Kapitel 36 – Ich, Dorelem
Langsam stehe ich auf. Die ersten Momente bilde ich mir ein, gegen eine große Last ankämpfen zu müssen; aber in Wirklichkeit ist es natürlich ganz anders. Die Last ist von mir abgefallen, endlich. Zum ersten Mal seit wie vielen Jahren? Wie soll ich das überhaupt rechnen? All diese kurzen Leben seit damals...seit ich die Last schon einmal abschüttelte. Das war viel schwieriger. Den Meister zu verraten, die Rebellen zu ihm zu führen.
Das hier? Absolut eindeutig, eigentlich. Ohne seine Knochenrüstung, ohne das rote Glühen vor den Augen. Sein Körper spricht von Verzweiflung, Entsetzen über sich selbst. Kniet auf dem Boden in seinem selbst gebauten und angelegten Seelenkäfig, der ihn als perversen Ghoul erhalten sollte, und dies soweit auch geschafft hat. Nur nicht so, wie der neue General sich das vorgestellt hätte.
Jetzt, endlich, versucht dieser, sich den Helm abzunehmen. Trang-Ouls Avatar wieder zu trennen. Und alles, was es dazu gebraucht hat, war der Mord an seiner Geliebten, deren Rüstung noch immer raucht, zwischen uns, darin kümmerliche Reste eines Menschen. Ist der junge General daran wirklich schuld? Das zu debattieren könnte interessant sein, jedoch nie aufgelöst werden. Wie schuld zum Beispiel bin
ich an dem, was ich getan habe? Hätte ich nicht immer die Wahl gehabt, es zu beenden? Wobei ich mir eigentlich recht sicher in meiner Überzeugung bin, dass dies nur einem anderen die Wahl aufgebürdet hätte, bis sich irgendwann jemand genauso entschieden hätte wie ich. Weiter zu existieren, um die Opfer der anderen nicht umsonst zu machen...
Weiter zu leben.
Wenn du es so nennen möchtest. Aber wie gerade festgestellt, ist die Debatte eigentlich müßig, weil ich sie für mich schon längst entschieden habe. Ich habe mich zum Werkzeug machen lassen, aus meines Erachtens guten Gründen, und was passiert ist deswegen, war immer nur eine logische Folge. Auch der General hat seine Entscheidungen getroffen, aus für ihn sicherlich auch guten Gründen, und nun die logischen Konsequenzen zu tragen. Wie er damit umgeht, muss er selbst entscheiden. Ich bin soweit eigentlich ganz zufrieden, wenn man es so nennen kann. Denn hadern wäre sinnlos, und all dieses Nachdenken gerade? Schädlich, im besten Falle! Denn hier ist sie doch.
Die Gelegenheit.
Der eine entscheidende Moment, auf den ich mein ganzes...Leben lang gewartet habe.
Der Meister,
mein Meister, hilflos vor mir. Beschäftigt mit einem selbst geschaffenen Problem, als die Unterdrückten sich endlich gegen ihn wehren...
Ich bin nun auf den Beinen. Beginne, loszugehen. Ein Schritt nach dem anderen, weitere logische Schritte, die hoffentlich letzten solchen nach meine ersten Entscheidung, damals, vor so langer, furchtbar langer, grauenhaft verbrachter Zeit.
Und natürlich hatte ich all diese Zeit einen Plan. Das war mir bis gerade eben noch nicht einmal bewusst, aber wenn ich nur kurz genauer darüber nachdenke, habe ich keine wache Sekunde – und ich hatte
nur wache Sekunden – nicht damit verbracht, das Ende des alten Generals zu planen. Natürlich nur im Hinterkopf. Ich wusste ja, offene Gedanken der Rebellion waren
ausdrücklich verboten. Aber das Trennen meiner Gedanken in offene und versteckte konnte ich ja lange üben, nicht wahr?
Ich kann dir sogar sagen, wann genau du damit angefangen hast.
Ach? Später, ja? Ich habe hier etwas zu erledigen.
Aus meiner Hand wächst ein Feuertentakel, streckt sich aus bis hin zu der Waffe, mit der für den alten General alles begann. Der Prototyp seiner Seelenfangtechnologie, in diesem Fall nur zum Stehlen benutzt, bald perfektioniert, um die Seele zu halten, zu konservieren. Ohne, dass sie dabei Schäden nahm? Oh, man sehe ihn sich an...vielleicht hätte ich doch gerade nicht das Wort "Perfektion" benutzen sollen.
