Paglim
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Ah, endlich läufts wieder. Hier ist das, was ich am WE geschafft habe.
Noch eine Frage vorher: mir ist aufgefallen, dass die Hauptcharaktere und die meisten Hauptnebencharaktere, nämlich Khalid & Ludger (16), Daved (Anfang 20), Hilda (17-20), Alef (8), ungeplanterweise alle sehr jung sind. Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass das Ganze damit zu sehr in Richtung Jugendroman tendiert und das war von mir nicht so beabsichtigt. Was ist eure Meinung dazu?
11
10 Oris, 1084 Laurane; nachts
Die Stunden zogen sich endlos dahin. Nie hatte Alef geahnt, wie langweilig simples Laufen doch sein konnte. Und wie anstrengend. Seine Bewegungen und auch die der anderen glichen mittlerweile mehr einem kraftlosen Vorwärtskriechen.
„Alef, mir tun die Füße so weh. Und ich hab solch einen Hunger!“
Verärgert blickte der Junge zu Yasemina hinüber. Er konnte sie ja verstehen und sie tat ihm auch leid, aber ihre Quengeleien zerrten an seinen Nerven. Schließlich ging es ihm und den Anderen auch nicht besser.
„Wir sind bald da“, sagte er zum nun wohl schon hundertsten Male. Im Kopf sang er diese Litanei bereits die ganze Zeit.
Wir sind bald da. Wir sind bald da.
Es half nicht viel, aber es half.
„Das sagst du schon seit Stunden“, schmollte das Mädchen.
Wie viele Stunden waren sie überhaupt schon unterwegs? Alef hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber es sah so aus, als wären sie dem Abend mittlerweile näher als dem Mittag. Vom Zug war kaum etwas zu hören, alle Gespräche waren den Mühen zum Opfer gefallen, nur gelegentlich gab jemand ein Stöhnen von sich. Einige der Alten und Schwachen wurden von den Stärkeren gestützt, weil sie nicht mehr alleine gehen konnten.
Mutter Rebecca aber war von Erschöpfung nichts anzumerken. Wie die hölzernen Figuren am Rumpf großer Schiffe, von denen sein Vater ihm einmal erzählt hatte, dem Sturm trotzten, so schritt sie unbeirrbar voran. Doch auch sie hätte vermutlich schon zur Pause gerufen, wenn der Hunger sie nicht alle vorantreiben würde.
Alef flüchtete sich in seine Gedanken. Dort gab es eine Welt, in der alles noch so wie ehedem, vor dem Überfall, war. Es war schön, sich das vorzustellen. Um das Kloster und sein altes Leben tat es ihm nicht leid, er konnte genauso gut nach Hause zurückkehren, auch wenn es dort vermutlich eher langweilig war. Aber all dieser Schmerz, dieses grundlose Leiden, er konnte es nicht verstehen. Vermutlich war er noch zu jung, um den Sinn dahinter zu sehen.
Irgendwann, es mochten erst wieder einige Minuten vergangen sein, vielleicht aber auch eine ganze Stunde, rief jemand plötzlich aufgeregt:
„Ein Hof! Dort in der Ferne liegt ein Hof!“
Allgemeines Gemurmel brach aus, als man die Gebäude erblickte, die soeben in einiger Entfernung aufgetaucht waren.
„Ein Hof, dort gibt es Essen!“
„Essen!“
„Endlich!“
„Und wir können uns ausruhen!“
Doch bevor die Euphorie endgültig ausbrechen konnte, wurde die Menge von Rebecca ermahnt.
„Wartet, meine Freunde! Das ist nur ein einzelner Hof, man besitzt dort bestimmt nicht genug Nahrung, um uns alle zu versorgen.“
Eine Mischung aus Enttäuschung und Wut machte sich breit. Seltsam, es schien fast, als würden sie der Äbtissin die Schuld für ihre zerstörte Hoffnung geben, dabei hatte sie nur die Wahrheit gesagt.
„Dies ist dennoch ein gutes Zeichen“, fuhr sie schnell fort, als sie den Umschwung der Emotionen bemerkte. „Denn nun kann die Stadt nicht mehr fern sein. Ich werde die Bauern fragen, wie weit es noch ist. Wir haben unser Ziel fast erreicht. Seid bitte nur noch ein wenig standhaft, dann haben wir es bald geschafft!“
Es war offensichtlich, dass niemand damit zufrieden war. Aber genauso offensichtlich war es, dass niemand ihr widersprechen konnte. Langsam setzte sich der Tross unter vielstimmigem Murren wieder in Bewegung.
Vermutlich hatten die Bauern sie gesehen, denn nur kurze Zeit später kam ihnen eine kleine Gruppe vom Hof aus entgegen. Als sie sich näherten, konnte man erkennen, dass es drei Personen waren und schließlich zeigte sich, dass es sich um einen untersetzten Mann mit wettergegerbtem Gesicht handelte, der offensichtlich seine besten Jahre schon hinter sich hatte und in Begleitung von zwei Bullen von Männern war, die ihn fast um Haupteslänge überragten. Aus der Selbstbewussten Haltung des Ersten ließ sich schließen, dass er wohl der Gutsherr war und seine bulligen Begleiter Knechte oder Söhne.
„Laurane und alle Heiligen mit dir“, begann die Äbtissin, als sich die ungleichen Gruppen schließlich gegenüber standen. „Mein Name ist Rebecca und ich bin – war – die Äbtissin des Lauranerklosters Eibenbach.“
Der Bauer neigte kurz den Kopf. „Angenehm“, brummelte er mit tiefer Stimme. Seinen Namen nannte er nicht.
„Wir sind Flüchtlinge“, fuhr Rebecca schließlich fort. „Das Kloster wurde gestern Nacht von Raggar angegriffen und zerstört.“
Nun zeigte sich tatsächlich etwas wie eine Regung im Gesicht des Mannes. Eine Augenbraue hob sich leicht und sein Blick wurde interessierter.
„Barbaren, hm? Das ist nicht gut.“
„Wir brauchen etwas zum Essen!“, rief plötzlich jemand, der nicht länger an sich halten konnte aus den hinteren Reihen.
„Ja, und einen Platz zum Schlafen!“, fügte ein Anderer hinzu. Zustimmendes Gemurmel entstand. Im Gesicht des Bauern war aber keine Reaktion zu erkennen.
„Ich habe nichts, das ich euch geben könnte“, gab er gelassen zurück. „Unsere Vorräte reichen gerade für uns und die Verkäufe auf dem Markt. Platz genug für euch alle habe ich auch nicht. Sucht euch etwas Anderes.“
„Wir erwarten auch nichts dergleichen von dir“, beeilte sich Rebecca zu sagen. In ihrem Gesicht war Ärger zu lesen, ob nun über das Verhalten ihrer eigenen Leute oder die Teilnahmslosigkeit des Bauern konnte Alef nicht sagen. „Wir möchten nur wissen, wie weit es noch bis Kyntos ist.“
„Gegen Abend dürftet ihr dort sein“, kam die Antwort.
Gegen seinen Willen musste Alef grinsen. Diese wortkarge Nüchternheit konnte schon an den Nerven zehren. Mutter Rebecca behielt aber die Fassung.
„Ich danke dir für diese Auskunft, mein Freund. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, du solltest auch bald Schutz in der Stadt suchen. Wer weiß, ob die Raggar nicht hierher ziehen?“
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern.
„Wir werden sehen“, murmelte er und wandte sich zum Gehen, seine stumm gebliebenen Begleiter schlossen sich ihm an.
„Den Segen der Heiligen mit dir!“, rief die Äbtissin noch hinterher. Ihr gemurmeltes „Du elender Narr..“ konnten wohl nur diejenigen, die sich ganz in ihrer Nähe befanden, hören.
Der so Gesegnete hob die flache Hand zum Dank, ohne sich die Mühe zu machen, dafür anzuhalten oder den Kopf zu wenden.
„Nun denn“, seufzte Rebecca schließlich. „Immerhin wissen wir jetzt sicher, dass wir heute Abend noch ankommen werden. Also los dann!“
Tatsächlich hatte der namenlose Bauer Recht behalten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschienen endlich, nach einer scharfen Biegung der großen Hauptstraße, die Stadtmauern Kyntos’ in der Ferne.
Unterwegs waren sie noch mehreren Anwohnern der umliegenden Höfe begegnet. Die Reaktionen waren sich meist recht ähnlich. Mann hatte nicht viel, konnte nicht helfen, war aber auch nicht bereit, seinen Besitz zurückzulassen und in die Stadt zu flüchten. Alef fragte sich, warum die Menschen hier so dumm waren. Was nützte ihr ganzer Besitz denn noch, wenn die Barbaren kämen und alles niederrissen oder an sie nähmen? Da war es doch wichtiger, sich selbst zu retten.
In ihrer Gruppe wurde die Stimmung nun merklich besser. Der Schritt beschleunigte sich, ungeduldig sehnte man sich den Mauern der Stadt entgegen, die Schutz und Wärme und noch vieles mehr versprachen.
Schon von hier konnte man erkennen, dass die Mauer ziemlich dick und mindestens drei oder vier Mann hoch war. Fasziniert, aber auch ein wenig verwirrt, betrachtete Alef sie. Gegen wen oder was musste sich die Stadt schützen? Wohl nicht gegen die Barbaren, denn die hatten, soweit er aus dem Geschichtsunterricht wusste, bislang noch nie Städte in dieser Gegend angegriffen. Nun, für sie gereichte es zum Vorteil und das war die Hauptsache.
Von den Gebäuden hinter der Mauer war aus ihrer Sicht nichts zu sehen, etwas weiter im Süden erkannte man aber die trutzigen Türme der Residenz des Barons, der von Kyntos aus über Smatis herrschte. Seltsam, er hatte einen Palast oder Ähnliches erwartet, aber diese Türme wirkten so, als gehörten sie zu einer Festung. Alef würde bald erfahren, dass er mit diesem Gedanken nicht Unrecht hatte.
Es benötigte noch einige Zeit, um schließlich vor die Tore der Stadt zu gelangen und die Dämmerung war schon weit fortgeschritten.
Trotz des wenigen Lichts wirkte die Größe der Stadtmauern imposant. Alef war sich zwar sicher, dass er zu wenig vom Kriegshandwerk verstand, um es ernsthaft beurteilen zu können, aber vermutlich würde diese Stadt einer Belagerung wesentlich länger standhalten als das Kloster. Vor allem das gigantische zweiflüglige Eichentor wirkte unerschütterlich und undurchdringlich. Und ärgerlicherweise war es schon die ganze Zeit geschlossen.
Seit sie in Sichtweite der Stadt gekommen waren, war ihnen keine Menschenseele begegnet, niemand hatte sie betreten oder verlassen und das war schon sehr merkwürdig. Allein die stark gedämpften Geräusche, die aus Kyntos schollen, zeigten ihnen, dass die Stadt nicht ausgestorben war.
