Zum Wochenbeginn ein Update
Reeba
VI. Wiedersehen
Ein langer Flur öffnete sich vor ihr, die sie mit dem Rücken zur Tür stand und nicht zu atmen wagte. Halblicht herrschte darin, und tiefe Stille.
Eine einzelne Öllampe breitete ein Rund wärmeren Scheins aus.
Eya starrte die dunkle Tür an, die den Flur am anderen Ende abschloss.
Vorsichtig wagte sie einen Schritt. Sie konnte rufen. Lautlos formten ihre Lippen den heimlich vertrauten Namen.
Aber sie tat es nicht.
Rechts und links gingen zwei Türen ab, an die sie heranschlich. Links ein Vorratsraum, Licht auf Stoffballen, Kisten, einem Leinensack. Rechts hinter einem Vorhang, der sich weich in ihre Hand legte, eine dunkle Kammer. Es roch durchdringend nach Rauchharz und vermischten Kräutern. Glasgefäße blinkten matt, gefüllt mit Pflanzenteilen, andere mit trüber Flüssigkeit, in der hier und dort etwas schwamm. Das Dunkel des Vorhangs fiel wieder über winzige, tote Augen.
Sie erreichte das Ende des Flurs.
Immer noch war nichts zu hören, nur die Schläge ihres Herzens klangen als dumpfes Pulsen in den Ohren wider. Mehr unsichere Anspannung als eine gesammelte Verteidigungshaltung straffte ihren Körper.
Leises Knarren begleitete das Aufschwingen der Tür. Auf alles gefasst, ließ sie zu, dass ihre eigene Gestalt in der sich erweiternden Öffnung sichtbar wurde. Ihre Sinne tasteten fortwährend nach einer Gefahr.
Ein weiter Raum mit niedriger Felsendecke öffnete sich, linker Hand fiel Licht herein und schuf großzügige, natürliche Beleuchtung. Unter einer Fensterreihe befand sich, aus dem Stein herausgeschlagen, eine Arbeitsfläche mit Becken und Feuerstelle. Rechter Hand stand ein wuchtiger Tisch mit einigen Lehnstühlen. Eine Schlafstatt sah sie nicht, indes eine weitere Tür am gegenüberliegenden Ende.
Die ausgedehnte Höhle schien im Augenblick verlassen. Vor dem Fenster sang ein Vogel.
Aufgeräumt, friedlich fast, umgab sie die fremde Behausung. Die Vorsicht flüsterte beharrlich, aber unterdrückt –
unterdrückt von was?
Sie tat einen Schritt in den Raum hinein.
Es geschah, als ihr Fuß den Boden noch kaum berührt hatte.
Ein Regen schmerzender Lichtpunkte senkte sich auf sie herab, ein Geflecht, das ihre Sinne betäubte. Sie schrumpften zusammen zu beschlagenen Luken in die Außenwelt. Es war kein Schmerz.
Es war schlimmer.
In jenem Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich, ungeschützt, zusammengekrümmt – hilflos wie jede andere fleischliche Kreatur. Hatte sich, leise aufstöhnend, gebückt und eine Blöße offenbart.
Als sie hochschnellte, war es da, mit einem Mal.
Jemand hinter ihr. Bevor sie die Benommenheit abschütteln konnte, riss es sie zurück.
Ein Arm legte sich um ihren Hals, so fest, dass ihr die Luft ausging. In Wehrhaftigkeit erstarrt, erschauernd ob der Berührung eines fremden Körpers, begriff sie. Der Angreifer hatte direkt hinter ihr in einem toten Winkel gestanden, unbemerkt zu ihrer Scham. Hatte sie, aus einem Winkel tretend, aus der Luft gepflückt – doch dies würde sein Untergang sein.
Ihre Klinge erstritt sich einen bösen Bogen nach hinten, noch bevor sie in der Attacke etwas spürte und roch, etwas Vertrautes –
Kalter, gewellter Stahl ritzte ihre Kehle, schneller als der Stachel ihrer Verteidigung.
Sie erstarrte.
Am Hals fühlte sie die angespannten Muskeln des feindlichen Arms. Zischendes Einatmen an ihrem Ohr, und mit einem Zucken löste sich der Griff um ihren Hals.