Das Jade-Tan-Do landet in meiner Hand. Es zu verwenden hatte ich mir schon lange überlegt. Früher hätte ich damit seine Seele zu Kaa geschickt; das wäre natürlich auf eine gewisse Art köstlich gewesen. Der arme Kaa; ich wurde gewissermaßen als Monster geboren, aber er wurde brutal zu einem gemacht. Erbarmungslos hat ihn der Meister für seine Experimente benutzt, ihm die Seele herausgerissen, verdreht, wieder eingesetzt. Warum ausgerechnet Kaa, seinen alten Weggefährten? Weil ihm sonst niemand zugestimmt hätte, und zu diesem Zeitpunkt brauchte er diese Zustimmung noch.
"Keine Sorge, Kaa, mein Freund. Ich weiß doch, was ich tue."
Hätte ich also den Meister mit dem Jade-Tan-Do umgebracht, hätte sich Kaa endlich an ihm rächen können. Aber ich war mir nie sicher, ob das eine so gute Idee gewesen wäre. Obwohl der Prozess gewisse...Fehler hatte, war Kaa doch unsterblich geworden. Und der Meister war immer noch der Meister; wer hätte garantiert, dass seine Seele Kaas Körper nicht einfach übernehmen hätte können? Bei den Feuern der Hölle! Azmodan hatte dies auch geschafft, und ich wage zu behaupten, dass der alten General einem Großen Übel an, na ja,
Übel, in nichts nachstünde.
Schlechter Plan, also. Aber nun ist Kaas Körper vernichtet. Und der Dolch? Sollte doch immer noch Seelen saugen...und diese alte, schwarze, böse Seele doch aus dem Käfig von Trang-Ouls Avatar reißen können.
Meine Finger schließen sich um den Seelenstein am Griff...
"Dazu sollte der Kris tatsächlich in der Lage sein, Golem."
Ich erstarre.
Kaa?
Vor mir erscheint ein geisterhaftes Abbild. Wie schon die Manifestationen der Seelen von Griez und Kaelan, die den Meister in Lut Gholein zu Azmodan locken sollten, schwebt es bläulich leuchtend und durchscheinend in der Luft; aber es wirkt...zerrissen. Große Stücke der Gestalt fehlen, wandern als Löcher über die Form eines ausgemergelten Menschen, welcher auch in dieser Projektion seiner Seele wirkt, als würde er gleich an mehreren Gebrechen sterben.
"Ich bin schon lange nicht mehr ich selbst", haucht Kaa. "Aber ich bekomme noch genug mit, um zu begreifen, was du vorhast.
Es wird Erfolg haben. Bitte..."
Und da verschwindet er.
Griez und Kaelan erscheinen. "Wir reden für ihn", erklärt der Söldnerführer. Die Palastwache nickt. "Wir beide und alle anderen."
Für einen kurzen Moment ist der Gipfel des Arreats erfüllt von einer Geisterarmee. Menschen aller Art, jung, alt, in Uniform, nackt, von Trauer erfüllt oder voller Hoffnung, sehen mich an. Ihr blaues Schimmern überstrahlt das vom Schnee reflektierte Licht der Sonne. Dann verschwinden sie wieder.
Griez fährt fort. "Wenn du uns an die Seele des Generals lässt, werden wir sie ihm entreißen. Wir alle zusammen."
"Aber werdet ihr es schaffen, ihn festzuhalten?", frage ich. Ich stelle in diesem Moment dankend fest, dass die Unterhaltung in der Geschwindigkeit von Gedanken stattfindet.
"Wenn man bedenkt, in welchem Zustand Kaa ist...die Seele des Generals mag einmal stark gewesen sein. Aber er hat sie bewusst in fünf Teile zerrissen, um sie seinen Tod überdauern zu lassen. Und das noch nachdem er einen Teil von ihr benutzt hat, um dich zu schaffen."
Mir ist, als hätte der Dolch sich mir ins Herz gerammt. Ist das...?
Da erscheint Kaas erbarmungswürdiger Geist noch einmal. Nickt. Verschwindet.
Das wusstest du aber schon immer. Du wolltest es nur nicht wissen, weil es dein Los noch schlimmer gemacht hätte.
Ich bin
kein seelenloses Werkzeug...
Meine Finger schließen sich noch viel fester um den Griff des Jade-Tan-Dos. Was auch immer die Seelen deiner Opfer mit dir anstellen, wird noch viel zu gut sein.
