Ich bin ziemlich gerührt und auch ein bisschen beschämt. Nach über einem Jahr Abstinenz habe ich fest damit gerechnet, dass meine Story schon längst vergessen worden ist und dann sehe ich, dass sie bei der Storysammlung inklusive einer schönen Zusammenfassung auchtaucht
Ich kann mich nur für die netten Worte bei Schwarzer-Engel bedanken
Ja, ich lebe noch und ja, ich werde dieses Buch irgendwann fertig bringen^^
14
13 Minerva, 1084 Laurane; abends
Daved fiel mehr vom Pferd, als dass er herunterstieg. Es war ein Glück, dass er das Tier hatte
überzeugen können, seinen ehemaligen Besitzer zu verlassen und auch, dass er sich im Schutz der Dunkelheit Sattel- und Zaumzeug von ebenjenem Gutsbesitzer hatte
borgen können. Zu Fuß hätte er diese Wegstreck, wenn überhaupt, so gewiss nicht in solch kurzer Zeit hinter sich gebracht.
Der Stalljunge starrte ihn mit offenem Mund an, doch Daved kümmerte sich nicht weiter darum und hielt dem Burschen wortlos die Zügel entgegen. Dieser reagierte noch immer nicht und warf dem Mönch Blicke entgegen, als wäre der geradewegs aus seinen Alpträumen entsprungen. Daved seufzte innerlich. Vermutlich entsprach das sogar der Wahrheit.
„Wenn du fertig bist, Maulaffen feil zu halten“, versetzte er, „wäre es ausgesprochen gütig von dir, dich um mein Pferd zu kümmern, wie es deine Pflicht ist, Bursche!“
Die letzten Worte sprach er mit immer deutlicher werdender Schärfe und riss den Jungen so aus seiner Trance.
„Natürlich...Herr!“, stammelte dieser und nahm zitternd die Zügel aus den ihm entgegen gestreckten Händen entgegen.
Daved unterdessen wandte seinen Blick dem Gut zu, das träumerisch im Schein der untergehenden Sonne vor ihm lag. Er war still und in der Luft lag der süßliche Duft von diversen Zierblumen. Vielleicht hatte er eine Zuflucht gefunden, zumindest für den Augenblick.
Auf unsicheren Beinen begann der Mönch seinen Weg über den weißen Kies, der in Richtung des Herrenhauses führte. Obwohl die Bäume ihr Blattwerk schon verloren, bot der weitläufige Garten einen Anblick des Friedens und der Ruhe. Hier, im Burdenreich, waren die Abende noch angenehm lau, der Herbst würde erst in einigen Läufen Einzug halten.
Das Haus selbst wirkte trotz seiner Größe nicht einschüchternd. Die hellen Farben und die Blumen und Kletterpflanzen verliehen ihm einen Eindruck von Gastlichkeit und Wärme, während das massive, reich verzierte Portal Schutz verhieß.
Nur wenige Augenblicke nachdem Daved mithilfe der samtenen Kordell geläutet hatte, öffnete ein Diener in strenger blauer Livree und blickte den Besucher erwartungsvoll an. Dieser sah ein, dass sein Erscheinungsbild eher das eines Herumtreibers denn eines angemessenen Besuchers war und entschuldigte somit die Geringschätzung, die in diesem Blick zu lesen war.
„Wen darf ich dem Herrn von Niederau melden?“, hüstelte der Bedienstete unwillig. Es war offensichtlich, dass Daveds Anwesenheit ihm unangenehm war, auch wenn er es zu verbergen suchte.
„Meldet ihm bitte Bruder Daved vom Lauranerkloster Eibenbach“, gab der Mönch zur Antwort und setzte zur Sicherheit noch hinzu: „Wir sind bekannt.“
Der Diener nickte und ging, um den Auftrag auszuführen, jedoch nicht, ohne die Tür wieder vor Daved zu schließen. Dieser nahm das offenkundige Misstrauen gelassen hin und erging sich in Erinnerungen an seinen Freund aus Kindertagen, den er in wenigen Momenten wieder sehen würde. Johann, Freiherr von Niederau, war drei Jahre älter als Daved und während ihrer gemeinsamen Kindheit hatte er für ihn die Rolle eines älteren Bruders übernommen. Daveds Vater war zu dieser Zeit Leibdiener im Hause des alten Freiherren, Johanns Vater, gewesen, seine Mutter Köchin. Im Laufe der Jahre hatte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Jungen entwickelt, die noch anhielt, nachdem ihrer beider Eltern gestorben waren und der junge Daved ins Kloster ging.
Im Zuge von Daveds zweiter Pilgerfahrt war der damalige Akolyt in seine Heimat zurückgekehrt und hatte mit Johann zusammen an der Universität der Stadt Minerva die Geheimnisse des Pak studiert. Der Freiherr zeigte schon immer ein Interesse an den Wissenschaften, das nicht minder ausgeprägt war als das des Geistlichen.
Endlich öffnete sich das Portal wieder, doch statt des strengen Dieners stand Johann selbst vor ihm, groß und stattlich wie er war, gekleidet in ein leichtes Seidenhemd, unter dem sich vereinzelt Muskeln abzeichneten. Trotz seiner fast dreißig Sommer war sein Gesicht noch frisch und jugendlich, sein dunkles Haar war noch immer so voll und akkurat frisiert wie eh und je und in seinen Augen leuchteten Neugier und Schalk. Einzig der sorgfältig gestutzte Schnauzbart war neu und verlieh dem Jungherren die Würde und Eleganz eines einflussreichen Freiherren. Er war ein Mann, dem die Welt zu Füßen lag und er war sich dessen sehr wohl bewusst.
