sich breit. Seltsam, es schien fast, als würden sie der Äbtissin die Schuld für ihre zerstörte Hoffnung geben, dabei hatte sie nur die Wahrheit gesagt.
„Dies ist dennoch ein gutes Zeichen“, fuhr sie schnell fort, als sie den Umschwung der Emotionen bemerkte. „Denn nun kann die Stadt nicht mehr fern sein. Ich werde die Bauern fragen, wie weit es noch ist. Wir haben unser Ziel fast erreicht. Seid bitte nur noch ein wenig standhaft, dann haben wir es bald geschafft!“
Es war offensichtlich, dass niemand damit zufrieden war. Aber genauso offensichtlich war es, dass niemand ihr widersprechen konnte. Langsam setzte sich der Tross unter vielstimmigem Murren wieder in Bewegung.
Vermutlich hatten die Bauern sie gesehen, denn nur kurze Zeit später kam ihnen eine kleine Gruppe vom Hof aus entgegen. Als sie sich näherten, konnte man erkennen, dass es drei Personen waren und schließlich zeigte sich, dass es sich um einen untersetzten Mann mit wettergegerbtem Gesicht handelte, der offensichtlich seine besten Jahre schon hinter sich hatte und in Begleitung von zwei Bullen von Männern war, die ihn fast um Haupteslänge überragten. Aus der Selbstbewussten Haltung des Ersten ließ sich schließen, dass er wohl der Gutsherr war und seine bulligen Begleiter Knechte oder Söhne.
„Laurane und alle Heiligen mit dir“, begann die Äbtissin, als sich die ungleichen Gruppen schließlich gegenüber standen. „Mein Name ist Rebecca und ich bin – war – die Äbtissin des Lauranerklosters Eibenbach.“
Der Bauer neigte kurz den Kopf. „Angenehm“, brummelte er mit tiefer Stimme. Seinen Namen nannte er nicht.
„Wir sind Flüchtlinge“, fuhr Rebecca schließlich fort. „Das Kloster wurde gestern Nacht von Raggar angegriffen und zerstört.“
Nun zeigte sich tatsächlich etwas wie eine Regung im Gesicht des Mannes. Eine Augenbraue hob sich leicht und sein Blick wurde interessierter.
„Barbaren, hm? Das ist nicht gut.“
„Wir brauchen etwas zum Essen!“, rief plötzlich jemand, der nicht länger an sich halten konnte aus den hinteren Reihen.
„Ja, und einen Platz zum Schlafen!“, fügte ein Anderer hinzu. Zustimmendes Gemurmel entstand. Im Gesicht des Bauern war aber keine Reaktion zu erkennen.
„Ich habe nichts, das ich euch geben könnte“, gab er gelassen zurück. „Unsere Vorräte reichen gerade für uns und die Verkäufe auf dem Markt. Platz genug für euch alle habe ich auch nicht. Sucht euch etwas Anderes.“
„Wir erwarten auch nichts dergleichen von dir“, beeilte sich Rebecca zu sagen. In ihrem Gesicht war Ärger zu lesen, ob nun über das Verhalten ihrer eigenen Leute oder die Teilnahmslosigkeit des Bauern konnte Alef nicht sagen. „Wir möchten nur wissen, wie weit es noch bis Kyntos ist.“
„Gegen Abend dürftet ihr dort sein“, kam die Antwort.
Gegen seinen Willen musste Alef grinsen. Diese wortkarge Nüchternheit konnte schon an den Nerven zehren. Mutter Rebecca behielt aber die Fassung.
„Ich danke dir für diese Auskunft, mein Freund. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, du solltest auch bald Schutz in der Stadt suchen. Wer weiß, ob die Raggar nicht hierher ziehen?“
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern.
„Wir werden sehen“, murmelte er und wandte sich zum Gehen, seine stumm gebliebenen Begleiter schlossen sich ihm an.
„Den Segen der Heiligen mit dir!“, rief die Äbtissin noch hinterher. Ihr gemurmeltes „Du elender Narr..“ konnten wohl nur diejenigen, die sich ganz in ihrer Nähe befanden, hören.
Der so Gesegnete hob die flache Hand zum Dank, ohne sich die Mühe zu machen, dafür anzuhalten oder den Kopf zu wenden.
„Nun denn“, seufzte Rebecca schließlich. „Immerhin wissen wir jetzt sicher, dass wir heute Abend noch ankommen werden. Also los dann!“

Tatsächlich hatte der namenlose Bauer Recht behalten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschienen endlich, nach einer scharfen Biegung der großen Hauptstraße, die Stadtmauern Kyntos’ in der Ferne.
Unterwegs waren sie noch mehreren Anwohnern der umliegenden Höfe begegnet. Die Reaktionen waren sich meist recht ähnlich. Mann hatte nicht viel, konnte nicht helfen, war aber auch nicht bereit, seinen Besitz zurückzulassen und in die Stadt zu flüchten. Alef fragte sich, warum die Menschen hier so dumm waren. Was nützte ihr ganzer Besitz denn noch, wenn die Barbaren kämen und alles niederrissen oder an sie nähmen? Da war es doch wichtiger, sich selbst zu retten.
In ihrer Gruppe wurde die Stimmung nun merklich besser. Der Schritt beschleunigte sich, ungeduldig sehnte man sich den Mauern der Stadt entgegen, die Schutz und Wärme und noch vieles mehr versprachen.
Schon von hier konnte man erkennen, dass die Mauer ziemlich dick und mindestens drei oder vier Mann hoch war. Fasziniert, aber auch ein wenig verwirrt, betrachtete Alef sie. Gegen wen oder was musste sich die Stadt schützen? Wohl nicht gegen die Barbaren, denn die hatten, soweit er aus dem Geschichtsunterricht wusste, bislang noch nie Städte in dieser Gegend angegriffen. Nun, für sie gereichte es zum Vorteil und das war die Hauptsache.
Von den Gebäuden hinter der Mauer war aus ihrer Sicht nichts zu sehen, etwas weiter im Süden erkannte man aber die trutzigen Türme der Residenz des Barons, der von Kyntos aus über Smatis herrschte. Seltsam, er hatte einen Palast oder Ähnliches erwartet, aber diese Türme wirkten so, als gehörten sie zu einer Festung. Alef würde bald erfahren, dass er mit diesem Gedanken nicht Unrecht hatte.

