Damit du nicht so lange darben musst, @G4nd4lf
, hier mal fix das nächste Kapitel.
VII. Hadans Geschichte
Eya erwachte nur langsam.
Ihr Schlummer war ungewöhnlich tief gewesen, ein Schlaf der Erschöpfung. Vorsichtig setzte sie sich auf.
Die Nacht nahte. Sie sah aus dem ladenlosen Fenster in den Wald, und ein tiefes Staunen bemächtigte sich ihrer. Unter den Bäumen ruhte Dunkelheit, noch von klaren Formen erfüllt. Über ihren Kronen glühte der Himmel wie blasse Flammen.
Hunderte Lichtpunkte tanzten um die mächtigen Stämme, einem schwebenden Spiel verfallen. Am anderen Flussufer erspähte die Assassine größere Punkte und Flecken von Licht, die keine Leuchtkäfer waren. Ihr verwundertes Lauschen trug ihr Stimmen zu, schwach indes und aus einiger Entfernung.
Die Luft war nicht kühler als am Tag. Zurücktretend dachte sie unklar, dass dies die großzügige Öffnung der Höhle in die umgebende Natur hinaus erkläre.
Im Wohnraum, den sie hochschlagenden Herzens betrat, leuchteten Öllampen und wenige Kerzen.
Hadan, am Felsenbecken der Fensterseite stehend, wandte ihr kurz das Gesicht zu. Einen Augenblick lang haftete sein Blick an ihr, fast als sehe er sie zum ersten Mal.
Sie grüßten einander wie zu Zeiten der ersten geteilten Lagerfeuer.
„Setz dich“, forderte er sie mit knapper, einladender Geste auf.
Kein Wort ließ sich aus dem Wirbeln der Gedanken und Gefühle hervorzwingen, und so schluckte sie nur und wählte sich einen Stuhl.
Als sie die Augen durch den Raum schweifen ließ, kam ungerufen ein Bild zu ihr – in der Dunkelheit warmer Nächte und im Kerzenschein der einsame Bewohner der Höhle.
Es roch nach Gewürzen und Gekochtem. Feuer glomm unter einem aufgehängten Topf in der Herdstelle.
Hadan kam und stellte einen dampfenden Teller vor sie hin. Betreten sah sie sich von ihm bedient, stärker aber und schmerzlich intensiv empfand sie seine Nähe.
Vor dem Mahl wechselten sie nur spärliche Worte.
Hadan hatte ihr gegenüber Platz genommen, aß wenig und war lange fertig, bevor sie ihren Hunger gestillt hatte. Als sie den Löffel weglegte und den ersten Schluck dunklen Bieres nahm, das in ihrem Becher schäumte, saß er in einer Haltung, die ihr vertraut war – zurückgelehnt, eine Hand im Schoß und über die andere, aufgestützte hinweg sie musternd. Seiner Unnahbarkeit zum Trotz begleitete ihn eine gelassene körperliche Selbstverständlichkeit, die verwunderte.
Flüchtig dachte sie, dass sie nicht wusste, wessen Sohn er war – gewesen war, einmal, vor Ewigkeiten. Herkunft, Abstammung, nie waren sie Gegenstand ihrer seltenen Unterhaltungen gewesen. Mit dem Instinkt der Menschen aber, die selbst ohne Ahnen sind, witterte Eya an ihm das Stigma des Findelkindes.
Das Bier war frisch und herb in ihrer Kehle. Kerzenschein tanzte wie verlegene Mädchen.
Etwas war anders, spürte sie. Geöffneter, ruhiger, saß er da, als habe er einen Entschluss gefasst.
„Danke für das Mahl“, begann sie.
Hadan neigte den Kopf. „Ich hoffe, du hast dich in deinem Schlaf nicht stören lassen.“
„Nein, ich... ich fühle mich schon bedeutend ausgeruhter.“
„Nur dein Bein bereitet dir Sorge“, bemerkte er. Überrascht legte sie die Hand auf den Schenkel, da sie es nicht erwähnt hatte.
„Der Körper vergisst nicht so leicht“, fügte er hinzu, und ihr schien, als spreche er nicht von ihr allein. „Beobachte es sorgfältig.“
Eya nickte. Für einen Moment herrschte Schweigen, in dem Vergangenes wachgerufen wurde.
„Im Übrigen freut es mich, dass die... alten Verwundungen dich offenbar nicht behindern“, fuhr er fort. Froh verstand sie die Einladung in seinen zurückhaltenden Worten.