Umso amüsanter war es, dass das von Vorfreude gezeichnete Lächeln auf seinem Gesicht beim Anblick seines Jugendfreundes zu einer Grimasse gefror, die wenig mit Würde und Eleganz gemeinsam hatte. Doch Daved war nicht nach Lachen zumute.
„Daved, bei allen Heiligen, was ist mit dir geschehen?“, rief Johann aus und fasste seinen Freund nach kurzem Zögern, welches dieser durchaus wahrnahm, aber bemüht ignorierte, bei den Schultern.
„Mein lieber Johann“, gab der Mönch zur Antwort, „das wird vermutlich eine etwas längere Geschichte und es wäre besser, sie im Sitzen zu erzählen.“
Ein flüchtiges Grinsen legte sich auf das Gesicht des Freiherren ob des sanften Tadels und er trat zur Seite, die Hand einladend ausstrecken.
„Dann komm herein und stärk dich erst einmal. Bei einer guten Flasche Wein lässt es sich bestimmt besser erzählen.“
Daved seufzte erleichtert, nickt und trat ein. Es schien ihm, als würde ein Teil seiner Last vor den Toren bleiben. Es war nur ein Bruchteil, aber sofort konnte er freier atmen. Ja, er hatte für den Moment eine Zuflucht gefunden und zumindest für diesen Abend wollte er sich der Illusion von Sicherheit hingeben.
Es war, als würde sich alles wiederholen.
Am frühen Morgen war Alef auf der Stadtmauer spazieren gegangen und hatte die nun selten gewordene milde Luft genossen, als die ersten Schatten am Horizont auftauchten. Wie schon beim Angriff auf das Kloster hatte sich ein nach und nach immer deutlicher werdender Streifen gebildet, der sich rasch und unaufhaltsam immer näher schob.
Dieses Mal, anders als beim Angriff der Bären, musste der Junge niemanden warnen. De zahlreichen Wachen meldeten umgehend das bereits erwartete Auftauchen der feindlichen Armee. Innerhalb weniger Stunden hatte man die Bewohner der näheren Umgebung, die bis zum Letzten in ihren Häusern hatten ausharren wollen, in die Stadt eskortiert und eine Ausgangssperre verhängt.
Das Tor war geschlossen worden und die Armee unternahm die letzten Schritte, die zur Verteidigung der Stadt nötig waren. Alles verlief geordnet und diszipliniert. Kyntos war eine Stadt mit einer strengen Führung und das zeigte sich im Verhalten ihrer Soldaten. Worauf Alef auch seinen Blick warf, es sagte aus, dass man vorbereitet war und an einer erfolgreichen Verteidigung der Stadt nicht zweifelte.
Doch unter der Oberfläche brodelte es. Keine noch so straffe Führung konnte die Tatsache, dass es den Soldaten an Erfahrung fehlte, wettmachen. Der lange Frieden, mit dem die Westlande gesegnet waren, brachte es mit sich, dass die Männer kaum jemals etwas anderes als Banditen und Wegelagerer bekämpft hatten und so, das spürte Alef, herrschten hinter den gleichgültigen Mienen Angst und Unsicherheit.
Im Laufe des Tages hatte es zu regnen begonnen und bis zum Abend nicht aufgehört. Das feindliche Heer, dessen erschreckende Zahl erst zum Nachmittag hin offenkundig wurde, hatte knapp zwei Wegstunden vor der Stadt Halt gemacht und ein gewaltiges Zeltlager errichtet. Nun stand der Junge neben Mutter Rebecca auf der Stadtmauer und beobachtete, wie nach und nach im Lager der Raggar Lichtpunkte erschienen, die von großen Lagerfeuern stammten.
Alef schluckte schwer, als er den Blick von links nach rechts schweifen ließ und die Gesamtheit dieses Lagers, das sich wie aus Provokation als kleine Stadt direkt neben seinen großen Bruder gesetzt hat, in sich aufnahm. Es war nur wenige Läufe her, aber er hatte die Größe dieses Heeres, die ihn schon beim ersten Anblick entsetzt hatte, wieder so weit verdrängt, dass er darauf nicht vorbereitet war.
„Es sieht nicht so aus, als würden sie die Stadt im Sturm nehmen wollen“, sagte er mehr in die Dämmerung hinaus als zu der Äbtissin. Dennoch antwortete diese:
„Nein, sie warten. Auch wenn ihre Zahl gewaltig ist, so ist Kyntos ein Bollwerk, das nicht einfach zu bezwingen ist. Sie stellen sich auf eine Belagerung ein.“
Offensichtlich war Torwin zu der gleichen Einsicht gekommen, denn die Mobilisierung der Armee war zum Stillstand gekommen und schließlich hatte man viele Soldaten wieder nach Hause geschickt. Dennoch befand sich etwa die dreifache Menge an Männern im Dienst.
Schließlich wand sich Mutter Rebecca von der raggarschen Armee ab und machte ihrem jungen Berater gegenüber eine auffordernde Handbewegung in Richtung der Stadt.
„Komm, Alef. Wir sollten aus diesem Regen herauskommen und etwas essen“, sagte sie und als der Junge noch einen unsicheren Blick in Richtung des Zeltlagers warf, setzte sie hinzu: „Sie werden nicht verschwinden, weil wir hier stehen und auf sie herab starren. Und wenn sie tatsächlich angreifen, werden wir es früh genug erfahren.“
Alef sah ein, dass die Äbtissin Recht hatte und stieg mit ihr die Stadtmauer wieder herab. Der lange Regen hatte das Erdreich in den ungepflasterten Außenbezirken der Stadt aufgeweicht und in ein Meer aus stinkendem Schlamm verwandelt.