Nachdem sie sich einige Zeit nach einer anderen Möglichkeit umgesehen hatte, bildete Rebecca mit Hilfe ihrer Hände ein Sprachrohr und rief nach oben:
„Hallo! Ist dort oben jemand?“
Eine ganze Zeit lang geschah nichts, dann tauchte ein Schemen in der rechten oberen Ecke des Tores auf und lehnte sich über die Mauer. In der Dunkelheit konnte man nicht viel erkennen, aber das Mondlicht spiegelte sich auf etwas Metallischem, vermutlich einem Helm.
„Wer ist da?“, rief eine missmutige Stimme herunter. „Was wollt ihr um diese Zeit?“
Verwirrt runzelte Alef die Stirn. Es war doch erst früher Abend.
„Mein Name ist Rebecca und ich möchte mit Baron Torwin von Smatis sprechen“, antworte Rebecca unbeirrt und fügte in strengem Ton hinzu: „Es ist äußerst wichtig.“
Erneut herrschte Stille für einen Moment bevor der Torwächter entgegnete:
„Was machen all diese Leute bei euch?“
„Es sind Bewohner des Klosters Eibenbach, sowie des gleichnamigen Dorfes. Würdest du uns nun bitte einlassen?“
Für einen Augenblick wunderte sich Alef, warum die Äbtissin nichts von ihrer Flucht und Heimatlosigkeit erwähnte, dann kam ihm die Idee, dass sie vielleicht erst mit dem Baron darüber sprechen wollte.
Von oben war ein verächtliches Schnauben zu hören.
„Ihr seid die Sprecherin dieses Haufens?“
„Für den Augenblick bin ich das“, antwortete Rebecca und ignoriertet die Beleidigung.
„Dann dürft ihr hereinkommen. Eure Begleiter aber müssen vor dem Tor warten, bis seine Hochwohlgeboren ihnen erlaubt, die Stadt zu betreten.“
Die Äbtissin zog scharf die Luft ein. Sie schien sich nur mühsam beherrschen zu können.
„Hör mich an, guter Mann“, sagte sie schließlich mit mühsam unterdrückter Ungeduld in der Stimme. „Wir haben eine lange Reise hinter uns und müssen uns ausruhen und etwas essen. Meine Begleiter werden die Stadt mit mir betreten und ich werde vor dem Herrn Baron für ihre Zuverlässigkeit bürgen. Jede Schuld, die meinen Leuten zukommt, wird meine Schuld sein, aber niemand wird länger vor den Toren warten müssen. Seid ihr einverstanden mit meinen Bedingungen?“ Mit jedem Wort schien die Mutter ein weiteres Stück Beherrschung zu verlieren und zum Schluss war sie so laut, dass ihre Frage kaum noch den Charakter einer solchen hatte.
„Nun wenn es euch so wichtig ist“, erklang es amüsiert von der Stadtwache, „möchte ich für euch eine Ausnahme machen. Wie könnte ich auch der edlen Frau Äbtissin einen Wunsch verwehren? Aber habt Acht, ich vergesse eure Bürgschaft nicht und ich habe ein Auge auf euch“, fügte er in ernstem Ton hinzu, dann war er verschwunden.
Seltsam, warum wollte man ihnen den Zugang nicht erlauben? Und wieso hatte der Mann Mutter Rebecca so respektlos behandelt? Alef warf einen Blick zu der Äbtissin herüber, die ungeduldig darauf wartete, dass die gewaltigen Flügel des Tores sich öffneten. Sie schien eindeutig verärgert, jedoch nicht überrascht zu sein. Doch der Junge kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn in diesem Augenblick erklang ein lautes Knarren und Rumpeln, als die Stadttore von einem guten Dutzend Männer nach außen geschoben wurden. Die Gruppe musste einige Schritte zurück machen, um nicht zur Seite gestoßen zu werden.
Als diese Arbeit getan war, trat einer der Männer vor und verbeugte sich tief, ein breites Grinsen in seinem Gesicht.
„Seid willkommen in Kyntos, edle Frau Äbtissin. Wenn ihr mir dann die Ehre erweisen würdet, mich zu seiner Hochwohlgeboren zu begleiten?“ Es war der Mann, der vorher vom Tor herab mit ihnen gesprochen hatte. Wie alle anderen Wächter trug er ein rotes Wams, das mit silbernen Fäden durchwoben war und dessen Brust ein silberner Wolf schmückte. Die Art, wie er die Bitte aussprach, verkehrte seine Worte ins Gegenteil, doch Rebecca zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Der Mann machte eine einladende Handbewegung und schritt dann voran. Mit stolzer, unbewegter Miene folgte Rebecca ihm und die ganze Truppe schloss sich an.
Kyntos war für Alef faszinierend und abstoßend zugleich. Es schien, als wäre jeder freie Raum innerhalb der trutzigen Mauern genutzt worden. Schmale, schmuddelige Häuser aus Holz reihten sich eng aneinander, als suchten sie die Wärme der Anderen. Die Gebäude besaßen zwei, manchmal gar drei Stockwerke und einige hatten zudem einen Vorbau, der, auf Stützpfeilern balanciert, sich bis über die Straße erstreckte. Diese bestand aus festem Lehm und bot gerade genug Platz für einen Ochsenkarren.
Dem Jungen wurde es klamm in der Brust und er sehnte sich die offene Weiter der Straße vor den Toren Kyntos´ zurück. Es wäre hier selbst am Tage dunkel wie in einem dichten Wald und ein Geruch von Fäulnis und Exkrementen, menschlichen wie tierischen, lag in der Luft. Ohne die Laterne, die der Wächter vor sich her schwenkte, wären sie in völliger Dunkelheit vorangeschritten.
Die wenigen Menschen, die ihnen auf der Straße entgegen kamen, machten rasch Platz und verbargen die Gesichter, doch Alef spürte regelrecht, wie sich die neugierigen Blicke in seinen Rücken bohrten.
Nach und nach wurde die Straße breiter und sauberer. Die Häuser ließen Platz für einige Gässchen und bisweilen sah man gar einige, deren Erdgeschoss aus Stein erbaut war. Alef war gewiss nicht der Einzige, der erleichtert aufatmete. Vermutlich näherten sie sich dem Stadtzentrum. Die düsteren Schenken, Spielhäuser, Verkaufsstände und anderen Einrichtungen, von denen der Zweck Einiger Alef rätselhaft war, wichen verschiedenen Handwerksstätten. Der Junge konnte Schmieden von Grob-, Huf-, Fein- und auch wenigen Goldschmieden erblicken, Zimmereien, Tischlereien, Schlossereien, ein jeder bot seine Kunst an. Das Viertel der Handwerker war gewaltig, wie auch Kyntos selbst von innen größer schien als von außen.
Da hier auch trotz der späten Stunde mehr Volk auf den Straßen war, sahen sie sich nun unverhohlener Neugierde gegenüber. Gespräche wurden unterbrochen, hinter vorgehaltener Hand getuschelt, einige Kinder – was machten sie um diese Zeit noch hier draußen? – zeigten mit dem Finger auf sie, bevor sie von ihren Müttern durch einen Klaps ermahnt wurden.
Was hatten diese Menschen nur? Natürlich war es ungewöhnlich, dass eine so große Gruppe durch ihre Stadt zog, aber man bemerkte es, machte vielleicht einen verwunderten Kommentar und wandte sich dann schulternzuckend wieder seiner Beschäftigung zu. Das zumindest hatte Alef erwartet. Von der gehäuften Aufmerksamkeit wurde ihm unwohl.
Plötzlich mündete die Straße, die mittlerweile aus Pflastersteinen bestand, in einen großen Platz. Einige Stände befanden sich gerade im letzten Stadium des Abbaus und Alef vermutete, dass hier noch vor wenigen Stunden ein Markt stattgefunden hatte. Er versuchte, sich die gewaltige Menschenmasse vorzustellen, die hier Platz hatte, doch er konnte es nicht. Der Lärm musste hier tagsüber ohrenbetäubend sein. Alef war erleichtert, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit in Kyntos angekommen waren.
Als sie die andere Seite des Platzes schließlich erreichten, standen sie plötzlich wieder vor einer Mauer. Einen Augenblick fragte sich Alef, ob sie schon die andere Seite der Stadt erreicht hatten, beschloss aber, dass dies nicht der Fall sein konnte. Sein Blick folgte den Laternen, die, zu beiden Seiten der Straße aufgestellt, gerade von zwei Nachtwächtern entzündet wurden. Einige Schritte weiter befand sich ein weiteres Tor, ebenso breit und stark wie das Erste. Ihr Führer hielt darauf zu. Er gab den Wachen dort ein Zeichen, woraufhin das große Tor geöffnet wurde. Alef staunte nicht schlecht, als er sah, dass sich innerhalb der Stadt Kyntos noch eine weitere Stadt befand.
Von vielen Laternen hell erleuchtet lagen weitläufige Steinhäuser mit großzügigen Gärten an einer breiten Straße. Der Unterschied zu den Außenbezirken hätte nicht größer sein können. Nur noch wenige Menschen sah man auf der Straße, doch die meisten Fenster zeigten den Schein von Kerzen und prasselndem Kaminfeuer. Das Viertel schien vergleichsweise klein und von dem Ring aus Mauerwerk vollständig umschlossen.
Das Zentrum dieser inneren Stadt bildete schließlich ein Gebäude, das in dieser wohnlichen Atmosphäre völlig deplaciert wirkte. Der Herrschersitz des Barons Torwin war eine finstere, kalte Trutzburg, deren Türme sich noch weit über die Stadtmauern erhoben. Sein Grundriss schien größer zu sein als der des Sterns, dem größten zusammenhängenden Gebäude, das Alef bis zu diesem Tag gesehen hatte. Ein drittes Mal standen sie vor einem großen Tor, doch offensichtlich erwartete man sie bereits, denn es war geöffnet und sie wurden wortlos hereingebeten.
Als sie dicht gedrängt in der kalten, nur spärlich erleuchteten Vorhalle standen, fühlte sich Alef seltsam ausgeliefert. Um sich abzulenken sah er sich um. Anders als in vielen hohen Häusern wurde hier kein Reichtum zur Schau gestellt. Die lange Säulenhalle war bis auf einen mit verschlungenen Mustern gewebten Teppich und einigen silbernen Kerzenleuchtern, die in regelmäßigen Abständen in die Wand eingelassen waren, gänzlich schmucklos. Für gewöhnlich versuchten Herrscher, ihre Besucher mit einer Demonstration ihres gewaltigen Reichtums einzuschüchtern, das wusste Alef von seinem Vater. Allerdings sah er auch ein, dass dies hier nicht vonnöten war.
Man ließ sie warten. Der Wächter, der sie hergeführt hatte, war plötzlich und wortlos wieder verschwunden und so standen unruhig in der Halle, von einem Fuß auf den anderen tretend. Dann schließlich öffnete sich eine doppelflüglige Tür am anderen Ende des Flures und ein kleiner Mann von unauffälliger Erscheinung, der aber dafür mit umso auffälligeren Kleidern und ausgesprochener Wichtigkeit im Blick ausgestattet war, trat ein.
