Ein Update zum Wochenende.
Ich bin gespannt, wie ihr auf die weiteren Kapitel reagiert. Sie erfordern vom Ein oder Anderen vielleicht etwas Geduld, aber ich hoffe, es lohnt sich für euch
Gruss, Reeba
IV. Flucht
Der Mond stand mitsamt seinem ringförmigen Hof aus fahlem Licht noch niedrig am Himmel. Doch würde in höchstens zwei, drei Stunden die erste Ahnung schüchterner Helle über den Grat des Horizonts kommen.
Gleichförmig, leise zirpend, scheinbar atmend in tiefer Ruhe lag die Nacht, als wisse sie von keinem Ende.
Aber dem darfst du nie vertrauen.
Sie lief. Anfangs gegen unsichtbare Hindernisse ankämpfend, dann fühlloser und hastig. Auf dem weichen Waldboden verursachten ihre Stiefel kaum ein Geräusch. Über den Nachthimmel zogen wenige ausgefranste, vom Mondlicht gesäumte Wolken. Sie nutzte die tiefere Dunkelheit, wenn sich eine Wolke vor den Mond schob, überquerte mit fliegendem Puls schutzlose Wiesen, ließ in geducktem Lauf eine Ansammlung von Häusern hinter sich. Das wieder freigelegte Nachtgestirn verwandelte mit seinem Licht die Waldstücke in Säulenhallen aus Grau, Silber und Schwarz.
Sie rannte.
Kalamë lag schon weit zurück, und manches Mal stolpernd, die erhitzten Wangen im kühlen Wind, schob sie in endloser Folge Felder und Wege zwischen sich und die Stadt. Sie war hellwach, doch wie besinnungslos.
Nach einer Weile unterbrach sie das Dahinlaufen, um zu horchen. Hockte sich unter ein Gebüsch. Ein feines Gewebe unbestimmbarer Laute, die von keiner Gefahr kündeten, formte den Klang der Nacht. Unsichtbar raschelten Tiere, gluckste eine Quelle. Sonst nichts. Es war beinahe windstill.
Sie wusste nicht, wie lange sie so gelaufen war, blind und gänzlich getragen von ihrer Bestürzung, in der ein gewisser Trost gelegen hatte, Betäubung zuallererst.
Jetzt aber, in der allmählich fremder werdenden Umarmung des Waldes, presste sich ihr das Herz zusammen.
Still. Sammle dich.
Nein. Es ging nicht. Erbarmungslos umkrallte sie das Zittern.
Und ringsumher stand die Welt schweigend und ohne ein Echo für das, was ihr geschah.
Die schwarzen Augen trocken, aber weit geöffnet, starrte sie in die Nacht, ohne etwas zu sehen. Am Besitz, am Haus oder an den Bedingungen, unter denen sie sich eingerichtet hatte, lag ihr wenig.
Schwerer wog es, dass sie wieder hinübergetrieben war über die feine Grenze – eine Grenze, die das Etwas, das man mit einigem Ermuntern eine Art Leben hatte nennen können, von dem Anderen trennte, das lauerte, wo auch immer die Welt sich um sie erstreckte: Verlorenheit.
Eya kauerte wie erfroren.
Ohne es zu wissen, durchlebte sie den Beginn einer Verwandlung. Das Geschehene entließ sie, und da, als sie zerquält und allein an einem Seelenabgrund zu stehen meinte, fand ihr Wille sie wieder.
Ruhiger, hob sie den Kopf.
Bis auf die Kampfausrüstung, die sie am Leibe trug, besaß sie nichts mehr. Wenige Kupfermünzen bargen sich in einer Innentasche ihres Gürtels, mit denen man eben ein, zwei warme Mahlzeiten erstehen konnte. Was die Notwendigkeit von Passagen oder auch nur weiterer Verpflegung anging, war sie mittellos.
Sie lauschte dem weichen Ruf eines Käuzchens. Auf Camdra und im Bereich der Landbrücke konnte sie nicht bleiben. Ihre Hand tastete nach dem Brief Ifrahs, der schmal gefaltet in einem Geheimfach der gepolsterten Rüstungsinnenseite steckte.