Sie explodierten auseinander.
Kamen in sicherer Entfernung zum Stehen.
Das weiche Licht der Fensterseite fiel auf die Schneiden der Suwayyah und des Crismessers.
„Eya?“
Der jungen Assassine sprang das Herz in den Hals.
Ein Jahr.
Sie hatte vergessen, wie groß er war. Die Erinnerung hatte sein Bild verzerrt und verblassen lassen .Doch fand ihr Blick jetzt alles wieder, bestürzt und erfreut, fand jede Einzelheit.
Im staubigen Licht hoben sich seine durchscheinende Blässe und das weiße Haar geisterhaft von der dunklen Kleidung ab, die er trug. Um den rechten Oberschenkel war eine Messerscheide geschnallt, offen wie bei Menschen, die keine Gefahr fürchten müssen. Sein Körper war noch immer weniger der eines Nekromanten als der eines Kriegers, doch sie wusste es besser. Das hagere Gesicht war in Strenge verhärtet.
Sie starrten sich an, reglos, mit gezückten Klingen.
„Eya, bist du das?“
Der ungläubige Ausdruck im nur von einer stechenden schwarzen Iris unterbrochenen Weiß seiner Augen wich langsamem Erkennen.
Hadan, der Nekromant von Lhabarna, einer der vier Überwinder Baals, ließ das Crismesser sinken.
Seine Haltung lockerte sich, und sie sah ihn tief Luft holen. Wenngleich er sie zurück in sein Inneres befahl, umgab ihn die Präsenz seiner Macht, und nun wurde sie auch wieder des flüchtigen Nebels gewahr, der um sie hing. Die Nachwirkungen eines Fluchs.
„Ich hätte dich um ein Haar getötet“, sagte er in das Schweigen hinein.
Ein Jahr. Da sein Blick sich seltsam mit ihrem zu verschränken begann, schlug sie die Augen nieder.
„Es... es tut mir leid, dass ich einfach eingedrungen bin.“ Ihre Stimme klang wie ein lange nicht gebrauchtes Instrument.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie immer noch die Suwayyah hielt, und ließ sie in ihren Lederschutz zurückgleiten. Ihre Hand zitterte und war schmutzig. Bedeckt mit Schweiß und Staub gleich dem Rest ihres Körpers, abgemagert und übelriechend in der verkrusteten, blinden Rüstung. Scham überflutete ihr Gesicht, zu dem ihre Linke hoch zuckte. Sie konnte nur erfolglos verklebte Strähnen aus der Stirn streichen mit einer alten Geste. Er sah sie an, und sie wusste es.
Das ganze Gewicht der hinter ihr liegenden Flucht brach auf sie nieder.
Der zauberische, riesige Himmel, überspült von Wellen aus Licht und Dämmerung. Die unheimlichen Schreie der Nachtwälder. Die verzückte Qual der Strapazen und der Wahnsinn der Einsamkeit.
Als die Schwäche sie nach unten riss, war Hadan schon bei ihr und zog ihr einen Stuhl heran.
Sie setzte sich und klammerte die Hände um das Holz der Armlehnen, bis der Schwindel seine Wildheit verlor.
Dankbar griff sie nach dem Becher Wasser. Die Bilder in ihr quollen plötzlich auf, nachdem sie sich so gehorsam hatten übereinander häufen lassen. Samuel tan Naehmë lag, ein Berg, aus dem eine rote Quelle rieselte. Camdra versank in schmerzlichem Schweigen hinter Nebelwänden. Sie zog in Richtung der aufgehenden Sonne, riss sich vorwärts an einem einzigen Faden der Hoffnung.
Während den Tagen der Flucht hatte sie nicht eine einzige Träne vergossen.
Jetzt aber, zerschlagen, zwischen erleichterter Freude, Erschöpfung und Angst, würgte es sie in der Kehle.
Hadan ließ sich ihr gegenüber nieder. Sie spürte, dass er wartete, bis sie sich wieder fing.
„Was ist geschehen?“, fragte er dann leise. „Du bist seit Wochen unterwegs, das ist leicht zu sehen.“
Die farblosen Augen bannten sie erneut.