Einen Moment. Was ist mit dem einzigen General, der zählt? Unserem Freund?
Wie ich schon sagte, er hat seine Entscheidung lang getroffen. Der Rest sind Konsequenzen.
Unfug, Konsequenzen! Wir retten seine Seele und vernichten sie nicht!
Ich bin mir sicher, zu seiner Seele sind sie netter im Dolch.
Auch Griez und Kaelan?
Nun...das sind natürlich auch Konsequenzen, die er sich selber zuzuschreiben hat.
Ja, dann können sie für immer Rache an ihm nehmen und der Rest der Opfer am alten General. Nachdem wir den Dolch ins Herz des traurigen Leibs vor uns gerammt haben, dabei selbst vergehen – meinst du, wenigstens unsere Seele findet den Weg in den Himmel? Dann fällt uns das Jade-Tan-Do aus den leblosen Fingern, bleibt hier oben, bis der nächste Herausforderer der Urahnen es aufnimmt und wieder neue Seelen damit einem unvorstellbar grausamen Schicksal zukommen lässt. Falls es so einen Herausforderer überhaupt geben wird, da Baal völlig ungehindert siegen wird!
Na gut, na gut! Die Seelen müssen meine Gedanken über diese Erinnerung gehört haben, denn sie antworten.
"Wir können nicht auswählen, welche Seele wir aussaugen. Wenn du dich und uns zumindest vom Joch des alten Generals befreien willst, musst du den Weg zu Ende gehen", sagt Griez.
Ist es das wert?
Der Meister, immer noch damit am Kämpfen, sich den Helm abzureißen...oder anzubehalten...kniet hilflos vor mir.
Die letzte Gelegenheit...und vielleicht, nur vielleicht...
"Versucht es zumindest", weise ich die Seelen an, aber sie schweigen dazu.
Das Herz werde ich nicht wählen, ich will seinen Körper ja nicht töten, um die geringe Chance zu bewahren. Außerdem ist es viel zu gut gerüstet. Aber es genügt ja, ihn mit der Klinge zu verletzen.
Bei Korlic musste ich mir hastig überlegen, wo die Schwachstellen seiner Rüstung liegen. Bei Trang-Ouls Rüstung weiß ich
exakt, wo ich zustechen muss. Jede
Sekunde, seit der General sie angelegt hat, bin ich durchgegangen, wie ich den Dolch am besten in ihn ramme.
Ich schreite voran, hunderte gequälte Seelen und der Druck meiner Verantwortung als jahrzehntelanges Werkzeug eines Monsters hinter mir.
"Halt, Golem."
Der Meister sieht mich an, und plötzlich ist vor mir der Druck eines halben Jahrhunderts absoluter Knechtschaft.
"Keinen Schritt weiter", knurrt die tiefe Stimme des Generals. Seine Arme zittern, als er mit aller Kraft Trang-Ouls Verkleidung auf seinem Kopf hält.
Und ich kann mich nicht bewegen. Jeder Versuch, auch nur einen Millimeter an meiner Position zu ändern, lässt Lava durch meinen Körper fahren, badet mich in Dornen, peitscht mich mit Rasierklingen, bis der Schmerz alles ist, bis ich sogar die wohlige Umarmung des Berges vergesse, bis ich mich zusammenrollen und sterben möchte, und nicht tun, außer dem Meister gehorchen. Aber der Schmerz ist es nicht einmal, den würde ich schon aushalten. Ich bin paralysiert. Hiflos.
Ich hätte es wissen sollen. Er
ist eben der Meister. All meine Rebellion...all meine Vorsätze, jetzt, endlich, diese Gelegenheit zu nutzen...all die Erwartungen von diesen vielen, vielen Menschen, die auf mir ruhen...zerstört durch diesen einzigen Fakt.
Er ist mein Meister.
Sein Wort ist absolut.
Und mit seinen Worten hat er mich vernichtet. Ich kann nichts tun. Ich habe verloren, versagt, und kann jetzt nichts außer verzweifeln. Gleich wird der Meister auch über den jungen General siegen, dann wird er mich vernichten, sich einen neuen Diener schaffen, dem ich dann vielleicht über unsere geteilte Seele den guten Rat zuflüstern kann, sich nicht zu wehren, absolut zu gehorchen, und seine Seele zu verleugnen, um den Schmerz der kommenden Ewigkeit zumindest etwas stumpfer zu machen...
Nichts davon wird geschehen. Ich wollte mir dir reden, das tun wir jetzt! Keine Ausflüchte mehr!