Wohin konnte sie gehen?
Selbst wenn die Magierin an ihren angedeuteten Plänen nichts geändert hatte, lag der grobe Zeitpunkt ihres Eintreffens in Kurast, der großen Stadt der Zakarum, noch in einiger Ferne. Ihre Heimatstadt, Selthe am westlichen Rand des Westkontinents, war erst nach Monaten einsamer Reise zu erreichen – um dort vielleicht ein leeres Haus vorzufinden und gleichzeitig die rechtzeitige Rückreise nach Kurast ausgeschlossen zu haben. Vor Eyas innerem Auge tauchte Urel auf, ihr Waffenbruder, der junge Barbar und alte Weggefährte. Sie lächelte flüchtig, doch war es ein kraftloses Lächeln in ungewisse Weite hinein. Sein Aufenthaltsort, so hatte auch Ifrah geschrieben, lag im Dunkeln, und sie glaubte nicht ernsthaft, dass er im Schatten des heiligen Berges geblieben war.
Ihre Hand streifte die silberne Kette, und da wechselte das Bild, schleichend, aber nachdrücklich.
Ihr Herz begann schwer und langsam zu schlagen, als ihr Widerstand diesmal nachgab, und der Wall aus Verbot und Verzicht und der Erstarrung mühsamer Verdrängung brach ein. Das Bild wurde deutlicher.
Gib gut auf dich acht.
Hadan legte ihr die Silberkette um, und ein Schatten milderte das Stechen seiner farblosen Augen. Er machte ihr das Geschenk, fast undurchdringlichen Gesichts, dann war der Abschied nur noch ein schmaler Spalt des Hinterhersehens, gerissen in eine restliche, nächtliche, freudig taumelnde Welt, die viel zu schnell und leer herandrängte.
Es war still, auch in ihr.
Etwas Altes langte mit unvermuteter Gewalt zu ihr hinüber, brach warm in ihr auf.
Noch bevor sie es zu denken wagte und sich für eine Sekunde gezwungen fühlte, über sich selbst bitter spottend zu lachen, wurde das nächtliche Land um sie weit und rief. Ihr Geist schien sich aus dem Blätterdach der Bäume aufzuschwingen, als wolle er einen freieren Blick zum Horizont und über die dunklen, mondbeschienenen Länder schicken.
Und wenn sie zu
ihm ginge?
Hunderte erinnerter Augenblicke. Wenig, aus dem ihr Mut erwachsen konnte, dafür ein Übermaß an Angst und Unsicherheit. Sie rief sich all dies ins Gedächtnis, doch noch während sie der Angst ins Gesicht sah, erhob sie sich und begann loszugehen.
Raschen Schrittes, immer schneller.
Der Schmerz im linken Knöchel ging unter.
Sie schritt voran, die Augen fest auf die wechselnden Linien der Landschaft gerichtet, erfrischt von der Nachtkühle. Der Mond leuchtete blass auf den Matten.
Bis zur Südküste mochten es noch zwei Wegstunden sein. Sie musste sich eilen.
Eine zu starke Gewissheit. Wie im Traum lief sie und wusste es, doch Kraft stieg in ihr hoch, dass sie allein deshalb jubeln wollte, ohne dabei einen Grund für Fröhlichkeit nennen zu können.
Sie wusste, dass der Nekromant bei Lhabarna lebte, einer Handelsstadt im Becken unterhalb des östlichen Hochlandes. An einem der zahllosen Tage der Wanderung hatte er ihr das Becken beschrieben. Es grenzte westlich an die Rückensee, war weit, teils dicht besiedelt und umarmt von zahllosen Hügelketten.
Über die Landbrücke, an der, viel zu nahe, die Stadt Patao mit dem Hauptsitz des Ordens lag und über die bewaffnete Kalamëer ausströmen würden, durfte sie sich nicht wagen. Die einzige weitere Möglichkeit, Camdra zu verlassen, war das Meer. Fand sie ein Boot, das sie an den Inseln Lahinta und Elis vorbei zum Ufer des östlichen Kontinents brachte, blieb die Landbrücke rasch zurück.