„Mir wurde ein Auftrag angeboten“, begann sie. Das Sprechen fiel ihr schwer in der Bestürzung, einem abgespaltenen Teil ihrer Selbst wieder gegenüberzustehen „Er ähnelte zunächst anderen, wie sie aus Kalamë öfters eingingen. Doch dieser war... offenbar nur ein Vorwand, mich in ein Haus zu locken, dessen Herr, mein Auftraggeber, in der Nacht meiner Ankunft ermordet wurde.
Ich fand die Leiche.“ Der Schrecken sprang sie wieder an, doch sie erlangte rasch die Gewalt über ihn. „Die Tat war auf mich zugeschnitten, so musste es den ersten Zeugen erscheinen. Ich konnte den Hauswachen entkommen, aber für alles Weitere war es zu spät. Mein Fehler war... ich hätte diesen Auftrag niemals annehmen dürfen. Niemals.“
Hadan rührte sich nicht, unterbrach sie mit keinem Wort. Mit welchen Gedankengängen er ihr lauschte, erriet sie auch so.
„Ich kenne die, die den Mord und meine Verwicklung darin veranlassten“, fuhr sie fort. „Was sie zu Ersterem veranlasste, weiß ich nicht. Für mich aber stellten sie die Falle, wie sie es tun, wenn es ihnen zu riskant ist, eine ehemalige... Mitstreiterin am Leben zu lassen. Noch in derselben Nacht verließ ich Kalamë, Camdra nur ein paar Stunden später. Seitdem-„ – ihre schwarzen Augen zuckten hoch – „seitdem war ich unterwegs, Tag und Nacht.“
Die Stimme versagte ihr, angstgepresst, vor den folgenden Erklärungen zurückweichend.
„Wie lange liegt der Vorfall zurück?“ fragte der Nekromant.
Als sie etwas von ungefähr drei Wochen vorbrachte, hörte sie ihn scharf einatmen.
Die Entfernungen kannte sie nicht, erinnerte sich nur an das endlose Gehen, das Verlieren ihrer Selbst in der Weite des Landes.
Unbehaglich, den Geruch ihrer eigenen Verwahrlosung in der Nase, umschlang sie ihren Oberkörper mit den Armen. Vergaß, durch welches Elend sie und die Gefährten schon in Gegenwart der anderen gegangen waren, und fühlte die Scham auf ihren Wangen brennen.
Hadan stand auf und befreite sie von seinem Blick.
„Du bist erschöpft und am Ende deiner Kräfte“, sagte er. „Fragen und alles Weitere später. Hinten ist ein Waschraum.“
Ein Jahr. Einstige Selbstverständlichkeiten, entfremdet über die Zeit hinweg.
Harrogath und die Abende, an denen wir uns wuschen und gemeinsam aßen, liegen weit zurück.
Schüchtern folgte sie dem großen Mann in einen rückwärtigen Flur.
Des Staubs der Reise ledig, saß sie schließlich an dem massiven Tisch.
Überließ sich vorsichtig der Bequemlichkeit des Lehnstuhls und beobachtete verstohlen, wie Hadan etwas zu essen vorbereitete.
Ihr gewaschener Körper erinnerte sie nun heftiger daran, was sie ihm zugemutet hatte, nun, da sie ruhte – zum ersten Mal seit Wochen.
Der Weg ist zuende.
Der körperliche Schmerz verschwand nahezu, verraucht in der innerlichen Glut. Sie saß still, zurückgelehnt, die Brust ängstlich geschlossen um ein ruheloses Herz.
Hadan stand im einfallenden Licht und zerteilte Fleisch mit einem Messer.
Er war, wie sie ihn erinnerte. Der lange heimlich Bewahrte ihres Denkens, der alte Gefährte, aber auch etwas ganz anderes.
Immer hatten ihre Blicke auf ihm geruht und nur auf ihm, bis ihr zuletzt begonnen hatte, aufzugehen, dass er sich für sie nicht begreifen ließ, solange sie sich nicht selber hergab.
Sie schrak zusammen, als Hadan unerwartet den Faden des unterbrochenen Austauschs wieder aufgriff. „Du hast noch nicht alles erzählt, was dich in Zusammenhang mit der Falle, die dir gestellt wurde, beschäftigt.“
Die Assassine sah auf, und ihre Stirn umwölkte sich.