„Was wird mit den Bauern geschehen?“, fragte Alef, während sie sich beeilten, zurück zum Stadtzentrum zu gelangen. „Ich meine diejenigen, die sich nicht von ihrem Besitz haben trennen wollen“, setzte er hinzu.
Rebecca seufzte. „Du kannst es dir vermutlich denken, Alef“, gab sie zur Antwort. „Sie werden entweder beim Anblick der Armee ins offene Land geflohen sein oder sie verstecken sich. In beiden Fällen bete ich dafür, dass die Heiligen sie schützen, denn eine so große Armee braucht viel, um versorgt zu sein, und ich glaube nicht, dass die Raggar zurückhaltend bei der Beschaffung ihrer Güter vorgehen.“
Es lag Mitleid in ihrer Stimme und auch Alef spürte etwas davon in sich. Dennoch wollte er sagen, dass es die eigene Schuld dieser Bauern war, wenn sie sich weigerten, den Schutz der Stadt zu suchen. Dann dachte er jedoch an die Familien und Bediensten dieser Bauern und wie wenig Einfluss diese wohl auf eine solche Entscheidung hatten und beschloss, zu schweigen.
Derart in Gedanken versunken, registrierte er die Geräusche, die von der Seite drangen, zunächst nur am Rande. Verwirrt blieb der Junge stehen. Aus einer Seitenstraße zur Linken drang ein schwaches Stöhnen wie von einem verendeten Tier.
„Habt ihr das gehört, Mutter?“, flüsterte er, wobei er nicht einmal genau wusste, warum er flüsterte.
Als diese schweigend verneinte und Alef erwartungsvoll und ein wenig angespannt anblickte, wies dieser sie an, zurückzubleiben und schritt vorsichtig in die dunkle Gasse, die sich zwischen zwei Wohnhäusern befand. Nun bemerkte er auch den Lärm, der aus einem nahe gelegenen Wirtshaus herüber scholl und das Seinige dazu getan hatte, dass Alef das leise Stöhnen nur zufällig bemerkt hatte.
Auf dem matschigen Boden häufte sich Müll und Unrat und ein beißender fauliger Geruch lag in der Luft, so dass der Novize flach atmen musste, damit ihm nicht schwindelig wurde. Die Gasse maß kaum mehr als anderthalb Schritt in der Breite, was bei den sich eng aneinander schmiegenden Häusern in den Außenbezirken Kyntos’ jedoch nicht wenig war.
Erneut vernahm Alef das Geräusch und bemerkte dabei, dass es sich eindeutig nicht um ein Tier, sondern um einen Menschen handelte. Verzweifelnd versuchend, sein irrational schnell schlagendes Herz zu beruhigen, zwang sich der Novize, Schritt für Schritt voran zu gehen und wunderte sich dabei, wovor er solche Angst hatte. Doch die Anspannung, die von ihnen allen Besitz ergriffen hatte, machte auch vor ihm nicht Halt. Eingepfercht in einer Stadt mit Menschen, die sie hassten innerhalb und außerhalb der Tore, wer konnte ihm da schon verdenken, dass er…
Unbemerkt war Alef wieder in Gedanken abgeschweift und wäre so fast über das vor ihm am Boden liegende Bündeln von Lumpen gestolpert. Erst als sein Fuß plötzlich gegen Widerstand stieß und er mit den Armen wedelnd das Gleichgewicht wiedergewinnen musste, kehrten seine Sinne wieder zur Realität zurück. Im nächsten Moment musste er einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken, als sich das Bündel zu seinen Füßen plötzlich bewegte.
Alef sprang einen Schritt zurück und wäre dabei fast auf dem Unrat ausgerutscht. Aus dem Lumpenbündel schälten sich Arme und Beine hervor und schließlich zeigte sich ein Gesicht unter einer leinenen Kapuze, das jedoch erst auf den zweiten Blick als menschlich zu erkennen war. Beide Augen waren völlig von blutigen Geschwülsten bedeckt, so dass der Mann, zumindest vermutete Alef, dass es sich um einen solchen handelte, kaum noch etwas sehen konnte. Die Nase war offensichtlich mehrfach gebrochen worden und an allen Körperöffnungen klebte getrocknetes Blut.
Entsetzt sah der Junge, dass er diesen Mann kannte. Er wusste nicht seinen Namen, aber es handelte sich um einen Mönch des Lauranerklosters, der mit ihnen gemeinsam geflohen war.
„Bruder, was ist mit euch geschehen?“, flüsterte Alef entsetzt, erhielt jedoch keine Antwort. Entweder der Mann hörte ihn nicht oder er wusste, dass seine Antwort so oder so nicht verstanden würde. Stattdessen versuchte der Mönch, zu ihm zu gelangen, indem er sich auf allen Vieren fortbewegte, knickte dabei jedoch zur linken Seite mit einem schmerzvollen Stöhnen sein und Alef sah, dass der linke Arm des Mannes offensichtlich gebrochen war.
Noch immer zu schockiert, um etwas zu unternehmen, bemerkte Alef gar nicht, wie er nach und nach wieder zurück schritt. Dieses Mal schrie er tatsächlich vor Schreck auf, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Doch es war nur die Äbtissin, die ihm gefolgt war.
