Kapitel 40 – Sonnenaufgang
Erhaben schwebt der Erzengel vor mir, in Licht gehüllt, aus seinem Rücken entspringen die strahlenden Tentakel, die mich gerade unangenehm an Baals eigene erinnern, samt ihrem trägen Wabern. Seine Flügel sind immer noch nutzlose Stümpfe. Und die tiefe Stimme dringt immer noch aus abgründiger Schwärze unter der einfachen Stoffkapuze hervor.
Es dauert mehrere Sekunden, bis mich erreicht hat, was Tyrael so gelassen aussprach.
"Purasol ist
tot?"
"Es war sein eigener Zauber, der ihn entseelt hat. Mit dem Blut-Mana, das Baal getötet hat, hat Purasol sich selbst gerichtet. Du musst dich also nicht grämen – Baals grausames Höllenfeuer spürte er nicht mehr."
"Das
kann nicht sein!", brülle ich mit überschlagender Stimme, die ein minderwertiges Abbild meiner Gefühle ist. Hilflos knie ich neben dem reglosen Körper des Helden, der die Welt gerettet hat – meines Freundes...
"Ich
lebe doch noch!", flehe ich mit ausgebreiteten Armen. "Er muss es also auch noch tun!"
"Mit dem Leben ist es so eine Sache", erklärt Tyrael großmütig. "Und eine bemerkenswerte in deinem Fall. Ich muss zugeben, dass ich mich in dir geirrt habe. Der Diener an der Seite unseres Helden – aber wie gefallen der ist! Und wie bewiesen du dich stattdessen hast. Weißt du, selbst für jemanden wie mich..."
"Tyrael, das interessiert mich alles überhaupt nicht! Purasol...kannst du ihn nicht retten?"
"Selbst für jemanden wie mich...", fährt Tyrael unbeirrt, betont
genervt, als ginge es hier nur um ihn, seinen verdammten Monolog, während vor mir jemand liegt, der vielleicht in diesem Moment endgültig sein Leben aushaucht!
"...war es lange nicht klar, wie viel Leben und damit auch
Potential tatsächlich in dir steckt. Die Nekromantie ist dem Himmel nun mal nicht sehr nahe. Aber nach eingehendem Studium muss ich gestehen, du hast sie wirklich, eine Seele. Ist das nicht ein Glück? So muss diese Tat nicht unbelohnt bleiben."
"Du willst mich belohnen?", rufe ich verzweifelt. "Dann belebe ihn wieder! Du bist ein Engel! Rette seine Seele!"
Tyrael wackelt mit dem Finger. "So einfach ist es leider nicht, und das solltest du wissen, Dorelem."
Ich wünschte, ich könnte ihm die Kapuze vom Kopf reißen, endlich herausfinden, ob die Schwärze darunter ein Gesicht beherbergt, das Augen hat, in die ich sehen könnte. Und feststellen, ob hinter ihnen die gleiche Leere wohnt wie in seinen Worten.
"Warst du nicht dabei, als er den Pakt mit Belial schloss? Das ist etwas, dem entzieht man sich nicht so leicht. Nur Augenblicke nach seinem Tod war seine Seele bereits auf dem Weg ins Inferno."
"Du hast das beobachtet?", stoße ich ungläubig hervor. "Du warst immer dabei?"
"Aber natürlich! Hegte ich doch von Anfang eurer Reise ein gesteigertes Interesse an eurem Fortschritt. Und mehr und mehr auch an dir."
Mir dämmert etwas Schreckliches.
"
Du sorgst dafür, dass ich nicht sterbe!"
"Deine überraschende Intelligenz habe ich schon lange zu schätzen gelernt, Dorelem! Ja, ich halte deine Seele auf Sanktuario."
"Und seine? Warum hast du es nicht für seine getan?", klage ich an, der Beweis von Tyraels Versagen immer noch selig lächelnd vor mir ausgebreitet.
"Den Pakt mit Belial hast du offenbar schon wieder vergessen, aber Intelligenz hat ja nichts mit Erinnerungsvermögen zu tun." Meine Faust ballt sich in hilflosem Zorn, als Tyrael abwinkt. "Nein, selbst wenn es diesen Pakt nicht gäbe, hätte ich ihn selbstverständlich nicht am Leben erhalten."
Ich springe auf die Beine. "
Was?"
"Das solltest du aber verstehen, Dorelem. Bist du nicht ein Freund klarer Prinzipien? Es gibt eben Regeln, und wenn wir uns nicht an die halten, wer dann?"
"Die Regel, deinen größten, deinen
einzigen Verbündeten im Moment seines größten Triumphes alleine zu lassen?"
"Wir Engel haben uns nicht in den Konflikt auf Sanktuario eingemischt. Es war so abgemacht. Dass die Hölle sich nicht daran hielt, änderte doch nichts. Im Gegenteil – du weißt selbst, du hast es öfter betont: je mehr schreckliche Sünden der Gegner begeht, desto mehr muss man selbst darauf achten, nicht zum Monster zu werden."
"Du hast dich von Anfang an eingemischt, du gefederter Bastard! Hast uns dazu angehalten, deine Drecksarbeit zu machen, damit du weiterhin schön am Rand deiner selbst auferlegten absurden
Regeln hin- und hertanzen kannst! Welchen Sinn haben Prinzipien, wenn man nicht weiß,
warum man sie hat? Um
das Richtige zu tun? Wie zur Hölle soll es eine Sünde sein, die Seele eines Menschen vor ewiger Qual zu retten?"
"Die Antwort habe ich dir gerade gegeben", erklärt Tyrael, ohne durch eine Änderung seiner Tonlage auf meinen Zorn zu reagieren. "Dein Meister wurde zum Monster, um Monster zu bekämpfen. Das war seine Entscheidung – und für die muss er jetzt büßen."
"
Er ist nicht mein Meister!", brülle ich. "Er ist mein Freund! Und du hast ihn
sterben lassen!"
"Umgebracht hat er sich selbst", wackelt Tyrael mit seinem hassenswertem Finger. "Was übrigens auch nicht wirklich der wahre Weg ist, wobei ich das in diesem Moment noch einmal verziehen hätte. Den Rest hingegen..."
Ich bin ganz kurz davor, mit aller mir noch zur Verfügung stehenden Kraft herauszufinden, ob er bluten wird, wenn man ihm eine Faust unter die Kapuze rammt. Und den Armstumpf hinterher, und ich würde erst aufhören, wenn er aufhörte, unter mir zu zucken, die Szene einem Massaker im Hühnerstall gliche vor verstreuten, rot getränkten Federn.
Aber etwas hält mich gerade noch davon ab, meiner hilflosen Wut nachzugeben.
Er sorgt aus einem bestimmten Grund dafür, dass ich nicht sterbe. Wenn er mich
braucht, dann kann ich verhandeln. Ich schulde es Purasol, dass ich absolut alles tue, um ihn doch noch zu retten. Und wenn das zähneknirschend ruhiges Reden mit diesem aufgeblasenen Abschaum eines Pestengels ist.
"Na schön", spucke ich. "Er ist tot, und du hast nichts dagegen unternommen. Aber was ist mit mir? Was ist dieses Potential, das du siehst? Ich bin ernsthaft gespannt."
"Ist es nicht offensichtlich? Da Purasol sich disqualifiziert hat, bist du der, welcher letzten Endes Sanktuario vor der Hölle bewahrt hat. Ohne Zweifel ist das nicht zu viel der Ehre, warst du doch bei jedem Kampf zumindest anwesend, und mindestens Mephisto hast du ganz alleine den Todesstoß versetzt. Somit erlaube ich mir, dich zu unserem neuen Helden auf dieser Welt zu erklären – die rechte Hand des Himmels. Von jetzt an sollst du unser Wächter auf Sanktuario sein, und alles tun, um als Mensch für die Menschheit zu sorgen."
Ich beginne, ungläubig zu lachen. "Ich kann es ja nicht glauben. Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel? Du hast mich vor
Minuten noch als Diener bezeichnet! Und jetzt willst du einen Golem zum Vertreter des Himmels machen – ist dir das nicht
peinlich?"
Wenn doch die Säure in meiner Stimme ihm die Überheblichkeit wegschmelzen könnte!
"Mach dich nicht lächerlich", gibt Tyrael ruhig zurück. "Ich sagte bewusst, dass du diese Aufgabe als Mensch erfüllen sollst."