„Man möge eintreten!“, rief er mit hoher, knabenhafter Stimme. „Das Essen steht bereit. Seid unsere Gäste!“
Jubel brach aus und die Menschen stürmten an dem kleinen Mann, der mit einer einladenden Bewegung, wohl auch, um nicht niedergetrampelt zu werden, zur Seite trat. Nur Rebecca lief nicht voran, sie ging beiseite, um noch einige Worte mit dem Mann zu wechseln. Alef, neugierig geworden, verlangsamte seinen Schritt und spitzte die Ohren.
„Ist der Baron zugegen?“, fragte die Äbtissin mit ernster Stimme.
„Seine Hochwohlgeboren wird euch nach dem Essen empfangen“, kam als Antwort. „Ihr solltet Euch zunächst stärken.“
Rebecca schien noch etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber wohl doch dagegen und ging weiter, so dass auch Alef wieder eine normale Gangart annahm. Er durchquerte gerade mit den letzten ihrer Gruppe den Eingang, als sich eine Hand sanft auf seiner Schulter niederließ.
„Du solltest nicht so neugierig sein, mein kleiner Freund.“
Erschrocken blickte Alef auf, doch in Rebeccas Gesicht lag ein schelmisches Grinsen. „Und wenn, dann sei es zumindest nicht so auffällig.“
Der Speisesaal war riesig. Alef vermutete, dass der Sinn des Raumes eigentlich ein anderer war und die langen Tische vor kurzem erst herein getragen worden waren, doch das war gleich. Für sie war es wie ein Bankett. Yasemina hatte einen Platz für ihn frei gehalten und winkte ihn nun herrisch hinüber.
„Wo warst du denn?“, fragte sie beleidigt. Anscheinend war sie der Ansicht, dass Alef nicht von ihrer Seite zu weichen hatte. Der Angeklagte zeigte eine um Entschuldigung bittende Miene und überlegte sich gerade, was er antworten sollte, als Rebecca laut mit dem Knauf ihres Messers auf den Tisch klopfte. Sofort kehrte Ruhe ein und alle Aufmerksamkeit widmete sich der Äbtissin. Einige der Ungeduldigen, die sich schon an den Speisen bedient hatten, legten einen beschämten Blick auf.
„Bevor wir mit dem Essen beginnen“, ein mahnender Blick lag in Rebeccas umherwandernden Augen, „mögen wir kurz innehalten und der heiligen Laurane für unsere Rettung und unser Leben danken.“
Pflichtschuldig breitete sich eine schwere Stille aus. Alef, der den Blick gesenkt hielt, spürte die Unruhe im Saal und konnte sie verstehen. Der Duft der Speisen ließ auch ihm den Speichel im Mund fließen und seinen Magen schmerzhaft verkrampfen. Doch Rebecca quälte sie nicht lange. Nach einigen drückenden Momenten nickte sie und ließ sich in ihrem Stuhl nieder.
Man hätte meinen können, es wären die Raggar, die hier zu Tisch saßen. Im Angesicht des bohrenden Hungers war jede Etikette fehl am Platze. Alef wurde bewusst, dass ihr Benehmen einen bleibenden Eindruck bei ihren Gastgebern hinterlassen würde und ein Blick in Rebeccas verärgert gerunzeltes Gesicht verriet ihm, dass sie dasselbe dachte. Aber wer konnte es ihnen schon verdenken? Sicherlich würde der Baron es verstehen.
Interessiert bemerkte Alef, dass der Stirnplatz der Tafel frei war. Als Äbtissin hatte Rebecca unter ihnen allen den höchsten Rang, sie hatte die Gruppe angeführt und für sie gesprochen. Warum also saß sie zwischen ihnen und nicht auf dem ersten Platz wie es ihr zugestanden hätte? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, war sich zugleich aber sicher, dass sie ein bestimmtes Ziel damit verfolgte.
Das Mahl war nicht königlich, dafür war es aber reichlich. Es gab frisches Brot, Butter, Wurst, Käse und Braten vom Schwein. Dazu wurde verdünntes Bier für die Dorfbewohner und Wasser für die Ordensmitglieder, denen der Genuss von berauschenden Mitteln nicht gestattet war, gereicht. Erst als auch der Letzte sich bis zur Übelkeit voll gestopft hatte, lehnte man sich zurück und begann zu reden. Die Themen waren natürlich überall die gleichen: Wie würde es weitergehen? Was war mit ihren Anverwandten? Beliebt waren auch wenig zurückhaltende Flüche und Verwünschungen gegen die Barbaren. Alef sprach nicht, er nickte zwar zu Yaseminas nicht abebbendem Redefluss, jedoch ohne ihr zuzuhören.
Nach einiger Zeit tauchte der kleine Mann, vermutlich war er der Haushofmeister oder etwas in der Art, wieder auf und machte durch vernehmliches Hüsteln auf sich aufmerksam.
„Wir hoffen, es hat gemundet und entschuldigen uns, dass aufgrund der mangelnden Zeit das Essen so einfach erscheinen musste“, sagte er, als schließlich Ruhe eingekehrt war. Zustimmende Rufe ertönten und man ließ den Gastgeber mit Krügen und Bechern hochleben, was der Mann mit einem höflichen Lächeln zur Kenntnis nahm. „Noch mehr müssen wir uns für die Qualität der Schlafstätten entschuldigen. Da wir auf einen so…zahlreichen Besuch nicht vorbereitet sind, bleibt uns leider nichts Anderes übrig, als auf die Ställe zu verweisen. Es sind jedoch genug Decken herbeigeschafft worden und bei diesem milden Klima wird die Nacht hoffentlich erträglich werden.“
Er brach ab und blickte erwartungsvoll in die Runde. Für den Moment war Alef völlig verwirrt ob dieses Verhaltens. Erst später kam ihm die Idee, dass der Mann vermutlich darauf gewartet hatte, ob sich jemand ereiferte.
„Gut“, fuhr er schließlich fort, „ich werde dann die Führung zu den Ställen übernehmen. Falls es noch Wünsche, gleich welcher Art, geben sollte, gebe man diese an mich oder einen meiner Gefolgsleute weiter. Mein Name ist übrigens Adolfo Adriano Sorin von Blautann.“ Eine tiefe Verbeugung folgte diesen Worten. „Wenn man mir also folgen möge…“
Adolfo schritt voran und verließ den Saal. Die Gruppe schloss sich ihm in einer langen Reihe an, wie in einer abstrusen Prozession. Alef stand nicht mit den Anderen auf.
„Was machst du?“, fragte Yasemina fröhlich. „Komm, du musst doch auch erschöpft sein!“
Doch der Junge schüttelte den Kopf.
„Ich muss etwas erledigen…du weißt schon.“
Das kleine Mädchen nickte langsam, überlegte aber anscheinend dabei noch, was er wohl meinen konnte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.
„Ach, du musst pissen, sag das doch!“, rief sie ungebührlich laut mit einem schelmischen Grinsen. Alef verdrehte peinlich berührt die Augen. „Dann komm ich eben mit“, fügte Yasemina hinzu, „und dann gehen wir zusammen zu den Ställen.“
„Nein“, antwortete Alef langsam, „ich wäre dabei lieber allein.“
Als er sah, wie sich Yaseminas Unterlippe in eine gefährlich schmollende Position bewegte, beeilte sich Alef, zu verschwinden. In Gedanken leistete er Abbitte für die Notlüge, aber vermutlich hätte er dem Mädchen in hundert Jahren nicht erklären können, dass er schlicht allein sein wollte, nichts weiter. Die ganze Zeit mit so vielen Menschen am selben Ort sein zu müssen, hatte ihn sehr angestrengt und nun, da sich die Gelegenheit bot, wollte er zumindest für einige Augenblicke Ruhe und Frieden finden.
Wahllos schlüpfte Alef durch eine Tür und fand sich in einem nur spärlich durch Fackeln erhellten Wehrgang wieder. Es war kalt, da die Zugluft durch die Schießscharten ungehindert eindrang. Niemand war zu sehen. Weder seinen Gedanken noch seinen Schritten Aufmerksamkeit schenkend schlenderte der Junge dahin, wie er es bis vor wenigen Tagen noch jeden Morgen getan hatte. Es tat gut, brachte etwas Gewohnheit zurück in eine zerschlissene Welt.
Die Flure der Burg waren eng und wirkten auf den ersten Blick verwirrend und ziellos, aber mit der Zeit erkannte Alef eine gewisse Symmetrie – ineinander verschachtelte Kreise, immer mit dem gleichen Gangmuster verbunden – , die sich mit jedem Schritt verdeutlichte. Bald konnte der Junge bereits sagen, was sich hinter der nächsten Biegung befand, bevor er es zu Gesicht bekam. Es war eine recht ausgeklügelte Taktik. Jemand der das System kannte, wusste leicht, wie er schnell von einem Ort zum anderen kam, während Fremde, oder auch Feinde, sich heillos verirren mussten. Die wenigen Male, die er anderen Menschen – meist Soldaten – begegnete, schenkte man ihm keine Aufmerksamkeit. Vermutlich hielt man ihn für einen Küchenjungen oder sonstigen Bediensteten.
Dann, plötzlich, hielt er inne. Eine Stimme erklang aus einem angrenzenden Raum. Es war eine Stimme, die er kannte, sie gehörte Rebecca. Unwillkürlich blieb Alef stehen. Er sah Licht unter einer Tür zur Rechten. Für einen Moment kämpfte sein Ehrgefühl mit der brennenden Neugier, doch Letztere obsiegte schnell. Wie selbstverständlich nahm der junge Novize neben der Tür Stellung, als wäre er ein Diener, der darauf wartete, dass sein Herr ihn rufen ließ, und spitzte die Ohren. Auch wenn die Worte nur gedämpft herausdrangen, konnte er mit der Zeit dem Gespräch recht gut folgen.
„Ihr könnt darüber ja denken, wie Ihr wollt“, sagte Rebecca gerade. Ihr Tonfall war nur mühsam beherrscht. „Das ändert allerdings nichts an den Tatsachen.“
Die Antwort klang wie das Niesen eines Ochsen. Alef vermutete, dass es ein Lachen darstellen sollte. Dann sprach eine Stimme und der Lauscher war überzeugt, dass ein Ochse genauso klingen würde, wenn er sprechen könnte: tief, langsam, aggressiv, drohend, herrisch.
„Papperlapapp. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, etwas zu tun.“ Das konnte nur die Stimme des Herren dieser Burg sein. Es passte einfach zu gut.
„Nur eine Tagesreise entfernt lagert eine Armee von Raggar und Ihr seht nicht die Notwendigkeit, etwas zu tun?“ Rebeccas Entsetzen war deutlich ihrer Stimmte zu entnehmen.
„Lasst diese Primitiven mal meine Sorge sein, meine Gute“, antwortete der Baron. „Viel wichtiger ist: was gedenkt Ihr wegen Eurer Leute zu tun? Mann solle mich nicht unterstellen, dass ich kein guter Gastgeber sein, aber…“
Er ließ den Satz betont unvollendet.
„Ich werde für ‚meine Leute’, wie ihr sie nennt, schon eine Unterkunft finden, macht euch darum keine Sorgen. Aber wir müssen…“
Was Rebecca sagen wollte, blieb ungesagt, denn Torwin fiel ihr ins Wort.