„Bei allen Heiligen“, flüsterte diese fassungslos, als sie sah, was sich in der Gasse befand. Doch sie fasste sich schnell wieder. „Alef, steh hier nicht so herum! Beeil dich und bring uns ein paar Träger und eine Bahre. Und achte darauf, dass sie zu uns gehören. Los doch!“
Und Alef rannte wie ein aufgescheuchter Hase. Seine Gedanken hatten endlich Ruhe gegeben, abgesehen von einer kleinen, fast unbemerkten Stimme, die sich wieder und wieder fragte, warum er in all das überhaupt hineingezogen worden war.
Erstaunt beobachtete Alef, wie Rebecca gemeinsam mit einigen Schwestern des Ordens den schwer verletzten Mann versorgte, ihm die Wunden auswusch und mit kühlenden Essenzen einrieb, die gebrochenen Knochen richtete und ihm gut zuredete.
Man hatte ihnen widerstandslos einen Platz im Hospital überlassen und die kynosschen Medici schienen sehr erleichtert zu sein, diese Arbeit den Mitgliedern des Lauranerordens überlassen zu können.
Alef kam sich ausgesprochen unnütz vor, wie er hinter den wirbelnden Schwestern stand und nichts tun konnte als abzuwarten. Er wusste, dass er die größte Hilfe bot, wenn er nicht im Weg herumstand und die Schwestern ihre Arbeit verrichten ließ, dennoch brannte es in ihm, sich nützlich zu machen.
Der Verletzte war teilweise bei Bewusstsein und zuckte immer wieder zusammen, wenn eine Schwester eine der empfindlichen Wunden berührte. Dabei murmelte er unverständliche und zusammenhangslose Wortfetzen vor sich hin.
Unfähig, weiter zu warten, begann Alef, unruhig auf und ab zu gehen. Der Regen war stärker geworden und trommelte mit zahllosen Fingern gegen die dicken Steinwände des Hospitals. Durch diese Kakophonie unterstützt steigerte sich Alefs Unruhe immer weiter, so dass er abwechselnd sich an verschiedenen Plätzen im Hospital niederließ, nervös mit den Füßen scharrte, sich wieder erhob und das kleine Krankenzimmer durchschritt.
Schließlich stöhnte Mutter Rebecca entnervt auf und murmelte durch zusammen gebissene Zähne: „Alef, sei so gut und besorge uns sauberes Leinen aus der Apotheke. Und achte darauf, dass es nicht feucht wird.“
Erleichtert über die Aufgabe nickte Alef und lief los. Er musste das Hospital verlassen, um in die Apotheke zu gelangen, welche seitlich über einen kleinen Hof zu erreichen war. Dies war zwar unpraktisch, ließ sich aber vermutlich dadurch erklären, dass eines der beiden Gebäude nachträglich angebaut worden war.
Alef beeilte sich, durch den strömenden Regen zu gelangen, konnte es aber nicht verhindern, dass sein dünnes Hemd nach wenigen Augenblicken durchtränkt war. Verärgert schüttelte der Novize im Eingang des kleinen Hauses stehen bleibend das Wasser ab. Warum hatte man nicht einfach den Hof überdacht, wenn man schon nicht beide Gebäude direkt miteinander verband? Erwachsene waren manchmal furchtbar unpraktisch.
Der Apotheker, ein älterer, misstrauisch dreinblickender Mann mit stark gebeugter Haltung, sah von seiner Arbeit, dem Zerstoßen diverser Kräuter in einem großen, tönernen Mörser, auf, als Alef die Apotheke betrat. Mit offensichtlich stark kurzsichtigen Augen blickte er angestrengt zu dem Novizen hinüber.
„Wer bist du? Was willst du?“, fragte er mit gackernder Stimme. Sein Kopf zuckte dabei aggressiv vor und zurück, was im Gesamten den Eindruck einer ausgesprochen hässlichen Ente vermittelte.
Alef ließ sich nicht provozieren. „Mein Name ist Alef von Akitaos“, sagte er mit gelassener Miene. „Mutter Rebecca schickte mich Leinen besorgen. Wir brauchen es für Verbände.“
Der Alte nickte mehrmals und bewegte dabei seinen zahnlosen Mund, als würde er sich daran erinnern, wie es einst war, kauen zu können.
„Verbände willst du?“, gackerte er. „Du bekommst keine.“
Alef fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.
„Was?“, stammelte er. „Aber…wieso?“
„Ich habe nichts zu verschenken“, meckerte der Apotheker. Er konnte auch gut statt einer Ente eine ausgesprochen hässliche Ziege sein. „Baron Torwin benötigt meine ganzen Vorräte für die bevorstehenden Kämpfe. Wenn du etwas haben willst, musst du es bezahlen.“ In seinen Augen glitzerte die Gier.
Alef taumelte. Je länger er mit diesem senilen Kauz diskutierte, desto mehr mochte das Leben aus dem armen Verletzten drüben im Hospital schwinden. Dennoch versuchte er, sich zu einem besonnenen Handeln zu zwingen. Der Alte wollte ihn reizen und Geld aus ihm herauslocken. Der Novize bereute es nun, seinen Adelstitel genannt zu haben.
„Herr, wir haben einen schwer verletzten Mann im Hospital und brauchen dringend neue Verbände, ich bitte euch!“, flehte er, auch ihm dabei vor sich selbst ekelte.
Das Grinsen im Gesicht des Mannes wurde noch breiter.