Sofort verstehe ich, was er meint, ich zeitgleich quellen in mir die wildeste Hoffnung und die größte Verachtung über.
"Nein, das kannst du nicht..."
"Du wirst dich bald daran gewöhnen", verspricht Tyrael, und mit einer Handbewegung umfasst mich Schwärze.
Und ein Bild entsteht.
Es ist eines aus Sinnen, die ich nie hatte. Als erstes bemerke ich den Geruch. Alter Schweiß auf einem schon zu lange nicht mehr gewaschenen Körper, und noch viel schlimmer, was auch immer für Flüssigkeiten in Baal waren. Eine Übelkeit, die ich so nicht kannte, steigt in mir hoch, und zum Unwohlsein kommt Schmerz. Überall, in einem
Ausmaß, das ich nicht für möglich hielt; es ist nicht die Härte, es ist die Menge! Muskeln ziehen, Glieder schmerzen, ein Bein prickelt, der Kopf brummt.
Mein Ohr juckt.
Und es fehlen Sinne, urplötzlich. Mein Sichtfeld ist strikt nach vorne gerichtet. Und an den Rändern wird es unscharf! Das Licht, das Tyrael aussendet, blendet mich etwas. Flüssigkeit rinnt aus meinen Augen.
Mir ist, als wäre ich taub – das kristallklare Klangbild, das ich von allen Quellen auch nur des leistesten Windhauchs bekam, ist komplett weg. Tyraels Tentakel erzeugen ein sanftes Wischen, als sie durch die Luft gleiten, und der Weltstein brummt etwas. Das ist genug, um alles auszublenden, was ich sonst hören sollte – das Knarzen von durch den Kampf erhitzter Steine, die abkühlen. Die Luft, die durch das immer noch geöffnete Portal aus der Vorkammer hier hinein strömt. Den Atem...
Meinen Atem. Meine Hand landet auf meiner Brust; sie hebt und senkt sich leicht, und darunter schlägt mein Herz. Hastig klopfend, aber regelmäßig. Ich versuche, ruhiger zu atmen, aber das Gefühl von
Luft in meinen
Lungen ist eine potente Droge. Ich bin froh, dass ich auf dem Boden liege.
Da höre ich doch etwas, als mein alter Steinkörper zu Boden bröselt.
Moment.
Da drüben...
Die Erkenntnis nüchtert mich sofort aus. Ich fahre hoch.
"Du hast mir
Purasols Körper gegeben?", krächze ich heiser; verdammt, warum tut es sogar weh, zu
reden?
"Aber natürlich", donnert Tyraels zu laute Stimme in meinen empfindlichen Ohren. "Ich sagte doch, du würdest dich bald zurecht finden. Und es wäre doch Verschwendung, einem anderem Menschen die Seele zu nehmen, um sie durch deine zu ersetzen. Dies ist ein starker Körper, ein junger Körper; du kannst ihn zu noch größeren Taten führen, als er ohnehin schon vollbracht hat!"
"Einen feuchten Scheiß werde ich!", spucke ich im Aufstehen. Mir wird sofort schwindlig.
"Es ist wohl zu erwarten, dass du in den ersten Momenten etwas verwirrt bist", meint Tyrael irritiert. "Aber bitte mache dir bewusst, was für ein Geschenk ich dir soeben zukommen ließ."
Ich versuche es, obwohl ich nicht sollte. Aber ein Teil von mir
jubelt, natürlich. Ich
lebe. Das erste Mal überhaupt – bin ich – Mensch! Fließt heißes, eigenes Blut durch meine Adern, wohnt meine Seele in meinem Körper, meine eigene, ungebunden...bin ich...frei?
Ist es das nicht?
Was ich immer wollte?
Vom allerersten Moment an?
All diese Jahrzehnte der unvorstellbaren Pein...durch dieses Geschenk irrelevant, meine Erfüllung erreicht?
Natürlich.
Nicht!
"Dein Geschenk kannst du dir in die Bürzeldrüße schieben!", klage ich an. "Es ekelt mich an, wie deine ganze Art, du fürchterliches Ding!"
"Du strapazierst meine Geduld, Dorelem. Jetzt hör mir zu, denn was ich zu sagen habe, ist sehr wichtig."
"Nein,
du hörst mir zu! Ich bin es so Leid, durch deinen großmütigen Schleim, der mir von oben herab ins Gesicht trieft, waten zu müssen!"
"Dorelem, du
wirst still sein! Aufmüpfiges Kind!"
Meine Hand schießt nach unten – ich bin extrem froh, dass meine bisherige Form auch humanoid war und die Bewegungen mir deswegen grundsätzlich vertraut – und findet das Jade-Tan-Do. Es landet an meiner Kehle.
"Du hörst dir an, was ich zu sagen habe, oder suchst dir einen anderen Deppen, der deinen Scheiß erledigt!"
Tyrael erstarrt.
"Wenn du meiner Mission danach mit voller Aufmerksamkeit lauschst, dann sprich dich meinetwegen aus, Dorelem", zischt er mit schwer versteckter Verachtung.
"Damit fängt es doch schon an!", fahre ich ihn an. "Ich bin dafür da, um deine Missionen zu erfüllen – sonst nichts! Und Purasol war es auch. Kein Verbündeter, nicht mal ein Diener – ein Sklave!"
"Ihr wart für mich immer..."
"Fresse halten! Du hast mich immer wie ein Stück Dreck behandelt, weil ich nur ein Golem war, bei dem die Verhältnisse
klar sind, nicht wahr? Aber auch Purasol war nie mehr für dich, du hast es nur besser versteckt. Sonst hättest du ihm auch nur den leistesten Hauch von Dankbarkeit gezeigt, dass er gerade sein Leben für deine verdammte Mission weggeworfen hat! Wir waren immer nur Werkzeuge für dich, Golem wie Mensch. Und glaub mir, ich weiß genau, wie sich das anfühlt,
benutzt zu werden, und es wird keinen Deut besser, nur weil ich es
gewohnt bin."
"Ich biete dir eine Gelegenheit an, weiterhin Gutes zu tun!", herrscht der Erzengel.
"Du bietest mir die Gelegenheit, weiterhin der Vollidiot zu sein, der für dich die Kastanien aus dem Feuer holt! Schau mich doch an!"
Ich deute auf meinen neuen Körper, und stelle fest, wie viel Probleme mir das bereitet, als meine Muskeln weiter bei jeder Bewegung schmerzen...und diese Finger...
"Gabst mir den Abfall deines letzten Sklaven, und ich darf seinen Körper auftragen? Wie unglaublich großzügig!"
"Ich habe dir das
Leben geschenkt!", donnert er.
"Ich war immer schon am Leben!", donnere ich zurück. "Von dem Moment an, als mir klar war, dass ich denken konnte, war ich ich! Meiner eigenen Existenz bewusst, meiner Seele klar – was sollte das sein, wenn nicht Leben? Dafür brauche ich kein Blut in meinen Adern, keine Luft in meinen Lungen! Das war mir immer schon klar!"
"Und doch warst du gebunden an einen Meister, der dich mit einem Gedanken auslöschen konnte!"
"Ein Freund, der mir alle Freiheit schenkte, die er konnte – weit mehr wert, als die Leine, die du mir sofort anlegen möchtest! Er gab mir sogar die Freiheit, zu entscheiden, ob er sich und damit uns töten sollte – für mich hätte er Baal siegen lassen. Verstehst du das nicht?
Das war Freiheit, und ich traf diese Entscheidung, ganz alleine, ich hatte
gewonnen, die Kontrolle über mein Leben ergriffen.
Und jetzt? Sofort willst du mir das wieder nehmen! Bildest dir ein, ich müsste tun, was du willst, weil du mich in diese sterbliche Hülle kleidest!"
"Möchtest du etwa auch die Unsterblichkeit erhalten?", zischt Tyrael. Dann wird er ruhiger. "Du bist dir bewusst, dass wenn du dich mit dem Himmel gut stellst, wir etwas arrangieren können?"
Ich schnappe nach Luft. "Verstehst du überhaupt, worauf ich hinaus will?"
"Nein. Ich begreife nicht, wie du verschmähen kannst, nach deiner grauenhaften Zeit als willenloses Werkzeug nun über deinen eigenen Körper verfügen zu können, den ich mühsam für dich von seinen tödlichen Wunden befreit habe."