„Ja ja, das sehen wir noch morgen. Ihr seid erschöpft und erregt, meine Gute. Ich kann das nachvollziehen, aber für unser Gespräch ist es nicht sehr förderlich. Ruht Euch erst etwas aus.“ Es klang eindeutig wie ein Befehl und obwohl der Baron nicht ihr Herr war, wehrte sich Rebecca überraschenderweise nicht.
Dieses Gespräch ist noch nicht beendet!“, rief sie lediglich, nicht mehr in der Lage, ihren Zorn zu unterdrücken.
„Das sagte ich doch“, war die gelangweilte Antwort. „Wartet einen Augenblick, dann rufe ich einen Diener, der Euch zu Eurem Zimmer führt, werte Mutter.“
Alef hatte noch nie gehört, dass jemand diesen Titel mit solch einer Abscheu aussprach.
„Danke, ich ziehe es vor, bei ‚meinen Leuten’ zu schlafen, Euer Hochwohlgeboren.“ Die Stimme klang plötzlich viel näher und der lauschende Novize erschrak, als ihm viel zu spät in den Sinn kam, dass er schon längst hätte verschwinden sollen. Doch bevor er noch handeln konnte, flog die Tür bereits mit einem Krachen auf und wie ein wahr gewordener Alptraum stürmte die Äbtissin um die Ecke. Dort blieb sie so plötzlich und ruckartig stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Der erstaunte Gesichtsausdruck beim Anblick des kleinen Novizen, der verschämt grinste, wandelte sich schnell in Missmut. Alef meinte zwar, er würde den Anflug eines unterdrückten Lächelns erkennen, war sich aber nicht sicher, ob dabei nur die Hoffnung für ihn sprach. Ehe er auch nur einen Ton über die Lippen bringen konnte, hatte Rebecca ihn am Arm gepackt und zog ihn in rasantem Tempo hinter sich her.
„Mutter…es tut mir leid“, keuchte Alef, erhielt aber keine Antwort. Erst als sie wieder tief im Ganglabyrinth eingetaucht waren, verlangsamte sich ihr Schritt und schließlich blieb sie stehen.
„Also?“, fragte sie in tadelndem Ton. „Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?“
Beschämt blickte der Angeklagte zu Boden. Er antwortete nicht, da er ahnte, dass Rebecca ihm so oder so nicht zuhören würde.
„Und ich habe es dir vorhin noch gesagt“, fuhr diese tatsächlich nach nur einem kurzen Moment fort. „Du sollst dich nicht so leicht erwischen lassen!“
Verwirrt sah Alef auf und erkannte das Grinsen, das nun unverhohlen auf Rebeccas Gesicht lag. Doch schon einen Augenblick später war es wieder verschwunden und machte Sorge Platz.
„Nun mal im Ernst, mein Junge, du solltest ein wenig vorsichtiger sein. Wir befinden uns hier nicht gerade unter Freunden.“
Alef nutzte die Gelegenheit, um von seinem eigenen Vergehen abzulenken.
„Warum hassen uns die Leute hier?“, fragte er schnell. „Und warum behandeln sie Euch so respektlos?“
Rebecca seufzte schwer und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
„Komm, lass uns ein paar Schritte gehen“, sagte sie schließlich.
So geschah es auch. Einige Zeit liefen sie schweigend nebeneinander her. Alef stellte keine weiteren Fragen, sondern wartete, bis die Äbtissin von sich aus sprach.
„Was weißt du über den großen Krieg?“, fragte sie dann.
„Nur das, was uns beigebracht wurde“, antwortete der Junge verwirrt.
„Erzähl mir, was du weißt!“
Alef runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn und holte dann tief Luft.
„Im Jahre 372 Laurane starb der einzige Sohn des Königs Raffael von Sareis, Kronprinz Rowan, bei einem Jagdausflug unter mysteriösen Umständen. Heute ist nicht mehr viel darüber bekannt, aber vermutlich traf ihn ein verirrter Pfeil. König Raffael vermutete einen Anschlag des maza’alschen Kaisers Borjik der Dritte, dessen Botschafter zu dieser Zeit Gäste am Sommerpalast des Königs, der heutigen Burg Khoros in Thenaba waren und auch an der Jagd teilnahmen. Borjik stritt jegliche Schuld ab, doch der Vorfall entzündete einen Konflikt, der schließlich im Krieg mündete. Da Sareis als Aggressor galt, hatte Kaiser Borjik keine Schwierigkeiten, Bündnisse mit Rah’Aleb und dem Burdenreich zu schließen, wodurch Sareis von Feinden mehr oder weniger umzingelt war. Die Raggar mischten sich natürlich, wie es ihre Art war, nicht ein.“ Erschöpft machte Alef eine Pause. Der Anblick der respektvollen Anerkennung in Rebeccas Augen ließ ihn jedoch sofort wieder ansetzen.
„Es war von Anfang an eindeutig, dass Raffael diesen Krieg nicht gewinnen konnte, dennoch dauerte er noch fast zehn Jahre an. Schließlich fiel König Raffael 32 Mhril; 381 Laurane in der Schlacht von Kaltenborn und Sareis stand ohne Herrscher und ohne Thronfolger da. Raffaels Gemahlin, Königin Agescha, war zu schwach, um allein die Herrschaft zu halten und Sareis stürzte in einen Bürgerkrieg. Rah’Aleb und das Burdenreich sahen ihre Bündnispflicht als erfüllt an und zogen sich aus dem Krieg zurück. Kaiser Borjik beschloss, abzuwarten, bis sich Sareis von innen heraus zerstörte. Der fürchterliche Bürgerkrieg dauerte noch über zwölf Jahre an und am Ende war Sareis in zahllose Kleinstaaten zerfallen. Glücklicherweise gab es zu dieser Zeit Unruhen in den Maza’alschen Eisenminen und der gealterte Kaiser Borjik besaß nicht mehr die Mittel, einen Eroberungskrieg gegen die sareischen Kleinstaaten zu führen. So entstand schließlich ein wackeliger Frieden, der sich mit der Zeit festigte. Dies war der letzte große Krieg, den die Westlande gesehen haben.“
Rebecca nickte voller Stolz. Alef spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg und blickte zur Seite.
„Und was ist seither in den sareischen Kleinstaaten geschehen?“, fragte die Äbtissin weiter.
„Nicht viel Bewegendes“, überlegte der Junge. Vor etwa hundert Jahren lehnte sich das Bürgertum von Honotia gegen seine Herrscher auf und erklärte das Land zur Republik. Ach und natürlich hat sich das Kloster Eibenbach 411 Laurane für autonom erklärt- Die Baronie Kyntos konnte nicht viel dagegen unternehmen, da der Orden Lauranes sich wie jeder andere Heiligenordern über den Staat erheben kann. Oh…ich verstehe…“
Tatsächlich begann es, Alef zu dämmern. Gleichzeitig entsetzte ihn die Vorstellung aber auch.
„Noch immer zürnen der Herrscher und das Volk Kyntos’ den Lauranern für diese Tat? Wie können sie das tun? Es ist doch so furchtbar lange her.“
Rebecca nickte ernst.
„Manchmal kann verletzter Stolz auch furchtbar lange schmerzen“, gab sie zu bedenken. „Und wie ist nun unsere Position in diesem Land?“ Ein aufmunterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, doch ihre Augen glitzerten traurig.
„Natürlich sind die Menschen hier nicht gut auf uns zu sprechen“, antwortete er schnell, doch dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. „Da wir in keiner Weise zu Kyntos gehören, sind wir Flüchtlinge in einem fremden Land.“ Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Und somit rechtlos.“
Schmerz und Staunen bildeten ein ungewöhnliches Paar im Blick der alten Frau, als sie auf den kleinen Jungen herabsah.
„Es ist unfassbar, welche Zusammenhänge du in deinem Alter schon erkennst“, sagte sie leise. „Woher weißt du so viel?“
„Ich habe ein paar Bücher gelesen“, murmelte der Angesprochene abwesend. Die Folgen dieses Gedankengangs waren schwerwiegend. Baron Torwin konnte mit ihnen vorgehen, wie es ihm beliebte, solange sie sich ihm nicht unterwarfen. Und selbst wenn sie dies tun wollten, musste der Herrscher ihr Unterwerfungsgesuch erst einmal annehmen. Und obwohl ihm sein adliger Titel wenig bedeutete, missfiel es ihm als Sohn eines Grafen außerordentlich, sich einem Baron zu Füßen zu werfen. Mehr denn je wünschte er sich nach Hause zu seiner Familie. Doch dieses seltsame Gefühl der Verantwortung gegenüber den Leidenden, nun auch gegenüber Yasemina, der Wunsch, seine Äbtissin stolz zu machen, das hielt ihn hier. Er wusste, dass die meisten Anderen nirgends hin konnten und auch wenn es ihnen vermutlich gleichgültig war, wollte er bei ihnen bleiben.
Mit einem Mal blieb Alef stehen und sah auf. Er wusste nicht, wie lange Rebecca ihn bereits beobachtete, aber ihr amüsierter Blick verriet, dass er einige Zeit in Gedanken gewesen sein musste.
„Ich habe einen Vorschlag für dich, mein Junge“, sagte sie langsam, nachdenklich. „Einen klugen Kopf wie dich kann ich an meiner Seite gebrauchen. Möchtest du als mein Gehilfe mich mit Rat und Tat unterstützen?“
Erstaunt blickte Alef die ältere Frau an.
„Euer Gehilfe?“, fragte er fassungslos. „Aber wie könnte ich Euch denn nützen?“
„Ich möchte, dass du beobachtest. Und zuhörst. Und später sollst du mir sagen, was du denkst, mehr nicht. Was hältst du davon?“
Alef runzelte die Stirn. Dann stahl sich ein Grinsen in sein Gesicht.
„Ihr meinte, einem Kind gegenüber sind die Leute weniger misstrauisch, nicht wahr?“
Unwillkürlich lachte Rebecca laut auf.
„Ich sehe schon, dass ich es gut mit dir getroffen habe. Willigst du ein?“
Kein Zweifel lag in Alefs Antwort.
„Ihr wisst doch, ich kann Euch nichts abschlagen, Mutter.“
Ein Tätscheln auf seine Schultern besiegelte die Abmachung.
„Ich habe nichts anderes erwartet, mein Sohn. Lass uns zurückgehen. Wo sind wir eigentlich?“
Rebecca war stehen geblieben und sah sich nun verwirrt um. Erneut musste Alef grinsen und es tat gut.
„Erlaubt, dass ich Euch führe, Mutter“, sagte er galant und die Angesprochene willigte mit Freuden ein.
Alef war es zufrieden. Er hatte eine Aufgabe, eine weitere, und er war stolz darauf. Dass Rebecca, die Äbtissin ihres Klosters, auf seinen Rat Wert legte, war für ihn die größte Ehre, die er sich vorstellen konnte.
Doch mit einem Mal fiel ihn Entsetzen an, als er daran dachte, was ihn an diesem Abend noch erwarten mochte. Er hoffte inständig, dass Yasemina bereits schlafen möge, machte sich aber keine Illusionen. Alef seufzte lang und schwer. Er würde sich auf ein anhaltendes Donnerwetter einstellen müssen.