„Meine Bewegungsfähigkeit habe ich nicht wiedererlangt... nicht vollständig“, antwortete sie. Plötzlich war es möglich, darüber zu sprechen. „Aber ich konnte mein Repertoire erweitern.“
Der Kerzenschein spielte in ihrem Gesicht und auf den schwarzen Strähnen ihres Haars. Hadan hörte zu, wie sie von der Heimkehr berichtete, von ihrer mühseligen Genesung, ihrer Verzweiflung und der rettenden Erkenntnis, dass aus der verbliebenen Einschränkung Weiterentwicklung geboren werden musste.
„Du machst mich neugierig“, sagte er, als sie endete.
Der Zuspruch ermutigte sie. Endlich, leise, konnte sie fragen: „Und wie.. wie ist es dir ergangen?“
Ein Schatten ging über sein Gesicht. Ohne Verständigung, einer Gedankenverbindung ähnlich, suchte sie beide dasselbe Bild heim.
Schreie, Kampfeslärm, dem Verzweifeln nahe Stunden. Damals, als er sich dem Tod entzogen hatte –
-
übersät von Leichen der Gegner der milchige Stollen, die Luft noch dampfend, mit Blut geschwängert. Die Gruppe zusammenkriechend, vereint in Hilflosigkeit und Entsetzen. Entsetzter noch, als sich die Macht von einem der Ihren in der Ausweglosigkeit offenbarte, als er mit einer einzigen Handlung einen Schritt hinübertat über den Abgrund – hinüber zu dem, was sie doch bekämpften, und dann mit ihnen ging, weiter, und mit ihm und ihnen die Angst -
In der unwirklichen Stille wanderten ihre Augen über ihn, und er zuckte nicht zurück und ließ es zu.
Sie sah die Bitte in seinem Gesicht –
ich kann es dir nicht beantworten, bitte versteh. Dann antwortete er mit einer Nichtigkeit. „Mir ist es gut ergangen.“
Draußen herrschte mittlerweile die Nacht.
Er stand auf und schenkte ihnen neues Bier ein. „Was weißt du von den anderen?“, lenkte er das ins Stocken geratene Gespräch in eine neue Richtung.
Eya holte den Brief der Magierin hervor und gab ihn Hadan zu lesen.
Er hatte tatsächlich keinen erhalten, nahm jedoch, nachdem er das zartbraune Blatt sinken ließ, sofort Bezug auf die möglichen Gründe. Sie ähnelten dem, was Ifrah angedeutet, und auch die Assassine fand sich zu Vielem mit dem Kopf nicken.
„Dass ein Brief über eine so weite Strecke verloren ging, ist denkbar“, sinnierte Hadan. „Ebenso gut kann er aufgehalten worden sein. Dies würde bedeuten, dass unsere Existenz nicht so unbeachtet blieb, wie wir dachten. Die neuen Wege passieren viele Städte und Herrschaftsgebiete – ein Leichtes für jedermann, der über etwas Kontrolle verfügt, sämtlichen Austausch zwischen den Kontinenten in diesen Tagen zu überwachen.“ Der Nekromant und die Assassine sahen sich an.
„Du vermutest es nicht, du denkst es mit Sicherheit“, stellte sie fest.
„Ja.“ Er schien sich zu sammeln, als sei schwer in Worte zu kleiden, was er ausdrücken wollte.
„In einem Jahr haben sich zu viele Dinge gewandelt, um noch an einen Zufall denken zu lassen. Nicht nur die Bewegungen auf beiden Kontinenten, die Unrast, die in der Luft liegt... Die Menschen sind verunsichert. Es gibt viele neue Kulte, und großen Zulauf zu den alten, auch den verbotenen. Es werden Götter erinnert und Riten, die besser in der Versenkung der Vergangenheit blieben.“
In diesem Augenblick drang durch das Vertraute, was er zunächst und vor allem war: ein Angehöriger einer fremden Macht und ihrer Gemeinschaft.
„Es würde mich nicht wundern“, fuhr er fort, „wenn deine Vertreibung von Camdra Teil derselben Geschehnisse wäre, die das alte Vertrauen in die Machthaber und Wortführer unserer Welt kaum noch gerechtfertigt erscheinen lassen.“
Eya erzitterte. Unabsichtlich hatten seine Worte sie daran erinnert, was hinter ihr lag und was um sie war.