"Du stecktest mich in die Leiche meines Freundes, weil es
praktisch war", speie ich. "Überhaupt keine Mühe hast du dir gegeben. Ich fühle mich wie Dreck, und diesmal meine ich körperlich. Mein Kopf schmerzt, meine Muskeln bringen mich um, und meine Finger..."
Ich versuche, sie auszustrecken, aber sie bleiben gekrümmt, verbrannt, verkrüppelt.
"...das ist keine Heilung."
"Was bist du nur für ein undankbares, bockiges Kind...", knurrt Tyrael. "Du lebst!"
Bin ich das vielleicht wirklich? Für einen Moment kommen mir Zweifel. Dann sehe ich die Teile von Trang-Ouls Avatar auf dem Boden liegen, denke an Dostrian, Hunradil, Natalya...und Purasol selbst.
"Darum habe ich dich nie gebeten! Was denkst du, wie es sich anfühlt, diesen Körper zu tragen? Eine ständige Erinnerung an den Tod meines Freundes, und an die Fehler, die er beging? Verdammt, ich wette..."
Ich reiße mir das Hemd vom Leib, und natürlich.
"Sogar das Pentagramm ist noch da!"
"Hätte ich dich in deinem wunderschönen, makellosen, von dunkler Nekromantie gesteuerten Steinkörper lassen sollen?", fragt Tyrael mit gefährlichem Tonfall.
"Du hättest mich
fragen können, was ich will!"
"Es geht hier nicht um das, was du willst."
Mein Gesicht wird trotzig. "Und wie es das tut. Das ist doch Freiheit, oder? Meine Entscheidungen zu treffen. Ist es für dich völlig unvorstellbar, dass es mich, gerade mich, unglaublich wütend macht, dass du keine Sekunde daran gedacht hast, meine Meinung einzuholen?"
"Die Zeit drängte..."
"Unfug! Sonst stünden wir nicht seit Minuten hier und redeten!"
"Weil du aufmüpfig bist! Willst du wissen, was drängt? Das Schicksal der Welt – es ist noch nicht entschieden! Alles ist in Gefahr, wenn jetzt nicht du mir zuhörst!"
Er klingt beinahe verzweifelt...na schön. Ich verschränke die Arme, aber behalte weiterhin das Jade-Tan-Do. Starre ihn wartend an.
"Der Weltstein", beginnt Tyrael nach kurzer Pause, "ist verseucht. Baal hat seine Korruption tief hinein getrieben. Ohne ihn ist die Verderbnis außer Kontrolle – greift haltlos um sich. Niemand kann sagen, was jetzt passieren wird...wenn ich dem nicht Einhalt gebiete. Deswegen werde ich den Weltstein zerstören."
"Du wirst
was?", stoße ich hervor.
Tyrael zieht von irgendwoher ein strahlend blau leuchtendes Schwert, das scheinbar aus durchscheinendem Kristall über goldenem Griff besteht.
"Ich werde Blauzorn mit all meiner himmlischen Kraft in das Herz des Arreats schleudern. Der Weltstein wird zerbersten – es ist die einzige Möglichkeit, ganz Sanktuario vor der in ihm wachsenden Dunkelheit zu bewahren."
Etwas
schreit in mir.
Der Arreat! Seinen Protest hätte ich nicht gebraucht. Aber es ist so gut zu wissen, dass ich nicht alleine bin – und dass der heilige Berg überhaupt noch bei mir ist.
"Das kannst du nicht tun! Du hast keine Ahnung, was passiert, wenn..."
Eindeutige Gefühle überschwemmen mich.
"...der ganze Berg wird explodieren!"
"Woher willst
du das denn auf einmal wissen?"
"Der heilige Berg spricht zu mir!"
Es ist schwer, sich eine Stimme mit mehr Verachtung darin vorzustellen als die des Erzengels. "Ach, der
Berg. Bist du unter die Barbaren gegangen, Dorelem? Hast du ihre lächerliche, primitive Religion verinnerlicht? Wenn doch der Beweis gegensätzlicher Verhältnisse direkt vor dir steht?"
"Du beweist mir, dass es Engel gibt. Der Arreat hat mir Kraft gespendet, mich bei jedem Schritt auf seinen Flanken unterstützt, und steht mir jetzt zur Seite, um dich vor einem schrecklichen Fehler zu bewahren! Wem soll ich mehr glauben?"
"Wo du doch solche
Aversion gegen das Dienen hast, Dorelem, warum unterwirfst du dich einen Stück Fels?"
"Ich diene gern einer höheren Sache...wenn ich dies aus freien Stücken tun kann. Ich bot dem Berg meine Hilfe an, er musste nicht einmal darum bitten!"
"Irrelevant, alles!", wischt Tyrael meine Erklärung beiseite. "Ein Berg ist
nichts im Vergleich zur gesamten Menschheit!"
"Diese Entscheidung willst du also für sie treffen? Ohne uns die Gelegenheit zu lassen, einen anderen Weg zu finden?"
"'Uns'? Hör dich an! Du bist seit
Minuten ein Mensch!"
"Ich war immer menschlicher als die allermeisten von ihnen", zische ich. "Oder warum sonst hast du mich soeben zu unserem Wächter auserkoren? Weil ich gerade zufällig hier war, wie Purasols Leiche?"
"Weil du es dir verdient hast. Und darum werde ich dir auf einen Weg in die Sicherheit geben. Ich werde dir ein Portal öffnen, das zu Deckard Cain führt, der sich vermutlich gerade in Harrogath befindet. Du wirst dich mit ihm alsbald zu einem Wegpunkt begeben und vor der Explosion des Berges fliehen. Zusammen könnt ihr die Armeen der Menschheit mit der Kunde vom Sieg über das Böse hinter euch und dem Himmel scharen – und ein für alle Mal die Diener der Hölle ausrotten!"
Meine Stimme ist bemüht tonlos. "Ach, so hast du das geplant. Und du?"
"Ich hoffe, dass ich ebenfalls der Explosion entfliehen kann. Aber wenn das nicht möglich ist...dieses Opfer bin ich bereit, einzugehen."
Langsam bricht meine gezwungene Ruhe. "Und die Bewohner von Harrogath?"
"Auch dieses Opfer bin ich bereit, einzugehen."
In Ordnung, das war jetzt wirklich genug.
"Du bist wirklich das Allerletzte, Tyrael", erkläre ich kalt. "Du bildest dir ein, dass du durch deine Natur irgendwie mehr befähigt wärst zu wissen, was gut und richtig ist. Ja, du hast mehr Informationen als wir, aber deine Schlüsse ziehst du selbst – und teilst sie uns nie mit. Was hat es dir eingebracht? Man hat dir die Flügel gestutzt, und wir mussten dich retten, du absoluter Versager. Ich habe es doch damals schon gemerkt, es ist mir jetzt nur noch einmal überdeutlich klar geworden – Diablo und Baal haben dich in Tal Rashas Grab besiegt, weil dir die Menschen
scheißegal sind. Es war Marius, den du überhaupt nicht beachtet hast, weil er ja nur ein
Mensch war, der Baal befreit hat.
Purasol war die ganze Zeit, während wir in der Hölle waren, am Trauern, weil er eigentlich viel lieber nach Natalya gesucht hätte. Kein einziges Mal bist du darauf eingegangen, und dann haben Belial und Azmodan diese Trauer, diese Sehnsucht ausgenutzt, um ihn an die Hölle zu binden. Etwas, das du verhindern hättest können, und was du jetzt abermals unterbinden hättest können! Aber es ist dir egal. Dein wahnsinniger Krieg gegen die Hölle, den sie nach ihren und du nach deinen Regeln bestreitest,
das ist dir wichtig. Du benutzt uns wie Schachfiguren, und wenn eine mal matt gesetzt wird, dann war das bedauerlich. Oder notwendig. Aber wen interessiert das Bauernopfer, nicht wahr? Wenn man doch mal schnell einen anderen Bauer zum
König machen kann!"
Ich klopfe mir gegen die Brust.
"Purasols Wohlergehen? Egal! Mein Wohlergehen? Hör mir doch auf! Hunderte von Barbaren, die deiner verfluchten Mission loyal waren, uns jeden Schritt des Wegs geholfen haben, obwohl sich Purasol das in den letzten Tagen wirklich nicht verdient hat? Notwendige Opfer! Die Hölle wirft ihre Diener weg, wenn sie nicht mehr nützlich sind, aber du bist noch viel schlimmer – dich
interessieren deine Diener überhaupt nicht. Wir werden einfach so fallen gelassen. Ohne Grund. Wie
Werkzeuge."