Die Gewässer südlich der Inseln waren nicht sehr befahren. Mit etwas Glück würde die Fahrt an ihren Küsten entlang vonstatten gehen, ohne dass viele Augen sie sahen.
Sie beschleunigte ihre Schritte, fühlte plötzlich weder Erstarrung noch Müdigkeit mehr. Obwohl es noch fern war, schien ihr, als könne sie im beinahe unmerklich grau angehauchten Licht, zwischen den Bäumen weit dort hinten, das Ufer der Halbinsel sehen.
Als Eya die Küste erreichte, war es hell.
Die Assassine blieb kurz zwischen zwei Krummholzkiefern stehen. Das Wasser in Ufernähe leckte nur leise am flachen, stein- und kieselübersäten Strand.
Das offene Meer und das Ufer mit seinem dichten Baumbestand verloren sich in weißlichem Dunst. Kaum ein Laut bis auf das Glucksen winziger Wellen störte die weltentrückte Stille.
Innerlich dankte sie dem Frühnebel.
Nun galt es, ein ostwärts fahrendes Schiff oder einen Kahn zu finden. Den kleinen Hafen, der sich hinter der nächsten Landzunge verbarg, musste sie jedoch meiden. Zudem war nicht damit zu rechnen, dass das günstige Wetter sich hielt.
Rasch begann sie, im Schutz der Bäume am Ufer entlangzugehen, angestrengt die Küste entlangspähend. Die Tatsache, dass diese nur schwach besiedelt war, konnte ihrem ohnehin unsicheren Plan rasch zum Verhängnis werden.
An diesem Morgen aber schien das Glück ihr gewogen.
Schon nach einer halben Stunde stieß sie auf ein kleines Ruderboot, das am Ufer lag, halb auf den Kies heraufgezogen. Hinter entfernten Bäumen lugte ein Haus hervor. Sie sah und hörte keine Menschenseele, trieb sich aber zur Eile an.
Im Boot lagen die Ruder, ein kleines Netz und eine Öllampe. Es war also noch in Gebrauch, und seine Besitzer kaum sehr weit weg. Die Assassine legte das Netz und die Lampe neben den Pflock, mit dem das Boot vertäut war, und löste das Seil. Kurz durchzuckte sie schuldbewusstes Bedauern. Vielleicht nahm sie einer armen Familie das einzige Gefährt zum Fischfang. Zögernd nahm sie die Hälfte der Kupfermünzen und steckte sie zu den zurückgelassenen Sachen. Mehr konnte sie nicht entbehren.
Sie streifte die Stiefel ab, warf sie neben die Ruderbank und schob den Kahn in tieferes Wasser. Dann kletterte sie hinein und legte sich mit aller Kraft in die Ruder.
So flink sie konnte, hielt sie auf das offene Meer zu, denn zunächst musste sie fort vom Ufer und etwaigen Blicken. Das Rudern vertrieb die empfindlich feuchte Morgenkühle, und auch ihre Füße trockneten bald.
Wie der Nebel die Welt schweigen ließ!
Nach einigen kräftigen Zügen nahmen seine randlosen Schleier sie auf. Sie drehte den Kahn. Das Ufer war noch schwach sichtbar. Sie brachte einigen zusätzlichen Abstand dazwischen, dann begann sie gleichmäßig und bestimmt zu rudern. Langsam zog die Küste Camdras an ihr vorbei, zog durch die schleierige Unkenntlichkeit wie das Gestade eines Lebens, das in der Ferne zurückbleibt.
Im hereinbrechenden Abend färbte sich der milchige Pfuhl des Nebels, der an alle Horizonte reichte, dunkler, graublau.
Er schien das kleine Fischerboot sacht an das Ufer der Insel zu tragen.
Einen Augenblick lang überfiel sie entsetzliche Erschöpfung, und sie saß still, in den wunden Händen die Ruder festhaltend. Doch dann rappelte sie sich auf zu einer letzten, notwendigen Kraftanstrengung.