Sie sah, dass auch er wieder zu dem zurückgezwungen wurde, was unausgesprochen zwischen ihnen stand.
Als sie wieder sprechen konnte, war ihre Stimme leise und rau.
Der Wortwechsel entspann sich wie im Traum, und hinter den gesprochenen wechselten sie ganz andere Worte.
„Verzeih nochmals, dass ich ohne Ankündigung kam“, sagte sie.
Und ohne die Absicht, weiterzuziehen.
„Lass es uns nicht mehr erwähnen.“
Ich sagte dir, dass du bleiben kannst.
„All diese Ahnungen... was können wir tun?“
Es mag sein, dass wir nicht dasselbe Bleiben meinen.
Er sah aus dem Fenster. „Der Monat der Sommerwende naht. Wenn wir Ifrah in Kurast treffen wollen, müssen wir uns bald auf den Weg machen.“
Du weißt, wie ich es meine.
„So wäre ihre Nachricht dir sicher genug, sie zu verfolgen?“
Warum ist dann geschehen, was geschah – vor einigen Stunden?
„Ich wollte ohnehin in den Süden. Es gehen dort Dinge vor, die ich näher besehen will.“ Ein Zögern.
Weil es anders nicht möglich war.
„Ifrah wäre sicherlich erfreut.“
Dann weiß ich nicht... was ich für dich bin.
Mit einem Mal führte er das Verborgene laut fort, übergangslos.
„Doch, du weißt es, Eya.“
Du weißt es.
Große Stille setzte ein.
Sie fühlte sich zittern wie windüberstrichenes Wasser. Sie wusste, er würde nicht aufstehen und herüberkommen. Noch nicht. Doch mehr, als er es damit hätte tun können, begab er sich schon jetzt in ihre Hand, spürte sie auch.
Leise fuhr er fort: „Ich will dir etwas erzählen. Wenn du diese Nacht dafür hergeben möchtest, bitte ich dich, mir zuzuhören.“
Kaum merklich nickte sie.
Und so, auf alte, nie gewagte Fragen zugehend, im Kerzenlicht und im Griff ihrer Augen, begann Hadan zu erzählen.
Die klareren Erinnerungen, die dem Dämmer frühester Bilder übergeordnet waren, setzten erst ein, da er schon auf sich gestellt war.
Davor gab es nicht viel, nur Fetzen ohne Gehalt. Weder wusste er, woher er stammte und was mit seinen leiblichen Eltern geschehen war, noch den Tag oder Ort seiner Geburt. Lyst schien indes wahrscheinlich, da die Menschen dort größer waren als die im Allgemeinen eher kleinen Bewohner des Beckens.
Bruchstücke, die seine Träume bevölkerten, zeigten dichtgedrängte Menschen in der Enge feuchter Höfe, rauchgeschwängerte Finsternis, rattendurchhuscht. Das Gesicht einer Frau von unten, die ob des schwankenden Wagens voller unruhiger Kinder sang,
shh, sidira, dalra dalra, shhhh , einschläfernd, aber ohne Gefühl in der Stimme. Bambusstäbe wie Gitter.
Den Mann mit den glasigen Augen erinnerte er hingegen deutlich.
Dessen Bild war ein scharfer Schnitt, und von da an vergaß er nichts mehr. Kaum die geringste Einzelheit.
Der Mann sagte, umschrieen vom angrenzenden Markt,
den nehme ich. Komm, Kleiner. Komm mit mir. Er hastete neben dem schwarzen, kuttenähnlichen Mantel her, hatte auch keine Wahl, denn die Hand in seinem Nacken packte fest zu. Der Markt blieb zurück mit seinem Brodem, seinem Geschrei, seinem Warenüberfluss an Stoffen, an Fleisch, Gewürzen, Menschen, Nutzvieh, Töpferwaren. Durch schmale Gassen ging es, dann durch ein Tor. Es fiel zu, schloss die Außenwelt ab. Für lange Zeit.
Der Mann, dessen glasige Augen sich als fähig erweisen sollten, den denkbar bösesten und schärfsten Ausdruck anzunehmen, war ein allein praktizierender Nekromant, ein
Nâkyshat. Er gehörte keinem der dunklen Kulte an, unterhielt keinen Kontakt zu anderen Vertretern der Kaste. Und wie er allein, zurückgezogen, lebte, arbeitete er auch und bildete aus.