Ich stapfe tief hinein in Baals zerborstenen Körper, um nach etwas zu suchen. Der Würgereiz in meiner Magengrube ist einfach zu ignorieren. Könnte ohnehin nicht viel würgen – ich habe Hunger, stelle ich fest. Meine Lippen sind trocken und gesprungen. Alles egal. Dieser Körper ist jetzt
mein Werkzeug.
"Du stilisierst dich zum Retter der Menschheit, ohne auch nur einen Menschen zu
verstehen", fahre ich fort. "Und du versuchst es noch nicht einmal. Deckard hat sich immer für dich entschuldigt, meinte, du wirst besser, aber das stimmt nicht – du willst dich überhaupt nicht ändern. Deine Taktik hat ja immer funktioniert, nicht wahr? Die Horadrim haben willig deine Befehle ausgeführt, waren dein Arm auf Sanktuario, völlig
absurd deine Aussage, dass du dich nicht eingemischt hast. Und jetzt lebt noch einer von ihnen.
Einer. Sind die Seelen der Gefallenen schön alle im Himmel? Sind sie da zufrieden? Hast du ein paar von ihnen stattdessen doch in die Hölle wandern lassen, weil sie einmal zu oft in deine Richtung gefurzt haben?"
Ich reiße Baals Seelenstein aus den Überresten seines Kopfes. Hebe die verzerrte Maske seiner Gesichtshaut hoch.
"Hat es dich auch nur eine Sekunde gereut, dass Tal Rasha in ewigem Leid lebendig begraben war? Hast du irgendetwas versucht, um ihn zu retten? Mit der Kraft des
Himmels?"
"Dorelem...sei vorsichtig, mit dem, was du sagst..."
Du könntest ihn töten, das weißt du...und dann den Weltstein für dich selbst übernehmen.
Die Stimme in meinem Kopf klingt angenehm und warm. Ich starre den Seelenstein an.
"Und in dem, was du tust!", ruft Tyrael.
Oh, natürlich. Guter Versuch.
Lass ihn für seine Ungerechtigkeit büßen...ich kann dir zeigen, wie es geht...
Danke, das weiß ich selbst sehr gut. Ich stecke Baals Seelenstein in den Horadrim-Würfel, in der seltsamen Überdimensionalität darin sollte er gut aufgehoben sein. Die Stimme verstummt. Tyrael gibt kein Anzeichen von sich, aber ich bilde mir trotzdem ein, eine gewisse Anspannung von ihm abfallen zu sehen.
"Sicher, Tyrael. Ich habe ein halbes Jahrhundert Knechtschaft hinter mir. Jeden Tag wurde ich von einem allmächtigen Monster gequält. Meine Persönlichkeit wurde entzwei gebrochen von all dem Leid. Vor Stunden habe ich endlich, endlich die Freiheit erlangt. Du denkst, ich wäre blöd genug, mich sofort auf einen Pakt mit jemandem so gutherzig wie Baal einzulassen? In welcher Welt
lebst du? Wie wenig verstehst du mich wirklich?"
"Von welchem halben Jahrhundert redest du? Du bist gerade einmal ein Jahr alt!"
Ich halte inne. "Oh, du hast also wirklich keine Ahnung. Na, was habe ich auch erwartet. Du wirst den Weltstein nicht zerstören. Überhaupt wirst du nichts mehr für die Menschheit tun. Wir können selbst auf uns aufpassen. Lass bloß deine dreckigen Finger von uns – alles, was du uns bisher gebracht hast, war nur mehr Leid!"
"Du kannst mich nicht aufhalten, Dorelem. Du kannst nur dein Leben, deine dir ach so wichtige Freiheit wegwerfen, wenn du dich jetzt nicht bei mir entschuldigst, mein Angebot eines Fluchtportals annimmst, und so schnell als möglich mit Deckard Cain über einen Wegpunkt verschwindest."
Ich benutze die eine Hand, um den Mittelfinger der anderen unter Schmerzen so gerade zu richten, wie ich kann, dann präsentiere ich ihn Tyrael.
Er schüttelt den Kopf. "Dann magst du deine letzten Momente damit verbringen, zu bedauern, welch grenzenlose Dummheit deinem kindischen Gebaren entsprang."
"Wenn die Menschheit deine Kinder sind, dann bist du ein schlechterer Vater, als der General es war. Deine grenzenlose
Arroganz mögst du bedauern. Arreat, es geht um Alles! Hilf mir, und ich werde ihn zumindest so lange aufhalten, wie es nötig ist, um dein Volk zu retten!"
Tyrael dreht sich zum Weltstein um und beginnt, sein Schwert zu heben. "Deine Wutausbrüche haben mich schon viel zu viel Zeit gekostet. Auch mit der vollen Macht deines lächerlichen Berges hinter dir wirst du, ein kleiner Menschenwurm, mich nicht aufhalten können."
"Wie sehr du einem Dämon gleich klingst...", murmle ich. Reiße das Jade-Tan-Do hoch. Laufe los.
Tyraels Rückhand trifft mich am Kinn und hebt mich von den Beinen. Ich lande sehr unsanft auf hartem Stein, schlittere ein wenig zurück. Ah, um
Himmels Willen – das tat
weh!
"Du hattest deine Chance", erklärt der Erzengel. Ich kann es nicht glauben – ich bin so weit gekommen, nur um jetzt zu scheitern, gegen diesen...diesen arroganten
Bastard...ich fühle mich so verraten. Und so dumm.
"Tu das nicht, Engel", hallt eine tiefe Stimme durch den Raum.
Talic, Korlic und Madawc sind vor dem Weltstein erschienen. Ihre geisterhaften Formen sind fast völlig durchsichtig. Der Arreat ist schwach, so schwach...
Aber er gibt mir Zeit. Ich stemme mich hoch. Kämpfe gegen den noch viel schlimmeren Schwindel an; mein Hinterkopf ist mit voller Wucht aufgeprallt. Immerhin spüre ich nur noch
diesen Schmerz, im Vergleich. Kommen Menschen so mit ihren unzähligen kleinen Gebrechen zurecht? Sie konzentrieren sich auf das größte und können so den Rest ignorieren?
"Oh, seid mir gegrüßt, Geister der Urahnen", sagt Tyrael in neutralem Tonfall. "Kommt ihr wirklich, um Gnade zu erflehen? So hätte ich euch nicht eingeschätzt. Ihr wisst, dass der Weltstein korrumpiet ist. Verloren. Er
muss zerstört werden!"
"Wir wissen, dass Baal uns seine Schwärze tief eingepflanzt hat", brummt Talic. "Aber Dorelem hat Recht. Wenn du diesen Stein zerstörst, wird der Berg bersten – Harrogath auslöschen – und eine gewaltige Narbe in der Welt hinterlassen! Wir tun alles, was wir können, um die Korruption zurück zu halten. Es muss einen Weg geben, sie zu reinigen, ohne den Stein zu zerstören!"
"Nein, es gibt keinen solchen Weg. Nicht in der Zeit, die uns bleibt."
"Was, wenn du dich irrst?", rufe ich. "Es wäre nicht das erste Mal!"
"Das ist ein Risiko, das ich bereit bin, einzugehen", erklärt Tyrael. "Überhaupt, Dorelem – willst du wirklich auf Diener eines Berges hören, dessen Herz von der Schwärze berührt wurde? Du weißt sehr genau, wie schnell jemand dem Bösen anheim fallen kann!"
Ich spüre den Willen des Arreat in mir brennen. "Der heilige Berg ist nicht der Weltstein, er ist dessen
Wächter! Es gab den Berg schon vor dem Stein, und er kann auch weiterhin dafür sorgen, dass der Stein sicher in seinem Herzen bleibt!"
"Und was ist, wenn
du dich irrst?", höhnt der Engel.
"Kannst du es nicht spüren?", klage ich verzweifelt. "Die Reinheit des Arreat, die zu uns allen spricht!"
"Ich höre auf den Willen des Himmels und auf das, was mein Sinn für Gerechtigkeit mir sagt. Meine Aufgabe."