Es benötigte noch einige Zeit, um schließlich vor die Tore der Stadt zu gelangen und die Dämmerung war schon weit fortgeschritten.
Trotz des wenigen Lichts wirkte die Größe der Stadtmauern imposant. Alef war sich zwar sicher, dass er zu wenig vom Kriegshandwerk verstand, um es ernsthaft beurteilen zu können, aber vermutlich würde diese Stadt einer Belagerung wesentlich länger standhalten als das Kloster. Vor allem das gigantische zweiflüglige Eichentor wirkte unerschütterlich und undurchdringlich. Und ärgerlicherweise war es schon die ganze Zeit geschlossen.
Seit sie in Sichtweite der Stadt gekommen waren, war ihnen keine Menschenseele begegnet, niemand hatte sie betreten oder verlassen und das war schon sehr merkwürdig. Allein die stark gedämpften Geräusche, die aus Kyntos schollen, zeigten ihnen, dass die Stadt nicht ausgestorben war.
Nachdem sie sich einige Zeit nach einer anderen Möglichkeit umgesehen hatte, bildete Rebecca mit Hilfe ihrer Hände ein Sprachrohr und rief nach oben:
„Hallo! Ist dort oben jemand?“
Eine ganze Zeit lang geschah nichts, dann tauchte ein Schemen in der rechten oberen Ecke des Tores auf und lehnte sich über die Mauer. In der Dunkelheit konnte man nicht viel erkennen, aber das Mondlicht spiegelte sich auf etwas Metallischem, vermutlich einem Helm.
„Wer ist da?“, rief eine missmutige Stimme herunter. „Was wollt ihr um diese Zeit?“
Verwirrt runzelte Alef die Stirn. Es war doch erst früher Abend.
„Mein Name ist Rebecca und ich möchte mit Baron Torwin von Smatis sprechen“, antworte Rebecca unbeirrt und fügte in strengem Ton hinzu: „Es ist äußerst wichtig.“
Erneut herrschte Stille für einen Moment bevor der Torwächter entgegnete:
„Was machen all diese Leute bei euch?“
„Es sind Bewohner des Klosters Eibenbach, sowie des gleichnamigen Dorfes. Würdest du uns nun bitte einlassen?“
Für einen Augenblick wunderte sich Alef, warum die Äbtissin nichts von ihrer Flucht und Heimatlosigkeit erwähnte, dann kam ihm die Idee, dass sie vielleicht erst mit dem Baron darüber sprechen wollte.
Von oben war ein verächtliches Schnauben zu hören.
„Ihr seid die Sprecherin dieses Haufens?“
„Für den Augenblick bin ich das“, antwortete Rebecca und ignoriertet die Beleidigung.
„Dann dürft ihr hereinkommen. Eure Begleiter aber müssen vor dem Tor warten, bis seine Hochwohlgeboren ihnen erlaubt, die Stadt zu betreten.“
Die Äbtissin zog scharf die Luft ein. Sie schien sich nur mühsam beherrschen zu können.
„Hör mich an, guter Mann“, sagte sie schließlich mit mühsam unterdrückter Ungeduld in der Stimme. „Wir haben eine lange Reise hinter uns und müssen uns ausruhen und etwas essen. Meine Begleiter werden die Stadt mit mir betreten und ich werde vor dem Herrn Baron für ihre Zuverlässigkeit bürgen. Jede Schuld, die meinen Leuten zukommt, wird meine Schuld sein, aber niemand wird länger vor den Toren warten müssen. Seid ihr einverstanden mit meinen Bedingungen?“ Mit jedem Wort schien die Mutter ein weiteres Stück Beherrschung zu verlieren und zum Schluss war sie so laut, dass ihre Frage kaum noch den Charakter einer solchen hatte.
„Nun wenn es euch so wichtig ist“, erklang es amüsiert von der Stadtwache, „möchte ich für euch eine Ausnahme machen. Wie könnte ich auch der edlen Frau Äbtissin einen Wunsch verwehren? Aber habt Acht, ich vergesse eure Bürgschaft nicht und ich habe ein Auge auf euch“, fügte er in ernstem Ton hinzu, dann war er verschwunden.
Seltsam, warum wollte man ihnen den Zugang nicht erlauben? Und wieso hatte der Mann Mutter Rebecca so respektlos behandelt? Alef warf einen Blick zu der Äbtissin herüber, die ungeduldig darauf wartete, dass die gewaltigen Flügel des Tores sich öffneten. Sie schien eindeutig verärgert, jedoch nicht überrascht zu sein. Doch der Junge kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn in diesem Augenblick erklang ein lautes Knarren und Rumpeln, als die Stadttore von einem guten Dutzend Männer nach außen geschoben wurden. Die Gruppe musste einige Schritte zurück machen, um nicht zur Seite gestoßen zu werden.
Als diese Arbeit getan war, trat einer der Männer vor und verbeugte sich tief, ein breites Grinsen in seinem Gesicht.
„Seid willkommen in Kyntos, edle Frau Äbtissin. Wenn ihr mir dann die Ehre erweisen würdet, mich zu seiner Hochwohlgeboren zu begleiten?“ Es war der Mann, der vorher vom Tor herab mit ihnen gesprochen hatte. Wie alle anderen Wächter trug er ein rotes Wams, das mit silbernen Fäden durchwoben war und dessen Brust ein silberner Wolf schmückte. Die Art, wie er die Bitte aussprach, verkehrte seine Worte ins Gegenteil, doch Rebecca zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Der Mann machte eine einladende Handbewegung und schritt dann voran. Mit stolzer, unbewegter Miene folgte Rebecca ihm und die ganze Truppe schloss sich an.
Kyntos war für Alef faszinierend und abstoßend zugleich. Es schien, als wäre jeder freie Raum innerhalb der trutzigen Mauern genutzt worden. Schmale, schmuddelige Häuser aus Holz reihten sich eng aneinander, als suchten sie die Wärme der Anderen. Die Gebäude besaßen zwei, manchmal gar drei Stockwerke und einige hatten zudem einen Vorbau, der, auf Stützpfeilern balanciert, sich bis über die Straße erstreckte. Diese bestand aus festem Lehm und bot gerade genug Platz für einen Ochsenkarren.
Dem Jungen wurde es klamm in der Brust und er sehnte sich die offene Weiter der Straße vor den Toren Kyntos´ zurück. Es wäre hier selbst am Tage dunkel wie in einem dichten Wald und ein Geruch von Fäulnis und Exkrementen, menschlichen wie tierischen, lag in der Luft. Ohne die Laterne, die der Wächter vor sich her schwenkte, wären sie in völliger Dunkelheit vorangeschritten.
Die wenigen Menschen, die ihnen auf der Straße entgegen kamen, machten rasch Platz und verbargen die Gesichter, doch Alef spürte regelrecht, wie sich die neugierigen Blicke in seinen Rücken bohrten.
Nach und nach wurde die Straße breiter und sauberer. Die Häuser ließen Platz für einige Gässchen und bisweilen sah man gar einige, deren Erdgeschoss aus Stein erbaut war. Alef war gewiss nicht der Einzige, der erleichtert aufatmete. Vermutlich näherten sie sich dem Stadtzentrum. Die düsteren Schenken, Spielhäuser, Verkaufsstände und anderen Einrichtungen, von denen der Zweck Einiger Alef rätselhaft war, wichen verschiedenen Handwerksstätten. Der Junge konnte Schmieden von Grob-, Huf-, Fein- und auch wenigen Goldschmieden erblicken, Zimmereien, Tischlereien, Schlossereien, ein jeder bot seine Kunst an. Das Viertel der Handwerker war gewaltig, wie auch Kyntos selbst von innen größer schien als von außen.
Da hier auch trotz der späten Stunde mehr Volk auf den Straßen war, sahen sie sich nun unverhohlener Neugierde gegenüber. Gespräche wurden unterbrochen, hinter vorgehaltener Hand getuschelt, einige Kinder – was machten sie um diese Zeit noch hier draußen? – zeigten mit dem Finger auf sie, bevor sie von ihren Müttern durch einen Klaps ermahnt wurden.
Was hatten diese Menschen nur? Natürlich war es ungewöhnlich, dass eine so große Gruppe durch ihre Stadt zog, aber man bemerkte es, machte vielleicht einen verwunderten Kommentar und wandte sich dann schulternzuckend wieder seiner Beschäftigung zu. Das zumindest hatte Alef erwartet. Von der gehäuften Aufmerksamkeit wurde ihm unwohl.
Plötzlich mündete die Straße, die mittlerweile aus Pflastersteinen bestand, in einen großen Platz. Einige Stände befanden sich gerade im letzten Stadium des Abbaus und Alef vermutete, dass hier noch vor wenigen Stunden ein Markt stattgefunden hatte. Er versuchte, sich die gewaltige Menschenmasse vorzustellen, die hier Platz hatte, doch er konnte es nicht. Der Lärm musste hier tagsüber ohrenbetäubend sein. Alef war erleichtert, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit in Kyntos angekommen waren.
Als sie die andere Seite des Platzes schließlich erreichten, standen sie plötzlich wieder vor einer Mauer. Einen Augenblick fragte sich Alef, ob sie schon die andere Seite der Stadt erreicht hatten, beschloss aber, dass dies nicht der Fall sein konnte. Sein Blick folgte den Laternen, die, zu beiden Seiten der Straße aufgestellt, gerade von zwei Nachtwächtern entzündet wurden. Einige Schritte weiter befand sich ein weiteres Tor, ebenso breit und stark wie das Erste. Ihr Führer hielt darauf zu. Er gab den Wachen dort ein Zeichen, woraufhin das große Tor geöffnet wurde. Alef staunte nicht schlecht, als er sah, dass sich innerhalb der Stadt Kyntos noch eine weitere Stadt befand.
Von vielen Laternen hell erleuchtet lagen weitläufige Steinhäuser mit großzügigen Gärten an einer breiten Straße. Der Unterschied zu den Außenbezirken hätte nicht größer sein können. Nur noch wenige Menschen sah man auf der Straße, doch die meisten Fenster zeigten den Schein von Kerzen und prasselndem Kaminfeuer. Das Viertel schien vergleichsweise klein und von dem Ring aus Mauerwerk vollständig umschlossen.
Das Zentrum dieser inneren Stadt bildete schließlich ein Gebäude, das in dieser wohnlichen Atmosphäre völlig deplaciert wirkte. Der Herrschersitz des Barons Torwin war eine finstere, kalte Trutzburg, deren Türme sich noch weit über die Stadtmauern erhoben. Sein Grundriss schien größer zu sein als der des Sterns, dem größten zusammenhängenden Gebäude, das Alef bis zu diesem Tag gesehen hatte. Ein drittes Mal standen sie vor einem großen Tor, doch offensichtlich erwartete man sie bereits, denn es war geöffnet und sie wurden wortlos hereingebeten.
Als sie dicht gedrängt in der kalten, nur spärlich erleuchteten Vorhalle standen, fühlte sich Alef seltsam ausgeliefert. Um sich abzulenken sah er sich um. Anders als in vielen hohen Häusern wurde hier kein Reichtum zur Schau gestellt. Die lange Säulenhalle war bis auf einen mit verschlungenen Mustern gewebten Teppich und einigen silbernen Kerzenleuchtern, die in regelmäßigen Abständen in die Wand eingelassen waren, gänzlich schmucklos. Für gewöhnlich versuchten Herrscher, ihre Besucher mit einer Demonstration ihres gewaltigen Reichtums einzuschüchtern, das wusste Alef von seinem Vater. Allerdings sah er auch ein, dass dies hier nicht vonnöten war.
Man ließ sie warten. Der Wächter, der sie hergeführt hatte, war plötzlich und wortlos wieder verschwunden und so standen unruhig in der Halle, von einem Fuß auf den anderen tretend. Dann schließlich öffnete sich eine doppelflüglige Tür am anderen Ende des Flures und ein kleiner Mann von unauffälliger Erscheinung, der aber dafür mit umso auffälligeren Kleidern und ausgesprochener Wichtigkeit im Blick ausgestattet war, trat ein.
„Man möge eintreten!“, rief er mit hoher, knabenhafter Stimme. „Das Essen steht bereit. Seid unsere Gäste!“
Jubel brach aus und die Menschen stürmten an dem kleinen Mann, der mit einer einladenden Bewegung, wohl auch, um nicht niedergetrampelt zu werden, zur Seite trat. Nur Rebecca lief nicht voran, sie ging beiseite, um noch einige Worte mit dem Mann zu wechseln. Alef, neugierig geworden, verlangsamte seinen Schritt und spitzte die Ohren.
„Ist der Baron zugegen?“, fragte die Äbtissin mit ernster Stimme.
„Seine Hochwohlgeboren wird euch nach dem Essen empfangen“, kam als Antwort. „Ihr solltet Euch zunächst stärken.“
Rebecca schien noch etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber wohl doch dagegen und ging weiter, so dass auch Alef wieder eine normale Gangart annahm. Er durchquerte gerade mit den letzten ihrer Gruppe den Eingang, als sich eine Hand sanft auf seiner Schulter niederließ.
„Du solltest nicht so neugierig sein, mein kleiner Freund.“
Erschrocken blickte Alef auf, doch in Rebeccas Gesicht lag ein schelmisches Grinsen. „Und wenn, dann sei es zumindest nicht so auffällig.“
Der Speisesaal war riesig. Alef vermutete, dass der Sinn des Raumes eigentlich ein anderer war und die langen Tische vor kurzem erst herein getragen worden waren, doch das war gleich. Für sie war es wie ein Bankett. Yasemina hatte einen Platz für ihn frei gehalten und winkte ihn nun herrisch hinüber.
„Wo warst du denn?“, fragte sie beleidigt. Anscheinend war sie der Ansicht, dass Alef nicht von ihrer Seite zu weichen hatte. Der Angeklagte zeigte eine um Entschuldigung bittende Miene und überlegte sich gerade, was er antworten sollte, als Rebecca laut mit dem Knauf ihres Messers auf den Tisch klopfte. Sofort kehrte Ruhe ein und alle Aufmerksamkeit widmete sich der Äbtissin. Einige der Ungeduldigen, die sich schon an den Speisen bedient hatten, legten einen beschämten Blick auf.
„Bevor wir mit dem Essen beginnen“, ein mahnender Blick lag in Rebeccas umherwandernden Augen, „mögen wir kurz innehalten und der heiligen Laurane für unsere Rettung und unser Leben danken.“
Pflichtschuldig breitete sich eine schwere Stille aus. Alef, der den Blick gesenkt hielt, spürte die Unruhe im Saal und konnte sie verstehen. Der Duft der Speisen ließ auch ihm den Speichel im Mund fließen und seinen Magen schmerzhaft verkrampfen. Doch Rebecca quälte sie nicht lange. Nach einigen drückenden Momenten nickte sie und ließ sich in ihrem Stuhl nieder.
Man hätte meinen können, es wären die Raggar, die hier zu Tisch saßen. Im Angesicht des bohrenden Hungers war jede Etikette fehl am Platze. Alef wurde bewusst, dass ihr Benehmen einen bleibenden Eindruck bei ihren Gastgebern hinterlassen würde und ein Blick in Rebeccas verärgert gerunzeltes Gesicht verriet ihm, dass sie dasselbe dachte. Aber wer konnte es ihnen schon verdenken? Sicherlich würde der Baron es verstehen.
Interessiert bemerkte Alef, dass der Stirnplatz der Tafel frei war. Als Äbtissin hatte Rebecca unter ihnen allen den höchsten Rang, sie hatte die Gruppe angeführt und für sie gesprochen. Warum also saß sie zwischen ihnen und nicht auf dem ersten Platz wie es ihr zugestanden hätte? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, war sich zugleich aber sicher, dass sie ein bestimmtes Ziel damit verfolgte.
Das Mahl war nicht königlich, dafür war es aber reichlich. Es gab frisches Brot, Butter, Wurst, Käse und Braten vom Schwein. Dazu wurde verdünntes Bier für die Dorfbewohner und Wasser für die Ordensmitglieder, denen der Genuss von berauschenden Mitteln nicht gestattet war, gereicht. Erst als auch der Letzte sich bis zur Übelkeit voll gestopft hatte, lehnte man sich zurück und begann zu reden. Die Themen waren natürlich überall die gleichen: Wie würde es weitergehen? Was war mit ihren Anverwandten? Beliebt waren auch wenig zurückhaltende Flüche und Verwünschungen gegen die Barbaren. Alef sprach nicht, er nickte zwar zu Yaseminas nicht abebbendem Redefluss, jedoch ohne ihr zuzuhören.
Nach einiger Zeit tauchte der kleine Mann, vermutlich war er der Haushofmeister oder etwas in der Art, wieder auf und machte durch vernehmliches Hüsteln auf sich aufmerksam.
„Wir hoffen, es hat gemundet und entschuldigen uns, dass aufgrund der mangelnden Zeit das Essen so einfach erscheinen musste“, sagte er, als schließlich Ruhe eingekehrt war. Zustimmende Rufe ertönten und man ließ den Gastgeber mit Krügen und Bechern hochleben, was der Mann mit einem höflichen Lächeln zur Kenntnis nahm. „Noch mehr müssen wir uns für die Qualität der Schlafstätten entschuldigen. Da wir auf einen so…zahlreichen Besuch nicht vorbereitet sind, bleibt uns leider nichts Anderes übrig, als auf die Ställe zu verweisen. Es sind jedoch genug Decken herbeigeschafft worden und bei diesem milden Klima wird die Nacht hoffentlich erträglich werden.“
Er brach ab und blickte erwartungsvoll in die Runde. Für den Moment war Alef völlig verwirrt ob dieses Verhaltens. Erst später kam ihm die Idee, dass der Mann vermutlich darauf gewartet hatte, ob sich jemand ereiferte.
„Gut“, fuhr er schließlich fort, „ich werde dann die Führung zu den Ställen übernehmen. Falls es noch Wünsche, gleich welcher Art, geben sollte, gebe man diese an mich oder einen meiner Gefolgsleute weiter. Mein Name ist übrigens Adolfo Adriano Sorin von Blautann.“ Eine tiefe Verbeugung folgte diesen Worten. „Wenn man mir also folgen möge…“
Adolfo schritt voran und verließ den Saal. Die Gruppe schloss sich ihm in einer langen Reihe an, wie in einer abstrusen Prozession. Alef stand nicht mit den Anderen auf.
„Was machst du?“, fragte Yasemina fröhlich. „Komm, du musst doch auch erschöpft sein!“
Doch der Junge schüttelte den Kopf.
„Ich muss etwas erledigen…du weißt schon.“
Das kleine Mädchen nickte langsam, überlegte aber anscheinend dabei noch, was er wohl meinen konnte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.
„Ach, du musst pissen, sag das doch!“, rief sie ungebührlich laut mit einem schelmischen Grinsen. Alef verdrehte peinlich berührt die Augen. „Dann komm ich eben mit“, fügte Yasemina hinzu, „und dann gehen wir zusammen zu den Ställen.“
„Nein“, antwortete Alef langsam, „ich wäre dabei lieber allein.“
Als er sah, wie sich Yaseminas Unterlippe in eine gefährlich schmollende Position bewegte, beeilte sich Alef, zu verschwinden. In Gedanken leistete er Abbitte für die Notlüge, aber vermutlich hätte er dem Mädchen in hundert Jahren nicht erklären können, dass er schlicht allein sein wollte, nichts weiter. Die ganze Zeit mit so vielen Menschen am selben Ort sein zu müssen, hatte ihn sehr angestrengt und nun, da sich die Gelegenheit bot, wollte er zumindest für einige Augenblicke Ruhe und Frieden finden.
Wahllos schlüpfte Alef durch eine Tür und fand sich in einem nur spärlich durch Fackeln erhellten Wehrgang wieder. Es war kalt, da die Zugluft durch die Schießscharten ungehindert eindrang. Niemand war zu sehen. Weder seinen Gedanken noch seinen Schritten Aufmerksamkeit schenkend schlenderte der Junge dahin, wie er es bis vor wenigen Tagen noch jeden Morgen getan hatte. Es tat gut, brachte etwas Gewohnheit zurück in eine zerschlissene Welt.
Die Flure der Burg waren eng und wirkten auf den ersten Blick verwirrend und ziellos, aber mit der Zeit erkannte Alef eine gewisse Symmetrie – ineinander verschachtelte Kreise, immer mit dem gleichen Gangmuster verbunden – , die sich mit jedem Schritt verdeutlichte. Bald konnte der Junge bereits sagen, was sich hinter der nächsten Biegung befand, bevor er es zu Gesicht bekam. Es war eine recht ausgeklügelte Taktik. Jemand der das System kannte, wusste leicht, wie er schnell von einem Ort zum anderen kam, während Fremde, oder auch Feinde, sich heillos verirren mussten. Die wenigen Male, die er anderen Menschen – meist Soldaten – begegnete, schenkte man ihm keine Aufmerksamkeit. Vermutlich hielt man ihn für einen Küchenjungen oder sonstigen Bediensteten.
Dann, plötzlich, hielt er inne. Eine Stimme erklang aus einem angrenzenden Raum. Es war eine Stimme, die er kannte, sie gehörte Rebecca. Unwillkürlich blieb Alef stehen. Er sah Licht unter einer Tür zur Rechten. Für einen Moment kämpfte sein Ehrgefühl mit der brennenden Neugier, doch Letztere obsiegte schnell. Wie selbstverständlich nahm der junge Novize neben der Tür Stellung, als wäre er ein Diener, der darauf wartete, dass sein Herr ihn rufen ließ, und spitzte die Ohren. Auch wenn die Worte nur gedämpft herausdrangen, konnte er mit der Zeit dem Gespräch recht gut folgen.
„Ihr könnt darüber ja denken, wie Ihr wollt“, sagte Rebecca gerade. Ihr Tonfall war nur mühsam beherrscht. „Das ändert allerdings nichts an den Tatsachen.“
Die Antwort klang wie das Niesen eines Ochsen. Alef vermutete, dass es ein Lachen darstellen sollte. Dann sprach eine Stimme und der Lauscher war überzeugt, dass ein Ochse genauso klingen würde, wenn er sprechen könnte: tief, langsam, aggressiv, drohend, herrisch.
„Papperlapapp. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, etwas zu tun.“ Das konnte nur die Stimme des Herren dieser Burg sein. Es passte einfach zu gut.
„Nur eine Tagesreise entfernt lagert eine Armee von Raggar und Ihr seht nicht die Notwendigkeit, etwas zu tun?“ Rebeccas Entsetzen war deutlich ihrer Stimmte zu entnehmen.
„Lasst diese Primitiven mal meine Sorge sein, meine Gute“, antwortete der Baron. „Viel wichtiger ist: was gedenkt Ihr wegen Eurer Leute zu tun? Mann solle mich nicht unterstellen, dass ich kein guter Gastgeber sein, aber…“
Er ließ den Satz betont unvollendet.
„Ich werde für ‚meine Leute’, wie ihr sie nennt, schon eine Unterkunft finden, macht euch darum keine Sorgen. Aber wir müssen…“
Was Rebecca sagen wollte, blieb ungesagt, denn Torwin fiel ihr ins Wort.
„Ja ja, das sehen wir noch morgen. Ihr seid erschöpft und erregt, meine Gute. Ich kann das nachvollziehen, aber für unser Gespräch ist es nicht sehr förderlich. Ruht Euch erst etwas aus.“ Es klang eindeutig wie ein Befehl und obwohl der Baron nicht ihr Herr war, wehrte sich Rebecca überraschenderweise nicht.
Dieses Gespräch ist noch nicht beendet!“, rief sie lediglich, nicht mehr in der Lage, ihren Zorn zu unterdrücken.
„Das sagte ich doch“, war die gelangweilte Antwort. „Wartet einen Augenblick, dann rufe ich einen Diener, der Euch zu Eurem Zimmer führt, werte Mutter.“
Alef hatte noch nie gehört, dass jemand diesen Titel mit solch einer Abscheu aussprach.
„Danke, ich ziehe es vor, bei ‚meinen Leuten’ zu schlafen, Euer Hochwohlgeboren.“ Die Stimme klang plötzlich viel näher und der lauschende Novize erschrak, als ihm viel zu spät in den Sinn kam, dass er schon längst hätte verschwinden sollen. Doch bevor er noch handeln konnte, flog die Tür bereits mit einem Krachen auf und wie ein wahr gewordener Alptraum stürmte die Äbtissin um die Ecke. Dort blieb sie so plötzlich und ruckartig stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Der erstaunte Gesichtsausdruck beim Anblick des kleinen Novizen, der verschämt grinste, wandelte sich schnell in Missmut. Alef meinte zwar, er würde den Anflug eines unterdrückten Lächelns erkennen, war sich aber nicht sicher, ob dabei nur die Hoffnung für ihn sprach. Ehe er auch nur einen Ton über die Lippen bringen konnte, hatte Rebecca ihn am Arm gepackt und zog ihn in rasantem Tempo hinter sich her.
„Mutter…es tut mir leid“, keuchte Alef, erhielt aber keine Antwort. Erst als sie wieder tief im Ganglabyrinth eingetaucht waren, verlangsamte sich ihr Schritt und schließlich blieb sie stehen.
„Also?“, fragte sie in tadelndem Ton. „Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?“
Beschämt blickte der Angeklagte zu Boden. Er antwortete nicht, da er ahnte, dass Rebecca ihm so oder so nicht zuhören würde.
„Und ich habe es dir vorhin noch gesagt“, fuhr diese tatsächlich nach nur einem kurzen Moment fort. „Du sollst dich nicht so leicht erwischen lassen!“
Verwirrt sah Alef auf und erkannte das Grinsen, das nun unverhohlen auf Rebeccas Gesicht lag. Doch schon einen Augenblick später war es wieder verschwunden und machte Sorge Platz.
„Nun mal im Ernst, mein Junge, du solltest ein wenig vorsichtiger sein. Wir befinden uns hier nicht gerade unter Freunden.“
Alef nutzte die Gelegenheit, um von seinem eigenen Vergehen abzulenken.
„Warum hassen uns die Leute hier?“, fragte er schnell. „Und warum behandeln sie Euch so respektlos?“
Rebecca seufzte schwer und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
„Komm, lass uns ein paar Schritte gehen“, sagte sie schließlich.
So geschah es auch. Einige Zeit liefen sie schweigend nebeneinander her. Alef stellte keine weiteren Fragen, sondern wartete, bis die Äbtissin von sich aus sprach.
„Was weißt du über den großen Krieg?“, fragte sie dann.
„Nur das, was uns beigebracht wurde“, antwortete der Junge verwirrt.
„Erzähl mir, was du weißt!“
Alef runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn und holte dann tief Luft.
„Im Jahre 372 Laurane starb der einzige Sohn des Königs Raffael von Sareis, Kronprinz Rowan, bei einem Jagdausflug unter mysteriösen Umständen. Heute ist nicht mehr viel darüber bekannt, aber vermutlich traf ihn ein verirrter Pfeil. König Raffael vermutete einen Anschlag des maza’alschen Kaisers Borjik der Dritte, dessen Botschafter zu dieser Zeit Gäste am Sommerpalast des Königs, der heutigen Burg Khoros in Thenaba waren und auch an der Jagd teilnahmen. Borjik stritt jegliche Schuld ab, doch der Vorfall entzündete einen Konflikt, der schließlich im Krieg mündete. Da Sareis als Aggressor galt, hatte Kaiser Borjik keine Schwierigkeiten, Bündnisse mit Rah’Aleb und dem Burdenreich zu schließen, wodurch Sareis von Feinden mehr oder weniger umzingelt war. Die Raggar mischten sich natürlich, wie es ihre Art war, nicht ein.“ Erschöpft machte Alef eine Pause. Der Anblick der respektvollen Anerkennung in Rebeccas Augen ließ ihn jedoch sofort wieder ansetzen.
„Es war von Anfang an eindeutig, dass Raffael diesen Krieg nicht gewinnen konnte, dennoch dauerte er noch fast zehn Jahre an. Schließlich fiel König Raffael 32 Mhril; 381 Laurane in der Schlacht von Kaltenborn und Sareis stand ohne Herrscher und ohne Thronfolger da. Raffaels Gemahlin, Königin Agescha, war zu schwach, um allein die Herrschaft zu halten und Sareis stürzte in einen Bürgerkrieg. Rah’Aleb und das Burdenreich sahen ihre Bündnispflicht als erfüllt an und zogen sich aus dem Krieg zurück. Kaiser Borjik beschloss, abzuwarten, bis sich Sareis von innen heraus zerstörte. Der fürchterliche Bürgerkrieg dauerte noch über zwölf Jahre an und am Ende war Sareis in zahllose Kleinstaaten zerfallen. Glücklicherweise gab es zu dieser Zeit Unruhen in den Maza’alschen Eisenminen und der gealterte Kaiser Borjik besaß nicht mehr die Mittel, einen Eroberungskrieg gegen die sareischen Kleinstaaten zu führen. So entstand schließlich ein wackeliger Frieden, der sich mit der Zeit festigte. Dies war der letzte große Krieg, den die Westlande gesehen haben.“
Rebecca nickte voller Stolz. Alef spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg und blickte zur Seite.
„Und was ist seither in den sareischen Kleinstaaten geschehen?“, fragte die Äbtissin weiter.
„Nicht viel Bewegendes“, überlegte der Junge. Vor etwa hundert Jahren lehnte sich das Bürgertum von Honotia gegen seine Herrscher auf und erklärte das Land zur Republik. Ach und natürlich hat sich das Kloster Eibenbach 411 Laurane für autonom erklärt- Die Baronie Kyntos konnte nicht viel dagegen unternehmen, da der Orden Lauranes sich wie jeder andere Heiligenordern über den Staat erheben kann. Oh…ich verstehe…“
Tatsächlich begann es, Alef zu dämmern. Gleichzeitig entsetzte ihn die Vorstellung aber auch.
„Noch immer zürnen der Herrscher und das Volk Kyntos’ den Lauranern für diese Tat? Wie können sie das tun? Es ist doch so furchtbar lange her.“
Rebecca nickte ernst.
„Manchmal kann verletzter Stolz auch furchtbar lange schmerzen“, gab sie zu bedenken. „Und wie ist nun unsere Position in diesem Land?“ Ein aufmunterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, doch ihre Augen glitzerten traurig.
„Natürlich sind die Menschen hier nicht gut auf uns zu sprechen“, antwortete er schnell, doch dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. „Da wir in keiner Weise zu Kyntos gehören, sind wir Flüchtlinge in einem fremden Land.“ Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Und somit rechtlos.“
Schmerz und Staunen bildeten ein ungewöhnliches Paar im Blick der alten Frau, als sie auf den kleinen Jungen herabsah.
„Es ist unfassbar, welche Zusammenhänge du in deinem Alter schon erkennst“, sagte sie leise. „Woher weißt du so viel?“
„Ich habe ein paar Bücher gelesen“, murmelte der Angesprochene abwesend. Die Folgen dieses Gedankengangs waren schwerwiegend. Baron Torwin konnte mit ihnen vorgehen, wie es ihm beliebte, solange sie sich ihm nicht unterwarfen. Und selbst wenn sie dies tun wollten, musste der Herrscher ihr Unterwerfungsgesuch erst einmal annehmen. Und obwohl ihm sein adliger Titel wenig bedeutete, missfiel es ihm als Sohn eines Grafen außerordentlich, sich einem Baron zu Füßen zu werfen. Mehr denn je wünschte er sich nach Hause zu seiner Familie. Doch dieses seltsame Gefühl der Verantwortung gegenüber den Leidenden, nun auch gegenüber Yasemina, der Wunsch, seine Äbtissin stolz zu machen, das hielt ihn hier. Er wusste, dass die meisten Anderen nirgends hin konnten und auch wenn es ihnen vermutlich gleichgültig war, wollte er bei ihnen bleiben.
Mit einem Mal blieb Alef stehen und sah auf. Er wusste nicht, wie lange Rebecca ihn bereits beobachtete, aber ihr amüsierter Blick verriet, dass er einige Zeit in Gedanken gewesen sein musste.
„Ich habe einen Vorschlag für dich, mein Junge“, sagte sie langsam, nachdenklich. „Einen klugen Kopf wie dich kann ich an meiner Seite gebrauchen. Möchtest du als mein Gehilfe mich mit Rat und Tat unterstützen?“
Erstaunt blickte Alef die ältere Frau an.
„Euer Gehilfe?“, fragte er fassungslos. „Aber wie könnte ich Euch denn nützen?“
„Ich möchte, dass du beobachtest. Und zuhörst. Und später sollst du mir sagen, was du denkst, mehr nicht. Was hältst du davon?“
Alef runzelte die Stirn. Dann stahl sich ein Grinsen in sein Gesicht.
„Ihr meinte, einem Kind gegenüber sind die Leute weniger misstrauisch, nicht wahr?“
Unwillkürlich lachte Rebecca laut auf.
„Ich sehe schon, dass ich es gut mit dir getroffen habe. Willigst du ein?“
Kein Zweifel lag in Alefs Antwort.
„Ihr wisst doch, ich kann Euch nichts abschlagen, Mutter.“
Ein Tätscheln auf seine Schultern besiegelte die Abmachung.
„Ich habe nichts anderes erwartet, mein Sohn. Lass uns zurückgehen. Wo sind wir eigentlich?“
Rebecca war stehen geblieben und sah sich nun verwirrt um. Erneut musste Alef grinsen und es tat gut.
„Erlaubt, dass ich Euch führe, Mutter“, sagte er galant und die Angesprochene willigte mit Freuden ein.
Alef war es zufrieden. Er hatte eine Aufgabe, eine weitere, und er war stolz darauf. Dass Rebecca, die Äbtissin ihres Klosters, auf seinen Rat Wert legte, war für ihn die größte Ehre, die er sich vorstellen konnte.
Doch mit einem Mal fiel ihn Entsetzen an, als er daran dachte, was ihn an diesem Abend noch erwarten mochte. Er hoffte inständig, dass Yasemina bereits schlafen möge, machte sich aber keine Illusionen. Alef seufzte lang und schwer. Er würde sich auf ein anhaltendes Donnerwetter einstellen müssen.
Plötzlich glich der Gang dem Weg zur Schlachtbank.
 
