Kapitel 12
Langsam beruhigte sich die Situation. Das konnten sie akzeptieren.
Bei Cain, würde der junge Tork die nächsten Jahre bis zur Volljährigkeit überleben, meinen Stab hätte er an seiner Seite. Mögen auch die Anwesenden die Weisheit seiner Worte erkennen! Nach einer kurzen Pause ergriff Menno, der von Tork so überraschend unterbrochen wurde, das Wort. Auch er stand jetzt auf, rückte sein silberstrahlendes Kettenhemd zurecht und wandte sich Tork zu.
„Sanktuario kann sich glücklich schätzen, einen künftigen König und Stammesführer zu haben, der bereits jetzt Gerechtigkeit mit Augenmaß verbindet.“ Sein Blick ging wieder in die Runde und blieb bei Wahr-Tir hängen:
„Auch ich habe jetzt Interesse, die angeblich wahre und beweisbare Geschichte des Delinquenten zu erfahren.“
Bei den letzten Worten von Menno hörte ich ein heftiges Ausatmen von Staukan. Dieser war aus dem Kreis des Tisches zurückgetreten und stand nun direkt gegenüber von Kolmar zwei Schritte neben mir, an meiner linken Seite. Seine unnatürliche Wärme brachte mich wieder ins Schwitzen. Allgemeines Murmeln und Nicken erfolgte jetzt.
Kolmar stand wieder auf. Unabsichtlich, wie es schien, schlug er ein Tuch um Drakh Rudnam, dessen bleiches Glühen daraufhin erlosch. „Nun, Lorin, dann erzähle, was Du zu erzählen hast.“.
Und so erzählte ich nochmals die Geschichte, die bereits Beril gehört hatte. Als ich an der Stelle ankam, an der ich den alten Stab des Magiers in die Hand nahm, sah ich die Züge meines Meisters weich werden. Ihm musste es ähnlich ergangen sein. Als ich ans Ende meiner Erzählung kam, merkte ich, dass er mich nicht mehr ganz so feindselig betrachtete wie vorher.Ich hörte auf zu reden.
Wahr-Tir beugte sich vor. „Sag, was war mit dem Schmerz, den du empfandest, als du den Dämon tötetest?“
„Ich weiß nicht, es tat eben weh, so als ob…“
Hier wusste ich nicht mehr weiter.
„War es wie eine Bestrafung? Eine unmittelbare Folge seines Todes?“
„Ja, vielleicht schon…“
Wahr-Tir wandte sich Quenlin zu. „Was bringt Ihr Euren Schülern eigentlich bei? Habt Ihr Sie nicht gegen das Ewige Band gewappnet?“
Han Vidan ließ ein leises Lachen hören und stieß die Klingen ihrer Großkrallen zusammen. „So, Quenlin, zeigt sich die Nützlichkeit der Magier vom Berg. Wie alle Magier seid ihr zu selbstbezogen. Ihr wißt wohl nicht, wozu ihr auf der Welt seid, oder? Wir wissen es ganz genau.“ Abrupt stand Han-Vidan auf und drehte sich blitzschnell um ihre eigene Achse. Direkt vor mir materialisierte sich ein Schatten, der lauernd auf Befehle zu warten schien.
Quenlin schluckte grimmig und drehte sich langsam zu Han-Vidan und Wahr-Tir.
„Es bestand keine Notwendigkeit…“
„Dann besteht sie jetzt.“
Abrupt drehte sich Wahr-Tirs Geschwür mir wieder zu. Es schien ein bisschen freundlicher auszusehen.
„Lorin, Sohn des Menguin, eine hübsche und überzeugend vorgetragene Geschichte hast Du uns da erzählt. Du bist uns nur noch eins schuldig.“
„Fragt mich was Ihr wollt.“
„Ich habe nur noch eine Frage. Wie willst Du das beweisen?“
Ich hatte mich getäuscht. Eine gute Geschichte allein würde den alten Nekromanten nicht überzeugen. Aber ich wusste, was ich zu sagen hatte.