Plötzlich glich der Gang dem Weg zur Schlachtbank.
Noch eine Frage vorher: mir ist aufgefallen, dass die Hauptcharaktere und die meisten Hauptnebencharaktere, nämlich Khalid & Ludger (16), Daved (Anfang 20), Hilda (17-20), Alef (8), ungeplanterweise alle sehr jung sind. Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass das Ganze damit zu sehr in Richtung Jugendroman tendiert und das war von mir nicht so beabsichtigt. Was ist eure Meinung dazu?
11
10 Oris, 1084 Laurane; nachts
Die Stunden zogen sich endlos dahin. Nie hatte Alef geahnt, wie langweilig simples Laufen doch sein konnte. Und wie anstrengend. Seine Bewegungen und auch die der anderen glichen mittlerweile mehr einem kraftlosen Vorwärtskriechen.
„Alef, mir tun die Füße so weh. Und ich hab solch einen Hunger!“
Verärgert blickte der Junge zu Yasemina hinüber. Er konnte sie ja verstehen und sie tat ihm auch leid, aber ihre Quengeleien zerrten an seinen Nerven. Schließlich ging es ihm und den Anderen auch nicht besser.
„Wir sind bald da“, sagte er zum nun wohl schon hundertsten Male. Im Kopf sang er diese Litanei bereits die ganze Zeit.
Wir sind bald da. Wir sind bald da.
Es half nicht viel, aber es half.
„Das sagst du schon seit Stunden“, schmollte das Mädchen.
Wie viele Stunden waren sie überhaupt schon unterwegs? Alef hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber es sah so aus, als wären sie dem Abend mittlerweile näher als dem Mittag. Vom Zug war kaum etwas zu hören, alle Gespräche waren den Mühen zum Opfer gefallen, nur gelegentlich gab jemand ein Stöhnen von sich. Einige der Alten und Schwachen wurden von den Stärkeren gestützt, weil sie nicht mehr alleine gehen konnten.
Mutter Rebecca aber war von Erschöpfung nichts anzumerken. Wie die hölzernen Figuren am Rumpf großer Schiffe, von denen sein Vater ihm einmal erzählt hatte, dem Sturm trotzten, so schritt sie unbeirrbar voran. Doch auch sie hätte vermutlich schon zur Pause gerufen, wenn der Hunger sie nicht alle vorantreiben würde.
Alef flüchtete sich in seine Gedanken. Dort gab es eine Welt, in der alles noch so wie ehedem, vor dem Überfall, war. Es war schön, sich das vorzustellen. Um das Kloster und sein altes Leben tat es ihm nicht leid, er konnte genauso gut nach Hause zurückkehren, auch wenn es dort vermutlich eher langweilig war. Aber all dieser Schmerz, dieses grundlose Leiden, er konnte es nicht verstehen. Vermutlich war er noch zu jung, um den Sinn dahinter zu sehen.
Irgendwann, es mochten erst wieder einige Minuten vergangen sein, vielleicht aber auch eine ganze Stunde, rief jemand plötzlich aufgeregt:
„Ein Hof! Dort in der Ferne liegt ein Hof!“
Allgemeines Gemurmel brach aus, als man die Gebäude erblickte, die soeben in einiger Entfernung aufgetaucht waren.
„Ein Hof, dort gibt es Essen!“
„Essen!“
„Endlich!“
„Und wir können uns ausruhen!“
Doch bevor die Euphorie endgültig ausbrechen konnte, wurde die Menge von Rebecca ermahnt.
„Wartet, meine Freunde! Das ist nur ein einzelner Hof, man besitzt dort bestimmt nicht genug Nahrung, um uns alle zu versorgen.“
Eine Mischung aus Enttäuschung und Wut machte sich breit. Seltsam, es schien fast, als würden sie der Äbtissin die Schuld für ihre zerstörte Hoffnung geben, dabei hatte sie nur die Wahrheit gesagt.
„Dies ist dennoch ein gutes Zeichen“, fuhr sie schnell fort, als sie den Umschwung der Emotionen bemerkte. „Denn nun kann die Stadt nicht mehr fern sein. Ich werde die Bauern fragen, wie weit es noch ist. Wir haben unser Ziel fast erreicht. Seid bitte nur noch ein wenig standhaft, dann haben wir es bald geschafft!“
Es war offensichtlich, dass niemand damit zufrieden war. Aber genauso offensichtlich war es, dass niemand ihr widersprechen konnte. Langsam setzte sich der Tross unter vielstimmigem Murren wieder in Bewegung.
Vermutlich hatten die Bauern sie gesehen, denn nur kurze Zeit später kam ihnen eine kleine Gruppe vom Hof aus entgegen. Als sie sich näherten, konnte man erkennen, dass es drei Personen waren und schließlich zeigte sich, dass es sich um einen untersetzten Mann mit wettergegerbtem Gesicht handelte, der offensichtlich seine besten Jahre schon hinter sich hatte und in Begleitung von zwei Bullen von Männern war, die ihn fast um Haupteslänge überragten. Aus der Selbstbewussten Haltung des Ersten ließ sich schließen, dass er wohl der Gutsherr war und seine bulligen Begleiter Knechte oder Söhne.
„Laurane und alle Heiligen mit dir“, begann die Äbtissin, als sich die ungleichen Gruppen schließlich gegenüber standen. „Mein Name ist Rebecca und ich bin – war – die Äbtissin des Lauranerklosters Eibenbach.“
Der Bauer neigte kurz den Kopf. „Angenehm“, brummelte er mit tiefer Stimme. Seinen Namen nannte er nicht.
„Wir sind Flüchtlinge“, fuhr Rebecca schließlich fort. „Das Kloster wurde gestern Nacht von Raggar angegriffen und zerstört.“
Nun zeigte sich tatsächlich etwas wie eine Regung im Gesicht des Mannes. Eine Augenbraue hob sich leicht und sein Blick wurde interessierter.
„Barbaren, hm? Das ist nicht gut.“
„Wir brauchen etwas zum Essen!“, rief plötzlich jemand, der nicht länger an sich halten konnte aus den hinteren Reihen.
„Ja, und einen Platz zum Schlafen!“, fügte ein Anderer hinzu. Zustimmendes Gemurmel entstand. Im Gesicht des Bauern war aber keine Reaktion zu erkennen.
„Ich habe nichts, das ich euch geben könnte“, gab er gelassen zurück. „Unsere Vorräte reichen gerade für uns und die Verkäufe auf dem Markt. Platz genug für euch alle habe ich auch nicht. Sucht euch etwas Anderes.“
„Wir erwarten auch nichts dergleichen von dir“, beeilte sich Rebecca zu sagen. In ihrem Gesicht war Ärger zu lesen, ob nun über das Verhalten ihrer eigenen Leute oder die Teilnahmslosigkeit des Bauern konnte Alef nicht sagen. „Wir möchten nur wissen, wie weit es noch bis Kyntos ist.“
„Gegen Abend dürftet ihr dort sein“, kam die Antwort.
Gegen seinen Willen musste Alef grinsen. Diese wortkarge Nüchternheit konnte schon an den Nerven zehren. Mutter Rebecca behielt aber die Fassung.
„Ich danke dir für diese Auskunft, mein Freund. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, du solltest auch bald Schutz in der Stadt suchen. Wer weiß, ob die Raggar nicht hierher ziehen?“
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern.
„Wir werden sehen“, murmelte er und wandte sich zum Gehen, seine stumm gebliebenen Begleiter schlossen sich ihm an.
„Den Segen der Heiligen mit dir!“, rief die Äbtissin noch hinterher. Ihr gemurmeltes „Du elender Narr..“ konnten wohl nur diejenigen, die sich ganz in ihrer Nähe befanden, hören.
Der so Gesegnete hob die flache Hand zum Dank, ohne sich die Mühe zu machen, dafür anzuhalten oder den Kopf zu wenden.
„Nun denn“, seufzte Rebecca schließlich. „Immerhin wissen wir jetzt sicher, dass wir heute Abend noch ankommen werden. Also los dann!“
Tatsächlich hatte der namenlose Bauer Recht behalten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschienen endlich, nach einer scharfen Biegung der großen Hauptstraße, die Stadtmauern Kyntos’ in der Ferne.
Unterwegs waren sie noch mehreren Anwohnern der umliegenden Höfe begegnet. Die Reaktionen waren sich meist recht ähnlich. Mann hatte nicht viel, konnte nicht helfen, war aber auch nicht bereit, seinen Besitz zurückzulassen und in die Stadt zu flüchten. Alef fragte sich, warum die Menschen hier so dumm waren. Was nützte ihr ganzer Besitz denn noch, wenn die Barbaren kämen und alles niederrissen oder an sie nähmen? Da war es doch wichtiger, sich selbst zu retten.
In ihrer Gruppe wurde die Stimmung nun merklich besser. Der Schritt beschleunigte sich, ungeduldig sehnte man sich den Mauern der Stadt entgegen, die Schutz und Wärme und noch vieles mehr versprachen.
Schon von hier konnte man erkennen, dass die Mauer ziemlich dick und mindestens drei oder vier Mann hoch war. Fasziniert, aber auch ein wenig verwirrt, betrachtete Alef sie. Gegen wen oder was musste sich die Stadt schützen? Wohl nicht gegen die Barbaren, denn die hatten, soweit er aus dem Geschichtsunterricht wusste, bislang noch nie Städte in dieser Gegend angegriffen. Nun, für sie gereichte es zum Vorteil und das war die Hauptsache.
Von den Gebäuden hinter der Mauer war aus ihrer Sicht nichts zu sehen, etwas weiter im Süden erkannte man aber die trutzigen Türme der Residenz des Barons, der von Kyntos aus über Smatis herrschte. Seltsam, er hatte einen Palast oder Ähnliches erwartet, aber diese Türme wirkten so, als gehörten sie zu einer Festung. Alef würde bald erfahren, dass er mit diesem Gedanken nicht Unrecht hatte.
Es benötigte noch einige Zeit, um schließlich vor die Tore der Stadt zu gelangen und die Dämmerung war schon weit fortgeschritten.
Trotz des wenigen Lichts wirkte die Größe der Stadtmauern imposant. Alef war sich zwar sicher, dass er zu wenig vom Kriegshandwerk verstand, um es ernsthaft beurteilen zu können, aber vermutlich würde diese Stadt einer Belagerung wesentlich länger standhalten als das Kloster. Vor allem das gigantische zweiflüglige Eichentor wirkte unerschütterlich und undurchdringlich. Und ärgerlicherweise war es schon die ganze Zeit geschlossen.
Seit sie in Sichtweite der Stadt gekommen waren, war ihnen keine Menschenseele begegnet, niemand hatte sie betreten oder verlassen und das war schon sehr merkwürdig. Allein die stark gedämpften Geräusche, die aus Kyntos schollen, zeigten ihnen, dass die Stadt nicht ausgestorben war.
Nachdem sie sich einige Zeit nach einer anderen Möglichkeit umgesehen hatte, bildete Rebecca mit Hilfe ihrer Hände ein Sprachrohr und rief nach oben:
„Hallo! Ist dort oben jemand?“
Eine ganze Zeit lang geschah nichts, dann tauchte ein Schemen in der rechten oberen Ecke des Tores auf und lehnte sich über die Mauer. In der Dunkelheit konnte man nicht viel erkennen, aber das Mondlicht spiegelte sich auf etwas Metallischem, vermutlich einem Helm.