„Es ist nur... ich fürchte mich davor, mehr als einen Fehler gemacht zu haben“, gab sie leise zurück.
Er schaute sie fragend an.
Ich habe dich gefunden, rief es in ihr. Und als sie ihn so stehen sah, klärte sich plötzlich der Nebel der vergangenen Tage. Sie begriff, dass sie im Wahnwitz der Flucht unvorsichtig gehandelt und eine Bedrohung mitgetragen hatte.
Es ging ihr als Ruck durch den Leib, siedend heiß. Beinahe sprang sie auf die Füße, doch wo sie bebend sitzen blieb, brachen die Worte aus ihr hervor.
„Der Orden ist auf meiner Spur.“ Es stand wie ein Schrei im Raum. Sie starrte verzweifelt auf den Steinboden der Wohnhöhle. „Wie konnte ich so närrisch sein, mich derart nah an ihrem Sitz anzusiedeln?“
Bitterkeit färbte ihre Stimme. Stück für Stück brachte sie die Misere hervor, ungeachtet, ob ihr noch zu folgen war. „Wie konnte ich... es war nur eine Frage der Zeit. Und ich lief nicht einmal weg! Ich ließ ihnen alle Ruhe, einen Plan zu wirken. Und was schlimmer ist – Menschen, die nichts von ihrer Existenz wissen... ich... ich nahm in Kauf, dass sie in Gefahr geraten.“
Das Holz des Stuhls knirschte unter ihren Händen. „Sie sind mir auf den Fersen, Hadan! Ich bin mir sicher. Wer weiß, über welche Mittel sie inzwischen verfügen? Und ich habe sie hierher gelockt... wenn sie mich finden...“
Übergangslos stand sie auf den Füßen.
„Bitte verzeih mir... ich hätte nicht hierher kommen sollen. Sie werden diesen Ort finden... verzeih mir...“
Die Ruhe der Höhle schien ihr mit einem Mal ein stiller Vorwurf. Ihre Stimme war nur noch ein leises Flehen, in dem aufsteigendes Schluchzen kratzte.
Hadans Antwort kam aus solcher Nähe, dass sie erschrocken den Kopf hob.
Unbemerkt war er an sie herangetreten.
„Was geschehen ist, ist geschehen“, entgegnete er. „Deine Verfolgung ist nicht sicher. Du bist weit und vermutlich ohne viele Spuren zu hinterlassen in ein riesiges Gebiet vorgedrungen.
Und selbst wenn deine Spur aufgenommen wurde, so von Assassinen. Es wird kaum mehr als ein Verfolger sein. Kommt er – gut, so lass ihn kommen.“ – sie machte eine Bewegung – „...- ich weiß, wie gefährlich sie sind.“
Die Andeutung eines Lächelns zog über seine bleichen Züge. „Mir war vergönnt, eine Assassine eine Weile zu beobachten, wie du vielleicht erinnern wirst.“
Dann wurde er endgültig ernst
„In deinen Worten kommt nicht vor, was
dir gestohlen wurde. Muss der Flüchtling sich dafür rechtfertigen, dass er flieht?
Sie haben dir deine Heimat genommen, Eya.“
Es kam mit Macht zu ihr, schließlich und nach der Mühsal des Weges – Camdra, eine Türschwelle nur zwischen dem drohenden Raum eines abgelegten Lebens und einem blicklosen Dunst, aber doch ihr Eigen, war verloren.
Nun besaß sie nichts mehr.
...denn das Land ist mein Heim und mein Himmel. Dies war das meine.
Schwarze Verzweiflung überfiel sie für einen grausamen Moment, und durch Tränenschleier sah sie nahebei das Schwarz der Kleidung des Mannes, der vor ihr stand. Und wiederum nicht sicher, ob sie zielloser sei als jeder Mensch auf Erden oder geradewegs vor dem Punkt stand, an dem aller Dunst sich klärte – halb besinnungslos, wie taub und auch schreiend lebendig, und in all dieser Wirrnis sich Hadans Nähe und eines heißen Schauers im Leib seltsam bewusst – trat sie auf ihn zu.
