SAQQARA
I. Zugvögel
Aus dem Schilf am Rande eines seichten Wasserlaufs stoben kleine Vögel auf.
Sie schwangen sich in fließender Formation über das Ufer und ein angrenzendes Feld hinweg, bevor sie in weißlichem Dunst verschwanden.
Die Sonne stand niedrig in rosig grauem Licht. Ein schrankenloser, verschleierter Himmel ruhte über dem morgendlichen Land, und Frühnebel, den die blasse Sonne kaum vertreiben konnte.
Die Gestalt, die in ihrem schnellen Lauf die Vögel aufgescheucht hatte, hielt kurz an. Der Weg, auf dem sie sich befand, war eine Allee zwischen dicht und dunkelgrün belaubten Bäumen, die Felder und Wiesen nahezu schnurgerade durchschnitt. Nacht und Tag tauschten die Plätze in einer langen und heimlichen Helle.
Zwischen zwei Bäumen der Allee stand sie und schaute weit hinaus in das Land.
Sie war lange gelaufen an diesem Morgen, in einem ausgedehnten Bogen um die Felder und die zusammengewürfelten Häuser, die Gehöfte mit ihrem frühen Federvieh. Ihr Atem ging schnell, aber gleichmäßig. Kein Brennen, nur eine Blutwärme begleitete das Luftholen. Der alte Schmerz war nicht mehr, abgelöst von einem wachen, aber unvermeidlich veränderten Selbst.
Der andere Teil ihrer Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf das, was sie sah.
Das weite, flache Tal lag in hellem Dunst, unterteilt durch Hügelrücken oder Baumreihen. Fruchtbares, gut bestelltes Land. Es blühte auf, den kommenden Sommer spürend, doch mit der Langsamkeit einer Region, die dem Norden sehr nah ist. Der Süden aber gastierte hier und färbte das Leben. Bald würden Kraniche kommen und den Frühnebel vieler Morgen mit rauschenden Gefieder füllen.
Noch einen Moment lang blickte sie in die Weite, dann löste sie die Hand von der Rinde des Baumes und fiel wieder in leichten Trab. Doch sie war an diesem Morgen von etwas berührt, das ihre Routine störte. Es schien überall aus der erwachenden Landschaft zu steigen, ohne sich klar zu offenbaren.
Ein einsamer Ochsenkarren begegnete ihr auf einem weiteren, baumgesäumten Weg.
Bauern wanderten vereinzelt gemächlich auf die Felder, schürzten die Röcke, sahen mit aufgekrempelten Ärmeln der Vorbeieilenden nach. Manche, die sie kannten, grüßten lächelnd, bevor sie sich über ihre Hacken und Pflüge bückten.
Ihr Lauf trug sie ihrem Haus zu.
Es lag am Rande eines Waldstücks. Ein kleiner Garten, ein Bretterzaun, mehr trennte das hölzerne Häuschen nicht von den dicht stehenden Laubbäumen, die ihre vordersten Äste über das schräge Dach vorstreckten. Der blasse, stille Morgen ließ vergessen, wie nah die Stadt war – Kalamë, schlicht und geschäftig, am südlichen Ende der Halbinsel Camdra.
Eya atmete noch einmal die kühle Morgenluft ein, dann ging sie ins Innere der alten Bauernkate.
Eine Weile später saß sie auf der Bank vor dem Haus und ließ sich das nasse, schwarze Haar von der bleichen Sonne trocknen. Sie saß still, zurückgelehnt, aber ein Glühen erhitzte ihr das Gesicht, und die Brust hob sich ihr schwer. Es kam nicht vom Laufen.
Sie rührte den Teller neben sich nicht an, und nur gelegentlich setzte sie abwesend einen Becher an den Mund.
Ihre Augen hingen an der morgendlichen Ebene, die schwebend in geheimnisvoller Weite dalag, wie frisch erschaffen.
Sie fragte sich, warum diese Schönheit ihre Unruhe nicht besänftigte. Die Anwandlung, aufzustehen und in diese Weite hineinzulaufen, darin zu verschwinden, griff nach ihr mit einer Heftigkeit, dass sie unwillkürlich tief Luft holte.
Mit der Linken strich sie über das Holz der Bank, als schulde sie dem Haus eine Versicherung, dass es an ihm nicht liege.
Für einen Augenblick streifte sie die Ahnung, dass sie bereits unrettbar in dieser seltsamen Veränderung verloren sei, doch wie alles Unerwartete fasste ihre Seele den Gedanken nicht auf.