Kaltes Wasser, darin rauer, felsiger Grund, empfing wie ein Schock die bloßen Füße, brachte aber auch kurzzeitige Klarheit. An schmerzenden Armen zog sie den Kahn ganz auf den flachen Fels des Ufers, denn nirgendwo gab es etwas, woran er festzubinden war. Bis zum Waldrand waren es viele Schritte.
In der beginnenden Dunkelheit stand Eya am Strand der Insel Lahinta.
Auch wenn die Erschöpfung an ihr fraß und das Alleinsein in der beginnenden Fremde Spalten in ihrer Zuversichtlichkeit fand, um sie hinterrücks anzuspringen, sagte sie sich doch, dass sie froh sein müsse. Camdra mit den schleichenden Schatten und den Scharen der Bewaffneten hatte sie entrinnen lassen. Es mutete fast wie ein Abschiedsgeschenk an, in all der bestürzten Hast und Zerrissenheit von dort fliehen zu können, dort nicht enden zu müssen.
Das kleine Boot hatte sie durch den Nebel getragen. Sie hatte in ihm, und ohne je hier gewesen zu sein, die Nachbarinsel gefunden.
Lahinta, das Eiland, das gemeinsam mit Camdra und der Insel Elis die Rückensee vom großen Meer trennte, war kaum bewohnt. Keine Lichter oder Geräusche hatten es im Nebel verraten. Ausgelaugt, aber erleichtert, nicht von widrigen Strömungen weit ins Meer hinausgezogen worden zu sein, sah Eya, dass sie vorerst – für heute – nicht weiter konnte. Elis zu erreichen, würde wenigstens einen weiteren Tag kosten. Und dort durfte sie vielleicht nicht riskieren, zu landen, denn es gab viele Fischer und einige Dörfer nahe der Ufer.
Durst brannte in ihrer Kehle, seit Stunden schon.
Sie betrat den dichten Waldstreifen, in der Dunkelheit auf das Plätschern eines Baches lauschend und nach einer geschützten Stelle suchend, wo sie nächtigen konnte. Sich eingraben in Moos und weiche Erde, sich unter Nadeln und Blättern verkriechen – mehr erhoffte sie nicht von dem abendlichen Wald.
Vorsichtig, tastenden Schrittes, verschwand sie unter den Bäumen.
In der Grauhelle des Morgens erwachte sie aus flachem, von wirren Träumen geflecktem Schlaf, frierend und steif.
Sie erhob sich und wischte Tannennadeln aus dem taufeuchten Haar. Ein Schwindel aus Schwäche zwang sie, sich an einem Baum abzustützen.
Die Kälte verging rasch. Der nagende Hunger bereitete ihr jedoch Sorge.
Sie musste etwas Essbares finden.
Zögernd durch die niedrigen Säulenhallen des Waldes gehend, in denen von Sonnenstrahlen durchströmter Frühnebel stand, hielt sie sich nordwärts. Größeres Getier war nirgends zu sehen oder zu hören, nicht einmal Wildtaubenfedern oder Kaninchenspuren fand sie. Für Pilze, Beeren oder Nüsse war es noch zu früh im Jahr.
Das kraftverzehrende Gefühl des Hungers, das sie mehr in den Gliedern als im Bauch spürte, trieb sie landeinwärts.
Nach einer Weile lichtete sich der Wald.
Hastig barg sie sich im Schutz eines Stammes und schaute auf sich vor ihr öffnendes, baumbestandenes Grasland – eine Kulturlandschaft voll untrüglicher Zeichen menschlichen Eingriffs. Haine aus Obstbäumen standen ordentlich und grün im Nebel.
Ein Garten. Er musste zur Schule der Magier gehören, die sich auf Lahinta befand, schwer erreichbar, fern der Handelswege und Strassen, in bewusster Abgeschiedenheit.