Ich bin von jetzt an dein Meister.
Im Innenhof des heruntergekommenen Hauses, das mitten im Herzen der Stadt Linqqva lag, war es stickig und still.
Ich bin dein Meister. Du wirst hier, unter diesem Dach, als mein Schüler bleiben. Klamm sah er an dem schwarzen Mantel hinauf in das ruhige Starren, mit dem der Mann ihn musterte, beinahe zu prüfen schien.
Als er nicht gleich antwortete, blähte die Gestalt sich auf, und etwas, für das er noch keine Worte kannte, riss ihn fast zu Boden. Wiederholen sollte er die Begriffe, die ihr Verhältnis beschrieben. Der stille Hof war plötzlich ein tobendes Kreisen von Angst, in das er die Worte hineinschrie, zu entsetzt, um zu weinen.
Gut, hieß es.
Vergiss das niemals. Vergiss es nicht, solange du lebst. Ein Stoß schickte ihn in einen verschlagähnlichen Raum direkt am Innenhof.
Licht gab es hier nicht viel. Fahle, staubtragende Streifen nur. Seine Augen gewöhnten sich bald daran, und seine Ohren brachten in Erfahrung, was hinter den Holzwänden vorging. Schnell hatte er heraus, dass er und der fremde Mann nicht die einzigen Lebewesen im Haus waren. Hinter den Wänden raschelte es, und leise Schritte sowie das gedämpfte Auf und Ab menschlicher Stimmen verrieten, dass es sich nicht nur um Ratten handelte.
Zu Beginn starrte er, instinktiv ahnend, dass Rufen und Jammern vergeblich war, unablässig auf die Holztür. Wartend, hoffend, jemand käme, ihn mitzunehmen, mit einer Hand in seinem Nacken oder besser noch einer Umarmung, ganz gleich wie flüchtig.
Später ließ sich anhand eines großen Festes errechnen, dass er ungefähr fünf Jahre alt gewesen war, als ihn der Nekromant von Linqqva kaufte.
Sklavenmärkte waren in dieser Zeit weit verbreitet, unterstützt durch einen unruhevollen Wechsel der Fürstenhäuser des Beckens. Es herrschte Bürgerkrieg, in den auch der Westkontinent sich einmischte, und wo die Augen der Parteien nicht hinsahen, blühte im Kielwasser der rastlosen Zeit auf, was sonst als Schande für wohlgeordnete Städte galt: Verelendung, Willkür in Enteignungen, Sklavenhandel – belebt durch die vielen Gefangenen oder Gestrandeten, für die niemand bürgte – und Vertreibungen. Mehr noch als sonst drängte die Armut und Auslöschung vieler Familien Kinder auf die Straßen.
Er lernte bald, im Dunkel des Verschlages, dass keine Regung ihm nützte.
Ohne ahnen zu können, dass dies bereits Teil seiner Ausbildung war, entledigte er sich der Tränen und des ursprünglichsten Vertrauens in jene Gefühle, die Menschen ohne Kalkül äußern – ganz einfach, weil aus der Welt kein Echo kam und weil ihre Quellen in ihm versiegten.
Nach ungezählten Tagen, in denen er nichts anderes war als ein Gefangener des Verschlages, öffnete sich die Tür. Vollständig, nicht nur die Klappe darin, durch die Wasser und Essen gereicht wurden.
Im Hof stand er wieder vor seinem Brotgeber, der sich dem verängstigten, abgestumpften Kind mittlerweile von selbst als jemand erklärte, der die Macht hatte. Hier hieß Macht noch Wasser und Reis. Zum Herausstammeln der Worte musste er indes wieder gezwungen werden. Im Hof warteten noch zwei andere Jungen, grau, zerlumpt. Sie beäugten sich gegenseitig ohne ein Aufglimmen der freudigen Erkenntnis, dass andere Kinder da waren. Sie erkannten einander als das, was sie waren: Gefangene, und ermaßen mit unkindlichem Blick ein jeder die Schwäche und Hilflosigkeit der anderen.
Dies sind Paresh und Swaraj. Ihr, das ist Hadan.
Später erschien es ihm, rückblickend, wie ein übler Scherz, dass einer der beiden Mitgefangenen einen Namen trug, der ‚Freiheit’ bedeutete.