„Geh und besorge Geld, dann bekommst du auch Verbände. Und wenn es eilt, dann solltest du es besser schnell tun. Ansonsten hast du doch ein hübsches Hemd, das sehr gut als Verband dienen kann. Und jetzt verschwinde, du tropfst meinen Boden voll!“
Alef war entsetzt. Er hätte den Mann nicht einmal bezahlen können, wenn er es gewollt hätte. Was sollte er tun? Mutter Rebecca verließ sich auf ihn und wenn er sie enttäuschte, würde sie in Zukunft vielleicht nicht mehr seinen Rat suchen. Er überlegte noch, wie er den Alten überreden konnte, als dieser sich, auf zwei Gehhilfen gestützt, halb von seinem Sitz erhob und wütend meckerte:
„Verschwinde endlich, Junge, oder muss ich dir Beine machen?“
Alef beschloss, es mit dem Apotheker aufzugeben und suchte das Weite. Das gackernde Lachen des Alten folgte ihm dabei. Geplagt von seinem schlechten Gewissen und zugleich zornig auf den gierigen Greis betrat er wieder das Krankenzimmer. Überrascht sah er, dass alle niederen Schwestern verschwunden waren und der verletzte Mann fest schlief.
Die Äbtissin hatte am Fußende des Bettes stehend auf ihn gewartet und blickte ihn nun neugierig an.
„Es tut mir leid, Mutter“, begann Alef zögerlich, „aber die Verbände, ich…“
„Du hast keine bekommen“, unterbrach Rebecca ihn sanft, „das dachte ich mir bereits. Wir haben eine der Vorratsdecken genommen und zerteilt.“
Verwirrt blickte der Junge auf. „Ihr dachtet es euch schon? Aber warum…?“
Erneut konnte er seinen Satz nicht vollenden, da die Äbtissin auf ihn zutrat, ihn bei der Hand nahm und hinter sich her zog.
„Denk nicht mehr daran, Alef“, sagte sie. „Ich habe etwas viel wichtigeres mit dir zu besprechen.“
Alef hatte seine Hand sanft aus dem Griff der Mutter entwunden, doch jetzt hatte er Schwierigkeiten, mit ihr Schritt zu halten. Rebecca war offensichtlich aufgebracht, aber er drängte sie nicht, ihm zu sagen, was sie beschäftigte. Sie würde selbst anfangen, zu sprechen, wenn es ihr recht wäre.
Und tatsächlich erhob die Äbtissin in diesem Augenblick die Stimme.
„Du weißt, wer der Verletzte ist?“, fragte sie, während sie durch den strömenden Regen schritten, welchen Rebecca jedoch kaum zu bemerken schien.
„Er kommt aus dem Kloster“, gab Alef atemlos zur Antwort, „aber seinen Namen kenne ich nicht.“
„Er heißt Bruder Benjamin“, eröffnete die Äbtissin ungefragt. „Nachdem du gingst, das Leinen zu besorgen, gelangte er kurz zu klarem Verstand und erzählte mir, was passiert ist.“
Mit einem Seitenblick wurde Alef gewahr, dass sie sich der Burg näherten. Was hatte Mutter Rebecca vor?
„Er sagte, er habe sich auf ein Bier in ein Gasthaus namens Darrelruh begeben“, berichtete die Voranschreitende und ihrer Stimme war die Empörung eindeutig zu entnehmen. „Er wollte sich umhorchen, wie die Stadtbewohner zu der Belagerung stünden. Die Reaktion war eindeutig.“ Sie schnaubte verächtlich. „Als die Leute erfuhren, dass er ein Mönch der Laurane ist, einer von uns … Flüchtlingen“, sie betonte das Wort auf eine merkwürdige Art, etwas zwischen Zynismus und Resignation, „schleppten sie ihn vor die Tür und in eine Seitengasse. Vier Männer prügelten auf ihn ein, beleidigten ihn und sagten, dass Seinesgleichen die Barbaren in diese Stadt lotste. Sie schlugen ihn fast zu Tode, ließen ihn dann einfach im Müll und Unrat liegen und verschwanden.“ Ihre Stimme war von Schmerz und Wut durchzogen.
„Ihr wollte den Baron zur Rede stellen, nicht wahr?“, fragte Alef vorsichtig, wartete jedoch keine Antwort ab, sondernd nahm die Äbtissin beim Arm und zwang sie so, stehen zu bleiben. Mittlerweile waren sie bereits vor den Toren der Burg angelangt.
„Wenn dem so ist, solltet Ihr euch beruhigen“, fuhr der Novize fort, als er schließlich Rebeccas Aufmerksamkeit erlangt hatte. „Ihr dürft nicht so aufgebracht vor ihn treten. Er wird euch nicht ernst nehmen und als hysterisches Weib bezeichnen, zumindest bei sich.“
Einen Augenblick schien die Äbtissin nicht hören zu wollen. Ein wilder Ausdruck lag in ihren Augen und Alef fürchtete, ihr Zorn könne sich nun auf ihn entladen. Dann schlug sie die Augen nieder und fuhr sich mit einer zittrigen Hand über das Gesicht. Sie sah in diesem Moment sehr alt und müde aus.
„Du hast Recht“, gab sie zu, „auf diese Weise erreichen wir nichts. Dennoch müssen wir entschlossen auftreten.“ Sie straffte sich, das Zittern in ihren Händen ließ nach. „Bereit?“, fragte sie den Jungen, welcher mit einem Nicken und dem Versuch eines aufmunternden Lächelns antwortete.
Ohne, dass ein weiteres Wort nötig gewesen wäre, betraten sie die Burg.