Nach einem Zaudern betrat sie den Hain, der im Morgenlicht dalag wie ein unweltliches Areal, ein Göttergarten, in dem auch die windlose Stille Leben besaß. Rasches Umherspähen zeigte keine Gefahr. Die Gebäude des unbekannten Geländes mochten noch fern sein.
An der Unterseite der Krone eines alten Baumes entdeckte sie frühe Kirschen. Sie waren wider Erwarten schon süß, und hastig aß sie so viel von den halbreifen Früchten, wie sie vermochte. Knurrend empfing ihr Magen Saft und Frische. Ihr ausgelaugter Körper reagierte mit Schwindel, und widerwillig, halb taub und blind, lehnte sie sich an den Stamm des Baumes.
Als sich der Garten wieder vor ihren Augen zeigte, war sie nicht länger allein.
Auf dem freien Rasen standen zwei Frauen.
Die Assassine erstarrte bestürzt. Durch den Nebelpfuhl ihrer behinderten Wachsamkeit waren die beiden Gestalten herangeweht wie Geister.
Regungslos starrten sie ihr entgegen, nah zusammengedrängt. Beide waren recht jung, die Eine noch ein halbes Kind. In bodenlange, pastellfarbene Tuniken gekleidet, über die das Haar lang herabfloss – hier schwarz, dort silberblond - standen sie in furchtsamer, überraschter Haltung. Ein Henkelkorb hing vom Arm der Einen. Es mochten Novizinnen der Schule sein, im Morgengrauen ausgesandt, um die ersten Kirschen zu sammeln oder Anderes, was hier noch wuchs.
Kaum eine übernatürliche Aura umgab die Frauen.
Doch Eya, die sich auf ihre eigene Wahrnehmung hier ebenso wenig verlassen konnte wie andere Menschen, denen die Begabung für Magie vollkommen fehlte, war sich nicht sicher. Manche Menschen vermochten ihre Macht dergestalt zu verbergen, dass man sie als wehrlos empfand. Das Unsichere, Verzagte ihrer Körperhaltung konnten die Frauen jedoch nicht vor ihr verbergen. Langsam bewegte sich ihre rechte, von Harz und Kirschsaft klebrige Hand wieder fort von der am Gürtel hängenden Kralle.
Das Unglück war schon geschehen. Auch ein rasches Verschwinden im Wald würde nicht ungeschehen machen, dass die Novizinnen sich an die eigenartige, diebische Fremde erinnern würden.
In die angespannte Stille hinein sprach unerwartet eine der beiden Frauen.
„Was tut Ihr hier? Das ist der Garten unserer Schule. Fremde dürfen ihn nicht betreten.“ Mit den wenigen Worten schien die Sprecherin ihre Sicherheit wiederzufinden, und wenngleich immer noch angstvoll, stand sie mit einem Mal ruhiger und freier da – ein dem weiten Hain zugehöriges Wesen.
Die Assassine fühlte deutlich den Schmerz des Flüchtlings, der in einer fremden Stadt friedliche Gärten und harmloses, geschäftiges Leben schaut. Vielleicht malte sich etwas davon auf ihrem Gesicht. Leise antwortete sie: „Das tut mir leid. Ich hatte keine Wahl.“ Kurz zögerte sie, von gebannten Augen festgehalten. „Der Hunger trieb mich in euren Garten, denn ich bin auf der Flucht, sehr in Eile, und habe nichts bei mir außer meiner Kleidung. Bestimmt will ich nichts Böses, das schwöre ich bei meinem Leben.“
Die Augen der Älteren, Schwarzhaarigen, die auch gesprochen hatte, huschten zum Gürtel ihres Gegenübers, an dem offen die Stahlkrallen hingen, zu ihrem Schulterpanzer und den gespornten Stiefeln. „Ihr seid eine Assassine.“
„Das ist wahr“, gab Eya zurück und zeigte beide Handflächen in einer Geste der Friedensliebe oder auch der Offenheit. Nur ein leises Zucken bewegte die Gestalten der Novizinnen. Sie hatten sich gut in der Gewalt. „Und Assassinen sind es, vor denen ich fliehe. Ich kann euch nicht zwingen, mir zu glauben, aber warnen muss ich euch. Die mir folgen, sind gefährlich.“
Sie sah, wie die Frauen sich anblickten, und fuhr drängend fort: „Somit dient meine folgende Bitte auch eurem Schutz und dem Schutz eurer Schule: verratet mich nicht an eure Meister. Es ist möglich, dass meine Verfolger nicht zu euch kommen. Wenn sie es aber doch tun und ihr ihnen gegenübersteht... dann verleugnet unsere Begegnung nicht. Sie würden sofort merken, wenn ihr lügt.“
„Ihr bringt Unfrieden zu uns, wie Ihr zugebt. Trotzdem erwartet Ihr, dass wir Euch helfen?“ Im Gesicht der Älteren zeigten sich Misstrauen und Verwirrung. Ihre Stimme klang indes nicht unfreundlich.