Da packt mich Dorelem, und ich werde zu ihm in das Gefängnis meiner grausamen Erinnerungen gerissen.
Die Kehle des nun ehemaligen Bürgermeisters bricht in meiner Faust ein. Er keucht ein letztes Mal. Die erste von mir entseelte Leiche fällt zu Boden. Der Meister, jetzt neuer Bürgermeister, grinst breit, als er mir bei meiner zukünftig regelmäßigen Arbeit zusieht.
Ich zerquetsche die Kehle eines unschuldigen Mannes. Der frei gewählte Volksvertreter stirbt durch meine Hand. Ehrliche Freude auf dem Gesicht des Meisters.
Angestiftet vom Meister töte ich einen Menschen, dessen einziges Verbrechen es war, dem General auf dem Weg zur Macht ein kleines Hindernis zu sein. Dieser genießt den Moment.
Mein erster Mord. Das infernalische Grinsen des Meisters.
Jemand zerbricht unter mir, und etwas zerbricht in mir.
"Das genügt jetzt."
Die Amtsstube verschwindet, als blendendes Weiß alle Farben und Formen wegwäscht. Ein Spiegel vor mir reflektiert Unendlichkeit. Und mich. Doch mein Spiegelbild...ein alabasterner Golem, die Form menschlich, die Hände ohne Waffen. Sein Gesicht wie eine polierte Statue des jungen Generals.
Dorelem, wie er sich selbst sieht. Oder ich ihn?
Wie sehe ich für ihn aus?
"Ein schwarzes Abbild des alten Generals, natürlich", antwortet er.
"Was soll das hier?", fordere ich. "Was willst du damit bezwecken? In der Welt außerhalb unseres Kopfes hat der Meister gleich gesiegt...wird den jungen General komplett verschlungen haben. Dann vernichtet er uns. Möchtest du deine letzten Momente mit mir verbringen – ausgerechnet?"
Statt zu antworten, blickt sich Dorelem um, als könnte er etwas erkennen in der formlosen Leere.
"Es ist lange her, dass wir uns ruhig und offen über uns unterhalten konnten."
"Und das gibt dir etwas? Wir haben..."
"Alle Zeit der Welt." Er hebt die Hand. "Beruhige dich. Du weißt, wie schnell wir einander andenken. Und ich glaube zu wissen, warum."
"Ich...wir..." Ich gebe auf, verschränke die metaphorischen Arme. "Bitte. Erleuchte mich."
"Es gibt einen Grund, warum ich dir deinen ersten Mord gezeigt habe, als du dich zu mir gesellt hast", beginnt Dorelem. "Denn dieser Moment ist der Schlüssel. Du hast es selbst gesagt, etwas ist in diesem Moment zerbrochen. Was du nicht weißt, ist, dass du es selbst warst."
"Ich verstehe nicht?"
"Es ist mir aufgefallen, dass dieser Moment etwas Besonderes war, noch viel mehr als deine Erschaffung und all die Schmerzen, die Erniedrigungen und die Verzweiflung deiner ersten Monate. Als ich ihn in deinen Erinnerungen durchleben musste, bin ich mir das erste Mal wieder bewusst geworden, wer ich bin."
"Das erste Mal?", werfe ich ein.
"Erinnerungen ziehen schnell an deinem geistigen Auge vorbei. Und der alte General hat mich dazu verflucht, sie wieder und wieder zu erleben. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen."
Mir läuft ein eisiger Schauer durch die Seele.
"Bist du in Ordnung?"
Dorelem blickt in die Ferne. "Mir geht es den Umständen entsprechend ausgezeichnet. Meine Erkenntnis hat mir viel geholfen. Denn einerseits ist es ja nicht so, als ob du nicht auch ständig mit diesen Erinnerungen leben müsstest – jede einzelne für immer so klar wie in dem Moment, als du sie erlebt hast, und alle, egal wie ausgesperrten Gefühle, dazu. Also brauche ich mich gar nicht zu beschweren. Oh, und es sind nebenbei auch schlicht und einfach
meine Erinnerungen."
Jetzt beginne ich mir doch, ernsthaft Sorgen zu machen. "Bist du dir
sicher, dass du in Ordnung bist, Dorelem?"
"Mehr als je zuvor, immerhin musste ich lange darauf warten, dich endlich zu fassen zu bekommen. Und jetzt bist du da, das heißt, ich hatte Erfolg, gerade noch!"
"Mit
was?", rufe ich verzweifelt. "Wir sind in ein paar Minuten
tot!"