Das Land und die Zeiten indes hatten sich spürbar verändert.
Auf den Strassen waren mehr Händler unterwegs, auch Reisende, und Letztere – auf Camdra bislang ein seltener Anblick – ließen eine allerorten angestiegene Bewegung vermuten. Berichte derselben Händler und Reisenden bestätigten dann, dass tatsächlich nicht nur die Regionen der Landbrücke, sondern auch alle anderen, die sie bereist hatten, in Bewegung waren. Sie taten sich schwer, es in Worte zu fassen. Lasten, Menschen, Gruppen zogen, strebten überallhin, wurden herumgeschafft in immer mehr und mancherorts nie zuvor gesehenen Transportmitteln. Riesige, neue Schiffe suchten und fanden frische Passagen, und Eya hatte mit eigenen Augen in der Stadt Fuhrwerke durch die Strassen poltern sehen, die keine einfachen Karren mehr waren, sondern eigens für die Beförderung vieler Menschen oder Güter gebaut schienen.
Vor allem aber die Menschen selbst wirkten verändert.
Eifriger Handel treibend, besorgter noch als ohnehin um ihre Zukunft, ihr Land und ihren Besitz wirkten sie, misstrauischer. Die alte Zeit, in der die Magie das Überwinden großer Entfernungen noch nicht ersonnen und in der die Landbrücke unter durchziehenden Heeren zu leiden gehabt hatte, kam ihnen vielleicht wieder in den Sinn. Jetzt, da die Wegpunkte nicht mehr arbeiteten, mochten solche Tage wiederkehren, munkelten Viele. Selbst einfache Bauern und besitzlose Tagelöhner stützten sich auf ihre Hacken und sahen über die Ränder der Felder hinweg zum Horizont, hinter dem etwas Fernes ihnen jüngst unaussprechliche Sorge bereitete.
Und die kleine Stadt Kalamë, die seit jeher einverstanden mit ihrer abgelegenen Lage und durchaus stolz auf die gemächliche Gangart ihres städtischen Lebens gewesen war, lauschte nach den anderen Gegenden hin, fragte die von weither Kommenden aus, sprach plötzlich dringlicher über Dinge, die sie sonst als Eigenarten der Fremde abgetan hatte.
Eya war es mit einem Mal, als sehe sie die Umrisse der ersten Häuser, die sich in die von hier aus zu überblickende Ebene rechts hineinstreuten, wo die Stadt begann.
Sie konnte es nicht verhindern.
Aus der Landschaft und der Unruhe kam die Erinnerung zu ihr.
Ein hoher Raum, ein riesiges Bauwerk auf schneeigem Gipfel. Todgeweihtes, rotes Leuchten. Eine feiernde Stadt und ein Hafen voll schwankender Schiffe. Gesichter, nah und zugleich fern. Ihre Hand wanderte zu ihrem Hals, wo auf ihrer weißen Haut eine dünne, silberne Kette lag.
Ein Jahr war seitdem vergangen.
Kalamë, das kaum von der an seinem Rande lebenden Assassine wusste, hatte die junge Frau wieder aufgenommen, als sei sie nie fortgewesen. Und tatsächlich hatten nur die benachbarten Bauernfamilien, denen die Kate anvertraut gewesen war, und ihr Mittelsmann in der Stadt Eyas Rückkehr bemerkt und begrüßt. Das Haus hatte sie sauber vorgefunden, ihre Ersparnisse bewahrt, die Region unverändert. Damals.
Sie wusste, dass sie Kalamë Dank schuldete. Nur hier war es ihr, die sie allein lebte und keine Verwandten besaß, möglich gewesen, zu genesen. Die zwei nahen Höfe sorgten sich, gegen Lohn und manchmal aus purer Freundlichkeit, obwohl die Menschen hier nicht viel zu verschenken hatten. Frauen waren gekommen und hatten nach der rätselhaften, verwundeten Nachbarin geschaut, ihr alles Lebensnotwendige vorbeigebracht, nach dem kleinen Garten gesehen, damit er nicht vollends verwilderte.
Auf das junge, helle Gesicht der Assassine stahl sich ein Lächeln. Als Lahme war sie zurückgekehrt, und nur ein halbes Jahr später hatte sie bereits wieder den ersten Auftrag annehmen können. Eine Reihe von gutbezahlten Aufträgen war gefolgt, so dicht, dass sie nach Belieben aus dem hatte wählen können, was ihr Mittelsmann an sie herantrug.