„Wer ist da?“, rief eine missmutige Stimme herunter. „Was wollt ihr um diese Zeit?“
Verwirrt runzelte Alef die Stirn. Es war doch erst früher Abend.
„Mein Name ist Rebecca und ich möchte mit Baron Torwin von Smatis sprechen“, antworte Rebecca unbeirrt und fügte in strengem Ton hinzu: „Es ist äußerst wichtig.“
Erneut herrschte Stille für einen Moment bevor der Torwächter entgegnete:
„Was machen all diese Leute bei euch?“
„Es sind Bewohner des Klosters Eibenbach, sowie des gleichnamigen Dorfes. Würdest du uns nun bitte einlassen?“
Für einen Augenblick wunderte sich Alef, warum die Äbtissin nichts von ihrer Flucht und Heimatlosigkeit erwähnte, dann kam ihm die Idee, dass sie vielleicht erst mit dem Baron darüber sprechen wollte.
Von oben war ein verächtliches Schnauben zu hören.
„Ihr seid die Sprecherin dieses Haufens?“
„Für den Augenblick bin ich das“, antwortete Rebecca und ignoriertet die Beleidigung.
„Dann dürft ihr hereinkommen. Eure Begleiter aber müssen vor dem Tor warten, bis seine Hochwohlgeboren ihnen erlaubt, die Stadt zu betreten.“
Die Äbtissin zog scharf die Luft ein. Sie schien sich nur mühsam beherrschen zu können.
„Hör mich an, guter Mann“, sagte sie schließlich mit mühsam unterdrückter Ungeduld in der Stimme. „Wir haben eine lange Reise hinter uns und müssen uns ausruhen und etwas essen. Meine Begleiter werden die Stadt mit mir betreten und ich werde vor dem Herrn Baron für ihre Zuverlässigkeit bürgen. Jede Schuld, die meinen Leuten zukommt, wird meine Schuld sein, aber niemand wird länger vor den Toren warten müssen. Seid ihr einverstanden mit meinen Bedingungen?“ Mit jedem Wort schien die Mutter ein weiteres Stück Beherrschung zu verlieren und zum Schluss war sie so laut, dass ihre Frage kaum noch den Charakter einer solchen hatte.
„Nun wenn es euch so wichtig ist“, erklang es amüsiert von der Stadtwache, „möchte ich für euch eine Ausnahme machen. Wie könnte ich auch der edlen Frau Äbtissin einen Wunsch verwehren? Aber habt Acht, ich vergesse eure Bürgschaft nicht und ich habe ein Auge auf euch“, fügte er in ernstem Ton hinzu, dann war er verschwunden.
Seltsam, warum wollte man ihnen den Zugang nicht erlauben? Und wieso hatte der Mann Mutter Rebecca so respektlos behandelt? Alef warf einen Blick zu der Äbtissin herüber, die ungeduldig darauf wartete, dass die gewaltigen Flügel des Tores sich öffneten. Sie schien eindeutig verärgert, jedoch nicht überrascht zu sein. Doch der Junge kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn in diesem Augenblick erklang ein lautes Knarren und Rumpeln, als die Stadttore von einem guten Dutzend Männer nach außen geschoben wurden. Die Gruppe musste einige Schritte zurück machen, um nicht zur Seite gestoßen zu werden.
Als diese Arbeit getan war, trat einer der Männer vor und verbeugte sich tief, ein breites Grinsen in seinem Gesicht.
„Seid willkommen in Kyntos, edle Frau Äbtissin. Wenn ihr mir dann die Ehre erweisen würdet, mich zu seiner Hochwohlgeboren zu begleiten?“ Es war der Mann, der vorher vom Tor herab mit ihnen gesprochen hatte. Wie alle anderen Wächter trug er ein rotes Wams, das mit silbernen Fäden durchwoben war und dessen Brust ein silberner Wolf schmückte. Die Art, wie er die Bitte aussprach, verkehrte seine Worte ins Gegenteil, doch Rebecca zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Der Mann machte eine einladende Handbewegung und schritt dann voran. Mit stolzer, unbewegter Miene folgte Rebecca ihm und die ganze Truppe schloss sich an.
Kyntos war für Alef faszinierend und abstoßend zugleich. Es schien, als wäre jeder freie Raum innerhalb der trutzigen Mauern genutzt worden. Schmale, schmuddelige Häuser aus Holz reihten sich eng aneinander, als suchten sie die Wärme der Anderen. Die Gebäude besaßen zwei, manchmal gar drei Stockwerke und einige hatten zudem einen Vorbau, der, auf Stützpfeilern balanciert, sich bis über die Straße erstreckte. Diese bestand aus festem Lehm und bot gerade genug Platz für einen Ochsenkarren.
Dem Jungen wurde es klamm in der Brust und er sehnte sich die offene Weiter der Straße vor den Toren Kyntos´ zurück. Es wäre hier selbst am Tage dunkel wie in einem dichten Wald und ein Geruch von Fäulnis und Exkrementen, menschlichen wie tierischen, lag in der Luft. Ohne die Laterne, die der Wächter vor sich her schwenkte, wären sie in völliger Dunkelheit vorangeschritten.
Die wenigen Menschen, die ihnen auf der Straße entgegen kamen, machten rasch Platz und verbargen die Gesichter, doch Alef spürte regelrecht, wie sich die neugierigen Blicke in seinen Rücken bohrten.
Nach und nach wurde die Straße breiter und sauberer. Die Häuser ließen Platz für einige Gässchen und bisweilen sah man gar einige, deren Erdgeschoss aus Stein erbaut war. Alef war gewiss nicht der Einzige, der erleichtert aufatmete. Vermutlich näherten sie sich dem Stadtzentrum. Die düsteren Schenken, Spielhäuser, Verkaufsstände und anderen Einrichtungen, von denen der Zweck Einiger Alef rätselhaft war, wichen verschiedenen Handwerksstätten. Der Junge konnte Schmieden von Grob-, Huf-, Fein- und auch wenigen Goldschmieden erblicken, Zimmereien, Tischlereien, Schlossereien, ein jeder bot seine Kunst an. Das Viertel der Handwerker war gewaltig, wie auch Kyntos selbst von innen größer schien als von außen.
Da hier auch trotz der späten Stunde mehr Volk auf den Straßen war, sahen sie sich nun unverhohlener Neugierde gegenüber. Gespräche wurden unterbrochen, hinter vorgehaltener Hand getuschelt, einige Kinder – was machten sie um diese Zeit noch hier draußen? – zeigten mit dem Finger auf sie, bevor sie von ihren Müttern durch einen Klaps ermahnt wurden.
Was hatten diese Menschen nur? Natürlich war es ungewöhnlich, dass eine so große Gruppe durch ihre Stadt zog, aber man bemerkte es, machte vielleicht einen verwunderten Kommentar und wandte sich dann schulternzuckend wieder seiner Beschäftigung zu. Das zumindest hatte Alef erwartet. Von der gehäuften Aufmerksamkeit wurde ihm unwohl.
Plötzlich mündete die Straße, die mittlerweile aus Pflastersteinen bestand, in einen großen Platz. Einige Stände befanden sich gerade im letzten Stadium des Abbaus und Alef vermutete, dass hier noch vor wenigen Stunden ein Markt stattgefunden hatte. Er versuchte, sich die gewaltige Menschenmasse vorzustellen, die hier Platz hatte, doch er konnte es nicht. Der Lärm musste hier tagsüber ohrenbetäubend sein. Alef war erleichtert, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit in Kyntos angekommen waren.
Als sie die andere Seite des Platzes schließlich erreichten, standen sie plötzlich wieder vor einer Mauer. Einen Augenblick fragte sich Alef, ob sie schon die andere Seite der Stadt erreicht hatten, beschloss aber, dass dies nicht der Fall sein konnte. Sein Blick folgte den Laternen, die, zu beiden Seiten der Straße aufgestellt, gerade von zwei Nachtwächtern entzündet wurden. Einige Schritte weiter befand sich ein weiteres Tor, ebenso breit und stark wie das Erste. Ihr Führer hielt darauf zu. Er gab den Wachen dort ein Zeichen, woraufhin das große Tor geöffnet wurde. Alef staunte nicht schlecht, als er sah, dass sich innerhalb der Stadt Kyntos noch eine weitere Stadt befand.
Von vielen Laternen hell erleuchtet lagen weitläufige Steinhäuser mit großzügigen Gärten an einer breiten Straße. Der Unterschied zu den Außenbezirken hätte nicht größer sein können. Nur noch wenige Menschen sah man auf der Straße, doch die meisten Fenster zeigten den Schein von Kerzen und prasselndem Kaminfeuer. Das Viertel schien vergleichsweise klein und von dem Ring aus Mauerwerk vollständig umschlossen.
Das Zentrum dieser inneren Stadt bildete schließlich ein Gebäude, das in dieser wohnlichen Atmosphäre völlig deplaciert wirkte. Der Herrschersitz des Barons Torwin war eine finstere, kalte Trutzburg, deren Türme sich noch weit über die Stadtmauern erhoben. Sein Grundriss schien größer zu sein als der des Sterns, dem größten zusammenhängenden Gebäude, das Alef bis zu diesem Tag gesehen hatte. Ein drittes Mal standen sie vor einem großen Tor, doch offensichtlich erwartete man sie bereits, denn es war geöffnet und sie wurden wortlos hereingebeten.
Als sie dicht gedrängt in der kalten, nur spärlich erleuchteten Vorhalle standen, fühlte sich Alef seltsam ausgeliefert. Um sich abzulenken sah er sich um. Anders als in vielen hohen Häusern wurde hier kein Reichtum zur Schau gestellt. Die lange Säulenhalle war bis auf einen mit verschlungenen Mustern gewebten Teppich und einigen silbernen Kerzenleuchtern, die in regelmäßigen Abständen in die Wand eingelassen waren, gänzlich schmucklos. Für gewöhnlich versuchten Herrscher, ihre Besucher mit einer Demonstration ihres gewaltigen Reichtums einzuschüchtern, das wusste Alef von seinem Vater. Allerdings sah er auch ein, dass dies hier nicht vonnöten war.
Man ließ sie warten. Der Wächter, der sie hergeführt hatte, war plötzlich und wortlos wieder verschwunden und so standen unruhig in der Halle, von einem Fuß auf den anderen tretend. Dann schließlich öffnete sich eine doppelflüglige Tür am anderen Ende des Flures und ein kleiner Mann von unauffälliger Erscheinung, der aber dafür mit umso auffälligeren Kleidern und ausgesprochener Wichtigkeit im Blick ausgestattet war, trat ein.
„Man möge eintreten!“, rief er mit hoher, knabenhafter Stimme. „Das Essen steht bereit. Seid unsere Gäste!“
Jubel brach aus und die Menschen stürmten an dem kleinen Mann, der mit einer einladenden Bewegung, wohl auch, um nicht niedergetrampelt zu werden, zur Seite trat. Nur Rebecca lief nicht voran, sie ging beiseite, um noch einige Worte mit dem Mann zu wechseln. Alef, neugierig geworden, verlangsamte seinen Schritt und spitzte die Ohren.