Meine Zähne knirschen, was neue Schmerzkaskaden durch meinen Kopf jagt. "Du hast dein Herz verschlossen...bist bewusst blind gegen das, was vor dir liegt! Du opferst, was tatsächlich gut und richtig ist deiner selbst auferlegten Aufgabe. Nicht besser als Purasol in seinem wahnsinnigen Streben nach Trang-Ouls Avatar!"
"Ich bin der Erzengel der Gerechtigkeit!", brüllt Tyrael, das erste Mal, dass er seine Stimme in echtem Zorn erhebt. "Was ich tue, ist
per Definition gut und richtig!"
Er lässt sein Schwert niederfahren, und Talic zerplatzt. Korlic hebt seine Hellebarde, aber der Holzstab ist nicht materiell; auch er fällt durch den Hieb der blauschimmernden Himmelsklinge.
Und das fasst das Problem doch zusammen, nicht wahr? Ich habe meine Zeit komplett verschwendet – man kann gegen Tyrael nicht argumentieren. Er hat Recht, weil er absolut davon überzeugt ist, das Recht zu
sein. Dabei ist er nicht anders als die Dämonen der Hölle, kein bisschen. Und auch nicht besser als die Menschheit, die Kinder beider so gleicher Welten.
Aber was kann dieser Mensch tun?
Denk
nach, Dorelem! Du und Purasol, ihr habt alle drei Großen Übel vernichtet. Ein Erzengel kann nicht stärker sein als die...zur Hölle, Tyrael ist
schwächer als Diablo und Baal in menschlichen Hüllen!
Aber wir waren immer zu zweit. Und jetzt...bin ich alleine.
Mehr noch, alleine in mir selbst. Bisher hatte ich immer jemanden, mit dem ich Ideen durchgehen konnte, selbst in unserer schwersten Stunde, als der General zurück war, konnte ich am Ende einen Plan schmieden. Dorelem und der Zweite, vereint gegen alle Widerstände.
Die Stille in meinem Kopf klagt mich der Hilflosigkeit an.
Aber nein! Das ist doch Unfug! Ich war nie zu zweit in meinem Kopf – ich habe mir das immer nur eingebildet, eine schöne Illusion, um mich vor mir selbst zu schützen. Ich bin jetzt genauso stark wie früher. Nein. Stärker! Mehr als die Summe meiner Teile! Weiß endlich, wer ich bin. Und wer ich sein will!
Der Diener des Arreats! Der Retter des Berges. Harrogaths. Ganz Sanktuarios.
Der Held, den es jetzt braucht!
Mein verschwommener Blick fokussiert sich. Ja! Fokus! Auf das Ziel! Tyrael, der gerade Madawcs Geist zerstäuben lässt! Ich muss ihn aufhalten...kann ihn aufhalten...
werde ihn aufhalten...
Aber wie? Als einzelner, schwacher Mensch...ohne die Macht, die...
Was spüre ich da?
Mein Blick fällt nach unten. Auf die kläglichen Überreste Baals.
Auf seine...Leiche.
Meine Augen weiten sich.
Dann breitet sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus.
Ich konzentriere mich. Über den stechenden, brummenden und pochenden Schmerz – alle Sorten abwechselnd – in meinem Kopf hinweg. Gegen den Schwindel, der mich von den Beinen zu holen droht. Um die Stimme in mir, die blanke Euphorie herausschreit ob der Tatsache, dass ich jetzt, wirklich, vollends,
lebe.
Denn ich bin nicht nur am Leben, das war ich immer.
Ich bin nicht nur Dorelem, der einmal Golem war, und trotzdem er selbst wurde.
Ich wurde geboren aus der Seele des Generals, und lebe im Körper Purasols, dessen Nachfolgers. Der mir sicher auch etwas von
seiner Seele geschenkt hat.
Ich habe die Geheime Kunst der Nekromantie
geschrieben. Nach Diktat, ja. Aber man schnappt doch etwas auf.
"Tyrael! Ich bin kein kleiner Wurm! Ich bin
ein Mensch, und das ist mehr wert, als du je sein wirst! Und was ich auch noch bin...ist ein
Totenbeschwörer!"
Weswegen ich Baals Leiche spüre!
Tyrael fährt zu mir herum. Ja, komm nur näher! Denn ich kann...
...die Leiche
nicht sprengen.
Gerade noch bemerke ich meinen Fehler. Sicherlich bin ich theoretisch dazu in der Lage, aber in meinem Zustand? Jetzt erst wird mir klar, wie viel pure Energie es Purasol immer gekostet haben muss, einen Kadaver zur Explosion zu bringen – und warum er es nicht einfach in jedem Kampf getan hat. Dazu fehlt mir im Moment schlicht die Kraft. Überhaupt, was tue ich, wenn Baals trauriger Haufen aus Fleisch nicht ausreicht? Wenn Tyrael über die klägliche Verpuffung nur lacht – und das Schwert in meiner Brust versenkt?
Nein, die Leiche darf ich nicht sprengen.
Aber eine Sache...
Die kann ich garantiert im Schlaf.
Ich schiebe das Jade-Tan-Do zum den abgelegten Teilen von Trang-Ouls Avatar.
Endlich ist das verfluchte Zeug mal für was gut.
"HelKoThulEthFal!"
Etwas versucht, mich zu zerreißen, aber ich halte zusammen. Nein, das ist kein Stück meiner Seele, die mir verloren geht – ich weiß, was ich tun muss, um einer zu bleiben, aber...als zwei...zu denken...
Ein Eisengolem mit gewellten Dolchen an den Armen steht, golden, schädelbehelmt, vor mir auf.
Ich sehe ihn, und ich sehe mich, Purasol, Dorelem, vor ihm stehen.
Nicke mir gegenseitig zu.
Tyrael schwebt mit erhobenem Schwert auf mich zu.
"KoKoMal!", rufe ich, und springe durch mein eigenes Portal in Sicherheit. Der Golem –
ich – wirft sich dem wütenden Engel entgegen.
Das blau glühende Schwert saust herab, und sofort muss ich mich beweisen: ist meine instinktive Nekromantie stark genug, um gegen die Kraft des Himmels zu bestehen?
Die über meinen Kopf gekreuzten Zwillingsdolche fangen die Azurklinge ab. Ich gehe in die Hocke, Funken fliegen – aber meine Arme halten, meine Beine federn, die Wucht des englischen Schlages vergeht in den Wellen der Krise, die einmal das Jade-Tan-Do waren.
Doch da entreißt mir etwas die Stärke. Meine Knie beginnen zu zittern. Was ist...
Mein Körper, mein menschlicher! Das eine Bewusstsein, das ich habe, schnappt zurück in das Hirn aus Fleisch und Blut. Die Kälte des Harrogather Marktplatzes reißt mit Gewalt an mir, eine Katastrophe für meine ohnehin sehr geschwächte Konstitution.
Ich halte an mich, stolpere voran. Bewegung, ja, das ist die Lösung! Ich muss voran...schnell...die nötigen Schritte...unternehmen...
Der Golem wirft Blauzorn zur Seite, gleitet darunter hinweg. Tyrael setzt nach, ich pariere, stoße mit der anderen Waffen nach – er schwebt weg. Natürlich,
er muss nicht auf seine Fußarbeit achten...
"Dorelem!", donnert der Erzengel. "Gib diese Narretei auf! Du hast nicht den Hauch einer Chance und verzögerst nur das Unausweichliche, möglicherweise für zu lange Zeit!"
"Und wenn es dann zu spät ist, wirst du deinen Plan zur Zerstörung des Weltsteins aufgeben, oder weiterhin nicht in der Lage sein, Fehler zuzugeben?"
"Es wird nicht zu spät sein!", ruft Tyrael und schießt erneut auf mich zu. Ich mache mich bereit...
Etwas trifft mich hart, und zwar kurz
bevor sein Schwert bei mir ankommt. In Panik stolpere ich zurück, und der Hieb seiner Klinge reißt mir die Brust auf. Gerade noch bringe ich die Dolche nach oben, um mich irgendwie zu verteidigen...die Schwärze, die verhasste Schwärze kommt schon wieder. Was ist...
Der Körper, der Körper! Faustschläge treffen ihn. In hilflosem Spiegel meiner Geste als Golem hebe ich die Arme, um sie irgendwie abzuwehren, aber ich rutsche aus auf dem Schneeboden, pralle hart auf, Wellen des Schmerzes scheinen für einen kurzen Moment die taub machende Kälte zu vertreiben.