Mir kommt die Geschichte überhaupt nicht wie ein Jugendroman vor, dafür sind die Erlebnisse der Charaktere viel zu ernst. Besonders Khalid und Ludger wirken vom Verhalten her nicht so jung, wie sie sind. Alef wirkt als einziger kindlich, da merkt man schon einen deutlichen Unterschied zu den mehr oder weniger Jugendlichen.

Ich finds gut, dass du einen längeren Abschnitt aus einer einzigen Perspektive erzählst. Gefällt mir besser als so häufige Sprünge.
 
Hallo,

ich finde, dass du deinen Charakteren keinen Jugendlichen Charakter gegeben hast und die Gefahr eines Jugendromanes nicht allzu groß ist. Wobei ich Jugendroman auch nicht ausschließen würde - wäre sicher auch für diese Altersgruppe ein schöner Roman.

Allein Alef wirkt weder Kind noch erwachsen - ist ne nette Mischung :)

lg, Gandal
 
Update-Info: Nur damit ihr nicht glaubt, ich wär tot oder faul, ich arbeite schon am Update (das nächste wird länger), aber ich ziehe auch nebenher um und renoviere und kann momentan nicht an den Rechner, auf dem ich mein Buch gespeichert hab, ergo kann ich auch nicht abtippen. Aber Geduld, dieses Jahr kommt auf jeden Fall noch was :)
 
So, Umzug ist soweit erledigt, hab alles abgeschrieben und hier kommt das versprochene, etwas längere Haha (Hurra! am heiligen Abend) - Update. Viel Spaß und frohe Weihnachten :D
 
Super :top: Danke für das tolle Weihnachtsup!


Die Kinder in der Geschichte sind nicht wirklich kindlich. In Bezug auf Jugendroman kann ich -G4nd4lf- Einschätzung nur bestätigen.
Wie bei einem Märchen werden in dieser Geschichte Jugendliche und Erwachsene angesprochen. Da steckt sehr viel drinn, so dass sich jeder was für ihn drinn sieht. Und der längere Abschnitt aus Alefs Sicht ist toll.

Gruß + genieß die Feiertage
Othin
 
Interessant, aber ein bisschen zuviel Geschichtsstunde für meinen Geschmack.
Man kann sich das richtig gut vorstellen, wie Yasemina ihn unterm Pantoffel hat :D

Ich finds gut, dass der ganze Abschnitt aus derselben Perspektive erzählt wird. Gefällt mir so besser als wenn das ständig wechselt.

Frohe Weihnachten :WD

Tippfehler:

Da Sareis als Aggressor galte,m

Verantwortung gegenüber de Leidenden - den
 
Nun ja, ob man diese Geschichtsstunden mag oder nicht ist halt immer Geschmackssache. Ich finde halt, dass die ner Geschichte mehr Tiefe verleihen.

Fehler sind korrigert, danke :)

Werd wohl Alef ein wenig älter machen. Es wird ja deutlich, dass er als besonders intellent wirken soll, aber mittlerweile ist es zu viel für sein Alter^^
 
Mini-Update, unvollständiger Abschnitt, keine Zeit mehr, muss zur Uni

12

10 Minerva, 1084 Laurane; nachts

Er schwebte im leeren Raum. Vor ihm, hinter ihm, um ihn herum die gigantische Gestalt, das gewaltige Abbild seines Vaters. Er konnte die Augen nicht heben, war er doch nur ein Staubkorn, wenn nicht gar geringer, gegenüber dieser Monstrosität, dennoch wusste er über jeden Zweifel erhaben, dass es sein Vater und niemand anderes war. Er wollte fort, doch die Aura dieser Gestalt hielt ihn fest, so dass er in immer gleichen Kreisen um sie herum schwebte.
Es war die alte, immer gleiche Angst, die Khalid befiel.
„Lass mich“, flüsterte er, doch seine Stimme war zu schwach, um gehört zu werden. „Lass mich in Frieden. Die Zeiten haben sich geändert, Vater. Ich bin kein kleiner Junge mehr.“
Doch er glaubte selbst nicht daran. Die Riesenhaftigkeit des Abbilds ließen jedes Vertrauen in seine Stärke verschwinden.
Plötzlich erklang Donnergrollen, wie von einem heraufziehenden Gewitter, das immer lauter wurde. Dann erst registrierte Khalid, dass es sein Vater war, der lachte. Er lachte und lachte, laut und schallend und die Häme troff aus seinem Lachen wie Blut aus einer Wunde. Es ließ Khalids Ohren schmerzen, seinen Kopf dröhnen, drang in sein Innerstes und wollte ihn zerreißen.
Dann war es fort. Alles war fort. Khalid befand sich im absoluten, letzten Nichts. Nicht einmal Finsternis war um ihn, selbst sie war fort. Das Nicht-Sein war so präsent, dass es fast spürbar, ja sogar zu schmecken war. Er wusste, er war allein. Und er wusste, dass er über Äonen allein bleiben würde, hier in diesem finalen Nicht-Sein.
Was das nun Nichts?
Oder war es Alles?
Machte das überhaupt einen Unterschied?
In seinen Gedanken hörte er von ferne noch das Lachen seines Vaters, das langsam abklang.