Einen letzten Schritt, ohne aufzusehen.
Gegen alle Angst zog es sie nach vorne, und Eya legte den heißen, wehen Kopf an seine Brust. Atmete zitternd ein. Unter dem Leder Wärme und Festigkeit. Mit jedem Herzschlag der Wunsch, sich in das Dunkel und den fremden Körper hineinzukauern. Flacher, gepresster Atem drang ihr ans Ohr, der ebenso gut ihrer sein konnte, wie der seine.
Ein Arm legte sich zögernd um sie. Festgebannt, bewegungslos spürte sie, wie ein Zittern durch den nahen Leib ging.
Dann berührte die Hand des Armes ihre Schulter, und Hadan schob sie sanft, aber bestimmt von sich.
Sie sah auf, das Herz im offenen Antlitz. Ihre Wangen brannten unter zwei nassen Streifen.
Hadan nahm die Hand von ihrer Schulter.
Vergebens heftete sie den Blick auf ihn. Unmissverständlich umragte ihn die Mauer, ohne einen Durchlass. Dahinter waren ein Fremder und ein Begehrter, und das Nachzittern der Berührung verlor mit jedem Lidschlag mehr die Sicherheit, keiner Selbsttäuschung angehört zu haben.
Ausweichend senkte sie den Kopf, ohne die Scham desjenigen, der geschlagen aus einem Wagnis wiederkehrt, verbergen zu können. Sie sah nicht das Aufblitzen eines anderen Selbst in seinem Blick. Als sie sich wieder überwinden konnte, ihm zu begegnen, war dieser fest auf sie gerichtet, gedankenvoll, doch unerschütterlich ruhig.
Vor dem Fenster begann im Gebüsch wieder Vogelgesang.
Sie hätte alles dafür gegeben, dass dieser Augenblick nicht endete, und sehnte sich gleichzeitig danach, ihm zu entfliehen. Unbegreiflich, dass sie am liebsten unter Tränen darüber gelacht hätte, ragte aus der Marter der Ratlosigkeit eine Gewissheit, eine Freude.
Was an mit Füßen zu Beschreitendem zum Weg gehörte, habe ich beschritten.
Noch einmal durchzuckte sie die Umarmung.
Sie hatte keine Erwiderung erhalten, und Abweisung ebenso wenig. Die Spannung knisterte in der Luft noch nach.
Aus Hadans Richtung kam eine Bewegung.
„Du bist gewiss erschöpft“, sagte er leise. „Wenn dein Hunger dich noch warten lässt, steht dir ein Zimmer zur Verfügung. Dort kannst du schlafen. Du musst sehr müde sein.“
Schüchtern nickte sie. Ja, müde war sie, nun, da die Reise von ihr abfiel.
Benommen folgte sie Hadan in den rückwärtigen Gang.
Zur Fensterseite hin lag ein kleiner Raum mit einer Liege und rotem, schwerem Tuch auf dieser. Die Bettstatt wirkte einladend.
Bleierne Erschöpfung in allen Gliedern, stand sie im Licht.
Einmal noch verschränkten sich ihrer beider Augen.
Ich habe dich gefunden, ging es verstohlen durch das schwere Klopfen in ihrer Brust.
Hadan stand in der Tür. Der Ausdruck auf seinen Zügen war uneindeutig, war ein Rätsel, aber er stieß sie nicht zurück, nein.
„In ein paar Stunden wird ein Abendmahl bereit sein“, sagte er. Dann, sichtbar sich überwindend und als habe er Ähnliches noch nie zu einem anderen Menschen gesagt: „Die Höhle steht dir offen. Halte dich nur fern von den Dingen, die du nicht erkennst.“
Seine Stimme war leiser und weicher zuletzt: „Du kannst bleiben, Eya, solange du willst.“
Dann zog er den schweren Vorhang zu, der den kleinen Raum vom Gang abtrennte.
Schritte auf Stein, sich entfernend. Sie hörte die Anspannung in ihnen.
Eine Weile rührte sie sich nicht, kroch dann mit unendlich müden Bewegungen unter die rote Decke.