Der Mann, der ihm für mehr als zehn Jahre Lehrer, Alpdruck und dennoch gleichsam eine Art Vater sein sollte, war ein Vertreter jener Spanne der Kaste, in der die vagabundierenden und mit unbekannten Zielen praktizierenden Nekromanten sich wiederfanden. Gemieden, aber mit einer Mischung aus ängstlichem Respekt und widerwilliger Ratlosigkeit geduldet, lebte er mitten in Linqqva. Er deckte den zweifelhaften Bedarf an abergläubischen Riten, handelte mit Giften und Kräutern und ging, so sie ihm angeboten wurden, Geschäften nach, bei denen es nach Meinung der Auftraggeber mit Waffengewalt oder Verhandlungen allein nicht getan war.
In seiner Auslegung und Verwendung der Kunst, der er sich verschrieben hatte, offenbarten sich unmissverständlich dieses Mannes Platz und Persönlichkeit. Rasend stolz war er, ingrimmig zerfressen von der lebenslangen Randexistenz seiner Kaste. Ohne den Respekt, der anderen Nekromanten durchaus entgegengebracht wurde, zu empfangen, hatte er sich innerlich in seine eigene Dunkelheit gewendet. Äußerlich wandte er sich an jene, die seelenlos und hilflos verblieben: die Toten. Warum er auf die Idee verfallen war, Schüler auszubilden, blieb rätselhaft. Mochte an seiner Seele noch ein Fetzen hängen, der das völlige Alleinsein doch fürchtete, mochte ein Blick auf die Tempelgemeinschaften nekromantischer Kulte in ihm ein Gefühl des Neides und Nacheifernmüssens geweckt haben – seit vielen Jahren schon ging er hin und holte sich Kinder.
Seine Hassliebe zur eigenen Kaste war, was ihn in Wahrheit am Leben hielt und ihm den Grimm ebenso wie den Stolz bewahrte, und eben daraus gebar sich ihm grotesk der Antrieb, weiterzugeben, was er selbst erlernt hatte.
Seine Schüler entließ er weisungslos, sobald er ihrer überdrüssig war oder sie ihm trotz aller Hinterlist, die er ihrer gegenseitigen Bindung angedeihen ließ, gefährlich werden konnten. Bei weitem aber nicht alle Kinder, die den stickigen Hof durch das hölzerne Tor betraten, verließen ihn wieder. Was aus den Entlassenen wurde, kümmerte ihn nicht - das Wissen war weitergegeben. Auch die, die zuzeiten in seinem Einflussbereich lebten, taten es kaum. Nacktes Interesse war die einzige Regung, die er ihnen entgegenbrachte.
Die Kinder, wenngleich noch klein, ahnten etwas davon, wie es in ihrem zweifelhaften Hüter aussah, und fürchteten und hassten ihn mit Inbrunst. Da er jedoch ihr einziger Umgang war, da sie rasch die Sphäre der Missachtung, Isolation und Einsamkeit betraten, in der Viele ihrer Kaste existierten, liebten sie ihn dennoch. Gerieten in Abhängigkeit, wie sie durch die Bindung an eine einzige Person entsteht, die, so grausam ihre Behandlung auch sein mag, Mittelpunkt der Welt wird und alleiniger Gewährender der verzweifelt begehrten Zuwendung.
Hadan selbst fürchtete den Mann zunächst nur.
Schläge gab es nicht, Schreie niemals, auch kein Vergehen an den Lehrlingen. Doch mit dem Beginn der Ausbildung begann er ihn zu hassen. Dem Hass waren Ekel und Not beigemengt.
Unempfindlich gegen das Dunkel müsst ihr werden. Dies war schon weit fortgeschritten.
So entsetzte ihn auch die Finsternis eines im Hofe freistehenden Verschlages nicht. Er ließ sich hineinschieben, zurückzuckend vor der Hand und verwundert zwar.
Hinter sich hörte er ein feines Klirren. Darin das Zuschnappen des Riegels. Dann lag er plötzlich auf kaltem Lehm, Wogen von Grün um sich, die langsam niedersanken in verpesteter Luft, die nicht mehr zu atmen war. Holte sich mit einem Keuchen das Gift tief in die Lungen, die er unter dem zuckenden Knochenkorb zu umklammern suchte, da er fühlte, sie würden ihm aus der Brust gerissen. Würgte sich aus dem Leib, was darinnen war, bis eine Lähmung ihn festnagelte. Im Wüten der Agonie spürte er dennoch, draußen, vor den Bretterwänden, den Nâkyshat. Er wartete dort.