„Ich erwarte nichts. Ich bitte euch nur.“ Eya vernahm die Resignation in ihren eigenen Worten. Die Frauen hatten wahrlich keinen Grund, ihr zu trauen, geschweige denn zu helfen. Unmerklich machte sie sich für ein geschwindes Untertauchen im hinter ihr liegenden Gehölz bereit.
Gegenüber neigte die Jüngere ihrer Begleiterin das Kindergesicht zu und flüsterte ihr ins Ohr, die Augen dabei unverwandt auf Eya gerichtet.
Die Ältere sog den Atem ein, durchscheinend blass vor dem üppigen Grün des Gartens. „Menschen Eurer Klasse kann man nicht trauen, heißt es“, begann sie langsam, wie sinnend. „Da Ihr aber um nichts weiter bittet, als Lahinta wieder verlassen zu können, da Ihr sichtlich in Schwierigkeiten seid und Eure Worte ehrlich klingen, werden wir niemandem hier von dieser Begegnung erzählen. Geht jetzt und meidet diesen Garten in Zukunft.“
„Ich danke euch sehr.“ Die Assassine deutete eine Verbeugung an. Vage Erleichterung mischte sich unter Sorge und Hast, die mit jeder Minute fortschreitender Helligkeit wuchsen.
„Wartet“, hielt die Ältere sie zurück, als sie sich abwenden wollte. Aus dem Henkelkorb wurden eine lederne Wasserflasche und ein kleiner Brotlaib hervorgeholt. Steife, auf Abstand bedachte Arme hielten ihr die Gaben entgegen. Sie nahm sie, um Dankesworte ringend, weil ihr sich die Kehle verengte.
So senkte sie nur stumm, den Kopf, drehte sich um und tauchte in das Halblicht des Waldes. Nach einigen Schritten schaute sie zurück.
Undeutlich zwischen den großen Bäumen leuchteten die Gewänder, unwirklich, als sei sie eben über die Schwelle zwischen zwei Welten gekommen.
Im Dunkeln auf die Spur gesetzt und gezückten Messers durch die nächtlichen Wälder gleiten. Ganz und gar das Opfer werden. Ihm nachstürzen, aus belebter Dichte, Stadt und Steinmauern in die Weite des Landes. Sich sein Denken und die Umstände zunutze machen: Hast. Angst. Überstürzung.
Die Spur verwischte rascher, als wünschenswert war. Mied Gehöfte, Tränken, Weiden, wurde leicht, federleicht, riss beinahe ab. Süden, wisperte sie dennoch, Süden. Die schmaler besiedelte Küste, das offene Meer. Der Sprung weg von der Halbinsel, den Norden mit der engen, riskanten Passage der Landbrücke und dem wachsamen Auge des Ordens hinter sich lassend. Oder die Verfolger vielleicht narrend durch EBEN jenen Weg, dreist und unerwartet dort entlangschleichend, wo es nicht vermutet wurde? Zögern.
Im Südhafen keine Spur. Störende Zweifel. Hastiges, erbittertes Fahnden, dann ein vermisster Kahn. Wertvolle Zeit, vergehend mit Abwägungen.