Die Bürger Kalamës verlangten nach Protektion; immer mehr Waren und Personen schienen Schutz zu benötigen. Gelegentlich hatte sie flüchtige Bürger oder Banditen verfolgt, aber sie wusste, dass Erek solche Aufträge meist von ihr fernhielt.
Ihr Lächeln wurde trotz ihrer Unruhe wärmer. Für Erek musste sie wahrlich dankbar sein.
Der Schmied, der sie nebenbei als Mittler vertrat, war eigens ein halbes Dutzend Male zu ihrer Kate hinausgekommen, um zu sehen, wie ihre Genesung voranging.
Sie war vorangegangen, aber langsam. Eine alte Einsicht, obgleich lange verwunden und mittlerweile durch eine Lösung gemildert, trübte das Lächeln ein. Eyas Hand fühlte unter der Kette nach Schlüsselbein und Rippenansatz der rechten Körperhälfte.
Die Einsicht war nach den ersten Wochen gekommen, in denen sie wieder übte, unbarmherzig und bitter. Fast bitter genug, um sie in tiefe Dunkelheit zu stürzen. Ihre Bewegungsfähigkeit, ihre alte Geschmeidigkeit, ließen sich nicht wieder vollständig herstellen. Ihr alter Leib war verloren.
Anfangs hatte sie sich gegen diese Einsicht gewehrt. Dann war sie verzweifelt.
Erek hatte an einem Winterabend nur noch einen Schatten der Frau vorgefunden, die er kannte. Der Schmied hatte verstanden, dass dieses Letzte sie besiegen würde. Wo sie gewesen war, ahnte er nur, und was die Kette an ihrem Hals bedeutete, die wirkte wie das Geschenk eines Unbekannten, wusste er nicht. Hier jedoch brauchte er nicht zu fragen.
Er war kein Mann vieler Worte.
Nach seinem nächsten Besuch aber hatten Wurfmesser auf ihrem Tisch gelegen, eingewickelt in schwarzen Samt. Schwarz,
ihre Farbe.
Eine Woche lang hatte sie sie nicht angerührt, stumpf brütend, grabend in Erinnerungen. Nichts davon gab ihr Halt. Sie hatte noch nicht lange genug gelebt. Und das Einzige, was ihr aus der Vergangenheit geblieben war als etwas, das auch ihre Zukunft bestimmen konnte, ließ sich nicht wiedererlangen, wenn sie sich aufgab.
So hatte sie mit dem Training begonnen.
Und nun füllte sie die Nische wieder aus, die sie sich geschaffen und in der sie gelebt hatte, bevor das wachsende Dunkel sie hinauslockte – die einer Attentäterin ohne Orden. Die einer Schattenkriegerin, die nachts auf geordnete Jagd ging und tags den Bauern der Gegend ihr Gemüse abkaufte.
Ihre schwarzen Augen wateten in die Helle und Weite des Tages.
Ein Entenschwarm teilte den Himmel wie ein Keil.
Das Holz der Bank, sich aufwärmend, fing die Sonnenstrahlen ein.
Sie schloss die Augen, Nässe unter den Lidern.
Du wirst ja doch gleich wieder in die Weite schauen. Warten, dass sie sich mit Frieden füllt. Oder die Zugvögel sehen und einer von ihnen sein wollen.
Abrupt stand sie auf, und der Becher fiel ins Gras.
Eya ging ins Haus und schloss die Tür fest hinter sich.
Die wilde Horde stürmte die Küche, das markerschütternde Geschrei des Säuglings mit ihrem Gebrüll spielend übertönend. Sie schaffte eine Runde um den Holztisch.
Dann griff sich Rezia mit eisernem Arm das dritte Mitglied der Viererformation. Ihr Sprössling, am Schopf gepackt, stolperte aus der Reihe.
Die Horde, aufgelöst, stob auseinander.
„Ihr Saufratzen!“ Rezia ignorierte das sich protestierend verstärkende Gellen, das aus den Wickeltüchern an ihrem ausladenden Busen drang, und scheuchte ihre Söhne Richtung Betten fort. „Jetzt ist es aber genug! Wer noch muckt, wenn Silme nachher schaut, kann morgen früh gleich ohne Frühstück aufs Feld!“ Die Drohung saß. Alles nahm die Beine in die Hand.