Der Haushofmeister Adolfo Adriano Sorin von Blautann war über den unangemeldeten Besuch der Äbtissin alles andere als erfreut, aber er war viel zu dienstbeflissen, um es sich anmerken zu lassen. Nach kurzer Diskussion, in welcher deutlich wurde, dass Rebecca keinen Widerspruch duldete, führte er sie zu Torwins Ratssaal, dem gleichen Raum, welchen Alef schon zwei Mal gesehen hatte.
„Seine Hochwohlgeboren bespricht sich gerade mit seinen Ministern“, gab der Kleine, weibische Mann von sich. Er wirkte außerordentlich nervös. „Bitte wartet kurz, Mutter, damit ich Euch ankündigen kann.“
Rebecca nickte unmerklich und blieb regungslos vor der Tür stehen. Zitternd verschwand der Haushofmeister im Raum und schloss die Tür hinter sich. Von der Würde, die er bei ihrer Ankunft zur Schau getragen hatte, war nichts mehr übrig. Alef blickte zu seiner Mentorin auf, doch diese schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er sah, dass es hinter ihrer Stirn arbeitete und beschloss, sie nicht zu stören. Das nun folgende Gespräch konnte über Wohl oder Wehe der Eibenbacher in Kyntos entscheiden. Dennoch wirkte Rebecca entspannt, von den noch vor wenigen Augenblicken aufgewühlten Emotionen war nichts mehr zu sehen. Alef wünschte sich, die gleiche Gewalt über sich zu haben. Ihm war flau im Magen und ein wenig schwindelig, seine Hände zitterten und winzige Tröpfchen von Schweiß standen auf seiner Stirn.
Von drinnen waren zornige Stimmen zu hören, doch man gab sich anscheinend Mühe, nicht zu laut zu sein, denn dieses Mal konnte Alef nichts verstehen.
Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür und ein bleicher Adolfo winkte sie herein.
„Seine Hochwohlgeboren wir Euch jetzt empfangen“, murmelte er und ließ sich deutlich anmerken, dass er so schnell wie möglich verschwinden wollte.
Rebecca nickte zum Dank und ging wortlos voran. Alef folgte ihr und sah, wie der Haushofmeister der Burg hinter ihnen die Tür schloss und hörte, wie er sich hastig entfernte.
Der Junge wandte seinen Blick wieder nach vorne und sah mit Schrecken, dass das Blut, welches Adolfo aus dem Gesicht gewichen war, scheinbar nun in der Miene des Barons Platz genommen hatte. Mit hochrotem Kopf und geballten Fäusten saß Torwin am Kopfende des Tisches und sah mit zornesglühenden Augen zu ihnen herüber.
Zu seinen beiden Seiten saßen erneut die Minister Boris Scodzi und Rudolf von Winterberg, beide widerlich auf ihre eigene sympathische Art. In ihren Gesichtern war kaum Ärger, vielmehr Erleichterung, Neugier und auch ein wenig Schadenfreude zu lesen. Offensichtlich war es ihnen mehr als willkommen, dass Torwins Aufmerksamkeit für eine Weile nicht mehr auf ihnen lag.
„Was wollt Ihr hier?“, donnerte der Baron. Anscheinend war er nicht mehr in der Lage, die heuchlerische Freundlichkeit, die aufrecht zu erhalten ihm im Allgemeinen schon schwer fiel, auch nur im Ansatz zu zeigen. „Wir haben hier Wichtiges zu besprechen“, fügte er hinzu.
Rebecca ließ sich nicht einschüchtern. „Haltet Eure Untergebenen im Zaum, Hochwohlgeboren“, sagte sie und nicht nur Alef war entsetzt über die Dreistigkeit dieses Befehls. Auch Torwin zog überrascht die Brauen zusammen. Es wirkte fast, als würde er die Furchtlosigkeit der Äbtissin anerkennen.
Dennoch antwortete er: „Hütet Eure Zunge, Mutter. Ihr seid hier noch immer nur geduldet.“
„Geduldet?“, gab Rebecca zurück. Sie schien mit ihrer Fassung zu kämpfen. „Ich habe soeben mit Hilfe meiner Mitschwestern einen Mann mit Müh und Not in dieser Welt gehalten, nachdem er von Euren Untertanen fast zu Tode geprügelt worden war.“
Torwin zuckte mit den Schultern. „Wer werden die Schuldigen finden und es wird ein Gerichtsverfahren geben. Was behelligt Ihr mich damit?“
„Der Verletzte sagte mir, dass seine Angreifer erst gewalttätig wurden, als sie erfuhren, dass er ein Mitglied des Ordens ist.“
„Nun, das sagt er“, Torwin machte eine unverbindliche Geste, „und selbst wenn es stimmt, weiß ich noch immer nicht, worauf Ihr hinauswollt. Kommt zum Punkt, Mutter!“
„Kurz gesagt, Hochwohlgeboren: Ihr habt uns Schutz versprochen und ich verlange, dass Ihr Euer Versprechen einhaltet.“
Die Minister zogen scharf die Luft ein und Torwins Faust sauste mit lautem Krachen auf den Tisch, so dass Alef erschrocken zusammenzuckte.
„Reißt Euch zusammen, Mutter, sonst landet Ihr mitsamt Eurer Leute vor den Toren.“
„Damit Ihr noch weniger Kämpfer zur Verfügung habt? Das glaube ich nicht. Wir hatten einen Handel, Hochwohlgeboren. Ihr habt uns Schutz versprochen, wenn wir für Euch kämpfen und arbeiten.“
„Es ging um Schutz vor den Barbaren!“, rief Torwin außer sich.