Schwer atmend setzte sich Khalid auf, eine Hand an die schmerzende Schläfe gepresst. Wie sehr beneidete er Menschen, die sich nach dem Aufwachen nicht an ihre Träume erinnern konnten. Ihm stand jedes Einzelne Bild, jede Emotion noch deutlich vor Augen.
Seltsam, welche Ruhe er in dieser vollständigen Einsamkeit empfunden hatte…
Khalid schüttelte den Kopf. Nicht darüber nachdenken, es ist Unsinn, es sind nur dumme Träume, mit denen mein Geist sich selbst martert.
Er sah sich um. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, würde dies aber vermutlich bald in Erwägung ziehen. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken und so erhob sich der Halbraggar, um die schmerzenden Muskeln zu strecken. Hilda und Ludger schliefen noch selig und Khalid nutzte den Moment, um den friedlichen Ausdruck im Gesicht seines Bruders zu betrachten. Es wirkte fast, als würde er lächeln und dieser Anblick tat gut.
Weißdorn hob verschlafen den Kopf, als Khalid an ihm vorbeiging und ließ ihn dann mangels Interesse wieder auf die Pfoten fallen, während der früh Aufgestandene ein Stück weit abseits ging, um ein Geschäft zu erledigen.
Der vergangene Tag war fürchterlich gewesen. In fast vollständiger Schweigsamkeit waren sie vorangeschritten. Einige Male hatte Khalid noch versucht, seinen Bruder anzusprechen, hatte es aber nach etlichen einsilbigen oder völlig fehlenden Antworten gelassen. Hilda gehörte ohnehin nicht zu der gesprächigsten Sorte Mensch und so wurde es ein grimmiger, stiller Marsch, während die Anspannung sie umgab wie eine Gewitterwolke, die kurz davor stand, sich zu entladen.
Seine beiden Begleiter hatten sich dabei immer wieder solch bitterböse Blicke zugeworfen, dass Khalid nicht sicher war, ob es ein Fluch oder ein Segen sei, dass die Beiden sich nicht untereinander verständigen konnten, ohne ihn um Hilfe zu bitten.
Schwer seufzend trat der Halbraggar den Rückweg zu ihrem Lager an. Er hatte gedacht, die Reise mit Hilda wäre anstrengend gewesen, aber dies übertraf Alles. Er fühlte sich fast schuldig, dass er eine solche Enttäuschung empfand. Natürlich hatte Ludger viel Schmerzvolles durchgemacht, aber daran trugen sie keine Schuld. Im Gegenteil, sie waren alle gemeinsam auf dem Weg, den Schuldigen in dieser Sache zu stellen und dabei hatten sie alle ihr eigenes Motiv. Davon abgesehen war dies einfach nicht der Bruder, den er nun schon so viele Jahre kannte. Nicht einmal zu den Zeiten vor ihrem Ausbruch von Zuhause war er so gewesen. In sich gekehrt, ja, das schon, aber immer hatte er sich ihm, Khalid, anvertraut.
Dieser Mensch war nicht sein Bruder und sein abweisendes Verhalten schmerzte mehr als eine körperliche Wunde.
Sie wussten nicht recht, wo sie waren, aber das Tyr leitete sie und Khalid wusste, dass der Weg richtig war. Die Gegend war recht einsames Acker- und Weideland, das Getreide stand zu dieser Jahreszeit schon so dicht und golden, als wünsche es sich nichts sehnlicher als abgeerntet zu werden. Die vergangene Nacht hatten sie im weichen Gras Schutz einer kleinen Anhöhe mitten im Nirgendwo verbracht. Weit und breit waren keine Ansiedlungen oder Straßen zu sehen. Weder Daved noch das Tyr schienen sich Gedanken über die Art des Weges zu machen und so waren sie teilweise durch dichtes Unterholz oder auch quer über eben jene erwähnten Felder geschritten.
Zurückgekehrt fand der Halbraggar Hilda sich gerade aufrichtend mit Erstaunen im Blick.
„Du bist früh auf den Beinen“, murmelte sie, diese Tatsache augenscheinlich missbilligend. Khalid lächelte stumm in sich hinein. Die Raggar war ein Kind des Waldes und Zeiten zum Aufstehen gewohnt, die selbst dem ehemaligen Novizen zu früh waren. Dass er nun schon vor ihr wach war, verletzte wohl ihren Stolz. Dieser kleine Sieg tat ihm unangemessen wohl.
„Nun, ich denke, wir haben es eilig oder etwa nicht?“, gab er zurück, um noch ein wenig den Finger in die Wunde zu bohren. Doch Hilda hatte sich längst wieder gefangen und der übliche Hochmut lag in ihrem Blick.
Sie sagte nichts auf Khalids Seitenhieb, wie um zu zeigen, dass sie über derlei Späße stand, sondern warf stattdessen einen Blick auf den noch schlafenden Ludger und bemerkte: „Wir sollten uns über ihn unterhalten.“
Verstimmt verzog der Halbraggar die Mundwinkel. Zum einen mochte er nicht ausgerechnet mit Hilda über seinen Bruder reden, zum anderen missfiel ihm ihr Ton.
Er hat einen Namen“, antwortete Khalid.
„Das weiß ich auch“, gab die Raggar zurück. Ob sie nicht verstanden hatte, worauf ihr Gegenüber hinaus wollte oder dies schlicht ignorierte, war nicht zu erkennen. „Du solltest dir überlegen, was wir mit ihm machen.“
„Mit ihm machen?“ Khalid war verwirrt. „Wovon sprichst du?“
„Nun, es ist doch offensichtlich, dass er uns nur aufhält. Er scheint in seinem Leiden ja kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Außerdem möchte er offensichtlich nicht mit uns kommen. Wir sollten ihn irgendwo sicher unterbringen und bei unserer Rückkehr kannst du ihn wieder mitnehmen.“
Khalid ließ ein wütendes Schnauben vernehmen.
„Er begleitet uns“, sagte er in einem Ton, der eigentlich keinen Widerspruch dulden sollte. Nur dachte Hilda nicht daran, sich dem zu unterwerfen.
„Mit welcher Begründung?“, hakte sie nach.
„Er ist mein Bruder“, antwortete der Halbraggar und machte klar, für wie offensichtlich er diesen Grund hielt. „Ich bin lange von ihm getrennt gewesen und für ihn war es genauso schwer wie für mich. Du kannst das nicht verstehen. Ludger und ich sind wie zwei Teile eines Ganzen. Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, uns immer gegenseitig beschützt. Wir vertrauen uns mehr als…“ Er stockte. „…alles andere“, schloss er leise – nachdenklich.
„Ist das so?“, fragte Hilda, doch in ihrer Stimme war keine Spur von Hohn oder Schadenfreude zu finden. Forschend blickte sie Khalid an, der ihrem Blick nicht lange standhalten konnte. „Es war einmal so, nicht wahr?“, fuhr sie fort. „Und du denkst, dass du ihm noch immer so vertraust wie früher, aber du bist dir nicht sicher, ob das bei ihm auch der Fall ist.“
Schockiert setzte sich Khalid ins Gras. Was ihn entsetzte war nicht das, was Hilda sagte, nicht einmal ihre Ernsthaftigkeit, sondern vielmehr, dass sie eine Wahrheit aussprach, die er sich bisher verleugnet hatte. Er antwortete nicht und so fuhr die Raggar nach kurzer Zeit fort:
„Du sagst, ich verstehe dich nicht.“ Ihr Ton war tatsächlich eine Spur mitfühlend. „Und vermutlich kann ich das auch nicht, weil ich nie Geschwister besaß. Aber Weißdorn und ich haben ein Band, das dem euren ähnlich ist und jeder Moment, in dem ich nicht bei ihm bin, schmerzt mich. Doch du musst herausfinden, ob dieses Band zwischen dir und Ludger noch besteht. Denn wenn das nicht der Fall ist, kann es sein, dass er dich im entscheidenden Moment im Stich lässt und wenn du dich dann auf ihn verlässt, bist du verloren.“
Einen Augenblick herrschte Stille, dann erhob sich Hilda und ließ ihn allein.

Ihr Marsch war an Tristesse nicht zu überbieten. Normalerweise wären Khalid die Ruhe und die Zeit zum Nachdenken willkommen gewesen, doch heute wäre es ihm lieber, wenn er jeden Gedanken hätte vertreiben können. Allerdings gab die monotone Landschaft dazu kaum Gelegenheit.
Den ganzen Vormittag über warf Hilda ihm vielsagende Blicke zu, doch Khalid sah sich nicht in der Lage, das Gespräch mit seinem Bruder, der stumm mit ausdrucksloser Miene hinter ihnen her trottete, zu eröffnen.
Doch schließlich hielt er es nicht länger aus. Er brauchte endlich Gewissheit in den Fragen, die ihn die ganze Zeit quälten. Langsam senkte er das Tempo und ließ Ludger zu sich aufschließen.
„Du musst das nicht tun, das weißt du doch?“, fragte er nach einer Weile leise.
Unbewegt warf Ludger ihm einen Blick zu.
„Was meinst du?“
„Ich meine, dass du uns nicht begleiten musst, wenn du nicht willst. Ich zwinge dich nicht dazu.“
Die Mundwinkel des Größeren verzogen sich leicht, verärgert.
„Willst du mir auf freundliche Art mitteilen, dass ihr mich nicht dabei haben wollt?“
Khalid seufzte und verdrehte im Geiste die Augen, nahm sich aber zusammen. Er durfte sich nicht reizen lassen.
„Nein, das will ich nicht“, sagte er beherrscht. „Ich bin froh, dass du dabei bist und Hilda… nun ja, sie ist eben etwas gewöhnungsbedürftig, mach dir um sie keine Gedanken.“
Schulternzuckend akzeptierte Ludger diese Tatsache und ließ ein gemurmeltes „Gut.“ Vernehmen. Da für ihn diese Sache damit offenbar aus der Welt geschafft war, setzte Khalid noch einmal von neuem an.
„Ich sage das nur, weil ich den Eindruck habe, dass du…“ Der Halbraggar stockte, nach Worten suchend. Er war für so etwas nicht geschaffen. „… dass du das nicht tun willst, dass du an dieser Verfolgung nur teilnimmst, weil ich dabei bin.“
„Nein.“ Die Antwort kam schneller als ein Augenschlag und war von einer Überzeugung, die Khalid erschrecken ließ.
Dann herrschte wieder Stille und jeder Augenblick, jedes ungesprochene Wort, war ein Angriff auf Khalids Mauern, der nicht endete, bis der Halbraggar schließlich nicht mehr an sich halten konnte.
„Warum bist du nur so?“, schrie er, alle Frustration entladend. Hilda blickte ob des lauten Geräuschs überrascht zurück, beschloss aber wohl schnell, sich nicht weiter einzumischen. Und endlich zeigte Ludger eine erkennbare Reaktion und sah seinen Bruder erstaunt an. Der war allerdings noch nicht am Ende.
„Warum machst du es uns so schwer?“, fuhr er fort und mit jedem Wort flossen Schmerz und Zorn in das Gesagt. „Ich dachte, du freust dich, dass wir uns wieder sehen, dass alles einfacher würde, wenn wir uns wieder unterstützten so wie früher. Ich verstehe, dass du um Marie trauerst, du bist nicht der Einzige. Aber weder ich noch Hilda tragen Schuld daran. Was bringt dich dazu, so zu sein?“ Khalid atmete schwer, sein Gesicht war feuerrot und Schweiß vermischte sich auf seinen Wangen mit Tränen, deren Fließen er nicht einmal bemerkt hatte.
Für einen kurzen Augenblick sah Ludger ehrlich verletzt aus, doch diese Emotion verschwand so schnell aus seinem Gesicht wie jede andere zuvor.
„Das hat nichts mit Marie zu tun“, sagte er leise, tonlos. „Du kannst es nicht verstehen.“
„Dann versuche zumindest, es mir zu erklären!“, flehte Khalid verzweifelt.
Ludger blieb stehen und für einen Moment war er wie erstarrt. Seine Gesichtsmuskeln hatten sich verkrampft und zuckten leicht, als föchte er einen inneren Kampf aus.
Dann plötzlich drehte er sich mit von Wut verzerrter Miene zu seinem Bruder, so dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurück machte.
„Du bist tot!“, schrie er.
Und dann, als wäre all seine Kraft mit diesem Aufschrei verloren gegangen, fügte er mit kaum hörbarer Stimme hinzu: „Jedenfalls solltest du es sein.“
In seinen Augen lag nunmehr eine Verzweiflung, deren Tiefe über Khalids Verständnis ging.
„Als ich deine Leiche sah“, fuhr er fort, „als ich sah, dass du tot warst, da ist auch etwas in mir gestorben. Und jetzt bist du wieder da, stellst dich vor mich, grinst und erwartest, dass alles wie früher ist. Aber was in mir fortgegangen ist, wird niemals wiederkehren. Es ist verloren, für immer. Und plötzlich bist du der lachende Gewinner und ich bin tot. Also frag mich nicht, wieso ich so bin!“
Zum Schluss war Ludger immer lauter geworden und schließlich wandte er sich ab und marschierte einfach weiter.
Khalid blieb völlig fassungslos zurück. Er wusste, er musste etwas sagen, wollte er das Band zwischen ihnen noch retten, doch er konnte nicht.
Er hatte keine Worte für das, was er empfand.

Von nun an war jedes denkbare Gespräch verstummt. Ludger hatte sich wieder in die Lethargie geflüchtet und schlich in einem sich immer vergrößernden Abstand hinter den Anderen her, weswegen diese regelmäßig auf ihn warten mussten. Khalid hatte nicht mehr versucht, das Wort an ihn zu richten. Er hatte auch noch nicht mit Hilda gesprochen, obwohl diese augenscheinlich neugierig auf den Inhalt ihres Streits war. Aber sie ließ ihm Zeit und dafür war er dankbar.
Es war mittlerweile früher Nachmittag. Der Himmel war verhangen und es war empfindlich kalt geworden, doch Khalid bemerkte es kaum, obwohl der instinktiv den Mantel enger um sich zog. Geleitet vom Tyr ließ er scheinen Schritten freien Lauf, während seine Gedanken sich in wirren Bahnen bewegten.
Was war zu tun? Er konnte im Augenblick rein gar nichts bewirken. Alles was er täte würde von Ludger falsch aufgefasst werden. Er war klar, dass seinem Bruder geholfen werden musste, nur wie? Er, Khalid, hatte ja nichts getan, was er wieder gut machten könnte, wollte er sich nicht dafür entschuldigen, noch zu leben.
Es bestand noch immer Hoffnung. Sie waren Daved auf der Spur, dem vermutlichen Verursacher von Ludgers Zustand und womöglich würde Rache an ihm Balsam für die Seele seines Bruders sein.
Khalid war unwohl bei dem Gedanken. Sein Ziel in dieser Sache war nicht Vergeltung, er wollte nur das Pak wiedererlangen, um den Krieg zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen… oder? War es tatsächlich so? Er fühlte sich nicht als Wohltäter oder Weltverbesserer und schon gar nicht als Held. Eigentlich war es ihm in seinem ganzen Leben nur darum gegangen, Sicherheit und Freiheit zu erlangen und zu behalten. Nach der Flucht in ihrer Kindheit war das zunächst auch gelungen… bis Daved alles zerstört hatte. Und dennoch waren es keine Rachegelüste, die ihn trieben. Es war hauptsächlich das Tyr – dessen Motivation für ihn ohnehin unergründlich war -, aber es war auch Angst. Ja tatsächlich, er hatte Angst, Angst davor, was Daved täte, wenn ihn niemand hinderte, Angst davor, was passieren würde, wenn er sich gegen das Tyr zur Wehr setzte. Interessant übrigens, dass er sich einer Macht unterordnete, die er nicht einmal richtig kannte. Es hinterließ einen faden Nachgeschmack. Nun, jedenfalls war dieser Macht wohl an seinem Überleben gelegen, also würde die Alternative vermutlich wenig verlockend sein.
Hatten die Helden der großen Epen auch nur so gehandelt, weil sie Angst vor der Alternative hatten? Wohl kaum, dazu waren sie zu mutig und fehlerlos. Also würde vermutlich niemals jemand ein Epos über ihn verfassen – er passte nicht recht ins Muster. Das war aber wohl auch nicht allzu traurig.
Wie gern er einfach nach Hause gehen würde… tatsächlich, es war ihm nicht aufgefallen, er hatte Heimweh. Doch nach welcher Heimat? Diejenige bei dem Menschen, der sich sein Vater nannte, konnte es wohl kaum sein und auch im Kloster hatte er sich nie recht heimisch gefühlt. Vielleicht war es die Sehnsucht danach, eine Heimat zu haben? Ja, das konnte gut sein. Durfte man das als Heimweh bezeichnen? Es passte nicht recht.
Gleichgültig, er war vom Wesentlichen abgekommen. Er musste überlegen, wie er wieder zu Ludger gelangen konnte. Hilda hatte zwar ein wenig übertrieben, im Grunde hatte sie aber auch recht mit der Behauptung, dass sein Bruder sie behinderte, sie vielleicht sogar gefährden konnte. Doch das war nicht der Hauptgrund für ihn, zu handeln. Mehr denn alles andere wollte er das Band zwischen ihnen wiederherstellen, die alte Vertrautheit zurückgewinnen, die er nie recht zu schätzen gewusst hatte.
Ein Ziel. Sie würden bald an einem Ziel ankommen. Was? Ja, zweifellos, in der Nähe war irgendetwas, was das Tyr erreichen wollte. Aber es war nicht Daved, nein, das spürte er. Es war noch nicht lange da, das Tyr wollte ursprünglich einen anderen Weg nehmen. Etwas hatte sich verändert. Hatte es mit Ludger zu tun?
Auf jeden Fall war das Tyr unruhig. Es war wie ein geräuschloses Knistern. Und es war unentschlossen, als wäre es nicht sicher, dass dieser Weg tatsächlich der Richtige war.
Khalid machte sich Sorgen. Das verhieß nichts Gutes.