Befriedigt sah die Bäuerin das hektische Gewusel am Waschzuber, dann beruhigte sie den Säugling, die Faust der freien Hand in einen Teigklumpen stoßend.
Er war kaum still, da pochte es leise an den Fensterladen, und eine Frauenstimme meldete sich.
Sich abklopfend, in eine Wolke aus Mehl gehüllt, ging Rezia zur Tür. Kühlere Abendluft drang in die ofenwarme Küche.
Draußen senkte sich die Nacht herab, schon mit Sternen gesprenkelt, und nur am Horizont ringsum lag ein Streifen Himmels wie glühende Kohle. Das Stubenlicht fiel auf eine junge Frau mit kurzem Haar und schimmernden schwarzen Augen. Sie blickte schüchtern drein.
„Eya!“ Die Bäuerin lächelte und holte sie herein. „Komm in die Stube!“
Die schwere Holztür fiel zu.
Rezia wischte sich noch einmal, recht erfolglos, die Hand an der Schürze ab. Während sie den Korb aus der Kammer holte, stand die Assassine in der großen Küche, die den zentralen Raum des Gehöftes bildete, sah in die Runde, schnupperte und lächelte. In den entlegeneren Räumen huschte es noch, tappten nackte Sohlen auf Steinboden. Das Geschrei der Kinder war zu hören gewesen, noch bevor sie in den Karrenweg eingebogen war, an dem das Gehöft lag.
Eine riesige Feuerstelle, Esse, Kochstelle und Kamin zugleich, füllte die Küche mit bulliger Wärme. Es roch nach Holzkohle, Teig und süßlich nach Apfelessig. Rezias Stimme drang die ganze Zeit über zu ihr, während sie dort stand. Eya mochte die resolute, warmherzige Frau, die mit ihrem Lachen über ganze Äcker hinweg zu hören war.
Jetzt kam sie zurück, stellte den Korb auf den Tisch und roch geradezu herausfordernd heimelig nach Milch und Mehl. Sie ließ Eya das faltige, immer noch etwas gerötete Köpfchen des Säuglings bewundern und hob dann das Tuch vom Korb.
„Kartoffeln, Rüben, ein paar Kräuter, Eier, und Winteräpfel habe ich dir noch hineingetan, und –„ Sie zwinkerte. „-einen Hefezopf.“
„Danke, Rezia. Frisches Gebäck.“ Eya schaute in den mehlbestäubten Korb. „An Brot liegt bei mir nur noch ein harter Kanten.“
„Du solltest doch wissen, dass ich hellsehen kann.“ Die Frauen lächelten sich kurz zu.
Rezias Bemerkung war auch eine Anspielung auf das in jüngster Zeit deutlich gestiegene Interesse, das allerorten für die Wahrsagerei und andere Dinge bekundet wurde, die dem Aberglauben – oder sogar der Lehre des Lichts, der fernen fadraîschen Religion – angehörten.
„Da ist noch etwas.“
Eya sah fragend auf die Bäuerin, die in einer ihrer Schürzentaschen nach etwas fingerte. Sie zog es hervor und hielt es der Anderen hin, entschuldigenden Blickes. „Es ist wohl etwas Mehl daraufgekommen, aber wenn ich es hätte herumliegen lassen....die Kinder....“
Die Assassine war zu gefangen, um der Entschuldigung zu begegnen.
Aus der runden Faust der Frau ragte ein Brief.
Ringsum schien es mit einem Mal still zu werden.
Sie nahm den Umschlag, abwesend einen Dank murmelnd, aus Rezias Hand.
Er trug ihren Namen und den der Stadt. Die Schrift war die einer gebildeten Person, das Verschlusssiegel jedoch aus einfachem Kerzen-, nicht aus Siegelwachs, und es zeigte kein Muster. Vermutlich war ein gerade zur Hand gewesener Gegenstand anstelle eines Siegels verwendet worden.
Eya sah auf und in Rezias Augen. Obwohl sie sich bemühte, nicht direkt auf den Brief zu schauen, konnte die Bäuerin ihre Neugierde ebenso wenig verbergen wie Eya ihre Überraschung. Briefe waren eine Seltenheit, Papier kostbar, die Beförderung so schwierig, unsicher und langwierig, dass viele Menschen es vorzogen, sich stattdessen selbst mit Nachrichten auf den Weg zu machen.