Das Westufer nah, aber helleres, geordneteres, von Paladinen und geregelten Strassen und Städten gekennzeichnetes Land. Der Osten bot sich an. Die Inseln, selbst mit kleinen Booten zu erreichen. Dahinter, bevölkerter noch als der Westen, aber dunkler, wilder, der östliche Kontinent.
Plötzlich war er sich sicher. Straffte sich, schnellte der jetzt klar vor dem inneren Auge sich abzeichnenden Spur nach. Gewann wieder an Schnelligkeit. Ein Gefährt, dass ihn für gutes Geld südlich an den Inseln vorbeiführte, war rasch gefunden, die Mannschaft eilte sich, verängstigt, wollte den Auftrag bald erfüllen. Ihn wieder loswerden.
Feines Lächeln kam ihm auf die Lippen. Wind wehte aus dem Osten, warm und feucht, und schnurgerade in diese Richtung verlief die Spur.
Am Morgen des zweiten Tages nach dem Verlassen der Insel Lahinta, erreichte sie die Küste des östlichen Kontinents.
Ein dunkles, unregelmäßiges Band, den gesamten Horizont umspannend, tauchte aus der Grauhelle der Dämmerung. Sie hielt inne, zog die Ruder ein. Saß still, langsam im Wogen landwärts strebender Wellen darauf zutreibend.
Hügel, langgestreckte Bergformationen, Flachland zeichnete sich ab. Hellere Streifen zogen sich längs über den dunkelgrauen Himmel, darunter die Ahnung atemberaubender Weite wie eine Verheißung.
Ihr war, als solle sie ein neuentdecktes Land betreten, und auf der glatten Fläche des Wassers, allein in einem riesigen Bild zwischen den Ländern und Meeren, ergriffen sie Erregung und Angst.
Sie spürte, scheu den inneren, eigenen Bildern ausweichend, dass es sie geradezu magnetisch in dieses Unbekannte, auf dieses fremde Land zog, von welchem sie nur einmal und in unsäglicher Eile einen Zipfel durchreist hatte. Ihr Herz schlug der Küste entgegen, dass es seltsam wohlig wehtat.
Nie war ihr die Weite der Welt so bewusst gewesen. Sie war allein.
Und doch, in aller fröstelnden Leere, in allem Wissen darum, dass dort nichts Verlässliches sie erwartete, dass sie ein großes Wagnis einging, stand unbeirrbar etwas und rief nach ihr. Hoffnung und Unsicherheit stritten in ihrer Brust miteinander.
Aber es gab kein Zurück mehr. Sie konnte nur weitergehen.
Sie fuhr die Ruder wieder aus und schnupperte. Im salzigen Nass des Meeres roch sie, ferner noch, aber unaufhaltsam an Stärke gewinnend, den Atem des Ostens.
Mit neuem Elan legte sich Eya in die Ruder, zwang ihrem mitgenommenen Leib ab, was er hergeben konnte.
Geradewegs vorne an der näher heranschwankenden Küste bedeckten Häuser dicht an dicht das Ufer, davor viele kleine und größere Boote erkennbar wurden. Einige lagen weiter draußen im Wasser, wenige kamen sogar langsam in ihre Richtung. Diesen Kleinhafen und die Fischer musste sie meiden. Sie pullte nach rechts und schlug einen großen Bogen. Eine Meile weiter südlich mochte es ungefährlicher sein, an Land zu gehen. Dennoch erfüllte sie der Anblick der kleinen Fischerkähne mit leiser Freude.
Sich nahe von Siedlungen, im Umkreis menschlichen Lebens, auf von Wegen, Karren, Händlern durchzogenem Land vor allen Blicken zu verbergen, war tausendmal leichter zu ertragen als die menschenleere und schweigende Einsamkeit der Wildnis. Lieber kauerte und schlich sie, verborgen und unsichtbar, unter den nichtsahnenden Menschen umher.
Sie hielt auf die baumbestandene Linie des Ufers zu. Kam mit eigenartigem Einverständnis als das, was sie war – eine Gestrandete an fremden Gestaden.
Der Kiel des Bootes berührte erschauernd sandigen Untergrund.