Irgendwie...muss ich meine beiden Perspektiven gleichzeitig...aber wie soll ich das tun, wenn ich hier...oh Himmel, ich kann nicht einmal schreien, um einen Moment der Ruhe bitten, um mich zu verteidigen, zu erklären...
"Dorelem."
Was, wer, wie? Die Stimme...aus mir?
Neben meinem Golemkörper! Ein Schemen, er nimmt eine bestimmte Pose ein, Arme in diesem Winkel, Hände als würde er zwei Waffen halte, kurze, leichte...instinktiv imitiere ich die Stellung, gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass meine Klingen nicht seitlich aus der Faust, sondern gerade aus dem Handgelenk ragen. Tyraels Schwert prallt ab.
Der mir geholfen hat...es ist Kaa!
"Es sind wir alle, Dorelem."
Für einen Moment sehe ich sie wieder, Griez, Kaelan, und all die anderen Opfer des Jade-Tan-Dos.
"Lass uns dir helfen...", haucht Kaa. Ändert seine Stellung, ich tue es ihm nach, und weiche einem weiteren Hieb des Engels aus.
"Wenn dieser Körper stirbt, sind wir frei. Der verhasste Kris wird zu Staub zerfallen..."
Ein Tanzschritt zur Seite, und ein Stoß, und Tyrael ist das erste Mal an der Schulter verletzt. Schadet ihm das Gift? Habe ich doch nur das Leder seiner Rüstung durchbohrt? Hat er überhaupt Fleisch?
"...und nur du hast dies möglich gemacht. Nach all den Jahrhunderten können wir ein paar Minuten warten. Und alles für dich tun, was in unserer Macht liegt."
Tyrael zuckt zurück. Schwebt nach hinten. Ist für einen Moment vorsichtig. Ich kann meinen ersten Fausthieb gegen das Gesicht meines Menschenkörpers abwehren.
Ich...weiß nicht, was ich sagen soll.
"Es ist in Ordnung", erklärt Kaa. "Du bist unser Retter, und du kannst der Retter von noch so viel anderen Seelen sein. Für dich würden wir den Himmel brennen lassen, aber dieser Bastard hier wird genügen."
Noch einmal erscheinen sie alle, füllen die Kammer des Weltsteins.
"Für Dorelem!", ruft Kaa.
"Für Dorelem!", hallt es durch den ganzen Berg, und der Berg hallt zurück, und unendliche Wärme erfüllt mich.
Tränen rinnen aus meinen menschlichen Augen.
Danke...
Ich lege das Schicksal des Weltsteins in die Hände der Opfer des Teufelswerkzeugs, und konzentriere mich darauf, nicht zu Tode geprügelt zu werden.
Von Hunradil.
Sein Gesicht ist eine zornige Masse aus Brandblasen, auf denen sich Heilsalbe mit Wundflüssigkeit mischt. Er hat keine Augenbrauen mehr und nur noch auf dem halben Kopf Haare. In seinem einen gesunden Auge brennt der Hass. Wo bisher nur gutmütige Gelassenheit, vielleicht zu viel davon lebte...
"Dem Himmel sei Dank! Du lebst!", rufe ich. Er hält für einen Moment inne.
"Ja, das tue ich, du Monster! Du hättest es beenden sollen! Jetzt wirst du
bluten für das, was du Dostrian angetan hast!"
Ich blute längst, aber das ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass sie...zuhören...
"Bitte...ich bin nicht..."
Eine Ohrfeige bringt mich zum Schweigen, zum Fallen, und für einen Moment höre ich auch nichts mehr, dann spüre ich durch den Nebel in meinem Kopf Finger um meine Kehle. Er ist geschwächt, sollte sicher statt das hier zu tun lange Wochen der Ruhe in einem Bett verbringen, aber das Adrenalin treibt ihn an, rechtschaffener Zorn...und wer kann es ihm verdenken?
Ich würge, bekomme kein Wort heraus. Meine Hände versuchen verzweifelt, ihn von mir herunter zu bekommen, für einen winzigen Moment nur, um die erlösenden Worte zu sagen, dass er sich irrt in mir...
Keine Hilfe kann ich von außen erwarten! In einem Kreis um uns stehen Barbaren. Grimmige Gesichter, Anya, Malah, Larzuk, Qua-Kehk...zustimmende Gesichter. Der General hat Hunradil schwer verletzt. Er darf Rache nehmen, er noch mehr als alle anderen. Das ist gerecht.
Aber nicht richtig. Meine Finger, verbrannt, verkrüppelt, versagen. Die Schwärze dringt jetzt auch in das ohnehin so beschränkte Sichtfeld der menschlichen Augen, ich spüre sie hervortreten. Alles wird noch viel kälter...
Der Golem bekommt einen schweren Schlag versetzt. Fast verliere ich einen Arm an der Schulter. Tyrael ist siegessicher...
"Hunradil!"
Eine weibliche Stimme.
Die Stimme.
Lixt packt ihren Mitnovizen an der Schulter. "Du wirst ihn nicht umbringen!"
"Wovon redest du?", speit er. "Du weißt, was er getan hat! Ich habe jedes Recht dazu!"
"Du darfst mit ihm machen, was du willst", erklärt sie in einer Stimme, die nur mit Schwierigkeiten ruhig bleibt, "aber zuerst wird er mir sagen, was er mit Dorelem gemacht hat."
"Dein geliebter Golem ist mir...", beginnt Hunradil, aber etwas in Lixts Blick lässt ihn verstummen.
Er lässt von mir ab, ich schnappe nach Luft, und verliere meinen Atem sofort wieder, als er mir in die Seite tritt.
Ein kleiner Dolch landet an meiner strapazierten Kehle. Lixt kniet auf meiner Brust, und bringt ihre Augen ganz nah an meine. Es sollte sich nicht ansatzweise so gut anfühlen, wie es das tut.
"Eine falsche Bewegung, und Hunradil muss auf seine Rache verzichten", zischt sie. "Der Dolch ist magisch vergiftet, ich bin darin
wirklich gut geworden. Ich gebe dir fünf Sekunden, nachdem er deine Haut ritzt."
Am Inhalt der Worte können wir noch arbeiten. Endlich kann ich es aussprechen.
"Lixt, ich
bin Dorelem!"
Manche aus der Runde schnappen nach Luft. Für einen Moment löst sich die Klinge von meiner Haut...und ist dann doppelt so fest gegen sie gepresst wieder zurück.
"Du falsche, verlogene Schlange..."
"Lixt, bitte! Ihr alle, bitte! Gebt mir einen ganz kurzen Augenblick, mich zu erklären – ich bin in eurer Gewalt, ihr könnt tun mit mir, was ihr willt, aber zuerst hört mir zu!"
"Warum sollten wir, nach all dem, was du..."
"Für die Chance, dass ich es wirklich bin!", hauche ich.
Lixt erstarrt. Verzieht ihr Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Dann steht sie, für mich sehr unsanft, auf.
"Hol ihn auf die Beine, Hunradil."
"Das kann nicht dein Ernst sein!"
"Todernst!", schnappt sie. "Wenn du willst, sei grob. Aber gegen eine meinetwegen fürchterlich schlechte Erklärung hätte ich so oder so nichts einzuwenden. Also?"
Hunradil ist am Schwanken – innerlich und körperlich.
Jemand nimmt ihm die Entscheidung ab. Deckard Cain tritt zu uns, hilft mir auf die Beine, so gut er kann. Der arme, alte Mann...aber jetzt, wo er hier ist, weiß ich, ich habe fast schon gewonnen. Kaum ein Mensch auf der Welt kann in mir solches Vertrauen wecken wie er. Ich vermute, das ist Teil seines Talents als Diplomat.
"Ihr seid die Rüstung losgeworden, General?", murmelt er. "Darauf begründe ich meine Hoffnung für Euch. Aber vor allem für Dorelem."
Die Dolchspitze ist wieder auf meiner Haut, am Ende von Lixts ganz ausgestreckten Arm. "Rede."
Meine Gedanken rasen. Ich muss so knapp wie möglich sein, die Worte so schnell und doch so verständlich durch diese ungeübten Stimmbänder pressen, um mehrere Dutzend Menschen, die diesen Körper bis aufs Blut hassen, von meiner Sache zu überzeugen.
Der Kampf gegen drei Große Übel gleichzeitig wäre mir lieber.