Tatsächlich dauerte es aber noch eine Weile, bis sie das Ziel, welches Khalid gespürt hatte, erreichten. Sie durchwanderten zurzeit ein etwas größeres Waldstück und befanden sich vermutlich irgendwo auf der Grenze zwischen Smatis und Kynos. Im Wald war es etwas wärmer, da die Bäume eine natürliche Barriere gegen den Wind bildeten. Gleichzeitig stahl das dichte Blätterdach aber auch das Licht, so dass noch vor dem Sonnenuntergang, der unweigerlich bald seinen Einsatz haben würde, alles in ein diffuses Dämmern getaucht war.
Urplötzlich waren sie auf eine Straße gestoßen, die mitten durch das Holz führte und Khalid hätte wohl auch ohne Unterstützung des Tyrs beschlossen, dass es besser sei, diesem Weg zu folgen. Missmutig betrachtete er seine von Dornen zerschundenen Hände. Der Rest seines Körpers war dank der guten Kleidung, die Gilla ihm gegeben hatte, recht gut geschützt, dennoch war er erleichtert, sich nicht mehr durch das Unterholz schlagen zu müssen.
Schließlich – endlich – öffnete sich der Wald zu beiden Seiten der Straße in einer ovalen Lichtung und Hilda, noch immer die Spitze ihres Trupps, blieb plötzlich stehen, anscheinend überrascht. Khalid schloss nach wenigen Schritten mit ihr auf und sah, was sie stutzig gemacht hatte.
Die weitläufige Lichtung teilte sich in mehrere verschiedene Bereiche. Direkt vor ihnen, rechts der Straße, reihten sich Baumstümpfe dicht an dicht aneinander. Folgte das Auge der Waldgrenze, so sah es weiter hinten auf der Lichtung Löcher, die wohl durch das Entfernen jener Stümpfe samt Wurzelwerk entstanden und im weiteren Lauf des Blickes mehr und mehr von Gras überwachsen waren. Kam man schließlich zur Linken an, so sah man eine Baumschule, wobei das Wachstumsstadium der Pflanzen immer weiter fortschritt, bist sie zu ihrer linken Seite etwa Schulterhöhe hatten.
Inmitten dieses seltsamen Schauspiels standen eine Hütte am Wegesrand und daneben ein Erdhügel von der Größe zweier Männer. Er war mit Reisig bedeckt und durch verschiedene Spalten stieg stetig Rauch auf.
„Ich hätte nie gedacht, dass hier draußen jemand lebt“, murmelte Hilda. „Wir haben schon seit einiger Zeit keine Dörfer mehr zu sehen gekriegt.“
Khalid zuckte nur mit den Schultern und versuchte, zu verbergen, dass er tatsächlich herzlich wenig überrascht war. Er hatte zwar nicht gewusst, womit er rechnen musste, aber nun, da er sie vor Augen hatte, war es eindeutig, dass diese Hütte sein Ziel gewesen war.
„Vielleicht können wir hier einige Vorräte auffüllen“, merkte er an. Die Raggar nickte, beugte sich zu Weißdorn herunter und flüsterte ihm einige Worte zu, woraufhin dieser im Wald verschwand. Unterdessen hatte Ludger sie erreicht und ließ den Blick gleichgültig über die Szene schweifen. Khalid enthielt sich seines Kommentars und übernahm stattdessen die Führung, rasch in Richtung der Hütte schreitend. Neugier brannte in ihm, er wollte endlich erfahren, was das Tyr veranlasst hatte, ihn an diesen Ort zu führen.
Es war nicht mehr nötig, auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht hatte der Bewohner dieser Hütte sie bereits bemerkt, vielleicht war es auch nur der Zufall, der seine Hand im Spiel hatte, auch wenn Khalid mit der Zeit angefangen hatte, an diesem Phänomen zu zweifeln. Gleich aus welchem Grund, im selben Moment als der Halbraggar mit seinem Bruder und seiner Base die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, öffnete sich die Tür und ein einst groß gewachsener, nun durch gebeugte Gestalt geschrumpfter Mann verließ die kleine Kate. Nur einen Augenblick später hatte er sie erblickt, lächelte, nickte, als hätte er sie bereits erwartet und ging mit nach vorne geöffneten Händen auf sie zu.
Khlaid konnte sich nicht erwehren, er musste ebenfalls lächeln. Es war, als ströme ein Schwall von Wärme durch ihn beim Anblick dieses Alten, dessen wucherndes Haupt- und Barthaar ihm ein recht wildes Aussehen verliehen. Die stark abgetragene Kleidung aus grobem Wildleder tat ihr übriges dazu.
Auffordernd blickte Khalid zu Hilda hinüber, in deren Augen nichts als Verwirrung lag. Doch er ließ ihr keine Chance, einen Kommentar zu geben, wandte sich ab und ging auf ihren Gastgeber zu.
„Nun nun“, erklang eine freundliche, gutherzige Altmännerstimme, „ihr schaut mir nicht wie Händler aus. Besuch also? Gut gut, das haben wir selten, ja selten haben wir das hier draußen. Gut gut, ja, dann will ich mich meiner Pflichten erinnern, ja ja, und euch hereinbitten, denn so gehört es sich, soweit wir wissen. Tja ja, hm hm, was noch? Hm, etwas haben wir doch noch vergessen, nicht wahr? Oh, ah, aber ja, wie konnten wir nur…natürlich! Also, wie sind dann eure Namen, Besucher?“
Er sprach Sareis und er tat es ohne Pause in einer Gleichförmigkeit, die an sanftes Meeresrauschen erinnerte, ohne dabei undeutlich zu werden oder langweilig zu wirken. Während seiner Rede hatte er Khalid erreicht und dieser konnte die vorsorglich ausgestreckten Hände ergreifen, so dass sie für einen Augenblick dastanden wie ein gerade angetrautes Paar. Ein gräulicher Schleier von Asche lag auf den Händen wie auch auf Gesicht und Kleidung des Alten, was ihm ein leichenähnliches Antlitz verlieh.
„Mein Name ist Khalid“, antwortete der junge Mann verspätet. Trotz der gebeugten Haltung seines Gegenübers musste er aufblicken, um diesem in die kleinen, tief in den Höhlen sitzenden Augen, die ständig blinzelten, als wären sie geblendet oder wollten Schmutz entfernen, zu schauen. „Dort drüben sind meine Base Hilda und mein Bruder Ludger. Wir sind nur auf der Druchreise.“
Der Alte blickte von einem zum anderen und nickte dabei, als würde er sich etwas bestätigen. „Gut gut, ja ja, hm hm, sehr schön ist das. Sehr schön solche Namen, doch wirklich. So gut und so nützlich. Und so schön, ja schön. Wirklich, wir könnten meinen, nie solch schöne Namen gesehen zu haben. Ach, sollten wir nicht hören sagen? Nein… ja, möglicherweise. Und doch, wir liegen nicht ganz falsch, denn wir können sie sehen eure Namen in euren Augen und eurem wunderbaren jugendhaften Angesicht. Solch schöne Namen. Nun kommt denn herein, ihr schönen Namen mit euren schönen Augen und setzt euch mit uns zu Tische. Wir wollen gastgebern und gastgebern lassen.“ Noch im Sprechen begriffen machte er kehrt und ging zur Hütte zurück. Khalid wollte ihm folgen, wurde jedoch wenig sanft von einer großen Hand an der Schulter gepackt und aufgehalten.
„Was denn, Hilda?“, fragte der Halbraggar leicht verärgert.
„Das fragst du noch?“ Ihre Stimme klang, als könne sie es nicht fassen, dass Khalid sie überhaupt gefragt hatte. „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber das muss ich auch nicht, um zu wissen, dass dieser Alte nicht ganz klar im Geist ist. Was will er von uns? Und was wollen wir hier? Für solcherlei Späße haben wir keine Zeit.“
Mit einem begütigenden Ausdruck nahm Khalid die Hand von seiner Schulter weg. „Keine Sorge, Hilda. Das Tyr hat uns hierher geführt und es wird seine Gründe haben.“
Die Verwirrung auf dem Gesicht der Raggar vertiefte sich noch weiter. „Das Tyr? Was um alles in der Welt hat das Tyr denn damit zu tun? Ich sehe hier keine Gefahr, außer vielleicht in der Hütte dieses Wahnsinnigen.“
Khalid verwarf die Bemerkung mit einer Handbewegung und ging weiter. Er hatte kein Bedürfnis, sich jetzt mit seiner streitlustigen Base zu beschäftigen. Für den Moment verhielt diese sich nun gefügig und folgte ihm, doch in ihrem Blick war Wachsamkeit und eine Menge von unterdrücktem Zorn. Kurz überlegte Khalid, mit einer scherzhaften Bemerkung die Stimmung zu verbessern, doch unterließ er es dann. Hilda sah nicht so aus, als würde sie gerade Spaß verstehen. Ludger schlich wie immer ausdruckslos hinter ihnen her.
Das innere der Hütte war ein Wirrwarr aller möglichen nützlichen und weniger nützlichen Dinge, der jeden verfügbaren Platz ausnutzte. Insgesamt maß die Behausung nicht mehr als vier mal vier Schritt und es war Platz darin für eine mit Moos gepolsterte Bettstatt, eine Feuerstelle, einen Tisch mit Stuhl, eine kleine Kiste, sowie jede Menge Kräuter, Wurzeln und andere Pflanzen des Waldes, die dicht an dicht von der Decke hingen. An einer Wand lehnte eine langstielige Axt und neben der Feuerstelle stapelte sich Holz. Mitten auf dem Tisch saß ein gewaltiger Rabe, mit dem sich der Alte gerade offensichtlich angeregt unterhielt.
„Schau nur, mein Freund, wir haben Besuch, ja ja, das haben wir. Und so nette Menschen sind es. Zumindest der Kleine, ja, der hat sich mit uns direkt unterhalten, ja, das hat er. Die Große Dicke ist nicht so nett, aber das ist nur, weil sie eine Raggar ist. Hm, aber das trifft sich ja gut, nicht war? Tja ja, vielleicht kommt ihr sogar aus derselben Gegend? Wer weiß, vielleicht seid ihr gar verwandt? Ha Ha!“ Auf sein kurzes und künstliches Lachen viel der Vogel mit schräg gestelltem Kopf und lautem Gemecker ein. In seinen intelligenten schwarzen Augen blitzte es.
Erst jetzt fiel Khalid auf, dass der alte Mann plötzlich Raggaroth sprach. Das hieß, dass Hilda jedes Wort verstanden hatte. Es kostete ihn entsetzliche Mühen, nicht schamlos zu grinsen, als er zu seiner Base hinüber sah, die purpurn angelaufen war und so aussah, als würde sie bald platzen, wenn sie sich weiter zusammenriss.
„Oh, ich Unhöfliger“, fuhr der Alte nun an sie gerichtet, immer noch in der Sprache der Raggar, fort, „ich habe euch ja gar nicht vorgestellt. Seht ihr, das hier ist Alwin, ja, das ist sein Name, zumindest sagte er mir das. Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sprach, als er das sagte, denn gewöhnlich ist er ein Lügner wie er im Buche steht. Tja, aber was soll man machen. Alte Vögel sind unverbesserlich, sagt man, oder? Sagt man das? Na, jedenfalls sagte ich das jetzt. Also kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass man das sagt, immerhin habe ich es gesagt. Oder hieß es, dass alte Vögel nichts mehr dazu lernen? Nun, wie auch immer, aber das stimmt auch. So kann Alwin, wenn das sein richtiger Name ist, nur Raggaroth verstehen. Liegt wohl an seinen Wurzeln. Wenn ich Sareis mit ihm sprechen würde, würde er mich nur dümmlich anblicken und das wollen wir alle doch nicht, nicht wahr? Nein, nein. Also, nun… wo waren wir?“
Verwirrt machte er eine Pause und Hilda nutzte dies, um schnell einzugreifen.
„Du bist ein Druide?“, brachte sie, so freundlich es ihr im Augenblick gelingen wollte, und das bedeutete nicht viel, hervor. Der Alte blickte sie neugierig an.
„Druide? Was? Nein, was ist das? Hm, kann man das essen? Nun, nein, das kann es wohl nicht sein, da würdest du mich wohl nicht fragen, ob ich einer wäre. Denn wohl kaum würdest du mich essen wollen, nicht war? Ha Ha!“ Und erneut gackerte der Rabe als Echo mit. Khalid sah, wie Hildas Finger weiß anliefen, als sie die Nägel in die Handflächen presste.
„Wie heißt du?“, knurrte sie.
„Wie? Was? Wie ich heiße? Nun…hm hm, das ist nicht ganz so einfach, wisst ihr? Nein, nein, nein, gar nicht einfach ist das. Denn, ihr müsst das verstehen, das denke ich zumindest, tja, denn mein Freund Alwin hier, wenn das denn sein richtiger Name ist, also mein Freund Alwin ist ein wunderbarer Zuhörer, aber er selbst ist leider nicht so gesprächig, wisst ihr? Nein, natürlich wisst er es nicht, deswegen sag ich es euch ja, Ha Ha!“ Der Rabe gackerte. „Also jedenfalls erzählt er mir so furchtbar wenig, der gute Alwin, das heißt, wenn das denn sein richtiger Name ist. Und wenn er was erzählt, dann ist das meist irgendein Unsinn, den er sich ausgedacht hat, ja, ich habe euch ja schon gesagt, dass er ein unverbesserlicher Lügner ist. Und er weigert sich einfach, mich mit Namen anzusprechen, während er aber auf seinem besteht. Ein ungerechter kleiner Vogel ist er, hach ja ja. Tja und so ist es dann gekommen, dass seit Jahren oder länger, ich weiß es nicht genau, ich vergesse die Zeit hier draußen ganz gerne, also seit Jahren hat niemand mehr meinen Namen gesagt. Tja ja, und so kam es, dass ich, ob ihr es glaubt oder nicht, mit der Zeit meinen Namen vergessen habe. Tja, und die Händler, die hierher kommen, die nennen mich nur den Köhler, weil das nämlich das ist, was ich mache, ja, ich mache Kohlen, wisst ihr? Aus Holz mache ich sie mit dem Meiler da draußen und deswegen nennen sie mich den Köhler. Tja, so ist das. Hm, also könntet ihr mich auch so nennen, wenn ihr möchtet, einverstanden?“
Khalid konnte nicht mehr an sich halten. Der Alte war dermaßen drollig, dass er vor Lachen in Tränen ausbrach. Hilda war unterdessen weniger in der Stimmung für solcherlei Vergnügen. Sie stieß nur einen zornigen, unartikulierten Laut aus und verließ stampfend, den gleichgültig im Türrahmen stehenden Ludger zur Seite stoßend, die Hütte.
„Nun, was hat sie denn, deine Freundin?“, fragte der Köhler verwundert, nun wieder Sareis sprechend. „Hat sie etwas Schlechtes gegessen? Das kann übel sein, das kann ich euch sagen, oh ja, das kann ich. Hier draußen im Wald kann das ständig passieren. Üble Sache ist das, lass die das gesagt sein. Das kann man nicht einfach so auf die leichte Schulter nehmen, wie man sagt. Tja ja, ich finde, du solltest nach ihr sehen, deiner Freundin, also deiner Base, das sagtest du doch, nicht wahr? Ja, das sagtest du. Also, du solltest nach ihr sehen, deiner Base, nicht wahr?“
Der Angesprochene wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte, unfähig, zu antworten. Kopfschüttelnd verließ er die Hütte und hörte hinter sich noch den alten Köhler sprechen.
„Nun, dann wollen wir uns um das Essen kümmern, wollen wir? Du hilfst mir doch gewiss, ja ja? Das tust du, das sehe ich doch…“
So ging es noch eine ganze Weile weiter, aber Khalid hörte es nicht mehr. Beiläufig fragte er sich, ob der Alte mit Ludger oder Alwin, so das denn sein Name war, gesprochen hatte.