Und dieser öffnete tatsächlich bald, nachdem das irre Aufbäumen des Insassen abgeklungen war, den Verschlag, holte ihn heraus, trug ihn in sein Arbeitszimmer und bettete ihn auf eine Liege.
Dies und ähnliches geschah von nun an regelmäßig.
Die Dosen der Gifte, deren es Dutzende gab, erhöhten sich. Mit der Zeit erlangte sein Körper gegen alle nur erdenklichen Substanzen und vornehmlich gegen Atemgifte Immunität.
Dies war der erste Schritt. Er entließ nur die Zähesten und Widerstandsfähigsten.
Von den sieben Lehrlingen, die in seiner Zeit die Ausbildung begannen, überlebten drei.
Drei allein gingen mit dem ersten Schritt zugrunde, ein weiterer verschwand aus ihrem Kreis, ohne das Gelände verlassen zu haben.
Er überlebte.
Rauch, Gifte, Halluzinationen. Nach Jahren bewahrte er sich, gleich in welchem Nebel oder Rausch, den festen Kern des ausgeloteten Bewusstseins, auf den es ankam. Vielleicht überlebte er dank eines Hasses, der immer stärker wurde. Oder durch etwas ganz anderes. Denn kaum je verließ ihn bei alldem das seltsam sichere Wissen, das draußen eine andere Welt sich befand, Leben, das er trotzig einforderte wie ein Versprechen.
Die Jungen sahen sich untereinander kaum, errieten die Anwesenheit der anderen in der Stille der benachbarten Räume.
Wachen und Schlafen enthielten dieselben Schrecken.
Der Meister karrte Verhülltes heran, scheuchte die Lehrlinge in den Arbeitsraum, dass sie den Umgang mit den Toten erlernten. Glasigen Auges stand er dabei und sah zu, wie sie die erstarrten, oft schon faulen Leiber zu untersuchen und in ihnen den letzten Funken Energie aufzuspüren hatten, indem sie sich in das tote Fleisch hineinlauschten und ihm die Hände auflegten. Wen er zwingen musste, den erwartete Strafe. Hatten sie davon gekostet, fügten sie sich meist, denn der Nâkyshat vermochte ihnen weitaus schlimmere Gesellschaft zu verschaffen als Tote.
Die Begegnung mit den anderen Lehrlingen wurde so zu etwas, das sie nicht mehr ersehnten, sondern fürchteten. Ihre Gesellschaft bedeutete Angst und Grauen. Dass sie sich gegen ihn zusammenrotten könnten, wusste der Meister hierdurch zu verhindern.
Er mochte wohl bei Hadan eine besondere Bereitschaft zur Verweigerung, zur Auflehnung, wahrnehmen, hielt ihn daher scharf getrennt und bei Gelegenheiten, da die Lehrlinge sich begegneten, besonders im Auge. In ihm erspürte der Mann in dem, was Magie des Fleisches genannt wurde, einen Grad an Begabung, der die seine übertraf, bis er ihr nicht mehr zu folgen verstand. Da der Lehrling sich dennoch weigerte,
unbegreiflich und eine Verschwendung, die Toten wiederzuerwecken, geriet er gegen seine Gewohnheit wild außer sich. Strafen halfen wenig.
Darum vielleicht, oder auch in einem Aufflackern simpler Grausamkeit, oder weil er den unbändigen Hass des heranwachsenden Gegenübers mit einem Mal spürte, ahndete er ein Vergehen eines Tages derart, dass der Gestrafte es in der Tat nie wieder vergessen sollte.
Sprach, weil der finstere Junge mit dem weißen Gesicht sich weigerte, die anderen anzuleiten bei einem Ritus, nur einige harte Worte. Ließ es scheinbar dabei bewenden.
Über den Verschlag, in den er ihn schickte, fiel jedoch ein Betäubungsgas. Als Hadan aus dem Dunkel in Dämmer hinüberglitt, war er mit Stricken gefesselt. Wenn auch alles andere unscharf blieb, erriet er klar, dass er bestraft werde. Warum aber, wenn er ihn hatte betäuben können, wartete der andere, bis er wieder erwacht war?
Ich will, dass du dich zeitlebens hieran zurückerinnern kannst. Bei allem, was du gelernt hast, fehlt es dir an Demut. Ich erkenne dich, Kleiner. Nimm dies als Untermalung für diese Gewissheit. Der Mund wurde ihm aufgezwungen, und da half es nichts, den Kopf wegzudrehen.