Ich hole tief Luft. "Baal ist tot. Und der Mensch, den ihr als General kennt, aber der jetzt Purasol heißt, ist dabei ebenfalls gestorben. Und ich wäre mit ihm gestorben. Aber Tyrael hat meine Seele auf Sanktuario gehalten und in Purasols Körper übertragen. Darum bin ich nicht der General, nicht Purasol, ich bin Dorelem! Es ist aber egal, ob ihr mir das glaubt. Baal hat es geschafft, den Weltstein so weit zu korrumpieren, dass Tyrael ihn jetzt zerstören will. Der Arreat hat zu mir gesprochen – das würde den ganzen Berg zerstören! Ich versuche gerade, Tyrael aufzuhalten. Ich, das bedeutet, ein Golem, den ich erschaffen habe und gerade selbst kontrolliere. Wenn ich in der Kammer des Weltsteins scheitere, seid ihr alle in größter Gefahr!"
"Und was sollen wir jetzt tun, selbst, wenn es stimmt?", ruft Anya aus der Menge.
"Das Stadtportal...ihr müsst Tyrael mit mir zusammen aufhalten! Deckard, bitte! Auf dich könnte er hören!"
Deckard sieht mir tief in die Augen.
"Ich...habe das Portal geschlossen. Sofort, nachdem ich hier angekommen bin. Das Risiko war zu groß, dass du gerade auf der Flucht vor Baal warst."
Oder dass du, der General, wieder dadurch entkommen hättest können lässt er ungesagt.
Eine riesiges Gewicht legt sich auf meine Brust. Ich schlucke schwer.
Mein Golem tanzt um Tyrael herum, kann sich nur noch verteidigen. Ich habe seit mehreren Minuten keinen Hieb mehr landen können.
"Ich...weiß nicht, ob ich es alleine schaffe..."
"Jetzt mal ganz ruhig hier!", ruft Lixt, und Hunradil nickt grimmig. Malah muss ihn mittlerweile stützen; er muss ihr während der Behandlung im Spital davon gelaufen sein, als er hörte, dass "der General" zurück in der Stadt war. Aber zurück zwingt sie ihn auch nicht, zu wichtig seine Rache.
"Du hast uns von der ersten Minute an, als du in Nekropolis angekommen bist, hinters Licht geführt, manipuliert und wie Dreck behandelt. Du hast mit meinen Gefühlen gespielt, uns alle glauben lassen, dass du unser Freund bist. Dann hast du uns weggeworfen, als wir nicht mehr nützlich waren, und als wir uns dir in den Weg gestellt haben, hast du einen von uns getötet und einen schwer verletzt. Warum sollten wir dir
jetzt glauben? Mit deiner absurden Geschichte, dass du jetzt Dorelem bist? Wie soll das funktionieren, dass eine Seele in eine Leiche übertragen wird? Mach dich nicht lächerlich – du bist Totenbeschwörer! Wenn das möglich wäre, wüsstest du, wie!"
Der Dolch zittert an meiner Haut. Noch einen Millimeter, noch etwas mehr Druck...
Hunradil scheint bereit, mich wieder anzuspringen. Oder auch nur Lixt einen winzigen Schubs zu geben...
Ich schließe die Augen.
Tyrael nimmt sein Schwert in beide Hände, und mein Golemkörper wird von dem unerwarteten heftigen Angriff von den Beinen gehoben, fliegt mehrere Meter, schlittert auf dem Boden. Das goldene Metall schabt sich an dem rauen Stein ab, Funken sprühen. Der Erzengel schwebt unbarmherzig heran...
Wie soll ich sie überzeugen, dass ich nicht lüge?
Die Frau, die ich liebe, und die kurz davor ist, mich umzubringen?
Die Frau, die ich...
...schon lange...
Meine Augen schießen auf.
Mir ist eine Einschränkung dieses Körpers noch überhaupt nicht aufgefallen. Wenn ich in irgendeiner anderen Situation wäre, würde ich vor Freude jauchzen über diese Erkenntnis.
Ich
vergesse. Nichts war schlimmer, grausamer an meiner Existenz als Golem, als die Gewissheit, jede Sekunde, jedes Detail jedes mir zugefügten Schmerzes, jeder Übeltat, die zu begehen ich gezwungen wurde, für immer in meiner Erinnerung zu haben. Und jede dieser schrecklichen Sekunden habe ich im Gefängnis des Geistes des Zweiten mehrfach durchlebt, als schrecklichste Strafe, die sich der alte General ausdenken konnte.
Und diese Geißel ist von mir genommen.
Trotzdem.
Es gibt manche Dinge, die ich nie vergessen werden. Und dazu gehört, wie ich in einer Nacht jede Sekunde damit verbrachte, einen Text zu verfassen, im Namen eines Lügners, und voll meiner eigener Gefühle. Wie ich methodisch daran arbeiten musste, in Worte zu fassen, was ich selbst gar nicht spüren konnte, aber so dringend wollte. Wie ich auch irgendwie mich selbst anlog, aber dann doch wieder nicht. Und, wenn ich es recht bedenke, war ich dabei völlig allein in mir. Der Zweite war still...oder aber, ich war damals für zumindest kurze Zeit einfach nur
ich selbst.
"Lixt", sage ich mit fester Stimme. "Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr es mich schmerzt, dass wir getrennt wurden. Zu jeder wachen Sekunde verzehre ich mich nach deiner Präsenz, möchte ich erneut deine weichen Lippen auf meinen spüren. Ich gehe durch die Gänge der fortgeschrittenen Akolythen, und hinter jeder Ecke vermute ich dich, hoffe ich umsonst, dass sie dir erlauben, mich zu sehen..."
"Was soll das?", führt Hunradil dazwischen. "Von allen schwülstigen..."
Lixts Knöchel sind nicht mehr weiß um den Griff ihres Dolches.
"Das Ende", flüstert sie. "Was stand am Ende?"
"...und ich sehne mich so sehr", flüstere ich zurück, "nach diesem Moment, der nicht früh genug kommen kann, in dem meine Finger durch deine langen, vollen, seidigen pechschwarzen und so wunder-, wunderschönen Haare gleiten werden.
Für immer dein,
...Dorelem."
Der Dolch klappert zu Boden. Ihre Arme schlingen sich um mich, und ihre Wärme gibt mir so viel mehr als endlich etwas Erlösung von der Kälte. Und meine Finger gleiten durch ihre gerade schulterlangen Haare und alles ist wunderbar.
"Er ist es! Er ist es wirklich! Es ist Dorelem!"
Ich glaube, ich weine mehr als sie. Aber durch den Schleier der Tränen sehe ich, wie der Golem zur Seite rollt...aber dem zweiten Hieb nicht ausweichen kann. Ich verliere meine Beine.
Verliere den Kampf.
Reiße den Kopf hoch.
"Es ist verloren! Beim Arreat, es tut mir so Leid...ich habe versagt!"
Deckard schnappt nach Luft. "Tyrael wird den Weltstein allen Ernstes zerstören?"
"Tyrael, ich flehe dich an!" schreit der Golem. "Du wirst mit der Zerstörung des Arreats ganz Harrogath auslöschen. Hunderte von unschuldigen Menschen töten! Das
kannst du nicht tun!"
"Meine Entscheidung ist längst gefallen, Dorelem", seufzt Tyrael. "Ich kann nur hoffen, dass deine nutzlose Rebellion mich nicht zu viel Zeit gekostet hat."
"Wir müssen fliehen!", schreit mein menschlicher Körper. "Der Arreat weiß, was geschehen wird, wenn der Weltstein zerbirst – Harrogath ist verloren!"
Deckard packt Lixt an der Schulter.
"Ist es wirklich Dorelem?"
"Es ist ein Liebesbrief des Generals...aber Dorelem hat ihn geschrieben. Kein Wort davon kann der General gekannt haben."
Deckard erhebt seine Stimme lauter, als ich ihn je gehört habe. "Ich bürge für seine Worte – flieht! Evakuiert die Stadt! Zum Wegpunkt, alle, so schnell als möglich!"
Malah tritt zu ihm, als die Menge laut zu murmeln beginnt. "Aber das können wir nicht, Deckard."
"Was meinst du?", brüllt er, und es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen, in heller Panik, sonst immer so ruhig. Aber ich habe ihm gerade gesagt, dass Tyrael uns verraten hat, sein ewiger Verbündeter im Himmel. Dem er sein Leben verschrieben hat.