Ließ den Geruch der Wolle sie randlos ausfüllen. Nicht zurückdenken, nicht nach vorne.
Sie spürte kaum noch, wie sie sich zur Seite drehte.
Schlief ein, das blasse Gesicht in das Kissen gedrückt. Unter ihrer Wange breitete sich ein dunkler Fleck aus.
Er wischte das Messer ab und stieß es ins Holz, wo es wankend stecken blieb.
Hadan drehte dem zerteilten Fleisch den Rücken zu, lehnte sich an den Arbeitssockel und stützte die Hände auf.
Die Ruhe ringsum ließ den Strom ungehindert bis zu ihm, und er schaute nach links, wo das Zimmer lag, aus dem er kam.
Die Umgebung versank davor in Blicklosigkeit, fiel rings um das Zimmer auf die Knie, und dies war gerade angemessen und beschreib es nicht annähernd.
Sie.
Es hatte ihn die größte Überwindung gekostet, sie fortzuschieben, sie nicht an sich zu ziehen, festzuhalten, bis alles Zweifelnde, Fremde erstickt war. Ein Augenblick nur in ihrer leibhaftigen Gegenwart, und allein die hierin wohnende Macht hatte gezeigt, dass sie ihn fortzureißen vermochte. An seiner Brust haftete die Erinnerung ihrer Berührung.
Ich weiß nicht, was dich hergeführt hat.
Um ihren Hals lag die Kette, ein silbernes Versprechen, der Seele entlehnt und nicht der wirklichen Welt. Einer Welt mit einer Vergangenheit, bar menschlicher Berührungen, bar jeder Zärtlichkeit zwischen Körpern oder Seelen. Und sie ging hindurch mit dem seltsamsten Vertrauen, wandte sich lebendig aus den Tausenden bewahrter Bilder zu ihm, und er wusste nicht, wer sie war und warum sie dies wollte.
Das Messer zitterte immer noch im Holz.
Dann löste er sich von dem felsigen, glatten Absatz. Ging wie von einem fremden Willen geleitet in den rückwärtigen Flur. Verhielt vor dem Vorhang, öffnete dann einen Spalt, dabei leise ihren Namen rufend.
Sie schlief. Eng zusammengerollt unter der roten Decke, schlief sie entrückt, das blasse Gesicht gezeichnet von Tränen.
Hilflos sah er sie an.
Wandte sich mühsam ab. Sie brauchte den Schlaf, keine Störung, keine Augen, die auf ihr ruhten, wenn sie es nicht ahnte.
Er trat aus dem zweiten Ausgang der Höhle in den gelassenen, milden Morgen.
Nirgends war die Anwesenheit einer beobachtenden oder feindlichen Präsenz zu spüren. Bis zum Fluss waren es nur wenige Schritte.
Dort setzte er sich, die Höhle in Sichtweite, und überließ sich der ruhigen Lebendigkeit des Umfeldes. Saß lange, beinahe bewegungslos. Auch in seinem Gesicht regte sich wenig, und nur innerlich war er eigenartig und gleichsam gequält wie hingegeben über den Spalt gebeugt, der aufbrach.
Es war der älteste und schlimmste Schmerz, peinigender als die Verwundungen aller Kämpfe, auch des letzten. Er ließ ihn ganz durch sich hindurchgehen.
Silbern lag der Fluss im Doppelsaum der Bäume.
Nach Stunden, als sich schon Dämmerlicht zeigte, stand Hadan auf und ging zur Höhle zurück, um das Essen zu bereiten.
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Zum vorigen und dem Kapitel mit dem eingeflochtenen König des Labyrinths wollte ich unbedingt noch auf meine heimlichen Quellen
verweisen: ein Kind als einen anderen Blickwinkel auf die Vorfälle im Magistratshaus einzuflechten, war nicht meine Idee, sondern die von Stalker_Juist.
Auch der kleine Abschnitt in 'Nach Lhabarna' mit dem Karrentreiber ist ihm zu verdanken. Die Zeilen des Liedes habe ich nach dem Lied 'El Carretero' aus 'Buena Vista Social Club' abgeändert übernommen.
Hier noch mal gesondert vielen Dank an Stalker für die unermüdliche Unterstützung