Mit dem ersten Schluck schon wurde es schwarz, und als der Schmerz einsetzte, hörte er sich schreien.
Da aber der Verhasste nahebei stand, verbiss er es sich und spuckte lieber blutigen Speichel von den zerkauten Lippen.
Als es vorüber war, war das rötliche Hellblau seiner Augen verschwunden und einem fahlen Weiß gewichen. Er sah es an der Reaktion der Menschen, bis ihm irgendwann eine polierte Gerätschaft sein Bild zurückspiegelte.
Eines Tages lief er schließlich fort.
Das Tor war nur ein Tor, es hielt ihn weniger als das entsetzliche Band, das ihn an den Nâkyshat fesselte. Er wusste, dass er ihn sonst früher oder später töten musste, oder dieser ihn.
Die Flucht bedeutete um ein Haar sein Ende.
Im feuchten Grün, das die Stadt verschlingend umrahmte, verhungerte er fast, und das erbettelte Essen am Rande der nächsten Siedlung reichte nicht aus. Er verlor sich im Halbwachen und im Delirium der Einsamkeit, des restlosen Ausgestoßenseins.
Er war weniger wert als der geringste Feldarbeiter. Die Bauern wiesen ihn ab, wenn er sie um einfache Arbeit ersuchte. Die Menschen wechselten die Straßenseite, begegneten sie ihm. Nicht nur aus Befremdung, da die weißen Augen der Fremdartigkeit des Albino noch Vorschub leisteten und er Manchen kaum wie ein menschliches Wesen erschien. Sondern auch einer wirren, aber unleugbaren Aura der Macht seiner Kaste wegen, die ihn umgab, ohne dass er es ahnte. Die Ehrfurcht der Bevölkerung, der ungewöhnliche Erscheinungen oft als Beweis galten, dass ihr Träger den Bereich des Menschlichen verlassen hatte, um etwas anderes zu werden, erriet er nicht.
Nicht im Hause des Nâkyshat fühlte er sich endgültig an der Schwelle zum Wahnsinn, sondern hier. Es gab reichlich Tode, die leicht zu sterben waren.
Etwas indes hieß ihn überleben.
Als ersten Abgesandten des Lebens schickte das Land ihm eine Liebe zu seiner wuchernden Schönheit, die nie wieder verlöschen sollte. Ihretwegen allein lohnte es sich, jeden Morgen aufs Neue die Augen aufzuschlagen.
Es ereignete sich schließlich, dass der halbverhungerte Umherstreifende, werdender Nekromant und dennoch gleichzeitig bloß ein Heranwachsender, fünfzehn, sechzehn Jahre alt vielleicht, auf den Nekromanten Rhaghav stieß.
Dieser, ein Eremit und gelegentlicher Bewohner des großen Pakhra-Tempels von Lhabarna, war seine Rettung. Rhaghav sollte letztlich bewirken, dass er die Verleugnung seiner Kaste aufgab. Erstmals erfuhr er von den Lehren und der Verbreitung der Nekromanten, ihrer Verschiedenartigkeit, ihren Wirkungsbereichen. Aus dem Grau der menschlichen Welt traten, Fremde zwar, ferne Verbündete hervor.
Rhaghav duldete ihn in seiner Nähe, und anfangs sprachen sie wenig miteinander. Später erst erkannte er, dass der viel Ältere sich augenblicklich entschieden haben musste, ihn auszubilden. Lange ließ sich wenig davon deutlich bemerken.
Sein Lernprozess bestand anfangs nur aus Beobachtung. Er saß und sah zu, wie Rhaghav meditierte, Sude zubereitete, folgte dem wortlosen Winken der mageren Hände in den Wald, der alles an Mitteln hervorbrachte, um Menschen zu berauschen, zu töten – oder zu heilen. Er sah zu, wie Leute der Umgebung den Eremiten aufsuchten und ihm ihre Krankheiten schilderten, hörte den Alten in sternübersäten Nächten stundenlang murmelnd singen, rezitieren.
Über die Geduld erlernte sich die innere Verbindung zu allem Lebendigen. Nach einer Weile unterwies ihn der Mann, den er ganz anders als den vorigen innerlich mit Hochachtung Meister nannte, in den Riten des Pakhra und wies ihm einen Weg in die alten Symbolschriften. Dort eröffnete sich das ganze weite Reich der Nekromantie, und mit verzagtem, langsam wachsenden Vertrauen begriff er, dass ihm zwei gänzlich unterschiedliche Wege in den Gestalten seiner Lehrer begegnet waren.