„Hohes Gericht, der alte Stab der Magier hat in sich die Macht, die Wahrheit über die Geschehnisse zu zeigen.“
Raunen erfüllte wieder den kleinen Raum. Staukan blickte kurz zu mir herüber. Ich sah für einen kurzen Moment seine langen braunen und im zweifelhaften Licht der Kammer irgendwie spitz wirkenden Zähne. Das bemerkte niemand ausser mir, denn alle Blicke richteten sich jetzt auf Quenlin. Auch er stand auf und hob den alten Magierstab.
„Dieser Stab unserer Altvorderen ist mit dem Wissen und dem Können unzähliger Magier versehen, welche Jahrzehnte lang durch den Kampf gegen die dämonische Ebene gestählt wurden.“ Er senkte den Kopf und hob ihn rasch wieder. „Ich habe Wissen und Erfahrung vieler Männer und Frauen gespürt. Aber alle Ordensführer wissen, dass uns die Weisheit anderer nur zum Teil zugänglich ist. Gleich, wie sorgfältig wir das Wesen eines Artefakts studieren, bleiben dem Einzelnen manche Bereiche verborgen. Wir sind den Beschränkungen unseres Selbst unterworfen.“
Er holte Luft. Vislenna unterbrach ihn. „Was heißt das jetzt, Quenlin? Ist da so ein Spruch oder nicht?“
„Ich spüre die Macht eines solchen Spruchs, aber die vollständige Erkenntnis ist mir nicht zugänglich.“
„Das heißt, mit dem Stab lässt sich nicht rausfinden, ob der Delinquent lügt?
„Das heißt es. Mir wird es nicht gelingen“
Quenlin sah mich kurz an. Ich meinte, etwas wie Bedauern zu erkennen. Aber das half mir nun auch nicht mehr. Ich war verzweifelt. Keine Chance zur Flucht. Und das Todesurteil vor Augen. Ich spürte Staukan neben mir triumphieren.
„Gibt es andere Möglichkeiten herauszufinden, wer von den beiden die Wahrheit sagt?“ warf Tork ein.
Niemand antwortete.
Menno ergriff wieder das Wort:
„Dann lasst uns jetzt zu einer Entscheidung kommen.“
Da ließ ein leises Klopfen alle Köpfe zu Wahr-tir herumfahren. Mit dem langen gelben Fingernagel seines Zeigefingers klopfte der alte Nekromant auf den uralten, in schwarzes Silber eingefassten Schädel, der sich am Ende seines Stabs befand.
„Wenn wir davon ausgehen, dass beide Geschichten aus ihrer Position heraus wahr sind, wo sind dann die Unterschiede?“
Menno wischte die Worte Wahr-Tirs mit einer ausholenden Handbewegung zur Seite.
„Was soll uns das jetzt helfen, Wahr-Tir? Ein Rätselspiel? Gibst ausgerechnet Du jetzt den Advokatus?“
Wahr-Tir lachte leise.
„Aber nein, verehrter Menno. Mir ist nur aufgefallen, dass sich die beiden Geschichten in einem wesentlichen Punkt voneinander unterscheiden.“
„Worauf willst Du hinaus, Wahr-Tir?“ warf Han-Vidan ein.
„Natürlich sind die Geschichten unterschiedlich, aber die Beweise liegen klar auf dem Tisch. Es gibt nichts mehr zu bereden. Lasst uns das Urteil fällen oder laßt mich“, hier erhob sie sich zur Hälfte und ließ ihre Krallen hoffnungsvoll gegeneinander schaben, „das Urteil gleich hier vollstrecken.“
Entsetzt blickte ich die Führerin des Ordens der Assassinen an. Wilde Geschichten waren im Umlauf, was die Assassinen betraf. Der Tod kam schnell unter ihren Händen, aber das Grauen war unendlich. Ewige Qualen sollten diejenigen treffen, die auf die falsche Seite gewechselt waren. Für immer im Schattenreich zwischen Leben und Tod gefangen, waren die Seelen dazu verflucht, niemals Erlösung zu finden. Wehklagen, so hieß es, war manchesmal im Wind zu hören, der den Arreat umwehte. Schatten ihrer selbst, so verblieben sie im Nichts, bis eine Assassine eine der Seelen rief. Diese wurde zum dienstbaren Geist der Kämpferin, aber selbst der Tod als Schatten war kein endgültiger.