Hilda war nur wenige Schritte nach draußen gelaufen und versuchte nun, mit wilden Fußtritten gegen das unschuldige Unterholz ihrem Zorn Luft zu machen.
„Nun beruhige dich wieder“, rief Khalid noch im Kommen begriffen. „Was führst du dich denn so auf? Es ist doch nur ein alter Mann und er hat uns etwas zum essen und einen Platz für die Nacht angeboten, was willst du denn mehr?“
Mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen wandte sich die Raggar ihm zu. „Mein Zorn richtet sich nicht gegen diesen verwirrten alten Kauz, sondern gegen dich“, knurrte sie. „Warum hast du uns hierher geführt? Wie verlieren viel zu viel Zeit und du hast nichts Besseres zu tun, als über den Wahnsinn dieses senilen Köhlers zu lachen. Davon abgesehen traue ich ihm nicht.“
Empört blickte Khalid seine Base an. „Warum traust du ihm nicht? Der Mann kann doch keiner Fliege was zuleide tun. Er ist etwas verwirrt vom langen Leben in dieser Einsamkeit, aber er ist harmlos, da bin ich mir sicher.“
„Das kannst du nicht wissen“, gab Hilda prompt zurück. „Hier draußen dürfen wir niemandem trauen.“
„Das Tyr sagt mir aber, dass dieser Mann uns nicht Böses will“, konterte Khalid ebenso schnell.
„Das Tyr, ja…“ Kurz und aus einem Khalid unerfindlichen Grund lachte Hilda hart auf. „Nun, wie auch immer. Es gibt noch andere Gründe, warum mir nicht wohl bei der Sache ist. Zum einen sehe ich zwar einen Meiler, aber weder hier draußen noch in der Hütte des Alten gibt es auch nur ein Stück Kohle.“
Der Halbraggar zuckte lediglich mit den Schultern. „Dann war wohl vor kurzem ein Händler hier. Das hat nichts zu bedeuten“, sagte er gleichgültig.
„Das ist noch nicht alles“, fuhr Hilda, immer noch gereizt, fort. „Dieser Kreis aus Bäumen und Stümpfen…er ist nicht richtig. Ein Köhler braucht meistens Unmengen von Holz, also wird er hier regelmäßig Bäume fällen müssen. So schnell können sie aber nicht nachwachsen, der Kreislauf funktioniert nicht, mal abgesehen davon, dass ich dem alten Mann nicht zutraue, alleine die ganzen Stümpfe hier zu entwurzeln. Es sei denn natürlich er ist tatsächlich ein Druide. Aber das ist unmöglich.“
Ein nachsichtiges Lächeln legte sich auf Khalids Lippen. „Nun, du hast die Erklärung ja bereits gegeben. Vielleicht ist doch mehr möglich als du vermutest.“
Doch die Raggar schüttelte vehement den Kopf. „Ein Druide so weit im Süden, außerhalb unserer Lande? Nein, ich hätte davon wissen müssen. Niemand erzählte je von einem Druiden, der hier in euren Landen lebt.“
„Liebe Base“, antwortete Khalid seufzend, „es mag Dinge geben, die du nicht weißt. Und nun lass dieses lächerliche Verhalten und komm wieder mit. Ich habe Hunger, es wird bald Nacht, wir hätten ohnehin rasten müssen. Und selbst wenn dieser Alte wirklich in irgendeiner Weise gefährlich sein sollte, so haben wir immer noch Weißdorn, der über uns wacht. Wir sind hier nicht mehr oder weniger in Gefahr als draußen im Wald.“
Widerstrebend und noch immer verärgert nickte Hilda. „Nun gut, wir bleiben. Aber ich bleibe hier draußen, beim Meiler. Dort ist es warm und in der Hütte ist ohnehin nicht genug Platz für uns alle.“
Khalid nickte und so trennten sie sich. Die Raggar schritt zum Meiler und ließ sich dort ins dünne Gras nieder, während ihr Vetter zurück zur Hütte schritt. Doch schon nach wenigen Schritten stutzte er. Die Stimme, die ihm von dort entgegen schallte, hatte er in der letzten Zeit nur selten vernommen.
„Ja, du hast Recht“, sagte Ludger und es schien fast, als wäre er amüsiert. „Dann ist es also abgemacht.“
Völlig überrascht sah Khalid von der Tür der Hütte aus, wie sein Bruder und der alte Köhler sich die Hand gaben, woraufhin sich Letzterer einer blubbernden Brühe im Kessel über der Feuerstelle und Ersterer dem Eingetretenen zuwandte. Ludger strahlte über das ganze Gesicht.
„Stell dir vor, Bruder, der Köhler verkauft uns einige Decken und einen Haufen Proviant für ein paar Suons“, rief er und schritt dabei auf seinen kleineren Bruder zu. Dieser musste an sich halten, nicht zurück zu weichen. „Er sagt, er bräuchte das Geld eigentlich gar nicht, aber er würde es bei den Händlern gegen Dinge, die ihm nützlicher sind, eintauschen können.“
„Ja, ja, so ist es“, kam von der Feuerstelle. „Das habe ich gesagt, genauso habe ich es gesagt. Und Alwin, oder wie auch immer mein Freund hier wirklich heißt, ist Zeuge gewesen.“ Der Rabe krächzte zur Bestätigung. Plötzlich, nur kurz, lief Khalid ein Schauer über den Rücken, der aber bald wieder durch wohlige Wärme ersetzt wurde.
„Gut…“, stammelte er. „Das ist…gut. Wir brauchen Proviant... für die Weiterreise…nun, ich habe mit Hilda gesprochen. Sie sitzt draußen, am Meiler. Ich denke, wir sollten dort auch später schlafen.“
„Da hast du Recht“, überlegte Ludger. Er war so furchtbar normal, dass Khalid es mit der Angst zu tun bekam. „Dann lass uns doch auch draußen zusammen essen. Die Suppe ist zwar von gestern, aber ich denke, sie wird schmecken. Geh nur schon vor, wir kommen gleich nach.“
Der junge Mann war so verwirrt, dass er nur hilflos nicken konnte und langsamen Schrittes die Kate verließ.
„Was ist denn in dich gefahren?“, rief Hilda, als sie ihn kommen sah, doch Khalid konnte nur den Kopf schütteln. Was war nur mit Ludger passiert? Es musste irgendetwas geschehen sein, während er mit Hilda gesprochen hatte. Nur was? Vielleicht hatte Hilda doch Recht und irgendetwas war mit diesem alten Mann verkehrt… Und was um der Heiligen willen war so seltsam daran, dass die Suppe von gestern war? Wenn sich doch nur in seinem Kopf nicht alles drehen würde! Diese Wärme machte ihn ganz benommen, sie ging wohl vom Meiler aus.
Er kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn im selben Augenblick kamen Ludger und der Alte aus der Hütte. Jeder trug zwei dampfende Schalen in den Händen und auf der Schulter des Köhlers saß Alwin.
Khalid sah Hilda offenen Mundes ihrem anderen Vetter entgegen starrend, der lachend und fröhlich schwatzend voranschritt. Dennoch sagte sie nichts. Ein stummer Blick zwischen der Raggar und Khalid besagte, dass der Zeitpunkt, Ludger darauf anzusprechen, nicht dieser war.
Die Schalen wurden verteilt und zunächst war der Hunger die einzige Macht, der jedwede Aufmerksamkeit galt. Die Suppe schmeckte ähnlich wie die Mahlzeiten im Kloster, wenig. Dafür schien sie umso nahrhafter zu sein, bestand aus Erdäpfeln, verschiedenen Wurzeln und einer kleinen Fleischeinlage, die Khalid nicht näher identifizieren konnte, es mochte Huhn sein.
Während der Mahlzeit unterhielt sich Ludger angeregt mit dem Köhler und ließ sich dabei nicht dadurch stören, dass er immer wieder durch lang gezogene Nichtigkeiten unterbrochen wurde. Der junge Mann sprach von ihrem Leben im Kloster, den Raggar und allem, was passiert war. Dies tat er indes in einer Beiläufigkeit, die Khalid ans Herz griff. Sorgsam achtete er auf die Reaktion des Alten, doch er ließ sich nichts anmerken, wenn die Erwähnung der Raggar ihn irgendwie bewegte. Allgemein zeigte er wenige Gefühle, folgte der Geschichte mit andauerndem Gleichmut.
Khalids Gedanken waren unterdessen wie mit feinem Tuch überzogen. Das Essen hatte ihn schläfrig gemacht und seine Grübeleien erschienen ihm nun unnötig. Welchen Grund es auch immer hatte, es war gut, dass Ludger seine Lethargie hinter sich gelassen und zu seinem früheren Selbst zurück gefunden hatte. Ein Blick auf Hilda zeigte ihm, dass sie diese Meinung offensichtlich nicht teilte. Ihre Mine drückte unverhohlenes Misstrauen aus und offensichtlich ärgerte sie es fürchterlich, dass sie kein Wort verstand. Khalid kicherte. Warum auch immer, das war irgendwie komisch. Dann sank er zur Seite in wohlige Wärme hinein.
 
Zuletzt bearbeitet:
WE-Up

Gibt ein kleines Problem: Es haben jetzt so viele von euch geäußert, dass sie längere Abschnitte aus einer Perspektive besser finden, dass ich mir das zu Herzen nehmen muss. Das Problem ist, dass ich die ganze Zeit schon einem mehr oder weniger chronologischen Zeitablauf folge und dass nun einmal manchmal Dinge an verschiedenen Orten kurz hintereinander geschehen. Aber ich kann ja nicht alles in Rückblicke packen. Muss mir noch überlegen, wie ich das handhabe
 
Ab und zu mal nen Perspektivenwechsel find ich nicht schlimm, wenn die einzelnen Abschnitte nicht zu kurz sind. Sonst verliert man schnell den Überblick, wenn zu viel zu schnell durcheinander passiert.

Ich bin mal gespannt, wie die beiden das wieder hinkriegen wollen. Wenn Ludger nicht akzeptieren kann, dass Khalid doch noch lebt, hat der ja keine Chance wieder die alte Vertrautheit aufzubauen.
Ich finds schön, dass Hilda ein bisschen mitfühlender ist als sie sonst wirkt.
 
ok, also zwischenzeitlich kamen ja sehr kurze Abschnitte mit schnellen Wechseln. Da war es aber auch Absicht, dass man die Übersicht verliert, das sollte die Hektik symbolisieren. Jetzt, in der "ruhigeren" Phase, gibts erst mal wieder längere Abschnitte.

Wie kommt der letzte Absatz rüber? Ich hab versucht, tief in Khalids Perspektive reinzugehen, um seine verworrene Gedankenwelt darzustellen. Ich hoffe nur, es ist nicht zu verwirrend geworden.
 
Hi Paglim,
der Abschnitt ist gut. Die Verworren und Zerrissenheit, ja gradezu Verstörtheit von Khalids kommt richtig rüber, auch seine Hilflosigkeit angesichts der Lage und das sture Abschotten seines Bruders, der eigentlich Hilfe braucht.

Das mit Hilda finde ich nicht seltsam, schließlich ist sie ja Schamanin und bekommt sicher viel mehr über ander Leute mit als ihr lieb ist. Da sie jung ist, kann sie nicht so gut damit umgehen und ist oft recht schroff und ungeduldig. Auch einer Art sich zu schützen. Besonders, da ihr Vertrauen durch David ja schon mal misbraucht wurde.

Wegen den kurzen Hektischen Kapiteln, die finde ich auch gut. Denke Du hast das genau richtig gemacht.

Also weiter so :)

Othin
 
Hallo,

schon ein Monat lang kein Update mehr? Na ja auf jeden Fall kommt der Thread jetzt mal aus der Versenkung wieder an erste Stelle :) Ich würde mich über Lesestoff freuen ;)

lg, Gandalf
 
Ja, ich mich auch *lol*. Die Ferien waren ziemlich heftig, erst Schulpraktikum, dann Hausarbeit, jetzt noch den Bericht übers Praktikum und dann muss ich mich langsam an meine Bachelorarbeit setzen...das ist verdammt viel Schreibkram^^

Hm...ich überleg mir was...der Abschnitt steht ja schon, muss nur noch geschrieben werden.
 
Es ist jetzt schon zwei Jahre her, dass ich mit dem Buch angefangen hab... ich frag mich, ob ich jemals fertig werde^^

Naja, jedenfalls hat mich das dazu bewogen, mal wieder nen Update zu schreiben. Bidde schön :)
 
Hey,

das ist mal ein echt lustiges Update :)

kleiner Fehler:
Tja ja, ich finde, du solltest nach ihr sehen, deiner Freundin, also deiner Base, das sagtest du doch, nicht wahr? Ja, das sagtest du. Also, du solltest nicht ihr sehen, deiner Base, nicht wahr?