„Ist der Baron zugegen?“, fragte die Äbtissin mit ernster Stimme.
„Seine Hochwohlgeboren wird euch nach dem Essen empfangen“, kam als Antwort. „Ihr solltet Euch zunächst stärken.“
Rebecca schien noch etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber wohl doch dagegen und ging weiter, so dass auch Alef wieder eine normale Gangart annahm. Er durchquerte gerade mit den letzten ihrer Gruppe den Eingang, als sich eine Hand sanft auf seiner Schulter niederließ.
„Du solltest nicht so neugierig sein, mein kleiner Freund.“
Erschrocken blickte Alef auf, doch in Rebeccas Gesicht lag ein schelmisches Grinsen. „Und wenn, dann sei es zumindest nicht so auffällig.“
Der Speisesaal war riesig. Alef vermutete, dass der Sinn des Raumes eigentlich ein anderer war und die langen Tische vor kurzem erst herein getragen worden waren, doch das war gleich. Für sie war es wie ein Bankett. Yasemina hatte einen Platz für ihn frei gehalten und winkte ihn nun herrisch hinüber.
„Wo warst du denn?“, fragte sie beleidigt. Anscheinend war sie der Ansicht, dass Alef nicht von ihrer Seite zu weichen hatte. Der Angeklagte zeigte eine um Entschuldigung bittende Miene und überlegte sich gerade, was er antworten sollte, als Rebecca laut mit dem Knauf ihres Messers auf den Tisch klopfte. Sofort kehrte Ruhe ein und alle Aufmerksamkeit widmete sich der Äbtissin. Einige der Ungeduldigen, die sich schon an den Speisen bedient hatten, legten einen beschämten Blick auf.
„Bevor wir mit dem Essen beginnen“, ein mahnender Blick lag in Rebeccas umherwandernden Augen, „mögen wir kurz innehalten und der heiligen Laurane für unsere Rettung und unser Leben danken.“
Pflichtschuldig breitete sich eine schwere Stille aus. Alef, der den Blick gesenkt hielt, spürte die Unruhe im Saal und konnte sie verstehen. Der Duft der Speisen ließ auch ihm den Speichel im Mund fließen und seinen Magen schmerzhaft verkrampfen. Doch Rebecca quälte sie nicht lange. Nach einigen drückenden Momenten nickte sie und ließ sich in ihrem Stuhl nieder.
Man hätte meinen können, es wären die Raggar, die hier zu Tisch saßen. Im Angesicht des bohrenden Hungers war jede Etikette fehl am Platze. Alef wurde bewusst, dass ihr Benehmen einen bleibenden Eindruck bei ihren Gastgebern hinterlassen würde und ein Blick in Rebeccas verärgert gerunzeltes Gesicht verriet ihm, dass sie dasselbe dachte. Aber wer konnte es ihnen schon verdenken? Sicherlich würde der Baron es verstehen.
Interessiert bemerkte Alef, dass der Stirnplatz der Tafel frei war. Als Äbtissin hatte Rebecca unter ihnen allen den höchsten Rang, sie hatte die Gruppe angeführt und für sie gesprochen. Warum also saß sie zwischen ihnen und nicht auf dem ersten Platz wie es ihr zugestanden hätte? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, war sich zugleich aber sicher, dass sie ein bestimmtes Ziel damit verfolgte.
Das Mahl war nicht königlich, dafür war es aber reichlich. Es gab frisches Brot, Butter, Wurst, Käse und Braten vom Schwein. Dazu wurde verdünntes Bier für die Dorfbewohner und Wasser für die Ordensmitglieder, denen der Genuss von berauschenden Mitteln nicht gestattet war, gereicht. Erst als auch der Letzte sich bis zur Übelkeit voll gestopft hatte, lehnte man sich zurück und begann zu reden. Die Themen waren natürlich überall die gleichen: Wie würde es weitergehen? Was war mit ihren Anverwandten? Beliebt waren auch wenig zurückhaltende Flüche und Verwünschungen gegen die Barbaren. Alef sprach nicht, er nickte zwar zu Yaseminas nicht abebbendem Redefluss, jedoch ohne ihr zuzuhören.
Nach einiger Zeit tauchte der kleine Mann, vermutlich war er der Haushofmeister oder etwas in der Art, wieder auf und machte durch vernehmliches Hüsteln auf sich aufmerksam.
„Wir hoffen, es hat gemundet und entschuldigen uns, dass aufgrund der mangelnden Zeit das Essen so einfach erscheinen musste“, sagte er, als schließlich Ruhe eingekehrt war. Zustimmende Rufe ertönten und man ließ den Gastgeber mit Krügen und Bechern hochleben, was der Mann mit einem höflichen Lächeln zur Kenntnis nahm. „Noch mehr müssen wir uns für die Qualität der Schlafstätten entschuldigen. Da wir auf einen so…zahlreichen Besuch nicht vorbereitet sind, bleibt uns leider nichts Anderes übrig, als auf die Ställe zu verweisen. Es sind jedoch genug Decken herbeigeschafft worden und bei diesem milden Klima wird die Nacht hoffentlich erträglich werden.“
Er brach ab und blickte erwartungsvoll in die Runde. Für den Moment war Alef völlig verwirrt ob dieses Verhaltens. Erst später kam ihm die Idee, dass der Mann vermutlich darauf gewartet hatte, ob sich jemand ereiferte.
„Gut“, fuhr er schließlich fort, „ich werde dann die Führung zu den Ställen übernehmen. Falls es noch Wünsche, gleich welcher Art, geben sollte, gebe man diese an mich oder einen meiner Gefolgsleute weiter. Mein Name ist übrigens Adolfo Adriano Sorin von Blautann.“ Eine tiefe Verbeugung folgte diesen Worten. „Wenn man mir also folgen möge…“
Adolfo schritt voran und verließ den Saal. Die Gruppe schloss sich ihm in einer langen Reihe an, wie in einer abstrusen Prozession. Alef stand nicht mit den Anderen auf.
„Was machst du?“, fragte Yasemina fröhlich. „Komm, du musst doch auch erschöpft sein!“
Doch der Junge schüttelte den Kopf.
„Ich muss etwas erledigen…du weißt schon.“
Das kleine Mädchen nickte langsam, überlegte aber anscheinend dabei noch, was er wohl meinen konnte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.
„Ach, du musst pissen, sag das doch!“, rief sie ungebührlich laut mit einem schelmischen Grinsen. Alef verdrehte peinlich berührt die Augen. „Dann komm ich eben mit“, fügte Yasemina hinzu, „und dann gehen wir zusammen zu den Ställen.“
„Nein“, antwortete Alef langsam, „ich wäre dabei lieber allein.“
Als er sah, wie sich Yaseminas Unterlippe in eine gefährlich schmollende Position bewegte, beeilte sich Alef, zu verschwinden. In Gedanken leistete er Abbitte für die Notlüge, aber vermutlich hätte er dem Mädchen in hundert Jahren nicht erklären können, dass er schlicht allein sein wollte, nichts weiter. Die ganze Zeit mit so vielen Menschen am selben Ort sein zu müssen, hatte ihn sehr angestrengt und nun, da sich die Gelegenheit bot, wollte er zumindest für einige Augenblicke Ruhe und Frieden finden.
Wahllos schlüpfte Alef durch eine Tür und fand sich in einem nur spärlich durch Fackeln erhellten Wehrgang wieder. Es war kalt, da die Zugluft durch die Schießscharten ungehindert eindrang. Niemand war zu sehen. Weder seinen Gedanken noch seinen Schritten Aufmerksamkeit schenkend schlenderte der Junge dahin, wie er es bis vor wenigen Tagen noch jeden Morgen getan hatte. Es tat gut, brachte etwas Gewohnheit zurück in eine zerschlissene Welt.
Die Flure der Burg waren eng und wirkten auf den ersten Blick verwirrend und ziellos, aber mit der Zeit erkannte Alef eine gewisse Symmetrie – ineinander verschachtelte Kreise, immer mit dem gleichen Gangmuster verbunden – , die sich mit jedem Schritt verdeutlichte. Bald konnte der Junge bereits sagen, was sich hinter der nächsten Biegung befand, bevor er es zu Gesicht bekam. Es war eine recht ausgeklügelte Taktik. Jemand der das System kannte, wusste leicht, wie er schnell von einem Ort zum anderen kam, während Fremde, oder auch Feinde, sich heillos verirren mussten. Die wenigen Male, die er anderen Menschen – meist Soldaten – begegnete, schenkte man ihm keine Aufmerksamkeit. Vermutlich hielt man ihn für einen Küchenjungen oder sonstigen Bediensteten.
Dann, plötzlich, hielt er inne. Eine Stimme erklang aus einem angrenzenden Raum. Es war eine Stimme, die er kannte, sie gehörte Rebecca. Unwillkürlich blieb Alef stehen. Er sah Licht unter einer Tür zur Rechten. Für einen Moment kämpfte sein Ehrgefühl mit der brennenden Neugier, doch Letztere obsiegte schnell. Wie selbstverständlich nahm der junge Novize neben der Tür Stellung, als wäre er ein Diener, der darauf wartete, dass sein Herr ihn rufen ließ, und spitzte die Ohren. Auch wenn die Worte nur gedämpft herausdrangen, konnte er mit der Zeit dem Gespräch recht gut folgen.
„Ihr könnt darüber ja denken, wie Ihr wollt“, sagte Rebecca gerade. Ihr Tonfall war nur mühsam beherrscht. „Das ändert allerdings nichts an den Tatsachen.“
Die Antwort klang wie das Niesen eines Ochsen. Alef vermutete, dass es ein Lachen darstellen sollte. Dann sprach eine Stimme und der Lauscher war überzeugt, dass ein Ochse genauso klingen würde, wenn er sprechen könnte: tief, langsam, aggressiv, drohend, herrisch.
„Papperlapapp. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, etwas zu tun.“ Das konnte nur die Stimme des Herren dieser Burg sein. Es passte einfach zu gut.
„Nur eine Tagesreise entfernt lagert eine Armee von Raggar und Ihr seht nicht die Notwendigkeit, etwas zu tun?“ Rebeccas Entsetzen war deutlich ihrer Stimmte zu entnehmen.
„Lasst diese Primitiven mal meine Sorge sein, meine Gute“, antwortete der Baron. „Viel wichtiger ist: was gedenkt Ihr wegen Eurer Leute zu tun? Mann solle mich nicht unterstellen, dass ich kein guter Gastgeber sein, aber…“
Er ließ den Satz betont unvollendet.
„Ich werde für ‚meine Leute’, wie ihr sie nennt, schon eine Unterkunft finden, macht euch darum keine Sorgen. Aber wir müssen…“
Was Rebecca sagen wollte, blieb ungesagt, denn Torwin fiel ihr ins Wort.