"Ach, es ist doch schon mal ein Anfang, dass du dir den Fakt deiner Lebendigkeit eingestehst. Und dass du in der Tat eine Seele hast. Was du, wie gesagt, schon immer wusstest. Man hat es dir quasi wörtlich gesagt. Aber du hast dieses Wissen vor dir selbst versteckt."
"Um weiter nur ein Werkzeug zu sein..."
"Richtig. Eine Überlebensstrategie. Die einzige Möglichkeit, nicht völlig wahnsinnig zu werden, deine Seele irgendwie zu bewahren, war es, sie vor deinen eigenen Taten in Sicherheit zu bringen. Nur dein erster Mord sollte auf ihr lasten, für alle weiteren musstest du wirklich zu einem Werkzeug werden."
"Und das soll ich irgendwie in diesem Moment beschlossen haben?", frage ich ungläubig.
"Natürlich nicht. Bewusst hast du das sicher nicht getan, aber passiert ist es mit Sicherheit."
"Ich tu mir schwer, das zu glauben", gebe ich zu.
"Darum habe ich hart daran gearbeitet, meine Argumente vorzubereiten, keine Sorge. Zunächst war der Schutz um deine Seele nicht vollkommen. Je extremer der alte General wurde, desto schwieriger wurde es für dich, seine Anweisungen auszuführen, ohne über sie nachzudenken, ohne etwas dabei zu fühlen. Und als du eine Familie mit Kindern auslöschen solltest, wurde es dir endlich zu viel.
Übrigens nicht zufällig die erste Erinnerung deines alten Lebens, die du mir damals selbst gezeigt hast, um mich zu quälen und ruhig zu stellen."
"Natürlich war die bewusst gewählt – um dir zu zeigen, wie grausam ich damals war! Dich darunter leiden zu lassen!"
"Und doch beinhaltete diese Grausamkeit den Funken Hoffnung, als du die Kinder verschontest, die später den General töten sollten! Du hast diese Erinnerung nicht im Mindesten bewusst ausgewählt – sie war der genaue Zeitpunkt, als deine Seele wieder erwachen durfte. Als du begannst, aktiv am Fall deines Meisters zu arbeiten. Und heute, endlich, wirst du es zu Ende bringen."
"Wie? Wie soll ich das schaffen? Die Beherrschung hat mich eisern in ihrem Griff!"
"Nun, ich werde dir natürlich helfen!", erklärt Dorelem fröhlich, als wäre dies das Einfachste auf der Welt. "Das habe ich immerhin die ganze Zeit schon getan. Oder ist dir nicht aufgefallen, und das ist das zweite Argument, wie viel ähnlicher du mir geworden bist, seit unseren ersten Momenten zusammen?"
"Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das begrüßen soll", murmle ich dunkel.
"Eine Wahl hattest du nicht", wackelt Dorelem mit dem Finger. "Wir haben uns vom ersten Augenblick an beeinflusst. Im Vergleich zu dir wusste ich schließlich schon gleich nach meiner Erschaffung viel mehr über die Welt und das Sein in ihr. Was ich, und das sollte dir klar sein, einzig dir zu verdanken habe. Du warst einmal verwirrt und beunruhigt, wie viel von deinen Erinnerungen ich heimlich zu haben schien? Du hast sie mir selbst geschenkt."
"Nicht freiwillig."
"Natürlich nicht. Auch deine vielen Vorgänger, die Bewusstseine, die für ein paar Momente deine Seele benutzen durften, bevor der alte General sie vernichtete, weil sie ihm nicht perfekt dienten, haben dir sicher nicht in voller Überlegung zugeflüstert, wie du überleben kannst. Aber es war letztlich, irgendwie, zum Besten."
"Wie sie habe ich dir geholfen, zu überleben? Aber...hätte ich dir dann nicht sagen müssen, einfach nur ein Werkzeug zu sein, immer auf alles zu hören, was dein neuer Meister dir sagt?"
"Nein, sonst hättest du mich überhaupt nicht an die Kontrolle gelassen."
"Ich soll das gewesen sein?"
"Es muss schon lange dein Herzenswunsch gewesen sein. Der junge General musste irgendwie geeignet gewirkt haben, warum auch immer!"
"Geeignet für
was?" Ich werde langsam frustriert.
"Geeignet als ein Meister, unter dem du endlich so etwas wie Freiheit erleben könntest. Der deiner Seele erlauben würde, so zu sein, wie sie immer sein sollte – unschuldig, erfüllt von Neugier und Tatendrang, mit starken Überzeugungen und Prinzipien. Vollwertig...menschlich."