Erst in jüngerer Zeit wurde die Beförderung von Schriftstücken offenbar unerlässlich und, wie jeglicher anderer Austausch auf Sanktuario auch, häufiger. Händler mochten sich wohl etwas hinzuverdienen, indem sie neben Waren nun auch Schriftstücke beförderten.
„Erek gab mir den Brief“, unterbrach Rezia die stumme Verblüffung der Assassine. „Er traf dich nicht an und wollte ihn wohl nur an einem sicherem Ort belassen.“
Eya murmelte erneut einen Dank. „Willst du ihn nicht öffnen?“ fragte die Bäuerin. „Ich gehe gern nach nebenan.“
Die Assassine musste trotz ihrer Benommenheit lächeln. Beide Frauen wussten, dass Rezia nicht lesen konnte – ebenso wenig wie der Großteil der Landbevölkerung. Ihr Angebot entsprang um so fühlbarer einer freundlichen Rücksichtnahme und einem feinen Gespür für Privatsphäre.
„Bleib ruhig.“ Eya zwang sich zu einem Schlucken. „Ich öffne ihn...und sehe zumindest nach, von wem er ist.“
Mit fahrigen Händen brach sie das Siegel auf, zog ein einzelnes Blatt gelblichen Papiers hervor und faltete es auseinander. Sie wurde namentlich angeredet, und unten am Ende des Blattes stand der Name des Schreibers.
Rezia, die den Säugling wiegte und zwischen Neugier und Zurückhaltung schwankte, sah das blasse Gesicht der jungen Besucherin noch blasser werden. Dann überflog Röte die sanften Wangen. „Und von wo stammt der Brief?“ konnte sie sich nicht enthalten zu fragen.
„Von sehr weit her. Von einer alten Gefährtin.“
Eya brachte das Papier wieder im Umschlag unter und barg ihn unter ihrem Hemd.
Die Bäuerin nickte verständnisvoll auf die Erklärung hin, dass die Andere nun gehen wollte, um sich in Ruhe mit dem Brief zu befassen. Es schien ja nichts Schlimmes zu sein. Nein, besorgt wirkte die junge Nachbarin nicht, jedoch verstört und gedankenvoll, und ihre schwarzen Augen waren nach innen gerichtet. Rezia drückte ihr den Korb in die Hand, plauderte versuchshalber noch ein wenig, dann entließ sie sie in die mittlerweile vollständige Dunkelheit. Der Mond stand bereits über dem nahen Wald.
Eben wollte sie die schwere Tür schließen, da fiel Rezia noch etwas ein, und sie rief die Assassine, die bereits mit der Dunkelheit verschmolz, noch einmal zurück. „Fast hätte ich es vergessen: Erek lässt dir noch ausrichten, dass er eine Arbeit für dich hat.“
„Dank dir, Rezia. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“ Die Tür verbarg die füllige Gestalt der Bäuerin.
Eya wandte sich ab. Dieses Mal schob sich vor das schneidende Gefühl, auf immerdar einsamer Zaungast des gemeinschaftlichen Lebens der anderen Menschen zu sein, eine Reihe neuer Gedanken. Sie eilte durch die nächtlichen Alleen, ohne ihre Umgebung recht wahrzunehmen. Mit Macht kehrten die Empfindungen des Morgens zurück.
Ein Lebenszeichen, gerade jetzt.
Ihr Herz schlug schwer.
Im Haus zündete sie eine Kerze an, stellte den Korb ab, setzte sich und entfaltete den hervorgezogenen Brief. Der Kerzenschein fiel leise bewegt auf ihr Gesicht und den Brief und ließ die Buchstaben braungolden schimmern.
Liebe Eya,
weder vertraue ich dem Versprechen seiner sicheren Beförderung, noch ist
mir gänzlich wohl dabei, ein Dokument, dessen Ursprung und Ziel leicht
ausgemacht werden können, auf direkten Weg zu setzen.
Dennoch tue ich es und hoffe, dass dieser Brief dich erreicht. Vorbei an den
Händen und Augen jener, so bete ich, deren Kreis du lange und mutig verlassen hast.
Unruhe ist es, die mich trieb, dir auf diesem Wege mitzuteilen, dass ich mich mit
dem Gedanken trage, wieder auf Wanderschaft zu gehen – oder nein, nenne es
vielleicht eine Suche. Den Anderen sende ich ebenfalls einen Brief zu, bin in ihrem
Falle jedoch noch weniger zuversichtlich, denn das Hochland ist wieder wildes
Gebiet und SEIN Aufenthaltsort ungewiss, und der Osten ist fern.