„Das ist völlig irrelevant und im Übrigen auch nie so gesagt worden.“
Das Weiße trat an Torwins Handknöcheln hervor. Er sah aus wie ein wildes Tier, das so weit gereizt wurde, dass es kurz davor stand, das lästige Insekt, das es behelligte, zu zerquetschen.
„Lasst uns allein“, knurrte er. Die Minister reagierten erstaunlich schnell, rafften ihre Papiere zusammen verbeugten sich hastig und verschwanden durch die Tür. Der Baron warf einen bezeichnenden Blick auf Alef, doch Rebecca schüttelte den Kopf und erstaunlicherweise erhob Torwin keine Einwände.
Für einige, äußerst lang erscheinende Momente starrten sich Rebecca und Torwin nur schweigend an, dann plötzlich lachte der Baron kurz und schnaubend.
„Können wir offen miteinander reden?“, fragte er, während er sich von seinem Sitz erhob. Die Äbtissin nickte.
„Gut“, fuhr Torwin fort, der sich aus irgendeinem Grund wieder beruhigt zu haben schien. „Wisst Ihr, Rebecca, ich kann Euresgleichen nicht ausstehen. Schon der Gedanke an euch verweichlichte Heiligendiener bereitet mir Zahnschmerzen. Aber Ihr, Mutter, Ihr habt Schneid und das weiß ich zu schätzen. Außerdem“, er war um den Tisch herum geschritten und baute sich vor ihnen auf, so dass Alef erneut vor Augen geführt wurde, wie gewaltig die Statur des Barons war. „Außerdem bin ich im Herzen ein Soldat, wie Ihr sicherlich wisst und das Wort eines Soldaten gilt auch in unruhigen Zeiten noch etwas. Dennoch muss ich Euch enttäuschen. Ich würde Euch helfen, wenn ich könnte, aber meine Untertanen hassen Eure Leute und ich habe kaum Möglichkeiten, einzugreifen.“
Er fing wieder an, um den Tisch zu laufen und gestikulierte dabei mit den Händen. „Wir befinden uns in einer Belagerung und die Menschen sind angespannt. Sie brauchen einen Sündenbock, jemanden, dem sie die Schuld an dieser Misere zuschieben können und das sind eben Eure Leute. Ich kann die Fälle, die passieren, bestrafen, aber wenn ich zu hart werde, riskiere ich einen Aufstand. So oder so kann ich es nicht verhindern, dass weitere Fälle auftreten werden. Haltet eure Männer und Frauen in der Burg und wenn ihr sie herausschickt, dann nur in Gruppen. Auch ihr solltet nicht mehr ohne Begleitung unterwegs sein, der Junge wird euch kaum verteidigen können.“
Alef wollte protestieren, sah dann aber ein, dass der Baron Recht hatte. Doch auf Rebeccas Gesicht stand nun ein Lächeln.
„Danke, Hochwohlgeboren, das reicht mir vollkommen“, sagte sie. „Wir werden Euch nun nicht weiter behelligen.“
Sie verbeugte sich, nahm den völlig verdutzten Alef bei der Hand und ließ Torwin alleine im Raum stehen.
„Wofür habt Ihr ihm gedankt, Mutter?“, fragte der Junge, als sie wieder durch die Gänge der Burg schritten. „Er hat doch gar nichts für uns getan.“
„Oh, aber nein, mein Junge, er hat eine ganze Menge für uns getan“, amüsierte sich die Äbtissin. Dann blieb sie stehen, sah sich kurz um und beugte sich dann zu Alef hinunter. „Warum hat er seine Minister hinausgeschickt?“, fragte sie.
Der Novize dachte nach. Torwin hatte darauf bestanden, dass die beiden Männer verschwinden, bei ihm selbst hatte er schnell nachgegeben.
„Er wollte nicht, dass seine eigenen Leute hören, was er zu Euch sagte.“ Alef grübelte. „Vermutlich will er nicht, dass sie wissen, dass er Respekt vor Euch hat. Er will, dass sie denken, dass er uns alle aus tiefstem Herzen hasst und verachtet, weil sie es auch tun. Sie und alle Menschen in dieser Stadt. In Wirklichkeit“, seine Augen weiteten sich bei dieser Erkenntnis, „in Wirklichkeit hilft er uns heimlich, wo er kann, weil er Euch als ebenbürtig sieht. Er will nur seine Untertanen auf seiner Seite halten, ob nun durch Angst oder durch einen gemeinsamen Gegner.“
Rebecca nickte lächelnd.
„Ganz genau, Alef. Wir haben heute einen mächtigen Verbündeten gewonnen.“
Daved lehnte sich in dem gepolsterten Sessel zurück und schloss die Augen. Er befand sich in dem Zustand, den er für sich selbst als Erschöpfung bezeichnete. Zwar konnte er nichts dergleichen mehr spüren, aber seine Hände zitterten stärker als gewöhnlich und seine Atmung wurde schneller und unregelmäßiger. Dies waren die Momente, in denen, das wusste der Mönch mit Sicherheit, das Pak ihn aufrechterhielt. Zärtlich streichelte er den ledernen Einband des Buches, das er auf die Knie gelegt hatte.