Der Schatten neben mir rückte ein wenig näher.
„Nicht so schnell, Meisterin der Schatten,“ sprach Wahr-Tir jetzt. „Ich sehe einen deutlichen Unterschied, einen, den wir uns zunutze machen könnten.“
Guter alter Wahr-Tir! Mit ihm würde ich sogar Leichen ausbuddeln gehen, käme ich lebend aus dieser Sache heraus!
Staukan hingegen wurde wieder nervös. Es wurde ausserdem immer heißer. Sein Blick glitt von Wahr-Tir zum Dolch und wieder zurück. Aber er schwitzte nicht.
Jetzt wurde auch Kolmar ungeduldig:
„Sag schon, Wahr-Tir, Meister der Nekromantie, wo siehst Du den wesentlichen Unterschied und wie willst Du ihn nutzen?“
„Der Unterschied liegt einzig und allein darin“ Wahr-Tir nestelte an seinem Stab rum und streichelte eine kleine, verdickte Stelle unterhalb des Schädels, „dass Lorin behauptet, den Dolch niemals angefasst zu haben, während der Zeuge Staukan das Gegenteil nennt.“ Er schwieg wieder. Alle nickten bedächtig. Wahr-Tir schwieg immer noch, weiter seinen Stab streichelnd.
„Und?“ fragte Vislenna nach einer Weile, ihre mächtigen Arme ausbreitend. „Spann uns nicht auf die Folter.“
Wahr-Tir blickte einen Moment überrascht. „ Ich bitte um Vergebung, Beherrscherin der Sehne, aber die Toten haben viel Zeit und mein Umgang mit Lebenden krankt an ihrer ständigen Furcht vor mir. Ihr Lebenden seid…. ungeduldig. Jetzt, wo du es sagst, erkenne ich meinen Fehler.
„Wisset,“ so wandte er sich dann an alle, „dass einer der wenigen Einnahmequellen unser Gemeinschaft der Wanderer zwischen den Welten in den Zeiten des Jahrhunderte alten Friedens die Klärung von Erbschaftsangelegenheiten war.“ Vislenna zog eine ihrer blonden Augenbrauen hoch.
„Auch in deinem Volk, Vislenna“, Wahr-Tir beugte sich jetzt leicht vor, „gab und gibt es Friedhöfe, die gelegentlich aufgelassen werden. Die ansässigen Familien streiten sich dann um die alten und oft wertvollen Grabbeigaben früherer Generationen.“ Vislenna nickte zögernd. „Dort wo eine Zuordnung nicht eindeutig möglich ist, zum Beispiel, wenn ihr eure Ahnen in einem Familiengrab gestapelt habt und die Dinge nach ein paar Jahrzehnten oder Jahrhunderten in Unordnung geraten sind, werden wir gerufen. Nicht am hellen Tage, versteht sich.“ Vislenna runzelte jetzt die Stirn.
Aber alle hörten ihm jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Ich versuchte meine Hände zu spüren, aber der Verwirrungszauber war von permanenter Art, ich wurde ihn nicht los. Ich blickte zu Staukan. In seinem Gesicht arbeitete es. Mir war bisher nicht aufgefallen, dass er so starke Kinnmuskeln hatte.
Aber irgendwas musste seine langen Zähne ja halten.