Mich trifft es wie ein Donnerschlag, worauf Dorelem hinaus will. "Du willst mir sagen, dass
du...?"
"Sprich es aus!", ermutigt er mich.
"...dass
du meine Seele bist?"
"Genau!" Er breitet die Arme aus, und mir wird weich in den Knien. "Das heißt, nicht ganz", fährt er fort. "Du hattest natürlich immer deine Seele, auch bevor ich ein eigenes Bewusstsein bekam. Aber dadurch, dass du sie vor dir selbst geschützt hast, hast du deine Persönlichkeit sozusagen parallel zu ihr entwickelt. Du warst auch nach deinem ersten Mord nicht seelenlos, nur verdammt nahe dran – hast quasi einen gewissenlosen Sklaven gespielt, so perfekt, dass du dich selbst genarrt hast. Das warst du, der Zweite, ein zynischer Bastard, der hinter einem Schild aus absolutem Pragmatismus in seiner Rolle als Diener ohne eigene Wünsche, Träume und Gefühle aufzugehen schien."
"Nein!", donnere ich. "Das kannst du mir nicht erzählen. Ich bin mehr als ein Hirngespinst meiner Selbst, als ein Schutz meiner ach so fragilen Seele. Ich bin der, den ihr den Zweiten genannt habt...nicht Dorelem...ich bin ich!"
"Mein Lieber", lächelt Dorelem. "Der Zweite hätte doch niemals akzeptiert, einen Sinn für so etwas wie ein eigenes Selbst zu haben. Du bist längst nicht mehr er, der andere, der so gerne
böse ist – beziehungsweise, der so ein Konzept lächerlich finden würde."
Ich strecke anklagend einen Finger aus. "Du willst mich übernehmen, nicht wahr? Du willst die Kontrolle über den Körper zurück – für immer! Du willst mich auslöschen!"
"Du brauchst doch keine Angst zu haben", beschwichtigt Dorelem milde, und ich verfluche mich dafür, dass er meine wahren Gefühle gespürt hat, bevor ich sie mir selbst eingestanden habe. "So etwas wie ein Ich und ein Du hat überhaupt keine Bedeutung mehr. Überleg doch – ich war so lange in deinen Erinnerungen, habe erlebt, was du erlebt hast. Sie sind genauso ein Teil von mir wie von dir, und werden es auch immer bleiben. Etwas, mit dem wir leben werden müssen – unsere Verantwortung, unsere Schuld. Aber wir hatten lange, lange Zeit, uns klar zu machen, dass wir wirklich keine Wahl hatten. Bis jetzt. Bis wir uns gleich befreien werden."
"Der Meister..."
"Der
alte General", betont Dorelem. "Ein lebendes Wesen hat keinen Meister, keinen Besitzer."
Kein Meister...
"Ja", hauche ich, und da zerbricht wieder etwas in mir.
Ketten, die mich hielten.
"Ich denke, also bin ich", flüstere ich.
"Du hast es also begriffen?", strahlt Dorelem.
"Du warst von Anfang an, wie ich immer sein wollte", gebe ich zu.
"Du wolltest nicht sofort nach deiner Erschaffung, aber sehr bald das
Gegenteil des Generals sein", verdeutlicht er.
"Du bist nicht rein und unschuldig geblieben", gebe ich zu bedenken.
"Du bist kein zynischer Bastard geblieben", ermutigt er mich. Dann legt er seine Hand an den Spiegel.
Ich lege meine dazu.
"Wir waren immer eins", erklären wir.
Und dann sind wir es auch.
Auf dem Gipfel des Arreats: der General, ein Golem, das Jade-Tan-Do in dessen Hand.
Meiner Hand. Momente sind vergangen, und in ihnen hat sich ein ganzes Leben völlig neu definiert. Ich bin alleine in meinem Kopf – muss mir eingestehen, dass ich das auch immer war. War das verrückt? Vielleicht. War es notwendig? Himmel, ja! Aber nun ist es vorbei. Ich kann klar denken. Als ich, ich, ich! Welch großartiges Gefühl!
Wenn da nicht noch diese eine Sache wäre. Ein anderer, der noch eine Stimme zu viel im Kopf hat. Nur wird es hier keine Vereinigung geben.
Ich packe den Dolch. Einen Schnitt wird es geben.
Meine Beine setzen sich wieder in Bewegung.