Und Malahs offenbare Weigerung...
Und in der Kammer des Weltsteins hebt Tyrael erneut seinen Schwertarm...
Ich starre auf meine eigenen nutzlosen Versagerarme.
Der eine, der fast abgetrennt wurde.
Moment.
Ist die grauenhafte Kraft des Jade-Tan-Dos noch ihn ihm?
Kaas Geist nickt heftig.
Ich reiße dem Arm ab.
Im Werfen war ich schon immer ausgezeichnet.
Der Dolch fährt Tyrael in den Rücken.
Er erstarrt.
Und ich spüre ihn. Verbunden, irgendwie, mit mir. Halte sie fest, seine Seele, an einem unsichtbaren Strick, durch den verfluchten Dolch, und an dem Strick ziehen noch weitere aberhundert Seelen.
"Nein!", brüllt Tyrael.
"Wir können nicht alle fliehen. Nicht in dieser kurzen Zeit", erklärt Malah. "Und wir werden auch nicht fliehen. Wir haben geschworen, diesen Berg zu beschützen, mit unserem Leben, wenn es sein muss."
"Aber..."
Sie drückt Deckard einen Finger auf die Lippen. "Einige Krieger sind bereits verschwunden, ja, aber sie haben den Wegpunkt in das zweite Untergeschoss des Weltstein-Turms genommen. Sie werden versuchen, irgendwie, Tyrael aufzuhalten. Wenn sie scheitern, dann ist das eben so. Aber wir werden nicht aufgeben. Das wäre Verrat an allem, für das wir stehen."
Tyrael fährt zu mir herum. "Was hast du getan?"
"Du wolltest dein Schwert werfen und fliehen?", spucke ich. "Vergiss es! Wenn der Weltstein explodiert, bleibst du hier, an mich gebunden – du sollst die Flammen selbst spüren, mit denen du Harrogath überziehen willst!"
"Vielleicht habe ich...", sage ich als Mensch zu den anderen.
Tyrael lacht. Es ist ein tiefes, rumpelndes Geräusch, das...angenehm klingt. Beruhigend. Wärmend. Das Lachen eines Engels, der sonst immer ernst ist, unnahbar. Nach Zorn die erste Emotion, die ich aus ihm herausgekitzelt habe. Und rechtschaffener Zorn gehört irgendwie zu seiner Berufung, nicht war? Das Lachen hingegen...ist so ehrlich. Für einen Moment kann ich vergessen, wie er uns verraten hat.
"Wenn du denkst, das wird mich aufhalten, hast
du mich wirklich nicht verstanden", erklärt Tyrael. "Aber möglicherweise haben wir in diesem Moment wirklich unsere tiefste Verbindung bisher", seufzt er. Und hebt sein Schwert erneut, als er sich von mir abwendet. "Selbstverständlich sterben wir beide gerne, während wir das Richtige tun. Das ist doch, was uns ausmacht, nicht wahr?"
"...ich habe versagt", beende ich den Satz, der mir in Harrogath lange Sekunden auf den Lippen hing.
Lixt löst sich sofort von mir. "Dann komm."
"Was?", rufe ich.
"Wir verschwinden! Nie im Leben lasse ich zu, dass wir hier beide sterben! Du hast nichts geschworen – wirf dein neues Leben nicht weg!
Lauf mit mir in die Zukunft!"
Aber...der heilige Arreat...
"Sie hat Recht!", ruft da – Anya!
"Es bringt nichts, hier zu bleiben und zu sterben. Wir müssen überleben, um unsere Geschichte erzählen zu können – um das Erbe des Arreats für immer zu erhalten. Ich war bereits draußen in dieser Welt, und sie hat uns beinahe vergessen – das darf nicht geschehen! Wir dürfen hier nicht einsam sterben, und unsere Legenden mit uns! Nach Sescherons Fall sind wir womöglich die letzten Barbaren. Ich werde gehen, und es ist mir egal, was ihr deswegen von mir denkt. Weil ihr tot sein werdet!"
Unerwartete Wärme erfüllt mich, als sie losgeht, und nach kurzem Zögern folgt ihr Larzuk. Wir laufen ihnen nach, und manche folgen uns. Niemand drängelt sich vor mich und Lixt.
Deckard redet leise und inständig mit Malah.
Aber der Rest der Menge...
Moment. Die Wärme in mir...kommt nicht nur von meinen Gefühlen.
Ich bleibe stehen, obwohl Lixt an meinem Arm reißt.
"Dies sind die letzten Worte des Arreat!", rufe ich mit einer Stimme, frei von Heiserkeit und tiefer, wärmer als ich oder Purasol je gesprochen haben. "Der heilige Berg hat eine einfache Botschaft an euch: Danke. Ihr habt immer euer Bestes gegeben, und seid wahrlich würdig."
Mir rinnen unkontrolliert Tränen aus den Augen, während ich mit klar und deutlich weiter spreche.
"Es fliehe, wer will! Euer Schwur ist erfüllt – rettet eure Leben, und seid auch ohne den Berg das stärkste, das stolzeste Volk Sanktuarios!"
Endlich kommt Bewegung in die Menge. Lixt nickt. "Jetzt komm aber!"
"Moment. Geht weiter, los, weiter!" Ich schiebe Mensch um Mensch an uns vorbei, denn noch...
Tyrael wirft Blauzorn. Wie durch zähen Schleim scheint das Schwert zu gleiten...
Du Wahnsinniger...verstockter...ich
hasse dich!
Ich senke den Blick meines Golemkörpers. Aber ein wenig hat er Recht. Wir beide glauben doch, das Richtige zu tun. Handeln nach unseren Prinzipien. Nur er bricht sie nicht einmal dann, wenn es nötig ist. Ist unfähig, pragmatisch zu sein.
Ist es jetzt nötig?
Nein.
Der goldene Arm in ihm, daran der Dolch, zerbröselt.
Blauzorn dringt in den Weltstein ein. Mit einem unweltlichen Geräusch, das mich kurz taub macht, obwohl ich als Golem keine Trommelfelle habe, tauchen zahlreiche Risse im Herzen des Arreats auf. Tiefrotes Licht springt daraus hervor.
Der Erzengel wirbelt zu mir herum. Unter seiner Kapuze glühen zwei strahlend blaue Punkte. Zum ersten Mal sehe ich in die Augen eines Engels, und ich glaube, ich weiß, was der Blick bedeutet.
Er verschwindet, als hinter ihm die Energie einer ganzen Welt voller Seelen freigesetzt wird.
"Dorelem! Wohin?", ruft Deckard. Fest hat er Malahs Hand ergriffen. Hunradil ist schon verschwunden, wohin, habe ich nicht mitbekommen.
"...Docks von Kurast", murmle ich. Die beiden alten Menschen reisen dorthin voran.
"Und wir?", fleht Lixt.
"Sofort", erkläre ich, und richte meinen Blick auf den fernen Gipfel. Leb wohl, heiliger Berg. Ich sollte mich grämen, dass ich nicht in der Lage war, dich zu retten. Aber hast du es nicht selbst richtig gesagt? Ich habe mein Bestes gegeben. Und das muss genügen.
Wenn man alles will, um jeden Preis...dann ist man nicht besser als die Monster, die man bekämpft, nicht wahr?
Weil ich das erkannte, gewann ich meine Freiheit. Mein eigenes Leben...eines, von dem ich wusste, dass ich es verdient hatte, seit ich denken kann. Weil ich denken kann. Und es gibt noch so viel mehr, die das auch verdienen! Tyrael hatte in einem nicht Unrecht: ich sollte dieses Geschenk nutzen. Aber nicht für seinen Traum einer Menschheit, die dem Himmel untertan ist. Sondern für die, die nicht wie ich das Glück hatten, die fragwürdige Gnade eines Engels zu erfahren.
In der Kammer des Weltsteins verschlingt das Feuer einer roten Sonne den Körper, der aus Trang-Ouls Avatar erschaffen wurde, und löscht endlich, endgültig und verheerend, meine und Sanktuarios Vergangenheit aus. Bis zuletzt starre ich hinein, ohne dass es mich blendet.
Dann verschwinde ich mit Lixt in eine gemeinsame Zukunft. Für uns, die Welt und alle in ihr, deren Seelen noch geknechtete Werkzeuge sind!