Was die da nur wollen? Auf jeden Fall wirft das Kapitel neue Fragen auf :)

lg, Gandalf
 
Fehler ist behoben, danke dafür.
Mini-Up, Kapitel 12 ist damit - vorläufig - beendet. Muss bald mit meiner Bachelorarbeit anfangen, werd aber noch versuchen, so viel wie möglich vorher zu schaffen. Dieses Buch wird mich wohl mein gesamtes Studium hindurch beschäftigen^^

Ps: Gandalf, ich bin schockiert. Da ist man mal ein paar Monate weg und schon machst du für jemand anderes Werbung :p
 
Hey,

gefällt mir und wirft natürlich mal wieder einige Fragen auf. Die Werbung? Nun ja deine Story hatte ja jetzt einige Leser dazubekommen - deshalb hab ich sie da rausgenommen und ne andere gute Story reingesetzt, die seit langem tot geglaubt war.

lg, Gandalf
 
War ja auch nur Spaß, Gandalf ;) zu dem Zeitpunkt steigt eh niemand mehr neu in die Story ein, würde ich auch net^^
So, es geht weiter!

12-2

10 Minerva, 1084 Laurane; morgens

Manchmal ist es notwendig, inne zu halten und zurück zu blicken. Denn zur selben Zeit der eben berichteten Ereignisse, trug sich in Kyntos einiges zu, das der Erwähnung wert scheint. Da aber die Chronologie in ihrer Gesamtheit nicht gestört werden darf, soll das vergangene Kapitel noch einmal erzählt werden, nun aber schweift der Blick hinüber in die Hauptstadt der Baronie Smatis.

Als Khalid bereits durch unsanfte Träume geweckt wurde, schlief Alef noch. Er hatte Glück gehabt, Yasemina hatte am Vorabend bereits geschlafen. Doch lange sollte dieses Glück nicht währen.
Es war, als wäre ein Orkan über ihn hereingebrochen. Der Wind hieb mit Schlägen und Tritten auf ihn ein, das Heulen war ohrenbetäubend. Seltsamerweise schien es fast, als wären aus dem Geheule Worte zu vernehmen.
„Du hundsgemeiner Kerl! Verschwindest einfach und ich sitze hier und mache mir Sorgen und alles!“ Halb erwacht versuchte Alef, sich aufzurappeln, doch die überraschend realen Hiebe, die von der Seite kamen, hielten ihn davon ab. Blinzelnd versuchte der Junge, sich zu orientieren. „Du…du…böser Mensch, du!“ Im gleichen Moment, in dem Alef registrierte, dass es Yasemina war, die ihn mit Schlägen malträtierte, ließ das Mädchen von ihm ab und wandte sich von verschränkten Armen zur Seite. „Ich mag dich jetzt nicht mehr“, schmollte sie.
Errötend registrierte Alef, dass sie beobachtet wurden. Die meisten Flüchtlinge waren durch Yaseminas Geschrei wach geworden und beobachteten sie nun neugierig. Erschrocken sah der Junge, dass auch Rebecca das Schauspiel betrachtete, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
„Hör mal, Yasemina“, begann er vorsichtig, „können wir das nicht draußen besprechen? Einige von den Anderen möchten vielleicht noch schlafen.“
„Das ist mir doch gleich!“, kam als gebrüllte Antwort. Alef zuckte zusammen, in seinen Ohren klingelte es. „Nach allem, was passiert ist, lässt du mich einfach alleine! Und du hast gesagt, du würdest auf mich aufpassen, du gemeiner Kerl! Und sogar jetzt interessieren dich nur die Anderen. Wie es mir geht, ist dir wohl gleichgültig, was?“
Seufzend setzte sich der Junge nun endgültig auf und rieb sich die Augen. „Nein, das bist du mir nicht, Yasemina“, sagte er in dem Versuch, diplomatisch zu sein. „Ich habe bloß die Zeit vergessen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, wirklich nicht.“
„Nun, jetzt ist es jedenfalls zu spät für solche Einsichten“, rief das Mädchen ihren ganzen gekränkten Stolz hinaus, sprang auf und verließ fluchtartig die Schlafkammer. Die Tore flogen dabei mit einem derartigen Krachen in die Angeln, dass Alef noch einmal wie geschlagen zusammenzuckte. Als er aufblickte, stand die Äbtissin vor ihm.
„Mutter Rebecca, ich…“, begann er stammelnd, doch die ältere Frau unterbrach ihn sanft.
„Mach dir keine Sorgen, Alef. Sie trägt das heiße Blut des Südens in sich und gerät leicht in Zorn. In ein paar Stunden ist alles wieder in Ordnung, glaube mir. Komm, wir sollten frühstücken gehen und unser Handeln besprechen.“

Die Mahlzeit fand im gleichen Saal statt, in dem sie auch am Abend zuvor gespeist hatten. Auf dem Weg dorthin mussten sie über den Burghof, auf welchem bereits geschäftiges Treiben herrschte. Was zunächst als ein Wirrwarr von durcheinander laufenden Menschen erschien, erwies sich bald als wohlorganisiertes System, in dem jeder Burgbewohner eine bestimmte Aufgabe erfüllte. Es waren die typischen Pflichten, wie man sie auf einem Bauernhof ebenso zu erledigen hatte: Tiere mussten versorgt, Kühe gemolken, Eier gesammelt werden. Nur dass hier ein jeder schwer arbeitete, um die hohen Herrschaften zu versorgen. Es war noch früh am Morgen und vermutlich wurde alles bereitgestellt, damit es den adligen Bewohnern der Burg nach dem Erwachen an nichts fehlte.
Offensichtlich hatten man mehr als genug zu tun, dennoch hielten viele kurz inne, als sie die Flüchtlinge den Stall verlassen sahen. Manche blickten nur kurz neugierig zu ihnen hinüber, aber Alef sah auch kaum verhohlene Verachtung und gar echten Hass in einigen Augen aufblitzen. Nun, er wusste jetzt, warum die Menschen sie nicht hier haben wollten, vermutlich hatten sie von klein auf gelernt, was von den verräterischen Klosterbewohnern und deren Verbündeten aus dem Dorf Eibenbach zu halten war. Dennoch kam ihm die Reaktion fürchterlich übertrieben vor und so kam es, dass er wie die meisten Flüchtlinge seinen Schritt unmerklich beschleunigte, um schnell in die große Halle zu gelangen.
Das Frühstück bestand aus dunklem Brot, harter Wurst und ein wenig Käse. Dazu gab es Haferschleim und Bier. Eier, Braten und Ähnliches waren offensichtlich für bedeutendere Herrschaften reserviert worden. Dem Jungen war es gleich, er erfreute sich des kräftigenden Mahls und griff begeistert zu. Von Yasemina war nichts zu sehen.
„Sobald der Baron bereit ist, uns zu empfangen“, begann Rebecca schließlich, als sie sah, dass der gröbste Hunger des jungen Novizen gestillt war, „werden wir ihn zu zweit aufsuchen. Es wird ihm nicht gefallen, dass ich dich als Begleitung mit mir bringe, aber schließlich wird er es als unwichtig abtun. Außerdem ist es nur gerecht, denn er konnte sich auf dieses Gespräch vorbereiten und wird gewiss einige Minister an seiner Seite haben.“
„Minifter, Mutter?“, fragte Alef mit vollem Mund. „Waf ift daf?“
Ein strafender Blick traf den Jungen. „Achte auf dein Benehmen, Alef. Wir dürfen Torwin nichts liefern, das er gegen uns verwenden könnte“, tadelte sie. Doch sogleich kehrte ein nachsichtiges Lächeln auf ihr Gesicht zurück. „Die Minister sind die Berater des Herrschers“, fuhr sie fort. „Ich vermute, dein Vater besitzt auch welche. Ein guter Herrscher hört sich an, was seine Berater zu sagen haben und wägt dann seine Entscheidung ab. Bei Torwin wird es nicht anders sein. Und seine Minister werden kaum eine bessere Meinung von uns haben als er.“

Sie könnte als Wahrsprecherin auf dem Jahrmarkt arbeiten, überlegte sich Alef. Zumindest hatte sie mit jedem Wort Recht behalten. Gleich nach dem Frühstück hatte der große Adolfo Adriano Sorin von Blautann gemeldet, dass Baron Torwin von Smatis nun gewillt wäre, sie zu empfangen.
So standen sie nun im Eingang des Audienzzimmers und machten sich einen Eindruck von dem, was sie erwartete. Tags zuvor hatte Alef den Baron nur gehört und nicht gesehen, doch die Gestalt, die mit Blick auf die Tür am Kopfende des langen, schweren Holztisches saß, entsprach in jedem Detail dem, was der Junge sich vorgestellt hatte. Der Baron war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern, der sich auf der Grenze zwischen muskulösem und fettleibigem Körperbau bewegte. Sein Haare trug er streng aus dem Gesicht gekämmt und auch die Miene des Barons war die eines Kämpfers: Entschlossen, wild, aggressiv, kompromisslos. Das Kinn zeigte bereits Bestrebungen, sich zu verdoppeln, doch das breite Kreuz und die dicken Arme wiesen darauf hin, dass dieser Mann alles andere als harmlos war.
Er hat früher als Soldat gearbeitet, überlegte sich Alef. Dann, vermutlich als sein Vater starb, hat er hier die Amtsgeschäfte übernommen. Aber er gehört nicht hierher, er gehört auf ein Schlachtfeld.
Er sollte nicht dazu kommen, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn in diesem Moment wurden sie angekündigt.
„Die ehrwürdige Mutter Rebecca, Äbtissin des Lauranerklosters Eibenbach, sowie Alef von Akitaos, jüngster Sohn des Grafen Galuf von Akitaos, Novize des Lauranerklosters Eibenbach!“, rief Adolfo und entfernte sich daraufhin mit einer Verbeugung.
Die beiden Angekündigten betraten den Raum und nun hatte Alef auch Gelegenheit, die anderen Anwesenden zu betrachten. Es war zum Glück keine Armee von Beratern, es waren derer nur zwei. Zur Linken des Barons saß ein alter, hagerer Mann mit ausgemergeltem Gesicht, dessen wertvolle, mit Gold und Brokat verzierte, Kleidung schlaff an ihm herabhing. Er blickte sie forschend, mit kaum verhohlener Missgunst, an. Ihm gegenüber auf der rechten Seite Torwins saß ein ebenfalls älterer Mann, der sich jedoch in allen anderen Punkten von seinem Gegenüber unterschied. Er war, um es kurz zu sagen, fett und das in jeder Hinsicht. Auch seine weite Kleidung und der hohe Kragen konnten nicht alle Körpermassen verbergen. Er fuhr sich immer wieder mit den fleischigen Fingern über die Stirn, anscheinend schwitzte er stark. Alles an ihm drückte aus, dass er sich hier unwohl fühlte und die ganze Angelegenheit für unnötig erachtete.
„Willkommen Rebecca und willkommen auch eurer Begleitung!“, ertönte nun Torwins durchdringende Stimme. „Ich hoffe, ihr habt wohl geruht?“
Die Äbtissin nickte und machte eine ungeduldige Handbewegung. Noch immer standen sie an der Eingangstür, man hatte sie nicht aufgefordert, Platz zu nehmen und Torwin gedachte offensichtlich auch nicht, dies zu tun. Er genoss es, dass Rebecca den Formen der Etikette gehorchen musste. Mit leichter Handbewegung fuhr er fort:
„Wenn ich nun ebenfalls vorstellen darf: Dies ist mein Berater in Sachen Suons: der Schatzmeister Boris Scodzi.“ Der hagere Alte nickte unmerklich und unwillig. „Und dies ist mein geschätzter Berater in allen Dingen des Volkes: der Bürgerminister Rudolf von Winterberg.“ Ungeduldig nickte auch der Fette Alte und versuchte, sich mit der Hand Luft zuzufächern. Der süßliche Geruch von Schweiß erfüllte die Luft.
„Nun denn.“ Torwin lehnte sich nach vorne auf den Tisch und faltete die Hände. „Ehrwürdige Mutter, denkt ihr nicht, dass wir euren Leibnovizen, oder um was es sich bei dem Jungen handeln mag, hinauszuschicken?“
Rebecca ignorierte die Spitze dieser Bemerkung und schüttelte nur den Kopf. „Alef ist mein persönlicher Gehilfe“, antwortete sie mit sanfter Stimme. „Er hat das gleiche Recht, dieser Unterredung beizuwohnen wie eure Berater.“
Zornesröte stieg in das Gesicht des Grafen und er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass es krachte. Alef zuckte zusammen. „Schluss mit den Spielen, Rebecca. Ein Kind hat in einer Beratung solchen Ausmaßes nichts verloren, das wisst ihr so gut wie ich!“, brüllte er. Die Äbtissin blieb gelassen und wollte gerade ihre Entgegnung formulieren, als die Tür sich öffnete und ein Bediensteter hereinstürmte, der fast mit ihnen kollidierte.
Torwins Miene nahm eine noch tiefere Färbung an und sein Zorn richtete sich gegen den Untergebenen.
„Was soll diese Unterbrechung?“
„Herr…es tut mir leid…euch zu stören“, stammelte der Junge, „doch vor den Toren…es sind Barbaren vor den Toren…“
Es war, als beherrschte ein einziger Gedanke den Raum: Wie hatten sie nur so schnell sein können? Selbst Rebecca wurde angesichts dieser Nachricht bleich.
„Das…das ist noch nicht alles“, fuhr der Bote fort. „Sie, die Raggar…sie wollen die Mutter Rebecca sprechen.“
Die Stadt war in Aufruhr. Von allen Seiten war der Tross, bestehend aus dem Baron Torwin, seinen Ministern, Rebecca, Alef und einigen Soldaten, mit Fragen bestürmt worden, jedoch hatte der Baron sie alle unwirsch abgewehrt. Auf dem Weg zum südlichen Tor schlossen sich ihnen immer mehr Menschen an, die, zwischen Furcht und Neugier schwankend, alle denkbaren Spekulationen über die Gründe der Anwesenheit der Raggar diskutierten.
Alef wünschte sie sich fort. Er hatte befürchtet, dass die Raggar ihnen folgen würden, doch dass sie so bald da wären... Dunkle Erinnerungen an die blutigen Ereignisse in Eibenbach gingen ihm durch die Gedanken und wieder sah er die verkohlte Leiche vor sich, die direkt neben seinem Versteck von der Mauer gestürzt war. Nicht noch einmal, er konnte das nicht noch einmal ertragen.
Doch es war keine Armee, die sie erwartete. Vor dem Tor stand lediglich eine Gruppe von dreißig, vielleicht vierzig, Mann und sie waren bis auf einige Stäbe und Keulen unbewaffnet. Bei genauerem Hinsehen erkannte Alef sogar einige Frauen unter ihnen. Ausnahmslos waren sie in kostbare Felle gekleidet und ihre Haltung drückte Stolz und Autorität aus.
„Druiden“, flüsterte Rebecca neben ihm. Der Junge wusste nicht, was das bedeuten mochte, aber scheinbar hatten diese Männer und Frauen eine hohe Stellung bei den Raggar. Von dem Heer war weit und breit nichts zu sehen.
Nun baute sich Torwin auf der Mauer über dem Tor zu voller Größe auf, die Arme in die Seiten gestemmt. In seinem Gesicht brodelte der Zorn.
„Ich verlange, zu erfahren, warum ihr den Frieden meines Landes brecht“, rief er. „Erklärt euch!“
Einige Zeit geschah nichts, dann trat ein älterer Mann aus der Gruppe hervor und rief in gebrochenem sarêisch: „Wir haben unser Fordern gesagt. Wir wollen sprechen mit heilig Frau Rebecca.“
Es war kaum für möglich zu halten, doch die Zornesröte in Torwins Miene wurde noch tiefer. „Ihr dummen Primitiven wagt es, mir Forderungen zu stellen?“ Zornig schlug er mit der Faust auf die Stadtmauer. „Ihr seid auf meinem Land und ich verlange, dass ihr sofort wieder in eure dreckigen Löcher zurückkehrt, Haufen dreckigen Abschaums. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ich euch nicht gleich an Ort und Stelle hinrichten lasse!“
Von unten blickte ihm der Druide mit äußerster Gelassenheit entgegen.
„Wir reden mit heilig Frau Rebecca oder ihr alle sterben. Eure Wahl!“
Torwin schien zu einer neuen Tirade ansetzen zu wollen, doch wurde er von Rebecca unterbrochen, die ihn sanft am Arm nahm. „Lasst es, Hochwohlgeboren“, sagte sie leise. „Ich werde mit ihnen sprechen.“ Einige Mitglieder des Hofes sogen scharf die Luft ein und auch Alef war nicht sicher, ob es standesgemäß von der Äbtissin war, so mit dem Baron zu sprechen. Dennoch lenkte Torwin schließlich widerwillig ein.
„Gut“, brummte er, „aber ihr habt mir alles mitzuteilen, was dort unten besprochen wird.“
Lächelnd nickte die Äbtissin. „Aber selbstverständlich euer Hochwohlgeboren.“ Dann wandte sie sich Alef zu. „Komm, mein Junge. Und fürchte dich nicht, wir werden unter der Fahne der Diplomatie sprechen. Niemand wird uns etwas antun.“
Der Novize nickte zweifelnd. Vermutlich hatte Rebecca Recht. Dennoch war seine Angst noch äußerst präsent.
Nur einen Spalt breit wurde das Tor geöffnet, damit sie hindurch treten konnten. Unwillkürlich wurde sich Alef bewusst, dass sie von allen Seiten beobachtet wurden, doch er tat sein bestes, es sich nicht anmerken zu lassen, wie unwohl ihm dabei war.
Der alte Mann, der bereits zuvor gesprochen hatte, sagte nun etwas auf Raggaroth. Die Äbtissin antwortete in derselben Sprache und deutete dabei auf den Jungen, der neben ihr stand.
„Gut“, sagte der Druide, „wenn dein Wille, dann eben in deiner Sprache, heilig Frau.“ Er machte eine weit schweifende Handbewegung. „Wir Druiden aus Raggar und gekommen, um zu verlangen den Verräter Daved und das Buch. Ihr uns geben, wir gehen heim.“
Doch Rebecca schüttelte enttäuscht den Kopf. „Wir können euch nicht geben, was ihr verlangt. Daved ist nicht bei uns, er floh, nachdem er uns half, aus dem Kloster zu entkommen und wir wissen nicht, wo er ist. Auch das Buch ist nicht bei uns.“
Verwirrt sah Alef zu der Äbtissin auf. Von welchem Buch sprach sie? Und wieso war Daved ein Verräter? Der Druide sah zur Seite. Er schien verärgert, aber nicht überrascht.
„Ihr nicht wisst, welche Gefahr besteht“, sagte er grimmig. „Ihr nicht wisst von Macht des Pak. Wir müssen Daved finden, sonst dieses Land bald so unbewohnbar wie unseres. Unsere Väter, Brüder und Söhne kämpfen gegen euch, weil sie nicht verstehen. Sie nicht wissen, dass nicht nutzt, euer Land erobern, dass nur wenig Zeit, bis Daved mit Pak Natur hier stört. Er hat keine Kontrolle, nicht weiß, was tut. Er tötet Land.“
Rebeccas Miene wurde schlohweiß. Alef war kaum weniger schockiert, vor allem aus dem Grund, da er sich auf die ruhige Entschlossenheit der Äbtissin verlassen hatte. Nun schien es, als wisse auch sie nicht, was zu tun sei.
„Niemand von uns ahnte von der Macht dieses Buches“, antwortete sie und es schien, als wolle sie Daveds Verhalten entschuldigen. Dabei hatte der Druide den Angriff der Raggar bisher mit keinem Wort gerechtfertigt. „Daved teilte meinem Mann und mir mit, dass er es euch abnahm, weil damit Hunger und Armut in allen Teilen der Westlande der Vergangenheit angehören könnten. Er sagte, man könne damit selbst die rah’alebische Wüste fruchtbar machen. Es hieß, ihr Raggar wäret schlicht zu eigensinnig gewesen, euren Schatz mit der restlichen Welt zu teilen.“ Die Hand an ihrer Brust fing an, zu zittern. „Daveds Motive waren nobel, auch wenn seine Mittel schlecht waren. Wir wussten nichts von der Gefahr für euer und unser Land.“
„Deine Worte ohne Sinn, heilig Frau Rebecca“, gab der Mann hart zurück. „Niemand nützt zu wissen, wer schuldig und wer nicht. Wir gehen, verteilen über Land und suchen Daved und Pak. Ihr flieht, wenn ihr wollt leben. Wir nicht konnten verhindern unser Brüder erobern Land. Sie zornig und verzweifelt. Sie bald hier sind.“
Rebecca nickte schwer. „Ich wünsche euch viel Glück“, seufzte sie. „Und wenn ihr Daved findet, so habt bitte Nachsicht mit ihm. Er hatte keine bösen Absichten.“
Der Druide macht keine Erwiderung zu Rebeccas Bitte, er wandte sie schlicht um und ging zu den anderen Raggar zurück. Alef sah sie kurz miteinander reden, dann machten sie kehrt und wanderten Richtung Osten. Die Äbtissin sah ihnen noch eine Weile nach, dann nahm sie ihren Begleiter bei der Hand und ging zur Stadt zurück.
Im gleichen Moment, in dem das Tor geöffnet wurde, stürmte ein kleiner Schatten heraus, der sich direkt auf Alef warf.
„Oh, du Hund!“, rief Yasemina. „Warum machst du schon wieder so etwas Gefährliches? Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht, du gemeiner Kerl!“
Der Junge lächelte nachsichtig, sagte aber nichts. In seinem Kopf schwirrte es und eine kalte Hand lag auf seinem Herzen. Die Raggar würden kommen, früher oder später. Und selbst wenn sie es schafften, sich gegen deren Armee zu verteidigen, so blieb noch immer die Befürchtung, dass Daved aus Versehen das Land zerstörte. Warum also bemühten sie sich überhaupt noch?
Schweren Herzens schritt er wieder in die Stadt. Selbst Yasemina sagte nichts mehr.