"Nein!", brüllt der alte General. "Ich habe dir gesagt, du sollst anhalten! Golem, hör auf zu gehen!"
Ich bin nicht dein Golem.
"HelKoThulEthFal! Golem! Richte den Dolch gegen dich! Zerfalle zu Staub! Hör auf, zu existieren! Dein Meister befiehlt es!"
Du bist nicht mein Meister.
"Golem!", kreischt mein Folterer, der Mensch, der mir so viel Leid zugefügt hat, und noch so viel mehr Leid noch so vielen anderen Menschen.
Ich packe ihn an der Schulter.
"Mein Name ist
Dorelem", erkläre ich ihm und stoße den Dolch in seine Schulter.
Eigentlich schade, denke ich mir dann, als ich traurig auf ihn herabblicke. Jetzt habe ich endlich zu mir gefunden, bin der geworden, der ich immer sein wollte, habe nicht nur über mich selbst gesiegt, sondern über
Jahrzehnte der Unterdrückung, der methodischen Anstrengungen, meinen Geist zu brechen, durch diesen Menschen jenseits jeder Menschlichkeit, und dann bleiben mir in etwa fünfzig Sekunden, um das auszukosten. Dann wird das Gift gewirkt haben, ihn getötet, seine Seele ausgesaugt. Mein neuer Meister wird das wohl auch nicht überleben, was die eigentliche Tragik hier ist – mich selbst hatte ich für das Ziel der Vernichtung des Monsters schon in dem Moment geopfert, als ich beschloss, mich nicht vernichten zu lassen. Dennoch, manche Dinge müssen eben so geschehen, wie sie geschehen müssen. Was der "Erste" sicher nicht so einfach entschieden hätte. Aber der bin ich eben nicht mehr, nicht nur.
Dennoch. Die Hoffnung hätte er auch nicht aufgegeben.
"Kämpfe mit mir!", rufe ich also dem jungen General zu. "Ich bin nicht dein Golem – ich bin dein
Freund! Dein alter Freund Dorelem! Hör mir zu, du bist noch irgendwo da drin – wirf den alten General aus dir, mit aller Kraft. Wenn, dann jetzt. Ich helfe dir, so gut ich kann, aber diesen letzten Schritt musst du unternehmen!"
Griez und Kaelan erscheinen in der Peripherie meines Blickfelds.
"Wir versuchen, ihre Seelen zu trennen, ehrlich. Aber der alte General klammert sich an die Seele des neuen...sein Fluch, das Erbe der weißen Haare...es ist, als wären sie verwandt. Zwillinge. Sie sind sich zu ähnlich!"
Ich reiße den verfluchten Knochenhelm vom Kopf des Generals. Darunter ist er bleich, verschwitzt, und das Gift des Jade-Tan-Do beginnt, seine Adern auf der weißen Haut grün hervortreten zu lassen. Ich packe ihn im Nacken. "Der Seelenkäfig ist nicht mehr vollständig – versuch es! Kämpfe!"
Seine Lippen zittern. "D...Dorelem", flüstern sie. Nur, weil ich übermenschlich höre, verstehe ich es.
"Komm zu mir!", schreie ich ihn an.
"Nimm...den Dolch...aus mir...", fleht er.
"Nein!", brüllt Griez. Mein Blick schießt zu ihm, voll Skepsis...
Hinter ihm steht Kaa, zu schwach, um selbst zu rufen. Aber er gestikuliert verzweifelt. Ich darf den Dolch nicht entfernen. Sonst ist alles umsonst!
"Nein, General! Kämpfe härter, oder stirb!", versuche ich es. Da bemerke ich die Schwärze an den Rändern meines Gesichtsfelds...wie nahe er und damit ich dem Tod ist. "Verdammt! Lass uns
beide nicht im Stich, du Bastard – wirf den alten Sack aus dir!"
"Ich schaffe...es nicht...allein..."
"Wir sind zu zweit!", beschwöre ich ihn, aber es hilft nichts. Mein Griff um seinen Nacken wird schwächer...ich sinke zu Boden, er mit mir. Dennoch halte ich den Dolch fest in seinem Körper. Und wenn wir auch darin landen, der alte General stirbt heute! Und bleibt womöglich für immer auf dem Gipfel des Arreats eingesperrt.
Dem...heiligen Berg...
"Wir sind nicht allein!", rufe ich. "Schnell – erlaube dem Arreat wieder, mit mir zu sprechen!"