Die Unruhe, von der ich spreche, will ich dir erläutern, so gut ich kann. Du magst
durch ähnliche Erfahrungen ahnen, was ich als so beunruhigend erachte, auch wenn ich es schwerlich in Worte fassen kann.
Du, Liebes, wo magst du indes leben? Es ist nicht mein Recht, dir die Vergangenheit wieder in Erinnerung zu rufen, und vielleicht lade ich damit viel
Schuld auf mich. Nun aber, da ich mich zu diesem Schritt entschlossen habe, muss
er auch getan werden.
Somit bitte ich dich, zurückzudenken in der Zeit, hinein in eine andere – so will
es mir zunehmend scheinen. Was ist damals geschehen? Denn entgegen einer
heimlichen Hoffnung festigte sich nicht, wofür gekämpft wurde, und das Unbehagen,
das damals das Entsetzen ablöste, verflüchtigte sich nicht wieder. Zumindest nicht
in mir. Ich kann noch nicht selbst auf Reisen gehen, nicht sofort, erst zur Mitte des
Jahres hin. Auch zögere ich noch meines Kindes wegen. Was, wenn in Wahrheit
andere Dinge mich wiederum forttreiben und ich mich unnötig über die
Veränderung im Lande sorge?
Dennoch ist es so – der friedlichste Tag nach dem Ende der Dunkelheit war der
gleich kommende, und seither wächst die Unruhe wieder, wohin ich auch blicke,
selbst wenn meine Augen vielleicht die einer Erkrankten sind.
Hier in Selthe wird der Einfluss der alten Königsstadt immer größer. Im Norden
hört man von wieder aufflackernden Konflikten zwischen Barbaren und Druiden.
Aus dem Osten kommen widersprüchliche Nachrichten.
Ich habe, auch wenn ich nicht über Einsamkeit klagen kann, niemanden außer
dir, niemanden außer euch, mit dem ich darüber sprechen kann und zu sprechen
wage.
Daher werde ich mich zum Monat der Sommersonnenwende nach Kurast aufmachen,
so es mir gelingt, und von dort aus, sollte ich bis dahin keine Nachricht erhalten
haben, in eure Heimatorte.
Mir ist es nicht mehr möglich, länger still in Selthe zu bleiben.
Ich schreibe dies am ersten Tag des Neujahrsmonats in Selthe, hoffend, dass du
dich wohl befindest.
Ifrah al Dhakir
Die Assassine ließ die Hand mit dem Brief sinken.
Klarer als alle sichtbaren Worte war, dass Ifrah davor zurückschreckte, deutlicher zu schreiben.
Der Umschlag war gewiss nicht geöffnet worden, aber Eya wusste auf wen die Magierin zuvorderst anspielte.
Jene, deren Kreis du lange verlassen hast. Der Orden.
Es schien, dass Ifrah Neuigkeiten sammelte und versuchte, ein Gesamtbild der Situation in allen Landen zusammenzufügen. Ihre Worte zeigten, dass sie die Fragen, mit denen die Welt zurückgeblieben war – zu unergründliche, zu ferne Fragen, unlösbar vielleicht – nicht niederhalten, nicht im Mahlstrom der Scharen von Völkern und Ländern versenken konnte.
Die Assassine saß fast reglos am Tisch, während die Kerze langsam herunterbrannte.
Von tief innen hob sich in ihr etwas empor, breitete sich in ihr aus, dass sie sich nicht regen konnte. Sie atmete flach, als ob jedes Geräusch, jede Bewegung die Bilder vertreiben könnte. Und doch waren diese Bilder nicht deutlich, vielmehr ein einziges Etwas, nicht gut, nicht übel, und sie wusste nicht, was es sei. Nur, dass ihr das Blut wie Gold durch die Adern strömte.
Nach einer Ewigkeit stand sie auf und ging nach draußen.
Das Land lag schlafend in der Weite der Nacht. Es riss ihr fast die Brust auseinander.
Sie brauchte etwas, das wieder näher stand. Ein Tun, dass sie zwang, nicht aus dem Hier herauszuspringen. Eine kleine Zeitspanne, die sie vor dieser herrlichen, entsetzlichen Weite bewahrte.
Gleich am nächsten Morgen würde sie zu Erek gehen. Den Auftrag, sofern er angemessen war, annehmen.