„Ja ja, das sehen wir noch morgen. Ihr seid erschöpft und erregt, meine Gute. Ich kann das nachvollziehen, aber für unser Gespräch ist es nicht sehr förderlich. Ruht Euch erst etwas aus.“ Es klang eindeutig wie ein Befehl und obwohl der Baron nicht ihr Herr war, wehrte sich Rebecca überraschenderweise nicht.
Dieses Gespräch ist noch nicht beendet!“, rief sie lediglich, nicht mehr in der Lage, ihren Zorn zu unterdrücken.
„Das sagte ich doch“, war die gelangweilte Antwort. „Wartet einen Augenblick, dann rufe ich einen Diener, der Euch zu Eurem Zimmer führt, werte Mutter.“
Alef hatte noch nie gehört, dass jemand diesen Titel mit solch einer Abscheu aussprach.
„Danke, ich ziehe es vor, bei ‚meinen Leuten’ zu schlafen, Euer Hochwohlgeboren.“ Die Stimme klang plötzlich viel näher und der lauschende Novize erschrak, als ihm viel zu spät in den Sinn kam, dass er schon längst hätte verschwinden sollen. Doch bevor er noch handeln konnte, flog die Tür bereits mit einem Krachen auf und wie ein wahr gewordener Alptraum stürmte die Äbtissin um die Ecke. Dort blieb sie so plötzlich und ruckartig stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Der erstaunte Gesichtsausdruck beim Anblick des kleinen Novizen, der verschämt grinste, wandelte sich schnell in Missmut. Alef meinte zwar, er würde den Anflug eines unterdrückten Lächelns erkennen, war sich aber nicht sicher, ob dabei nur die Hoffnung für ihn sprach. Ehe er auch nur einen Ton über die Lippen bringen konnte, hatte Rebecca ihn am Arm gepackt und zog ihn in rasantem Tempo hinter sich her.
„Mutter…es tut mir leid“, keuchte Alef, erhielt aber keine Antwort. Erst als sie wieder tief im Ganglabyrinth eingetaucht waren, verlangsamte sich ihr Schritt und schließlich blieb sie stehen.
„Also?“, fragte sie in tadelndem Ton. „Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?“
Beschämt blickte der Angeklagte zu Boden. Er antwortete nicht, da er ahnte, dass Rebecca ihm so oder so nicht zuhören würde.
„Und ich habe es dir vorhin noch gesagt“, fuhr diese tatsächlich nach nur einem kurzen Moment fort. „Du sollst dich nicht so leicht erwischen lassen!“
Verwirrt sah Alef auf und erkannte das Grinsen, das nun unverhohlen auf Rebeccas Gesicht lag. Doch schon einen Augenblick später war es wieder verschwunden und machte Sorge Platz.
„Nun mal im Ernst, mein Junge, du solltest ein wenig vorsichtiger sein. Wir befinden uns hier nicht gerade unter Freunden.“
Alef nutzte die Gelegenheit, um von seinem eigenen Vergehen abzulenken.
„Warum hassen uns die Leute hier?“, fragte er schnell. „Und warum behandeln sie Euch so respektlos?“
Rebecca seufzte schwer und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
„Komm, lass uns ein paar Schritte gehen“, sagte sie schließlich.
So geschah es auch. Einige Zeit liefen sie schweigend nebeneinander her. Alef stellte keine weiteren Fragen, sondern wartete, bis die Äbtissin von sich aus sprach.
„Was weißt du über den großen Krieg?“, fragte sie dann.
„Nur das, was uns beigebracht wurde“, antwortete der Junge verwirrt.
„Erzähl mir, was du weißt!“
Alef runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn und holte dann tief Luft.
„Im Jahre 372 Laurane starb der einzige Sohn des Königs Raffael von Sareis, Kronprinz Rowan, bei einem Jagdausflug unter mysteriösen Umständen. Heute ist nicht mehr viel darüber bekannt, aber vermutlich traf ihn ein verirrter Pfeil. König Raffael vermutete einen Anschlag des maza’alschen Kaisers Borjik der Dritte, dessen Botschafter zu dieser Zeit Gäste am Sommerpalast des Königs, der heutigen Burg Khoros in Thenaba waren und auch an der Jagd teilnahmen. Borjik stritt jegliche Schuld ab, doch der Vorfall entzündete einen Konflikt, der schließlich im Krieg mündete. Da Sareis als Aggressor galt, hatte Kaiser Borjik keine Schwierigkeiten, Bündnisse mit Rah’Aleb und dem Burdenreich zu schließen, wodurch Sareis von Feinden mehr oder weniger umzingelt war. Die Raggar mischten sich natürlich, wie es ihre Art war, nicht ein.“ Erschöpft machte Alef eine Pause. Der Anblick der respektvollen Anerkennung in Rebeccas Augen ließ ihn jedoch sofort wieder ansetzen.
„Es war von Anfang an eindeutig, dass Raffael diesen Krieg nicht gewinnen konnte, dennoch dauerte er noch fast zehn Jahre an. Schließlich fiel König Raffael 32 Mhril; 381 Laurane in der Schlacht von Kaltenborn und Sareis stand ohne Herrscher und ohne Thronfolger da. Raffaels Gemahlin, Königin Agescha, war zu schwach, um allein die Herrschaft zu halten und Sareis stürzte in einen Bürgerkrieg. Rah’Aleb und das Burdenreich sahen ihre Bündnispflicht als erfüllt an und zogen sich aus dem Krieg zurück. Kaiser Borjik beschloss, abzuwarten, bis sich Sareis von innen heraus zerstörte. Der fürchterliche Bürgerkrieg dauerte noch über zwölf Jahre an und am Ende war Sareis in zahllose Kleinstaaten zerfallen. Glücklicherweise gab es zu dieser Zeit Unruhen in den Maza’alschen Eisenminen und der gealterte Kaiser Borjik besaß nicht mehr die Mittel, einen Eroberungskrieg gegen die sareischen Kleinstaaten zu führen. So entstand schließlich ein wackeliger Frieden, der sich mit der Zeit festigte. Dies war der letzte große Krieg, den die Westlande gesehen haben.“
Rebecca nickte voller Stolz. Alef spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg und blickte zur Seite.
„Und was ist seither in den sareischen Kleinstaaten geschehen?“, fragte die Äbtissin weiter.
„Nicht viel Bewegendes“, überlegte der Junge. Vor etwa hundert Jahren lehnte sich das Bürgertum von Honotia gegen seine Herrscher auf und erklärte das Land zur Republik. Ach und natürlich hat sich das Kloster Eibenbach 411 Laurane für autonom erklärt- Die Baronie Kyntos konnte nicht viel dagegen unternehmen, da der Orden Lauranes sich wie jeder andere Heiligenordern über den Staat erheben kann. Oh…ich verstehe…“
Tatsächlich begann es, Alef zu dämmern. Gleichzeitig entsetzte ihn die Vorstellung aber auch.
„Noch immer zürnen der Herrscher und das Volk Kyntos’ den Lauranern für diese Tat? Wie können sie das tun? Es ist doch so furchtbar lange her.“
Rebecca nickte ernst.
„Manchmal kann verletzter Stolz auch furchtbar lange schmerzen“, gab sie zu bedenken. „Und wie ist nun unsere Position in diesem Land?“ Ein aufmunterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, doch ihre Augen glitzerten traurig.
„Natürlich sind die Menschen hier nicht gut auf uns zu sprechen“, antwortete er schnell, doch dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. „Da wir in keiner Weise zu Kyntos gehören, sind wir Flüchtlinge in einem fremden Land.“ Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Und somit rechtlos.“
Schmerz und Staunen bildeten ein ungewöhnliches Paar im Blick der alten Frau, als sie auf den kleinen Jungen herabsah.
„Es ist unfassbar, welche Zusammenhänge du in deinem Alter schon erkennst“, sagte sie leise. „Woher weißt du so viel?“
„Ich habe ein paar Bücher gelesen“, murmelte der Angesprochene abwesend. Die Folgen dieses Gedankengangs waren schwerwiegend. Baron Torwin konnte mit ihnen vorgehen, wie es ihm beliebte, solange sie sich ihm nicht unterwarfen. Und selbst wenn sie dies tun wollten, musste der Herrscher ihr Unterwerfungsgesuch erst einmal annehmen. Und obwohl ihm sein adliger Titel wenig bedeutete, missfiel es ihm als Sohn eines Grafen außerordentlich, sich einem Baron zu Füßen zu werfen. Mehr denn je wünschte er sich nach Hause zu seiner Familie. Doch dieses seltsame Gefühl der Verantwortung gegenüber den Leidenden, nun auch gegenüber Yasemina, der Wunsch, seine Äbtissin stolz zu machen, das hielt ihn hier. Er wusste, dass die meisten Anderen nirgends hin konnten und auch wenn es ihnen vermutlich gleichgültig war, wollte er bei ihnen bleiben.
Mit einem Mal blieb Alef stehen und sah auf. Er wusste nicht, wie lange Rebecca ihn bereits beobachtete, aber ihr amüsierter Blick verriet, dass er einige Zeit in Gedanken gewesen sein musste.
„Ich habe einen Vorschlag für dich, mein Junge“, sagte sie langsam, nachdenklich. „Einen klugen Kopf wie dich kann ich an meiner Seite gebrauchen. Möchtest du als mein Gehilfe mich mit Rat und Tat unterstützen?“
Erstaunt blickte Alef die ältere Frau an.
„Euer Gehilfe?“, fragte er fassungslos. „Aber wie könnte ich Euch denn nützen?“
„Ich möchte, dass du beobachtest. Und zuhörst. Und später sollst du mir sagen, was du denkst, mehr nicht. Was hältst du davon?“
Alef runzelte die Stirn. Dann stahl sich ein Grinsen in sein Gesicht.
„Ihr meinte, einem Kind gegenüber sind die Leute weniger misstrauisch, nicht wahr?“
Unwillkürlich lachte Rebecca laut auf.
„Ich sehe schon, dass ich es gut mit dir getroffen habe. Willigst du ein?“
Kein Zweifel lag in Alefs Antwort.
„Ihr wisst doch, ich kann Euch nichts abschlagen, Mutter.“
Ein Tätscheln auf seine Schultern besiegelte die Abmachung.
„Ich habe nichts anderes erwartet, mein Sohn. Lass uns zurückgehen. Wo sind wir eigentlich?“
Rebecca war stehen geblieben und sah sich nun verwirrt um. Erneut musste Alef grinsen und es tat gut.
„Erlaubt, dass ich Euch führe, Mutter“, sagte er galant und die Angesprochene willigte mit Freuden ein.
Alef war es zufrieden. Er hatte eine Aufgabe, eine weitere, und er war stolz darauf. Dass Rebecca, die Äbtissin ihres Klosters, auf seinen Rat Wert legte, war für ihn die größte Ehre, die er sich vorstellen konnte.
Doch mit einem Mal fiel ihn Entsetzen an, als er daran dachte, was ihn an diesem Abend noch erwarten mochte. Er hoffte inständig, dass Yasemina bereits schlafen möge, machte sich aber keine Illusionen. Alef seufzte lang und schwer. Er würde sich auf ein anhaltendes Donnerwetter einstellen müssen.
Plötzlich glich der Gang dem Weg zur Schlachtbank.