Die Atmosphäre hatte sich grundlegend verändert. Das Auftauchen der Druiden schien den Baron Torwin davon überzeugt zu haben, dass die Raggar eine durchaus reelle Gefahr darstellten. Noch immer spürte Alef das Misstrauen, dass ihnen von den Kyntern entgegenschlug, jedoch versuchte der Landesherr nicht mehr, sich über sie zu amüsieren.
„Nun erzählt, Mutter, was hatten die Raggar mit Euch zu besprechen?“, forderte Torwin Rebecca auf. Alef blickte neugierig zu ihr hoch. Er wusste, sie konnten dem Grafen nicht alles erzählen, da er sonst dem Kloster die Schuld an dem Unglück geben würde, stellvertretend für Daved, der nun einmal über alle Berge war. Doch auch die Äbtissin schien sich darüber Gedanken gemacht zu haben.
„Sie suchen ein bestimmtes Buch“, antwortete sie und ihrem Tonfall war keinerlei Unsicherheit zu entnehmen. „Es ist ihnen ein Heiligtum und wurde geraubt. Wir wissen nicht, wo es sich befindet. Dies sagte ich ihnen auch und nun gehen sie, um im ganzen Land danach zu suchen. Jedoch warnten sie uns vor ihren Brüdern. Die Raggar sind aus ihrem Land gezogen, da es anscheinend unbewohnbar geworden ist.“ Für einen kurzen Augenblick legte die Schuld ein Zittern in Rebeccas rechte Hand, wie Alef bemerkte. Jedoch fasste sich die Äbtissin schnell wieder, so dass der Junge hoffte, niemand anders hätte etwas bemerkt. „Sie suchen hier ein neues Land, daher ziehen sie plündernd und mordend durch Eure Baronie und werden auch an dessen Grenzen nicht Halt machen. Die Raggar sind zornig und verzweifelt und das macht sie so gefährlich. Jedoch stehen sie, anders als bei dem Angriff auf unser Kloster, nun ohne die Rückendeckung durch die Druiden da.“
Torwin schlug verärgert mit der Faust auf den schweren Holztisch. „Nun gut, wenn sie es so haben wollen...“, knurrte er, dann lag plötzlich ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen. Alef bestätigte sich innerlich die Vermutung, dass der Baron eher für das Schlachtfeld als den Thron geschaffen war. Torwin bewegte sich nun in Gebieten, in denen er sich bestens auskannte. Mit einer seiner riesigen Hände winkte er einen Bediensteten herbei, von denen einige am Eingang des Besprechungszimmers warteten. „Schickt Boten in die ganze Baronie“, befahl er. „Lasst sie berichten, dass wir von den Barbaren des Nordens bedroht werden. Alle Untertanen haben sich in die nächsten befestigten Städte zu begeben. Die Ernte soll nach Möglichkeit eingefahren, der Rest vernichtet werden. Schickt außerdem Boten nach Aeimos, Amitia, Thracios, Kynos und Sayeuis. Ich will, dass die Herrscher dort an das sarêische Großbündnis erinnert werden. Außerdem soll die Stadt auf eine längere Belagerung eingestellt werden. Und nun verschwindet!“
Die Bediensteten überschlugen sich bald dabei, die Befehle des Barons auszuführen. Bald war niemand außer dem Baron, Rebecca, Alef und den beiden Ministern im Besprechungsraum.
„Hochwohlgeboren, wäre es nun nicht Zeit, euren Kriegsminister zu Rate zu ziehen?“, fragte Rebecca höflich, was ihr ein verächtliches Lachen einbrachte.
„Verehrte Mutter“, antwortete Torwin, „ich brauche keinen Kriegsminister, um solche Belande kümmere ich mich persönlich.“ Er wandte sich nach links. „Boris, wie sieht unsere Kriegskasse aus?“
Der hagere Schatzmeister verzog die ohnehin schon ständig nach unten liegenden Mundwinkel noch weiter. Er sprach mit stark maza´alischem Akzent. „Nun, es fließt natürlich weiterhin Geld in die Truhen, doch das meiste davon wurde bereits für den Winter zurückgelegt. Dazu steht unsere jährliche Spende für das Darrelkloster bald an und...“
„Langweile mich nicht mit deinen Details!“, unterbrach ihn der Baron rüde. „Wenn wir diese Belagerung nicht überstehen, dann ist es uns auch gleich, wenn wir uns im Winter den Arsch abfrieren würden. Alle Kriegsausgaben haben ab sofort höchste Priorität!“
Der Minister nickte ausdruckslos. „Wenn das so ist, dann reichen unsere Suons, um die Armee mehrere Monate zu finanzieren.“
Ohne eine Weitere Reaktion wandte sich Torwin zur Linken. „Rudolf, wie sehen unsere Vorräte aus.“
Der Bürgerminister seufzte und wischte sich mit einem Stofftuch den Schweiß von der Stirn. „Schlecht, Herr. Die Ernte steht nun einmal noch an und wir erwarten sie erst in einigen Wochen. Wir können nur hoffen, dass das schlechte Wetter der letzten Zeit“, er hielt einen Moment erschöpft inne, bis er wieder zu Luft gekommen war, „dass das schlechte Wetter der letzten Zeit nicht allzu viel vernichtet hat. Ich kann euch diese Frage erst in einigen Wochen beantworten.“
Erneut sauste die Faust des Barons auf den Tisch. „Wir haben keine Wochen, Rudolf!“, brüllte er. „Ich will, dass du bis morgen einen Überblick hast, wie viele Vorräte eingelagert werden können.“ Der Minister wurde bleich und nickte hastig. Das Taschentuch in seiner Hand war bereits tief durchtränkt von Schweiß.
„Nun zu Euch, Mutter“, fuhr Torwin fort und wandte sich dabei Rebecca zu. „Ihr habt die Barbaren hierher geführt und Ihr erwartet den Schutz meiner Mauern. Im Gegenzug verlange ich, dass Eure Gefolgsleute für mich arbeiten und kämpfen. Ich will kein Murren und keine Beschwerden von Euren Männern hören und wenn sich nur einer etwas zu Schulden kommen lässt, setze ich euch alle an die Luft. Seid Ihr einverstanden?“
Rebecca lachte kurz freudlos auf. „Ihr werdet von ‚meinen Gefolgsleuten’, wie Ihr sie nennt, nicht enttäuscht sein. Sie kennen die Raggar bereits und unter ihnen ist nicht einer, der nicht etwas bei dem Angriff auf das Kloster verloren hätte. Sie werden kämpfen, glaubt mir.“
„Nun, wir werden sehen“, antwortete Torwin misstrauisch. „Diese Besprechung ist beendet!“
Die Minister verließen fluchtartig das Zimmer und auch Rebecca erhob sich, verbeugte sich kurz und ging, Alef hinter ihr. Der Baron reagierte nicht. Er saß weiter auf seinem Platz und hatte die Stirn in Falten gezogen. Vermutlich war er bereits in die Planung der Verteidigung seiner Stadt vertieft.
„Nun, Alef, was denkst du über diese Besprechung?“, fragte Rebecca, als sie durch die verwinkelten Flure der Burg zurück zum Stall gingen.
Der Junge überlegte. „Torwin macht sich Sorgen, auch wenn er das nicht zeigt“, sagte er schließlich. „Die Ernte kann vermutlich größtenteils noch nicht eingefahren werden, da es einfach zu früh ist. Und das Wetter der letzten Wochen hat das Seinige dazu getan. Er sucht verzweifelt nach Verbündeten und lässt daher in allen umliegenden Ländereien anfragen. Dabei bezieht das sarêische Großbündnis überhaupt keine Angriffe von außen mit ein. Es sieht lediglich vor, dass sich alle sarêischen Kleinstaaten verbünden, falls einer von ihnen grundlos einen anderen angreift. Er wird nicht viel Hilfe bekommen.“
Die Äbtissin nickte zufrieden. „Gut, und weiter?“
„Ausgehend von seinen Ministern würde ich sagen, dass die Menschen hier ihn nicht sonderlich mögen. Sie gehorchen ihm, weil sie müssen und weil er Furcht einflößend ist, aber er ist kein Mensch, dem man gerne dient. Wenn es hart auf hart kommt, werden sie ihm den Rücken kehren.“
Nun sah Rebecca überrascht aus. „Oh, tatsächlich? Nun, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Was meinst du, können wir einen Vorteil daraus gewinnen?“
Alef schüttelte vehement den Kopf. „Torwin duldet uns hier, was er nicht muss. Wir sind vorläufig von ihm abhängig. Jedoch kann er bei den bevorstehenden Kämpfen auch einen Nutzen aus uns ziehen, obwohl sein Stolz ihm verbieten wird, sich das einzugestehen. Das Volk von Kyntos ist eine größere Gefahr für uns. Sie hassen uns und sie werden weniger Bedenken haben, dies offen zu zeigen.“
Er nickte, wie um sich diesen Gedanken selbst zu bestätigen. „Es sieht düster für uns aus, ehrwürdige Mutter.“
 
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