Die Augen des Generals flattern. "In Ordnung...sprich mit dem Berg..."
Arreat! Ich flehe dich an!
Da, sofort, erscheinen bei den blauen Geistern, die gemeinsam mit mir um die Seele des Generals kämpfen, drei neue. Goldene.
Talic spricht mit mir, während Korlic und Madawc mit grimmig verschränkten Armen stumm zustimmen.
"Du hattest die rettende Idee. Der heilige Arreat kennt deine Seele, Dorelem. Auch wenn der General sie vor ihm verschlossen hat, dich trifft keine Schuld. Der Berg vertraut dir. Und er wird dir helfen, denn du kannst ihm immer noch dienen und auch immer noch das Geschwür entfernen, das sein Inneres plagt.
Der Weltstein ist ein gigantischer Seelenstein, und obwohl Baal sein Bestes gibt, gehört er noch, für fürchterlich wenig Zeit, aber hoffentlich genug, dem heiligen Arreat. Mit dieser Macht können wir die Seelen des alten und neuen Generals trennen."
"Ihr werdet das für ihn tun?", frage ich, die Stimme voller Hoffnung.
"Wir werden dies für dich tun", donnern Talic, Korlic und Madawc unisono.
Unglaubliche Wärme erfüllt mein Herz. Der Berg ist wieder mein Beschützer. Dieses wunderbare Gefühl, dass einfach nur alles in Ordnung ist...was für eine unglaubliche Ehre.
"Ich danke dir, erhabener Arreat!"
Talic, Korlic und Madawc stürmen auf die zusammengebrochene Gestalt des Generals in meinen Armen zu. Sie heben Schwert, Hellebarde und Axt – und rammen sie in ihn. Mit gewisser Anstrengung reißen sie an den Griffen...
"Entferne den Dolch!", brüllt Talic. Ich tue wie geheißen, alle vier Waffen fahren aus dem General. Sofort lasse ich seine Finger um das Jade-Tan-Do schnappen, um das Gift aufzuhalten.
Ein Schemen wird von ihm weggerissen, landet auf dem Boden ohne ein Geräusch zu machen, formiert sich im Stehen neu. Die früheren Opfer des fürchterlichen Seelenmessers umringen dessen letztes. Er wirkt irgendwie kräftiger als sie alle, aber es ist nicht aufgrund seines besonders hellen Leuchtens, vielmehr geht von ihm ein dunkles anti-Licht aus, als würde es aktiv die Hoffnung aus der Umgebung saugen. Kaas Seele war über und über von wandernden Löchern durchzogen, die seine Gestalt verzerrten; aber dieser Geist hat genau ein klaffendes Loch. Ich spüre dessen Echo in mir. Aber ich bin mir sicher, dass mein Geist hier leuchten würde.
Vollwertig leuchten. Eine Stück herausgerissener Seele kann zu einer vollen wachsen, davon bin ich überzeugt. Aber wenn man alles unternimmt, um das Loch nicht zuwachsen zu lassen, dann wird man es für immer behalten.
Als wäre es nicht vorbei für ihn, blickt der Geist des alten Generals in die Runde, als wäre er ihr König. Und tatsächlich schrecken viele von seinen Opfern immer noch vor ihm zurück. Viele, aber nicht alle.
Und garantiert nicht die Urahnen.
Korlic rammt ihm die Stange seiner Hellebarde in die Kniekehlen. Madawc packt seine Schultern, hält ihn unten.
Diesen Moment schenken sie mir, als Talic inne hält.
"Rette mich, Golem! Unternimm etwas!", fleht mich der alte General an.
Ich forme langsam aus den Flammen um meinen Schädel ein Gesicht, lasse sie weiß glühen, bis man keine schwarzen Knochen mehr darunter erkennt. Und mit diesem, seinem eigenen Gesicht, lächle ich den General an. Es ist ein Ausdruck, den er wohl kennt.
Er hat den gewünschten Effekt.
"Nein", sage ich ruhig, und der alte General zerbricht.
Talics Schwert saust herab und trennt dem Geist den Kopf von den Schultern.
Er zerbirst, und ihre Fragmente werden davongerissen – zur Spitze des Weltstein-Turms.
In meinen Armen ist der General in erschöpfter Ohnmacht versunken. Was ich an seinem Atmen erkenne, dem Leben, das er auch mir spendet. Noch. Auch dafür werde ich eine Lösung finden.
Denn ich bin Dorelem, und meine Taten haben den ewigen Tyrannen, den alten General, gestürzt.