Ihm, der Zeit seiner Erinnerung unfrei gewesen war, eröffnete sich eine Wahl.
Den Nekromanten nach zwei Jahren verlassend, geriet er in die Herrschaftskriege um Itrava. Dort wurde in blutigen, erbitterten Kämpfen, denen erst das Eingreifen der Zakarum Einhalt gebot, jeder verwendet, der willens war, sich dem Schrecken des zerstampften Beckens zu überlassen und der nützliche Fähigkeiten besaß. Mangels anderer Wege, die er noch nicht sehen konnte, ließ er sich zum Söldner machen. Die zerstörerische Seite seiner Kunst lernte er in den folgenden Jahren kennen, erlernte sie gründlich, bis sie ihn nachgerade verfolgte und den Wunsch weckte, etwas anderes zu sein.
Bei Lhabarna, wo die Menschen den dunklen Zweigen aller Magie beinahe so offen gegenüberstanden wie der Süden, siedelte er sich an. Bereiste hin und wieder beide Kontinente, soweit es ihm möglich war, und häufte Wissen an. Die Zeiten waren ruhiger geworden, und der Schatten des Kommenden war noch nicht wahrzunehmen. Ein Heiler und ein schweigend respektierter Abgesandter Pakhras zu werden, gelang ihm mit den Jahren, und auch, den Spalt zwischen ihm und allen Menschen etwas zu ebnen.
Weder aber fand er Ruhe, noch eine Aufgabe, die ihn auszufüllen vermochte, geschweige denn eine Gemeinschaft. So zögerte er kaum, als die Schrecken der Großen Übel die Lande überschwemmten, und ließ sich von der Nachricht einer fernen Mission fortreißen.
In allem fand er zwar den Hunger nach Leben wieder, der ihn dem Hof in Linqqva hatte entkommen lassen, doch sich selbst vermochte er nicht aufzutreiben – und auch keinen ruhigen, sicheren Pol, der wert schien, ihm sein Leben zu widmen.
Immer, allgegenwärtig, war eines um ihn.
Nicht die Bleichung seiner Augen als endgültiges Stigma hieß ihn einsam am Rande stehen, sondern die Missverhältnisse der Welt, die Menschen gebar wie den einen, der ihn gewaltsam in ein Dasein gepresst hatte, das nicht wieder abzulegen war.
Es hatte sich als klüger erwiesen, nicht allzu viel von den Menschen zu erwarten, ganz gleich, wie diese Entscheidung an ihm fraß.
...Bis sich eines Tages eine schmale, schwarze Silhouette zwischen ihn und die Menschen schob, das Schönste, was er je gesehen hatte. Durch sie fiel der Widerschein der Welt wie durch ein Brennglas und sammelte sich und ließ, langsam, allmählich, einen Sinn aufglimmen.
Sie saßen im Halbdunkel und Kerzenlicht und schwiegen.
Aber das Schweigen bedeutete keinen Bruch, keine vollständige Verlegenheit um Worte.
Draußen versammelten sich entlang des Flusses die Leuchtkäfer und die Menschen in der warmen Nacht.
Eya wagte lange keine Regung. Sie begriff das Geschenk, das der Mann, der ihr gegenübersaß, ihr gemacht hatte.
Die plötzliche Gewissheit nach der Ewigkeit des Zweifelns machte sie schwindeln.
Ihr Gegenüber betrachtete sie derweil mit einem Ausdruck, den sie erst später sehen und ganz an sich reißen sollte.
„Wir sollten bald nach Kurast aufbrechen“, sagte Hadan schließlich in die Stille hinein.
Sie blickte auf.
Dann, mit einer letzten, mit einer endgültigen Überwindung, fragte sie: „Möchtest du, dass ich dich begleite?“
„Ja“, sagte er. „Ich möchte, dass du mit mir kommst.“
Das sachte Hervordrängen der Glut auf ihrem Gesicht spiegelte sich in seinen Augen.
In der Grauhelle des nächsten Morgens verließen sie die Höhle bei Lhabarna und folgten dem Flusslauf nach Süden, wo fern, hinter verschleierten Bergen, die Stadt der Zakarum und die Endlosigkeit des Urwalds und der südlichen Zivilisation lag.