Im Kamin prasselte ein gemütliches Feuer, doch Daved bemerkte nichts davon. Er wusste, hätte er seine Hand hinein gelegt, hätte er interessiert zuschauen können, wie sie verbrannte, gespürt hätte er nichts. Schmerzen waren schon seit einiger Zeit jenseits seiner Wahrnehmung. Das Einzige, was ihn noch peinigte, war die beständige Übelkeit, die in manchen Momenten so stark wurde, dass er sich wunderte, dass seine Organe nicht schon längst von innen zerfressen waren. Aber vielleicht war es auch so, vielleicht war er schon seit einiger Zeit eine leere Hülle. Seinem Gefühl nach konnte das durchaus zutreffen.
Daved seufzte und schüttelte den Kopf. Es war nun nicht die Zeit, sich diesem Selbstmitleid hinzugeben. Er blickte hinüber zu seinem Freund Johann, der ihm gegenüber in einem gleichartigen Sessel saß, die Finger verschränkte und angestrengt nachdachte. Daved hatte ihm alles erzählt, er hatte kein Geheimnis bewahrt und nun fürchtete er, dass sein langjähriger Freund ihn vor die Tür setzen würde, um sein eigenes Gut zu beschützen. Verübeln konnte er ihm das nicht. Der Mönch zweifelte daran, dass er sich in einer solchen Situation anders verhalten würde.
„Die Raggar suchen nach dir, nicht wahr?“, murmelte Johann schließlich nachdenklich. Daved sah seine Befürchtungen bestätigt.
„Ja, so ist es“, antwortete er, „zumindest vermute ich das. Und ich denke auch, dass sie das Pak spüren und mich so finden können.“ Warum er so ehrlich war, konnte er selbst nicht sagen. Vermutlich war er einfach nur der Lügen müde, nun, zumindest das, was er als müde identifizieren konnte.
Johann nickte, noch immer nachdenklich. Anscheinend gingen seine Vermutungen in dieselbe Richtung. „Darf ich das Buch einmal sehen?“, fragte er schließlich.
Daved zuckte zusammen. Auch das hatte er befürchtet. Aber er hatte Johann bereits alles anvertraut und befand sich sozusagen in seiner Gewalt. Er setzte zu einer ausweichenden Antwort an, doch ihm fiel keine ein und so nahm er schließlich das Pak aus seinem Schoß und versuchte es seinem Freund zu reichen. Das Zittern in seinen Händen wurde stärker und breitete sich auch auf seine Arme aus. Es schien, als wollten seine Glieder nicht mehr seinen Befehlen gehorchen. Verzweifelt versuchte er, die Arme zu strecken, Schweiß trat ihm auf die Stirn und ein metallischer Geschmack füllte ihm den Mund, doch gelingen wollte es ihm nicht.
Schließlich hob Johann die Hand in einer beschwichtigenden Geste. In seinen Augen lag tiefes Mitleid. „Nein, mein Freund, behalte es. Ich denke, ich möchte es lieber nicht so genau sehen.“
Daved fiel in sich zusammen wie ein Sack Mehl. Nun war er tatsächlich erschöpft. Das Buch drohte, ihm aus den nassen Fingern zu gleiten und so verstaute er es wieder sicher in seiner Seitentasche. Johann wandte den Blick zur Seite.
„Hier wirst du nicht bleiben können“, sagte der Freiherr und Daved nickte grimmig. Er hatte nichts anderes erwartet. „Wenn die Raggar dich hier suchen, werden sie alles morden und brandschatzen, was ihnen in den Weg kommt. Außerdem kannst du dich nicht ewig verstecken. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen.“
Er stand auf und trat auf das Feuer zu. Daved konnte sein Gesicht nicht erkennen.
„Ich werde dir helfen“, fuhr Johann fort, „aber nicht hier. Lass uns morgen nach Minerva aufbrechen und mit den Magistern der dortigen Universität sprechen. Vielleicht können sie uns helfen.“
Daved nickte. Er erinnerte sich, dass ihnen vor vielen Jahren ein alter Magister namens Laris bei den Studien über das Pak geholfen hatte. Wenn jemand wusste, was man mit dem Buch tun konnte, dann er. Der Mönch hoffte nur, dass der alte Mann noch am Leben war.
Johann wandte sich ihm wieder zu.
„Ruhe dich erst einmal aus, mein Freund“, sagte er. Daved wollte einwenden, dass er keine Ruhe brauchte, beschloss dann aber, Rücksicht auf seinen Körper zu nehmen, so verschlissen wie er bereits war.
„Ich werde dir ein Bad bereiten lassen“, fuhr der Freiherr fort, „aber zunächst solltest du etwas zu dir nehmen. Und morgen machen wir uns gemeinsam auf den Weg nach Minerva.“
Daved nickte und erhob sich, doch seine Beine waren schwächer, als er vermutet hatte und er fiel wieder in den Sessel zurück. Beschämt nahm der die ausgestreckte Hand seines Jugendfreundes entgegen. Gestützt auf die Schultern des großen Mannes ließ er sich zum Speisesaal geleiten.
Johann versuchte, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu zeigen, doch Daved wusste, dass es nur aufgesetzt war. Dennoch war er dankbar, schon allein durch die Tatsache, dass sein Freund sich nicht fürchtete, in seine Nähe zu kommen.
Daved gestattete sich keine Hoffnung, was die Reise nach Minerva betraf, aber er war neugierig. Zumindest hatten er nun eine Idee und floh nicht kopflos vor den Raggar.
Während sie gemeinsam den Speisesaal betraten, breitete sich im Mönch ein Gefühl aus, dass er als Zufriedenheit vermutete. Doch es gab einen Makel, etwas störte ihn und er wusste nicht, was es war.
Der Mönch schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Für solcherlei Paranoia hatte er wahrlich keine Zeit.