„Wenn es also soweit ist, wird einer von uns beauftragt die Toten zu befragen ob dieser oder jener Gegenstand ihm gehört hatte. Das allerdings,“ Wahr-Tir hob beide Hände in einer Geste der Entschuldigung, „ist eine langwierige und mitunter schmerzliche Angelegenheit. Wie gesagt, die Toten haben Zeit.“
Nach einer kurzen Pause redete er weiter. „Einer meiner Vor-Vorgänger erkannte dann jedoch ein allgemeingültiges Prinzip, welches in etwa aussagt, die Details möchte ich euch ersparen, dass sich ein magischer Gegenstand immer an die letzten Träger seiner selbst erinnert. Es entsteht so etwas wie eine“ hier streichelte Wahr-Tir wieder seinen Stab, „stoffliche Beziehung zwischen Träger und Artefakt. Und diese lässt sich noch viele Jahre später nachweisen. Ja, sie endet eigentlich erst, wenn Artefakt und Träger vollkommen zu Staub zerfallen sind. So haben wir uns in den letzten Jahrhunderten die Befragung vieler unserer Vorfahren erspart.“
„Waren denn alle Grabbeigaben der letzten Jahrhunderte magisch?“ fragte Tork verwundert. „Junger Mann, früher war alles besser, möchte ich dazu sagen, jedenfalls waren magische Gegenstände weitaus mehr verbreitet als heute. Und sie waren stets gegen ihren Verfall geschützt. Sagt mir, wie viele magische Gegenstände, Schwerter, Rüstungen und dergleichen, habt ihr euch fertigen lassen?
„Keine“ meinte Tork verwundert, es gibt kaum einen Schmied, der das heute noch kann und einen Nutzen hatte es eigentlich nicht, bis heute.“ Daraufhin versank Tork ins Grübeln und Wahr-Tir fuhr fort:
„So ist es, alle magischen Werkzeuge zieren heute die Wände von Palästen, Museen und Schmiedsfamilien, die es zu etwas gebracht haben. Die wenigen Magier“ hier wandte er sich Quenlin zu, „die heute noch die Kunst der magischen Signatur beherrschen, kann ich an einer Hand abzählen.“ Quenlin murmelte etwas, was wie „Mehr brauchten wir auch nicht“ klang.
Wahr-Tir schien das zu überhören. „Jedenfalls sind alte magische Gegenstände so begehrt wie je und deshalb haben wir unser bescheidenes Auskommen gefunden.“ In den letzten Worten meinte ich eine übertriebene, leicht falsche Bescheidenheit herauszuhören. Gleichzeitig konnte ich es kaum erwarten, dass Wahr-tir endlich das Verfahren anwandte, welches mich erlösen konnte.
Ich trat von einem Fuss auf den anderen.
Staukan kochte förmlich, ich sah ihn in Schüben zittern und wie es mir schien, sich nur mühsam beherrschen.
„Von der Vergangenheit zu hören“ insistierte Kolmar, „ist gewiss lehrreich und erhellend. Wir aber haben drängende Probleme in Gegenwart und Zukunft zu lösen. Sofern ihr, verehrter Wanderer der Zwischenwelten“ hier verneigte er sich erneut vor Wahr-Tir, „ über Mittel verfügt, die die Wahrheit in dieser Sache ans Licht bringen können, bitte ich Euch, wendet sie an.“
Wahr-Tir schien leicht gekränkt, fügte sich jedoch und fing an: „Es ist eigentlich ganz einfach. Ich werde Drakh Rudnam, der ohne Zweifel ein magischer Gegenstand ist, bitten, mir seine letzten Träger zu zeigen. Jeder, der ihn zuletzt berührt hat und hier anwesend ist, wird der Reihe nach durch ein grünes Band zwischen ihm und Drakh Rudnam angezeigt.“
Ohne ein weiteres Wort hob Wahr-Tir seinen Stab leicht an und kniff sein bleiches Auge zusammen. Mit einem Ruck zeigte sein Stab auf Drakh Rudnam und das Licht im Zimmer wurde dunkler.